In dieser Arbeit wird die Eigendynamik thematisiert, die das politische System des Deutschen Kaiserreichs zunehmend entwickelte und sich so von der ursprünglichen Konstruktionsintentionen Bismarcks entfernt hat. Wenn heute von der konstitutionellen Monarchie des deutschen Kaiserreichs die Rede ist, gerät ein zentrales Faktum hinter der vermeintlichen Eindeutigkeit des Begriffs schnell in Vergessenheit: „Die Verfassung des Kaiserreichs war ein merkwürdiger Zwitter, eine Mischung aus konservativen und progressiven Elementen“. Die Idee des nationalen Einheitsstaats wurde von den preußischen Machthabern, allem voran Otto von Bismarck, gezielt instrumentalisiert, um den Fortbestand der Krone als politische Leitinstanz und zudem Preußens Dominanz im kleindeutschen Raum zu zementieren. Hierbei versuchte das Kaiserreich historisch gegensätzliche Kräfte und Ideen – Föderalismus und Unitarismus, Volkssouveränität und monarchisches Prinzip – auszubalancieren. Damit grenzte es sich sowohl von östlichen neoabsolutistischen wie westlichen parlamentarischen Regierungssystemen ab. Jener seltsamen Mittellage ist es geschuldet, dass Wolfgang J. Mommsen das Kaiserreich als ein „System umgangener Entscheidungen“ charakterisiert. Gleichsam verweist dieses Urteil auf eine spezifische Problemlage, der sich der deutsche Nationalstaat über den Fortgang der Dekaden hinweg zusehends ausgesetzt sah: die realpolitische Eigendynamik des Systems gegenüber den verfassungsväterlichen Intentionen von Reichsgründer Bismarck. Die vorliegende Hausarbeit soll, im Gefolge einer knappen Klärung des Begriffs um den deutschen Konstitutionalismus, das Kaiserreich zunächst unter folgender Fragestellung betrachten: Wie nahm sich jene Eigendynamik des politischen Systems, von der Bismarck-Zeit bis in die Wilhelminische Ära hinein, bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs aus? In diesem Zusammenhang erschien eine logische Separierung der Arbeit in zwei Teile sinnvoll, wobei zunächst Bismarcks verfassungspolitische Ziele und sodann die Verfassungswirklichkeit dargestellt werden sollen. Untersucht werden die politischen Kräftefelder Bundesrat und Reichstag sowie Reichskanzler und Kaiser und ihr Spannungsverhältnis zu- wie untereinander. In der Schlussbetrachtung schließlich soll die Frage beantwortet werden, ob – und wenn ja: inwiefern – es im Wilhelminismus tatsächlich eine klare Parlamentarisierung des deutschen Reichs gegeben haben könnte.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Deutscher Konstitutionalismus
2 Verfassungspolitische Ziele Bismarcks
2.1 Kalkulierter Föderalismus
2.2 Geduldetes Parlament
2.3 Verfassungskaiser
2.4 Reichskanzler als Integrationsfigur
3 Verfassungswirklichkeit
3.1 Auflösung preußischer Hegemonie
3.2 Parlamentarisierung unter dem Kaiser
3.3 Persönliches Regiment
3.4 Schwindende Kanzlerautorität
Schlussbetrachtung: Deutscher Konstitutionalismus als transitorisches Phänomen?
Einleitung
Wenn heute von der konstitutionellen Monarchie des deutschen Kaiserreichs die Rede ist, gerät ein zentrales Faktum hinter der vermeintlichen Eindeutigkeit des Begriffs schnell in Vergessenheit: „Die Verfassung des Kaiserreichs war ein merkwürdiger Zwitter, eine Mischung aus konservativen und progressiven Elementen“1. Die Idee des nationalen Einheitsstaats wurde von den preußischen Machthabern, allem voran Otto von Bismarck, gezielt instrumentalisiert, um den Fortbestand der Krone als politische Leitinstanz und zudem Preußens Dominanz im kleindeutschen Raum zu zementieren. Hierbei versuchte das Kaiserreich historisch gegensätzliche Kräfte und Ideen - Föderalismus und Unitarismus, Volkssouveränität und monarchisches Prinzip - auszubalancieren. Damit grenzte es sich sowohl von östlichen neoabsolutistischen wie westlichen parlamentarischen Regierungssystemen ab. Jener seltsamen Mittellage ist es geschuldet, dass Wolfgang J. Mommsen das Kaiserreich als ein „System umgangener Entscheidungen“ charakterisiert2. Gleichsam verweist dieses Urteil auf eine spezifische Problemlage, der sich der deutsche Nationalstaat über den Fortgang der Dekaden hinweg zusehends ausgesetzt sah: die realpolitische Eigendynamik des Systems gegenüber den verfassungsväterlichen Intentionen von Reichsgründer Bismarck.
Die vorliegende Hausarbeit soll, im Gefolge einer knappen Klärung des Begriffs um den deutschen Konstitutionalismus, das Kaiserreich zunächst unter folgender Fragestellung betrachten: Wie nahm sich jene Eigendynamik des politischen Systems, von der Bismarck-Zeit bis in die Wilhelminische Ära hinein, bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs aus? In diesem Zusammenhang erschien eine logische Separierung der Arbeit in zwei Teile sinnvoll, wobei zunächst Bismarcks verfassungspolitische Ziele und sodann die Verfassungswirklichkeit dargestellt werden sollen. Untersucht werden die politischen Kräftefelder Bundesrat und Reichstag sowie Reichskanzler und Kaiser und ihr Spannungsverhältnis zu- wie untereinander. In der Schlussbetrachtung schließlich soll die Frage beantwortet werden, ob - und wenn ja: inwiefern - es im Wilhelminismus tatsächlich eine klare Parlamentarisierung des deutschen Reichs gegeben haben könnte.
Hinsichtlich der verwendeten Literatur wurde der Schwerpunkt v.a. gelegt auf die Werke von Volker Ullrich, Hans Boldt, Manfred Rauh und Willoweit.
1 Deutscher Konstitutionalismus
Wie schwer der Begriff des deutschen Konstitutionalismus zu fassen ist, zeigt ein Blick auf die Entstehung der Reichsverfassung. Anders als im Falle bestimmter deutscher Einzelstaaten war dem Nationalstaat in seiner Verfassung ein Bekenntnis zum monarchischen Prinzip fremd3. Weil die konstitutionelle Ordnung Folge der Verhandlungen durch souveräne Regierungen war, konnte ein Oktroy über sie auch nicht vollzogen werden. Andersherum bedeutete dies aber, dass der Kaiser ein Produkt der Reichsverfassung war, da seine Kompetenz vorgesehen worden war4. An dieser Stelle zeigt sich eine Eigenheit des Reichs, die Christian Hacke als „Rationalstaat“ charakterisiert5. Ist es ergo überhaupt rechtens, von Kaisertum zu sprechen, wenn die Souveräne der Einzelstaaten doch die Verantwortung für sein Entstehen innehatten? Hilfreich ist hier die Erkenntnis, dass es sich beim Kaiserreich nicht um ein „Sammelsurium monarchischer Glieder“ handelte, sondern um eine Föderation6. Das bedeutete den Souveränitätstransfer auf die bundesstaatliche Ebene im Sinne von Einheit und Entscheidungsfindung. Da aber Preußen im kleindeutschen Raum hegemonial auftrat, konnte nur der preußische König als deutscher Kaiser infrage kommen - „der einzige Monarch in Deutschland, der sich faktisch noch als souveräner Fürst empfinden konnte“7. Er wurde damit „weder zum ,Kaiser von Deutschland’ noch zu einem plebiszitären Volkskaiser ,der Deutschen’“8. Diese spezifischen Konstitutionsbedingungen kennzeichnen das Kaiserreich „mehr als Machtstaat denn als monarchisches Gebilde“9. Weil der Kaiser nicht Begründer der Verfassung war, war für das Reich von Anfang an der politische Prozess unter Inanspruchnahme von Macht entscheidend. Nicht umsonst legte Bismarck besonderen Wert auf die Kompetenzausgestaltung der Instanzen politischer Entscheidungsfindung.
2 Verfassungspolitische Ziele Bismarcks
Unter seiner Federführung war 1867 bereits die Verfassung des Norddeutschen Bundes ausgearbeitet worden; eine Hülse unter Aussparung der süddeutschen Staaten, in die 1871 die kleindeutsche Nation nachwuchs. Hat Bismarck das Geschehen der Reichsgründung nachhaltig bestimmt, so lohnt sich die Frage nach seinen allgemeinen verfassungspolitischen Zielen. Zweifellos sah er sich als Anwalt der hegemonialen Interessen der siegreichen Wirtschaftsund Militärmacht Preußen - „was verfassungspolitisch bedenklich, aber machtpolitisch verständlich war [.. .]“10. Überdies bewies Bismarck ein hohes Maß an politischer Flexibilität.
Anknüpfend an das erwähnte Zwitterwesen der konstitutionellen Ordnung, ist das Vorhandensein defacto zweier Staatsspitzen im Reich bemerkenswert wie zugleich „eigentümlich ambivalent“11. Die Rede ist vom Nebeneinander von Kaiser und Bundesrat.
2.1 Kalkulierter Föderalismus
Formal gesehen, bildete der Bundesrat, als Vertretung der Einzelstaaten, den Kopf der Verfassungsorgane. Weil Bismarck ganz dezidiert auf eine Reichsregierung verzichtet hatte, kam ihm diesbezüglich eine Ersatzfunktion zu. Diese Ordnung sollte suggerieren, dass das Reich auf der freien Vereinbarung der Fürsten beruhe, was die verbündeten Regierungen zu den Trägern der Souveränität erklärte12. Entsprechend befugt war der Bundesrat denn auch: Seine Kompetenzen reichten von Gesetzgebung, über die Verabschiedung des Reichshaushalts - gleichberechtigt mit dem Reichstag -, dem Erlass von Verwaltungsvorschriften, bis hin zu bedeutenden Exekutivfunktionen. Diese vermeintlich zentrale Position täuschte darüber hinweg, dass die Machtachse ausführender Gewalt defacto zwischen Kaiser und Reichskanzler verlief. V.a. war dem Bundesrat zugedacht, als Instrument preußischer Hegemonie zu fungieren, indem er diese „zugleich absicherte und verhüllte“13. Augenscheinlich wirkte Preußen als größter und bevölkerungsreichster Bundesstaat leicht majorisierbar, weil es nicht einmal über ein Drittel der Stimmen verfügte. In der politischen Praxis jedoch bediente es sich ausreichender Druckmittel, um die von ihm abhängigen nord- und mitteldeutschen Kleinstaaten seinen Wünschen gefügig zu machen. Damit erfüllte der Bundesrat die zugedachte Aufgabe bereits durch seine bloße Existenz. Eine weitere Funktion sollte darin liegen, den Machtgelüsten des Reichstags Einhalt zu gebieten.
2.2 Geduldetes Parlament
Letzteren hatte Bismarck zugelassen, weil er bereit war, „mit der revolutionären Gewalt des nach Selbstbestimmung rufenden Volkes zu rechnen und [...] ihre Energien der Staatsmacht nutzbar zu machen“14. Gegenüber dem Bundesrat als Vertretung der Einzelstaaten stand der Reichstag, die gewählte Volksvertretung. Bis zu ihrer Ausweitung 1888 war die Legislaturperiode zunächst auf drei Jahre beschränkt. Allerdings konnte das Parlament jederzeit von Kaiser und Kanzler aufgelöst und Neuwahlen angesetzt werden. Damit war allein die Androhung dieser Tat die „stärkste Waffe der Regierung gegenüber einer widerspenstigen Parlaments- mehrheit“15. Um eine parlamentarische Kultur im Zaun zu halten, erhielten die Abgeordneten weder Diäten noch konnte sich der Reichstag gegen die konservative Parteien begünstigende Wahlkreiseinteilung zur Wehr setzen. Trotz dieser Hemmnisse wäre es verfehlt, den Reichstag lediglich als „ein konstitutionelles Feigenblatt für ein ansonsten autoritäres Regiment“ zu erachten16. Verfassungsrechtlich war er fest in den politischen Apparat integriert und nahm wichtige Aufgaben wahr. Zunächst war er maßgeblich an der Gesetzgebung beteiligt. Nur mit seiner Zustimmung konnte der Bundesrat wichtige Gesetze erlassen. Entscheidung war das Budgetrecht, also die jährliche Bewilligung der Einnahmen und Ausgaben, wobei hier der Militäretat für mehrere Jahre festgelegt wurde - „eine beträchtliche Einbruchstelle militärischer Einflüsse auf die Politik“17. Auch besaß der Reichstag mittels Petition und Interpellation die Möglichkeit, Regierungstätigkeit zum Gegenstand öffentlicher Debatten zu machen, zumal die Abgeordneten Immunität genossen. All dies sah Bismarck nicht zu seinem Nachteil, sollte es doch mit der Gewährung einer Volksvertretung darum gehen, „Regierung und Regierte organisch zu verbinden“18.
Ein zentrales Recht blieb dem Reichstag indes verwehrt: Er übernahm keine Regierungsverantwortung19. Der Kanzler benötigte zu seiner Ernennung oder zur Regierungsbildung nicht der Zustimmung des Reichstags. Daher gab es keine echten Regierungskoalitionen, wohl aber wechselnde Stützen für Regierungsvorhaben. Der Reichstag vermochte sich der Politik des Kanzlers zwar zu verschließen, konnte aber dessen Rücktritt davon nicht ableiten. Damit fehlte ihm das „entscheidende Qualitätsmerkmal einer parlamentarischen Verfassung“20.
Wirkliche Regierungsverantwortung verlief nur zwischen Kaiser und Reichskanzler. Laut Verfassung bestimmten beide gemeinsam die Richtlinien der Politik.
2.3 Verfassungskaiser
In der Doppellrolle als König von Preußen wie als monarchisches Oberhaupt des Reichs führte der Kaiser zugleich das Präsidium des Bundes - „wiederum eine die tatsächlichen Mehrheiten eher verschleiernde Formel“21. Denn der Kaiser war im Kreis der Bundesfürsten eine weit abgehobene Autorität. Als Befehlshaber von Heer und Marine oblag ihm die Entscheidung über Krieg und Frieden; er ernannte und entließ Reichsbeamte und -kanzler, berief Bundesrat und Reichstag ein. Doch nahm er an der Gesetzgebung nur durch Ausfertigung und Verkündung der Reichgesetze teil. Ein Vetorecht bei ihrer Verabschiedung besaß er nicht.22.
2.4 Reichskanzler als Integrationsfigur
Der Kanzler - aufgrund der Machtsymmetrie im Bundesrat normalerweise immer auch preußischer Ministerpräsident - musste die Anordnungen und Verfügungen ,gegenzeichnen’. Damit übernahm er, als tatsächlich einziger Minister, zugleich die Verantwortung vor Reichstag und Öffentlichkeit. Bereits dieser Fakt macht deutlich, dass der Kanzler „mehr war als ein bloßer Gehilfe des Kaisers“23.
[...]
1 Ullrich 1999: 31.
2 Mommsen 1990: 11.
3 Vgl. Boldt 1992: 89.
4 Vgl. Riedel 2000: http://www.documentarchiv.de/nzjh/ndbd/verfndbd.html (11.09.2007).
5 Hacke 2004: 5.
6 Frie 2004: 17.
7 Boldt 1992: 90.
8 Botzenhart 1993: 98.
9 Nipperdey 1992: 67.
10 Becker 2000: 9f.
11 Boldt 1992: 90.
12 Vgl. Ullrich 1999: 31.
13 ebd.: 32.
14 Lösener 1962: 76.
15 Ullrich 1999: 35f.
16 Boldt 1990: 177.
17 Pollmann 1993: 102.
18 Lösener 1962: 77.
19 Vgl. Rudolf/Oswalt 2004: 166.
20 Ullrich 1999: 37.
21 ebd.: 33.
22 Boldt 1990: 174f.
23 Ullrich 1999: 34.
- Citar trabajo
- Julian Wangler (Autor), 2008, Deutscher Konstitutionalismus 1871-1914 - Zwischen Autokratie und Parlamentarisierung, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146798
-
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X.