Diese Abhandlung analysiert, ob und wie die Lehre Jesu Christi als eine der Grundlagen der modernen Demokratie betrachtet werden kann. Sie untersucht die möglichen Verbindungen zwischen den Lehren Jesu und demokratischen Elementen über verschiedene historische Epochen hinweg und stellt dabei die Frage, ob Jesus als eine demokratische Figur angesehen werden kann.
Diese Analyse untersucht die Fragen, ob die Lehre Jesu Christi demokratische Prinzipien beinhaltet und inwiefern sie als Grundlage der modernen Demokratie dienen könnte. Trotz der historischen Trennung zwischen der attischen Demokratie der Griechen und den religiösen Lehren Jesu, die mehr als 500 Jahre auseinanderliegen, erkundet der Text die spirituellen und philosophischen Brücken, die möglicherweise zur Demokratie führen. Es wird betrachtet, wie Jesus' Lehren durch die Urgemeinde getragen wurden und wie sie sich trotz Verzerrungen und Fehlentwicklungen über die Jahrhunderte hinweg bis in die heutige Zeit in der christlichen Tradition erhalten haben.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung..................................................................................................................... 2
ERSTER TEIL.............................................................................................................. 4
War Jesus ein Demokrat?............................................................................................... 4
Zu den für die Demokratie relevanten Inhalten seiner Lehre und seines Wirkens............... 4
Der „Liebeskommunismus“ der Jerusalemer Urgemeinde................................................ 9
ZWEITER TEIL......................................................................................................... 13
Verzerrungen und Fehlentwicklungen........................................................................... 13
a) Die „Erbsünde“ bei Paulus, Augustinus und Luther....................................... 13
Exkurs: Nietzsches radikale Verurteilung des Christentums.................................... 22
b) Feudalismus und Staatskirche („ecclesia triumphans“)................................... 25
„Abfall des Katholizismus vom Christentum“?...................................................... 27
Die Rolle der Scholastik....................................................................................... 29
c) Die Kreuzzüge............................................................................................ 30
Zwischen-Fazit: Kernsätze zum Feudalismus................................................................ 38
Der Dreißigjährige Krieg (1618-48).............................................................................. 39
Christentum und Kapitalismus I................................................................................... 43
Ein Vorläufer: Johannes Calvin (Jean Caulvin, 1509-64). Von der Prädestinationslehre zur Wirtschaftsethik.......................................................................................................... 43
1. Prädestination und Wirtschaftsethik............................................................. 43
2. Wirtschaftsethik............................................................................................... 44
3. Calvin-Kritik.................................................................................................... 46
Protestantismus und Kapitalismus bei Max Weber......................................................... 47
Kritische Würdigung: die Marxsche Gegenposition....................................................... 50
Vergleich.................................................................................................................... 54
Gottesgnadentum......................................................................................................... 55
Auswirkungen............................................................................................................. 56
Vorläufige Bewertung................................................................................................. 57
Exkurs: G.W.F. Hegel (1770-1831), ein „Autokrat“ von Gottes Gnaden?........................ 58
Das Christentum in der NS-Zeit.................................................................................... 62
Christen und Christdemokraten.................................................................................... 65
Christentum und Kapitalismus II: Sollten “gute Christen richtige Kapitalisten“ sein?....... 67
Kritische Würdigung................................................................................................... 71
Exkurs: Ernst Blochs Atheismus im Christentum (1968)................................................. 73
DRITTER TEIL.......................................................................................................... 74
Positive Entwicklungen seit dem Mittelalter.................................................................. 74
Franz von Assisi (1182-1226),...................................................................................... 75
Thomas von Aquin (1225-1274)................................................................................... 77
Meister Eckhart (ca. 1260-1327)................................................................................... 80
Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen (1194-1250)....................................................... 82
Freiheits- und Emanzipationsbewegungen..................................................................... 82
Errungenschaften von Luthers Reformation: „Allgemeines Priestertum“, Gewalten-teilung, Pluralisierung.............................................................................................................. 84
Descartes (1596-1650): „Freiheit nicht in Gott, sondern Gott entgegen“.......................... 85
Pierre Gassendi (1592-1655): Epikureismus und Christentum........................................ 90
Montesquieu (1689-1755): Teilung der Gewalten.......................................................... 94
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)............................................................................. 95
Fazit........................................................................................................................... 99
Immanuel Kant (1724-1804): Ethik, Recht und Freiheit............................................... 101
Zusammenfassung. Kant, Christentum und Demokratie............................................... 108
Die US-Revolution (1774 ff.) und die „christliche Politik“ in den USA......................... 109
Exkurs: Zur Französischen Revolution. Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit: christliche Werte?...................................................................................................................... 112
Person-Sein und Christ-Sein im Personalismus............................................................ 122
a) Max Scheler (1874-1928).......................................................................... 122
b) Emmanuel Mounier (1905-1950)................................................................ 123
Christliche Sozialwerte – das Christentum und die sozialen Probleme........................... 125
Folgerungen und Zusammenfassung........................................................................... 132
Literaturhinweise....................................................................................................... 141
Einleitung
Einen Einstieg in das Thema ermöglicht der Sammelband Christentum und Demokratie , 2006 in Darmstadt herausgegeben von Manfred Brocker und Tine Stein. Darin geht es um grund-sätzliche Fragen wie die der Bedeutung der Religion für die Menschenrechte, Begründung der Menschenrechte, die Verwurzelung europäischer Werte im Christentum, christliche Toleranz, Völkerrecht u.a.m. Von besonderer Bedeutung erscheint die am Ende des Bandes (S. 227 ff.) dokumentierte Diskussion zwischen den Professoren H. Maier und J. Isensee sowie der Deutsch-Iranerin Dr. Amirpur, dem Publizisten PD Dr. Kallscheuer und dem Soziologen Ralf Fücks über das Thema Postsäkulare Gesellschaft und konstitutionelle Demokratie: Was ist die Grundlage der europäischen Wertegemeinschaft?
Der Religionswissenschaftler Hans Maier sieht Grundlagen europäischer Werte vor allem in „Glaube und Vernunft“, wobei er den Glauben als Basis der Vernunft und die Vernunft als kritische Begleiterin des Glaubens ansieht (S. 231 f.). Europa unterscheide sich vom Römischen Reich dadurch, dass es nicht durch Eroberungen, sondern durch den freiwilligen Beitritt seiner Mitgliedsstaaten entstanden sei, was aber nicht unbedingt zur inneren Stabilität der europäischen Union beigetragen habe (S. 242). – Der Jurist Josef Isenssee fragt ebenfalls nach Möglichkeiten, Europa auf gemeinsame Werte zu gründen, was sowohl von der Definition der Europäischen Union als auch von der Frage abhänge, ob diese Union sich „zu einer echten politischen Gemeinschaft“ entwickeln könne (S. 235). Zur Legitimation der Union gehörten auch Solidarität und Religionsfreiheit, nicht jedoch das Bekenntnis zu einer bestimmten Religion. Das Europäische an Europa sei die geschichtliche Herkunft. Umso bedauerlicher sei die „Christophobie“, die inzwischen in den europäischen Gremien anzutreffen sei. – Für Religionsfreiheit plädiert auch die muslimische Deutsch-Iranerin Dr. Katajun Amirpur. Sie weist darauf hin, dass schon im Mittelalter zahlreiche muslimische Theoretiker zur Entwicklung der europäischen Geistesgeschichte beigetragen haben (S. 229). Dagegen bereite der deutsche Begriff „Leitkultur“ vielen ihrer Glaubensbrüder und -schwestern Kopfzerbrechen (ebd.). Zumal nicht die Rede davon sein könne, dass Moslems sich in erster Linie auf ihre islamische Identität beriefen: „Man denkt nicht immer nur über sich nach als Moslem, wenn man denn Moslem ist. Das ist gar nicht soviel anders wie bei Christen.“ (S. 240) Sehr heftig werde allerdings unter Moslems über den Reformislam diskutiert. Man suche nach einer neuen Interpretation des Korans, die diesen mit Werten wie Demokratie, Menschenrechte und freiheitlichem Rechtsstaat in Einklang bringen könne (S. 241). – Otto Kallscheuer, der Moderator der Diskussion, erwähnt Beziehungen zwischen Selbstbild und Feindbild, innerer und äußerer Grenzziehung (S. 232). Das christliche Europa habe keinen Ursprung, sondern sei „ein Modus der sekundären Aneignung“ (S. 238). Fraglich sei, ob es in Europa zukünftig „einen spezifisch europäischen Modus der Aneignung der Vielfalt der Religionen“ geben könne (ebd.). Jedenfalls hätten in Europa weder Christen noch Laizisten eine Lösung gefunden für das Problem, „die Freiheit zur Glaubensvielfalt und die Einheitlichkeit eines demokratischen rule of law für das künftig religiös spannungsreichere Europa zu vereinen“ (S. 245). – Ralf Fücks fragt, wie man in Europa „ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, ein europäisches Bürgerbewusstsein“ erlangen könne (S. 233). Irgend eine der Religionen komme dafür nicht in Frage. Die europäische Wertegemeinschaft beruhe vielmehr auf „Menschenwürde und Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat-lichkeit“ (S. 233), ergänzbar durch eine ausdrückliche Garantie der Religionsfreiheit (S. 234). Hierfür sei es u.a. erforderlich, „eine gemeinsame politische Kultur als Fundament der Union“ zu entwickeln, die jedoch nicht in einem „christlichen Europa“, sondern u.a. durch „religiöse Toleranz im Rahmen der säkularen Demokratie“ zu finden sei (S. 244).
Leider nicht zu finden sind in dem Sammelband so entscheidend wichtige Themen wie die in Folge von Fehlentwicklungen und Verzerrungen gegenläufigen Tendenzen in der historischen Entwicklung von Christentum und Kirchen, Gottesgnadentum, Feudalismus und Kapitalis-mus, die US-amerikanische und die Französische Revolution, der Personalismus, die christlichen Sozialllehren, die ‚Theologie der Befreiung‘ und die besonderen Probleme, die sich auf der Linie Hegel – Marx – Nietzsche – Bloch ergeben.
Näheres und Weiteres zum Verhältnis von Religion und Politik im Christentum , mit dem Untertitel Vergangenheit und Gegenwart eines spannungsreichen Verhältnisses , behandelt der Theologe Rochus Leonhardt 2017 . Auf die speziellen Probleme im Zusammenhang mit der Demokratie-Frage geht der Autor allerdings nur eher beiläufig ein, so z.B. an Hand der „Demokratie-Denkschrift der EKD von 1985“, mit der es dem deutschen Protestantismus endlich gelungen sei, sich zur „freiheitlichen Demokratie“ zu bekennen, und zwar unter dem Vorbehalt „kritischer Solidarität mit einer verbesserungsfähigen, aber auch verbesserungsbe-dürftigen Ordnung“ (a.a.O. S. 392). Leider spielen aber auch hier die speziellen Fragestellun-gen meiner vorliegenden Untersuchung (s.o.) kaum eine Rolle. –
Das Evangelium von Jesus Christus enthält nicht nur eine Botschaft, eine religiöse Lehre, sondern auch eine Welterklärung, ja, eine Erklärung des Ganzen, das traditionell ‚Universum‘ genannt wird (lateinisch ‚uni versum‘: ‚das dem Einen Zugewandte‘). Woraus folgt, dass diese Lehre nicht nur theologisch, sondern auch religionsphilosophisch verstanden und analysiert werden kann. Nur die letztgenannte Möglichkeit kann ein nicht theologisch ausgebildeter, aber religiös gebildeter Philosoph wahrnehmen; was unmittelbar die Frage-stellung der folgenden Abhandlung betrifft.
Die Frage lautet, ob die Lehre Jesu ganz oder teilweise als eine der Grundlagen der Demokra-tie dienen kann; was ausgeschlossen ist, wenn es keinerlei Bindeglied zwischen Jesus bzw. dem Urchristentum und der modernen Demokratie gibt. Denn die Demokratie ist ja nachweis-lich nicht von den Hebräern und auch nicht von Jesus, sondern von den Griechen der Antike mehr als 500 Jahre vor Christi Geburt erfunden worden. Was nicht bedeutet, dass zwischen attischer und moderner Demokratie ein bruchloser Übergang stattgefunden hätte. Denn tat-sächlich ist die attische Demokratie schon im 3. Jahrhundert v. Chr. untergegangen, und Jesus beruft sich anscheinend nirgendwo auf diese untergegangene „Wiege der Demokratie“. So dass die Frage aufkommen mag, wie es möglich bzw. gerechtfertigt sein soll, in der Lehre Jesu demokratische Elemente aufzuweisen. Auch dies ist Gegenstand des Folgenden; daher der Untertitel: ‚Ist Jesus ein Demokrat‘? Wobei die Zeitform ‚ist‘ befremdlich wirken mag; beinhaltet diese Zeitform doch die Behauptung, dass die Lehre Jesu nicht mit ihm am Kreuz gestorben ist (wie Nietzsche erklärt), sondern in der christlichen Tradition fortlebt bis in unsere Gegenwart hinein. Auch diese Behauptung soll im Folgenden in Verbindung mit der Frage nach der Demokratie überprüft werden, und zwar in drei Teilen: 1. bei Jesus und der Urgemeinde, 2. in Verzerrungen und Fehlentwicklungen der ursprünglichen Lehre Jesu und 3. in positiven Entwicklungen seit dem Mittelalter.
ERSTER TEIL
War Jesus ein Demokrat?
Zu den für die Demokratie relevanten Inhalten seiner Lehre und seines Wirkens
Was ist das Neue und zugleich für die Demokratie Relevante an diesen Inhalten? Auf einen einfachen Nenner gebracht ist es: die seinerzeit völlig neue Begründung der Würde des Menschen in der Gleichheit aller Menschen vor Gott . Die „Crux“ bzw. die Schwierigkeit darin besteht allerdings in der Tatsache, dass diese These zunächst nur theologisch begründbar zu sein scheint, so dass Atheisten nicht bereit sein können, sie zu akzeptieren. Wenn nämlich nur vor Gott alle Menschen gleich sind, lehnen alle, die nicht an Gott glauben, diese Begründung ab. Noch schroffer fällt diese Ablehnung aus, wenn Atheisten erfahren, dass die Neubegründung der Würde des Menschen auf einer angeblichen Heilstat Gottes beruht, nämlich auf der Inkarnation, der Menschwerdung Gottes. „… Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab …, damit die Welt durch ihn gerettet wird“, heißt es im Johannes-Evangelium (Kap. 3, V. 16 f., in der „Einheitsübersetzung“, in: Die Bibel, Stuttgart 1999, S. 1185). Opferbereite Liebe zur Welt und zum Menschen gilt demnach als Voraussetzung für die Menschwerdung. Mit welchem Tiefsinn diese Liebe verbunden ist, geht aus der Vorrede des gleichen Evangeliums hervor, in der steht:
„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“ (Joh. 1, 14)
Es ist aber eine Gnade, die keineswegs allgemein akzeptiert, sondern – wie von heutigen Atheisten und Andersgläubigen – von Einigen rundweg abgelehnt wurde, wozu der Evangelist anmerkt: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden …“ (Joh. 1, 11 f., mit den „Seinen“ ist wohl ein Großteil von Jesu jüdischen Landsleuten gemeint). Jesus, Gottes Sohn, ist das Licht, das in der Finsternis aufleuchtete, aber „die Finsternis hat es nicht erfasst“ (1, 5).
Überdies ist es erforderlich, näher zu bestimmen, was die Inkarnation als Grundlage der Wertlehren Jesu bedeutet. Als ihn der Jünger Thomas einmal um Wegweisung, d.h. Orientierung bittet, antwortet Jesus: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Schon jetzt kennt ihr ihn und habt ihn gesehen.“ (Joh. 14, 6 f.).
Damit gibt Jesus sich als göttliche Person zu erkennen: Wer ihn erkennt, erkennt auch Gott. Die Personalität Gottes – bekundet schon im ersten der Zehn Gebote („Ich bin der Herr, dein Gott…“) – verschmilzt mit dem Person-Sein Jesu; was natürlich erneut nur geglaubt, nicht bewiesen werden kann. Das tiefste Geheimnis dieser Glaubenswahrheit offenbart sich wahrscheinlich im Geheimnis des Heiligen Geistes. Gott ist als Logos (= Sinnstifter) der „Geist der Wahrheit“ (Joh. 14, 17). Aus ihm geht der Heilige Geist hervor, dessen nachhaltigen Beistand Jesus den Jüngern verspricht. Die Personalunion in der Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist wird damit unmittelbar deutlich, bedarf keiner 3-Personen- oder 3-Substanzen-Lehre (wie sie der Theologe Tertullian im 2./3. Jh. n. Chr. umständlich versucht hat). Zu bekräftigen scheint mir vielmehr meine These: „Die ureigenste Botschaft des Christentums betrifft das ureigenste Sein der Person, ihre Individualität. Vor Gott und durch Christus bekommt jede Einzelperson ihre unendliche Würde und Anerkennung als Person.“ [1] Dies umso mehr, als Jesus während seines irdischen Daseins als historische Person durchaus als „wahrer Mensch“ aufgetreten ist.
Darüber hinaus beanspruchte Jesus „wahrer Mensch und wahrer Gott“ zu sein. Er lebte aus dem Geist Gottes und war doch nur sein Diener, weil er sich seiner Göttlichkeit „entäußert“ hatte – rein logisch ein Widerspruch, als Glaubensinhalt einleuchtend, allen Andersgläubigen ein Ärgernis. Religionsphilosophisch immerhin näher zu bestimmen vor allem durch den Hinweis auf das Person-Sein Jesu: ganz Mensch bis in den Tod, aber geistbestimmt; Geist, Leib und Seele zugleich wie jeder Mensch, aber letztlich aufgehoben in Gott; Gottes Sohn und zugleich „Menschensohn“. Als solcher verfügt Jesus über die göttliche Vollmacht zur Vergebung der Sünden; er ist „der Mann, der den guten Samen sät“ (Matth. 13, 37) und ist doch auf Erden unbehaust. Gegner haben den Menschensohn übrigens als „Fresser und Säufer, … Freund der Zöllner und Sünder“ verspottet (Matth. 11, 19).
Nichtsdestoweniger lässt sich der Person-Begriff mit dem des Logos verbinden, von dem es zu Beginn des Johannes-Evangeliums heißt, er sei im Anfang der Schöpfung und dort in Gott gewesen. So dass für das Person-Sein kosmische Dimensionen erschlossen werden, wenn auch nicht durch Wissenschaft, sondern als Glaubensinhalt. Es sind allerdings Dimensionen, auf die Jesus sich in seinen Wert-Verkündigungen und -Forderungen letztlich stützt. Dabei geht es um Wertungen für praktisch alle Bereiche des seinerzeitigen Lebens.
Jesus versteht sich als Verkörperung der Liebe Gottes zur Welt und zu allen Menschen. Dergestalt fühlt er sich berufen, das Liebesgebot auf alle Formen der Liebe auszudehnen, d.h. nicht nur auf Eros und Sexus zu beziehen, sondern auch auf Agape (bzw. ‚caritas‘, die selbstlose, nicht-erotische Nächsten- und Feindesliebe, darüber hinaus: die kosmische Liebe zu allen Wesen). Damit geht Jesus weit über das bereits alttestamentarisch, nämlich bei Moses, bezeugte Gebot der Nächstenliebe hinaus. Was Paulus im Römerbrief veranlasste, die Nächstenliebe zum Inbegriff der mosaischen Zehn Gebote und jeglicher Gesetzes-Erfüllung zu erklären, und zwar in dem Satz: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“(Röm. 13,9), so dass auch die opferbereite Agape nicht Vernachlässigung der eigenen Person bedeute. Außerdem ist unübersehbar, dass in der Feindesliebe auch der „Feind“ zum Nächsten, die Nächstenliebe zur Fernstenliebe wird.
Inwiefern Jesus das altjüdische Gesetz reformieren will, zeigt sich deutlich in seiner Auseinandersetzung mit einigen der mosaischen Zehn Gebote und anderen Regeln und Gepflogenheiten. Diese will er nicht einfach bekräftigen oder kritisieren. Vielmehr geht es ihm darum, die Gründe für Konflikte und die von den Geboten bekämpften Delikte möglichst schon in deren Vorfeld aufzuspüren. Unheil tritt seiner Meinung nach schon dann ein, wenn man nicht versucht, Konflikte außergerichtlich zu bewältigen. Gerichte entscheiden nicht selten zu Gunsten der Mächtigen, gegen sozial oder politisch Schwächere. Ein römisches Sprichwort lautet „Summum ius, summa iniuria“ (Höchstes Recht, höchste Ungerechtigkeit). Es gab und gibt Klassenjustiz. Davor will Jesus seine Gemeinden schützen. Daher warnt er vor jeder Form von Aggression. Das Töten beginnt, wie er sagt, schon dort, wo man seine Mitmenschen beleidigt oder verleumdet, aggressiv mit ihnen umgeht. Ehebruch beginnt nicht erst im Akt der Untreue: „Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“ (Matth. 5, 27). Ehe und Familie müssen geschützt werden, insbesondere in gefährdeten Gemeinschaften wie der Urgemeinde Christi. Im Übrigen ist in der Bibel nirgendwo davon die Rede, Jesus habe grundsätzliche sexuelle Enthaltsamkeit gepredigt, zumal er sich nie frauenfeindlich gezeigt hat.
Eher beiläufig und in auffällig knapper Form erwähnt Jesus die Goldene Regel („Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu!“). Bei Jesus lautet sie: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“ (Matth. 7, 12). Die Regel stammt von dem chinesischen Philosophen Konfuzius, der von 551 bis 479 v. Chr. gelebt hat. Obwohl Kant sie als „egoistisch“ kritisiert hat, war sie die einzige Formel, auf die sich führende Repräsentanten der Weltregionen als ethische Grundregel geeinigt haben, als es im 20. Jahrhundert darum ging, das von Hans Küng initiierte Weltethos zu begründen. [2] Dass Jesus die Goldene Regel nur beiläufig erwähnt, dürfte daran liegen, dass er in ihr keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung und Bestätigung seiner Wertlehren sieht.
Auch beim Gebet soll es keine Heuchelei und kein Zur-Schau-Stellen geben. Das Vaterunsersoll durch seine Wir-Form („ … wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“) die geistige und geistliche Gemeinschaft der Gläubigen stärken, die sich gegenüber Gott als schuldig und bedürftig fühlen und sich überdies der Versuchung und dem Bösen ausgesetzt sehen. Die Betenden bitten Gott um kurzfristige Hilfe aus diesen Gefahren, auch wenn sie wissen (bzw. glauben), dass das Böse langfristig erst im Reich Gottes gänzlich verschwinden wird.
Insgesamt gesehen gehören Bergpredigt und Vaterunser sicherlich zu den Grundlagen des Neuen Bundes der Freiheit vom Gesetz,den Jesus den Seinen verspricht. Mit ihm will er den Alten Bund ersetzen, den Gott einst mit Moses – Moses mit Gott – geschlossen hatte. Den Neuen Bund bietet Jesus allen Menschen an, und zwar anlässlich des letzten Abendmahls vor seinem Kreuzestod. Er identifiziert diesen Bund mit dem symbolischen Kelch seines Blutes, den er den Jüngern darreicht. Besiegelt wird der Bund in Christi Auferstehung und in seinem Missionsauftrag („Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe!“)
Auf einen weiteren Aspekt der Lehre und des Wirkens Jesu, nämlich den sozial-revolutionären , weist Ernst Blochhin, indem erschreibt:
„Ein Mensch wirkte hier als schlechthin gut, das kam noch nicht vor. Mit einem Zug nach unten, zu den Armen und Verachteten, dabei keineswegs gönnerisch. Mit Aufruhr nach oben, unüberhörbar sind die Peitschenhiebe gegen die Wechsler und alle, >welche die Meinen betrüben<. … Armut steht dem Heil am nächsten, Reichtum hindert es, inwendig und auswendig. Aber Armut ist bei Jeus mitnichten bereits ein Stück des Heils, dergestalt dass sie nicht vernichtet werden müsste. Nirgends wird Armut, als übliche, erzwungene, erbärmliche, verteidigt, geraten wird nur freiwillige Armut, und der Rat zu ihr ergeht nur an die Üppigen, an den reichen Jüngling (Matth. 19, 21). …Sich arm halten, das gilt als Mittel zur Verhinderung des steinernen Herzens, zur Beförderung der Brüdergemeinde. Diese Gemeinde, liebes-kommunistisch aufgebaut, will keine Reichen, doch auch keine Armen im erzwungen-entbehrenden Sinn.“ [3]
Mit Recht sieht Bloch also in Jesu Wertlehre eine Alternative zur Verstetigung und „Verewigung“ von Klassenkampf, Klassengegensatz und Klassengesellschaft.
Feststeht allerdings, dass Jesus keinen Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht und die mit ihr paktierende jüdische Oberschicht geplant oder organisiert hat. Nicht zu bezweifeln ist dennoch, dass Jesus eine langfristige Revolution im Sinne einer radikalen, nachhaltigen Umwälzung der Lebens-und Abhängigkeitsverhältnisse und der Gesinnungen beabsichtigt hat, so wenn er betonte, er wolle den Menschen „neuen Wein in neuen Schläuchen“ spenden (Mk. 2, 22). Eine völlig neue Liebes-Gemeinschaft ohne Herrschaft von Oberen über Untergebene scheint möglich; Willkür und Machtmissbrauch können durch eine neue Moral des Dienens und der Nächstenliebe ersetzt werden. Mit jeglicher Oben-Unten-Hierarchie, wie sie z.B. der von Nietzsche ausdrücklich gelobte Platon in seiner Staatslehre anpreist, ist Jesu neue Gemeinschafts-Ordnung, sein Neuer Bund, unvereinbar. [4]
Der „Liebeskommunismus“ der Jerusalemer Urgemeinde
Die erste christliche Gemeinde, die der Jerusalemer Urgemeinde, existierte von ca. 30 bis 70 n.Chr., d.h. von der Zeit kurz nach Jesu Kreuzestod bis zur Zerstörung Jerusalems durch den römischen Kaiser Titus im Jahre 70 n.Chr. Wie ernst man in dieser Gemeinde den Gleichheits-Grundsatz Jesu genommen hat, geht aus einer Schilderung in der Apostel-geschichte hervor, in der es heißt: „Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam.“ (Apg. 2, 44) Zur Bezeichnung dieser Güterge-meinschaft wurde im 19. Jahrhundert der Begriff ‚Liebeskommunismus‘ geprägt. Wobei es natürlich nicht um Kommunismus im marxistischen Sinne gehen konnte, zumal in dem Bericht der Apostelgeschichte nirgendwo von der „Aufhebung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse“ die Rede ist.
Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass der Marxist Ernst Bloch ausdrücklich an dem Begriff ‚Liebeskommunismus‘ festhält, wenn er schreibt:
„Diese Gemeinde, liebeskommunistisch aufgebaut, will keine Reichen, doch auch keine Armen im erzwungen-entbehrenden Sinn. >Keiner sagte von seinen Gütern, daß sie seine wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam< (Apostelgesch. 4, 32), und die Güter sind aus Spenden gesammelt, ausreichend für die kurze Frist, die Jesus der alten Erde noch übrigließ. Der Satz von den Lilien auf dem Felde, den Vögeln unter den Himmeln ist keineswegs wirtschaftlich naiv, er ist vielmehr schwärmerisch überlegt. Denn wenn die Füße derer, die die Welt und ihre Sorge begraben, vor der Tür stehen, wird wirtschaftliche Vorsorge für übermorgen dumm. Ebenso lehrt der Rat, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist (Marc. 12,17), nicht Schickung in die Welt, wie nachher bei Paulus, sondern Verachtung; in Kürze wird des Kaisers gar nicht mehr sein. Das Pfund, mit dem gewuchert werden soll, ist einzig Güte oder der innere Schatz. Ihn hebt die Nachfolge einer Liebe, die nichts mehr für sich gewollt hat, die das Leben für die Brüder zu geben bereit ist. Die antike Liebe war Eros zu dem Schönen, Glänzenden, die christliche wendet sich statt dessen nicht bloß dem Gedrückten und Verlorenen, sondern darin dem Unscheinbaren zu. Nur diese Bewegungsumkehr der antiken Liebe gibt der Parteiischkeit für die Armen nun doch einen Selbstzweck, eben den aus ihrer Erwählung folgenden, aus dem Aufenthalt im Kleinen. Jesus ist selber bei den Hilflosen anwesend, als Element dieser Niedrigkeit, im Dunkel stehend, nicht im Glanz: >Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan< (Matth. 25, 40). [5]
Zweifellos interpretiert Bloch hier die Begriffsbestandteile ‚Liebe‘ und ‚Kommunismus‘ in höchst origineller Art und Weise: Die Christen der Urgemeinde entwickeln eine neue Sicht auf die ökonomischen Bedürfnisse und Erfordernisse. Sie erwarten die baldige Heraufkunft des Reiches Gottes in Christi Wiederkehr und beurteilen das irdische Wirtschaften daher wie „die Lilien auf dem Felde“, die nicht säen oder ernten und dennoch in Blüte stehen. Weder Arme noch Reiche sind in dieser Situation vonnöten; wobei die unbedingte Solidarität und Nächstenliebe, folglich Liebe, nicht mehr im Sinne des antiken „Eros zu dem Schönen, Glän-zenden“ besteht, sondern in der unbedingten, selbstlosen Zuwendung zu den „geringsten Brüdern“, zu allen Unterdrückten, Notleidenden, „Unscheinbaren“. Auch ohne religiöse Transzendenz lässt sich diese „Bewegungsumkehr“ problemlos in den Marxismus integrieren – ein erneutes Zeichen dafür, dass Marxismus und Christentum keineswegs gänzlich unver-einbar sind, wie insbesondere christliche Theologen immer wieder behauptet haben.
Was aber bedeutet die Blochsche Bewegungsumkehr für die Einschätzung der frühchrist-lichen Gütergemeinschaft? Auskunft hierüber vermittelt ein Wikipedia-Artikel über Güter-gemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde , in dem es heißt:
„Als Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde (auch Gütergemeinschaft der Urgemeinde, Urgemeindliche Gütergemeinschaft oder urchristliche Gütergemein-schaft) wird das Einbringen alles Eigentums und Teilen der Erlöse mit den Bedürftigen bezeichnet, das die Apostelgeschichte des Lukas (Apg 2,44 EU; 4,32 EU) im Neuen Testament (NT) als Kennzeichen dieser ersten Gemeinschaft des Urchristentums in Jerusalem herausstellt.
Mit Bezug auf diese NT-Darstellung versuchten zahlreiche christliche Gruppen in der Kirchengeschichte, ihr Eigentum zu teilen und ganz oder teilweise gemeinsam zu verwalten. Die Forschung fragt vor allem, woher das Motiv des Kollektiveigentums stammt, wie die zugehörigen NT-Texte sie begründen, welcher Art sie war, welche historische Realität dahinter stand und welche Bedeutung sie heute haben kann.
Texte zur Gütergemeinschaft
Die Aussage „Sie hatten alles gemeinsam“ findet sich zweimal nahezu wortgleich in den Texteinheiten Apg 2,42–47 und Apg 4,32–35. Es sind formal, sprachlich und inhaltlich eng verwandte Summarien. Der Evangelist Lukas gilt als ihr gemeinsamer Autor.[1]
Im direkten Anschluss an das Pfingstwunder und die erste Predigt des Simon Petrus fasst Apg 2,42–47 EU die Hauptmerkmale der Jerusalemer Urgemeinde zusammen:
„Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten. Alle wurden von Furcht ergriffen; denn durch die Apostel geschahen viele Wunder und Zeichen. Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte. Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens. Sie lobten Gott und waren beim ganzen Volk beliebt. Und der Herr fügte täglich ihrer Gemeinschaft die hinzu, die gerettet werden sollten.“
Das Wort koinonia („Gemeinschaft“) verwendet Lukas nur hier. Wie die Wendung hapanta koina („alles gemeinsam“) bestätigt, bedeutet es im NT nicht nur personale Harmonie, sondern auch soziale Verwendung des Eigentums. Die Verteilung von Verkaufserlösen an Bedürftige ist demnach konstitutiver Bestandteil dieser Gemeinschaft und hat denselben Rang wie die apostolische Lehre, die Mahlfeier (bei der Sakrament und Sättigung noch ungetrennt waren), das Gebet und die Mission. Dafür erfuhr die Urgemeinde laut Apg 2,47 EU die Sympathie des jüdischen Volkes....
Diese Merkmale stellt der Text als Wirkung des im Pfingstwunder ausgeschütteten Heiligen Geistes und der ersten Petruspredigt dar. Diese verkündet zentral die Auferstehung Jesu Christi, des zuvor für die Schuld aller Gekreuzigten (Apg 2,36 EU). Sie endet mit dem Aufruf (Apg 2,38.40 EU): „Tut Buße und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes. […] Lasst euch erretten aus diesem verkehrten Geschlecht!“ Darauf folgt eine Massentaufe der Predigthörer. In ihrer Gütergemeinschaft zeigt sich, dass sie den versprochenen Geist empfangen haben und dem Umkehrruf folgen. …
Nach weiteren Missionserfolgen kommt Apg 4,32–35 EU auf das Thema Gütergemeinschaft zurück und erläutert deren Art und Ziel:
„Und die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; und auch nicht einer sagte, dass etwas von seinen Gütern sein eigen sei, sondern alle Dinge waren ihnen gemeinsam. […] Es litt auch niemand unter ihnen Mangel; denn die, welche Besitzer von Äckern oder Häusern waren, verkauften sie und brachten den Erlös des Verkauften und legten ihn den Aposteln zu Füßen; und man teilte jedem aus, so wie jemand bedürftig war.“
Demnach blieb Privatbesitz formell bestehen, aber jeder Getaufte verzichtete den anderen Gemeindegliedern gegenüber je nach Bedarf auf seine Besitzrechte. Den so erreichten Zustand des Gemeinbesitzes bezeichnet Lukas mit der Wendung hapanta koina analog zum damaligen hellenistischen Freundschaftsideal, so dass die Urgemeinde hier auch für Nichtjuden Vorbild war und sein sollte.…
Texte zum Besitzausgleich zwischen Gemeinden
Nach Apg 6,1–7 EU gewährleistete die Gütergemeinschaft nicht immer, dass alle versorgt wurden: Bei der täglichen Nahrungsausteilung seien die Witwen der griechisch sprechenden Judenchristen übersehen worden. Eine Vollversammlung der Gemeinde habe die bisher von den Aposteln selbst geübte Nahrungsverteilung einem neu gewählten Gremium von sieben Diakonen übertragen. …
Weitere NT-Texte berichten von Kollekten aus anderen Gemeinden für die Urgemeinde. Sie zeigen, dass es dort weiterhin Mangel gab, so dass ein Besitzausgleich zwischen den Gemeinden eingeführt wurde. Apg 11,27–30 erwähnt eine solche Kollekte aus Antiochia. Nach Gal 2,10 wurde beim Apostelkonzil (um 48) eine fortlaufende Kollekte für die Urgemeinde vereinbart, die Paulus von Tarsus in den von ihm gegründeten Gemeinden einsammeln wollte. Denkbarer Anlass war eine Hungersnot in der Region um das Jahr 47/48.… Das Beispiel der Jerusalemer Gütergemeinschaft kann die externe Spendensammlung angeregt haben.…“ [6]
Liebeskommunismus bedeutet also – mit und neben den von Bloch herausgestellten Aspekten:
1. „Einbringen alles Eigentums und Teilen der Erlöse mit den Bedürftigen“,
2. „ … nicht nur personale Harmonie, sondern auch soziale Verwendung des Eigentums“,
3. „ … man teilte jedem aus, so wie jemand bedürftig war“,
4. „Besitzausgleich zwischen den Gemeinden“.
Nachhaltiger Einfluss ging von diesem Konzept der Gütergemeinschaft nicht nur auf das frühe Christentum, sondern auch auf die nachfolgenden Epochen aus – angefangen bei den mittelalterlichen Bettelmönchen bis hin zu heutigen caritativen Einrichtungen, aber auch bis hin zur Konkreten Utopie einer Klassenlosen Gesellschaft, in der alle Menschen ihren Bedürf-nissen und ihren Fähigkeiten gemäß leben können.
ZWEITER TEIL
Verzerrungen und Fehlentwicklungen
a) Die „Erbsünde“ bei Paulus, Augustinus und Luther
In einem Wikipedia –Artikel über die Erbsünde heißt es:
„Der Apostel Paulus entwickelt eine Theologie der Sünde und eine damit zusammenhängende Anthropologie, die als Grundlage der späteren Erbsündenlehre gelten kann, Röm 5,12 EU. Paulus parallelisiert darin den für die ganze Menschheit stehenden ersten Menschen, Adam (das hebräische Wort Adam bedeutet einfach „Mensch“), mit dem für die neue Menschheit stehenden zweiten Adam, Christus. So wie aufgrund der Sünde des Ersten die Menschheit dem Tod ausgeliefert war, wird sie aufgrund der Erlösungstat des Zweiten aus diesem Tod errettet: „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil (eph' hô) alle sündigten. […] sind durch die Übertretung des einen die vielen dem Tod anheim gefallen, so ist erst recht die Gnade Gottes und die Gabe, die durch die Gnadentat des einen Menschen Jesus Christus bewirkt worden ist, den vielen reichlich zuteil geworden.“ (Röm 5,12–17 EU) Der zentrale Punkt wird im ersten Brief an die Korinther nochmals betont:
„Denn wie in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden.“[3]
Die Erbsünde stellt somit ein spezifisch christliches, aus dem Erlösungsbegriff hergeleitetes Dogma dar, das im Judentum kein direktes lehrmäßiges Vorbild hat.“ [7]
Allerdings heißt es schon bei Mose, das „Dichten des menschlichen Herzens“ sei „böse von Jugend auf“ (1. Mose 8, 21). Und auch die Story von Adams „Sündenfall“ liegt den Vorstellungen von der „Erbsünde“ (so bei Augustinus, s.u.) zu Grunde. Wobei dem Apostel Paulus zugute zu halten ist, dass er nicht von biologischer Vererbung der Sünde spricht, sondern davon, dass die Menschen, da sie der „Fleischeslust“ nachgeben, immer wieder der Sünde zu verfallen drohen. Hierzu schreibt Peter Nathan (2003):
„Wenn Paulus davon spricht, dass die Sünde „in die Welt gekommen“ ist, meint er die Tatsache, dass sich Adam schon damals freiwillig Satans sündiger Natur hingab - mit der auch Jesus konfrontiert wurde, aber die er von sich wies (Matthäus 4, 3-11; Römer 5, 19). Durch diese Tat sorgte Adam dafür, dass seine Nachkommen unter Satans Herrschaft und Einfluss sein würden. Darum spricht der Psalmist in Psalm 51 davon, in Sünde empfangen worden zu sein. Nicht der Akt der Empfängnis war Sünde, sondern durch die Empfängnis kam er in eine von der Sünde versklavte Welt. So sah Paulus Sünde eher in einer geistigen statt nur biologischen Dimension.“ [8]
Dies allein erklärt aber nicht die bekannten schwerwiegenden Fehlentwicklungen, zu denen es in der Geschichte des Christentums gekommen ist, darunter Exzesse wie die Kreuzzüge, die Inquisition, die Verfolgung von Juden, „Hexen“ und „Ketzern“, Frauen- und Leib-feindlichkeit, Kindesmissbrauch u.a.m. Für höchst bedenklich und gravierend halte ich allerdings die Tatsache, dass schon bedeutende Kirchenlehrer („Kirchenväter“) wie Augustinus (354-430) in ihren Schriften solche Methoden gerechtfertigt haben. Trifft Augustinus also eine Mitschuld an den genannten Fehlentwicklungen? Wie kam er zu seinen Überzeugungen? Auch bei ihm spielt die „Erbsünden“-Lehre eine wesentliche Rolle, obwohl er nicht deren Erfinder war, wohl aber der erste, der sie ausformuliert hat. Für die Entstehung seiner Überzeugungen sind sowohl historische als auch sachlogische und ideologische Gründe maßgebend. Augustinus lebte zur Zeit der Völkerwanderung, als immer öfter germanische („barbarische“) Heereszüge ins Römische Reich eindrangen, immense Zerstörungen anrichteten und schließlich den Untergang des Römischen Reiches herbeiführten. In diesen Sog hätte das Christentum, die Staatsreligion des Römischen Reiches, hineingezogen werden können. Dieser Gefahr wollte Augustin unbedingt vorbeugen. Hätte er die Werte von ihren Glaubensinhalten getrennt, wären beide Elemente vermutlich eine leichte Beute der seinerzeit herrschenden philosophischen Anschauungen geworden, zu denen vornehmlich der Neuplatonismus, die Stoa und der Skeptizismus gehörten.
Der Neuplatoniker Plotin (204 – 269 n. Chr.) lässt alles Gute und Schöne als „Emanation“ (Ausgießung) aus dem von der Seele lange ruhelos gesuchten „EINEN“ (griech. ‚hen‘) hervorgehen. Der Urgrund des Einen – und damit das einzig Wahre, die Wahrheit selbst – ist jedoch Gott als „das Erste“, das mit keinem Seienden identisch ist, obwohl es alles Seiende geschaffen hat. Nichtsdestoweniger kann die Seele von Gott „befruchtet“ werden, zumal Gott „Urgrund und Ziel“ der Seele ist, wohingegen „das Leben hienieden unter den Erdendingen ist Straucheln, Verbannung, ‚Entfiederung‘ “. [9]
Solche Grundbestandteile des Neuplatonismus macht Augustin sich zu eigen und verbindet sie mit den Lehren des Christentums. Diese neue Synthese lässt er an die Stelle jeglicher weltlicher Philosophie treten, da letztere das Schicksal der Erdendinge teile: „Straucheln, Verbannung“, Scheitern. Insofern glaubt Augustinus, das Christentum gegenüber den nicht-christlichen Ideologien seiner Zeit absichern zu können. Ergebnis seiner Bemühungen ist ein riesiges, kaum überschaubares Gesamtwerk – mit Stellungnahmen zu nahezu allen Lebens-bereichen und -problemen und mit nachhaltiger Wirkung für die Folgezeit.
Dies sei, wie Augustinus in seinem Spätwerk darlegt, nur wenigen Menschen überhaupt vergönnt. Nur wenige seien in der Lage, das Selbst im Geist und von dort den Weg zum „einzig Wahren“ – zur Wahrheit in Gott – zu finden. Denn Augustinus verbindet den Gedanken der Selbstfindung im Geist nunmehr mit der Lehre von der Prädestination, wonach „nur wenige … auserwählt“ sind (Matth. 20, 16), der Gnade Gottes teilhaftig zu werden, während die große Masse der Menschen eine „massa peccati“ , eine ‚Sündenmasse‘, und als solche ewiger Verdammnis – im Jenseits in Hölle und Fegefeuer – und zwar schon auf Grund der Erbsünde, preisgegeben sei: „So, ja so, so ist der Mensch in seinem Innern: blind und schlaff, schlumpig und unanständig.“[10], was wohl einer Verallgemeinerung von „Laster-Katalogen“ gleichkommt, wie sie schon im Neuen Testament zu finden sind (z.B. in Gal. 5, 19-21). Mit erheblichen Folgen, z.B. für die Einschätzung der Sexualität, in der Augustinus grundsätzlich „eine Sünde“ sieht, die in der Ehe nur mühsam bezähmt werden könne, so dass Ehelosigkeit mehr wert sei als die Ehe.(!)
Gott-Gemeinschaft (Civitas Dei) und „teuflischer“ Erdenstaat.Augustinus‘ Kernaussagen zu den christlichen Werten lassen sich an Hand einiger Textstellen aus seinem Hauptwerk verdeutlichen. Es sind dies die 22 Bücher über die Civitas Dei, zumeist übersetzt mit ‚Gottesstaat‘, was ich für durchaus sinnvoll halte, weil ein ‚Staat Gottes‘ mehr umfasst als eine ‚Stadt Gottes‘, die eigentlich getreue Übersetzung von ‚Civitas Dei‘. Zu bedenken ist allerdings, dass der Begriff ‚Gottesstaat‘ in unserer Zeit vorwiegend nicht-christlich geprägt ist und nicht selten negative Assoziationen weckt. Daher sollte man diesen Begriff vielleicht besser durch den Begriff ‚Gott-Gemeinschaft‘ (oder ‚Gottes-Gemeinschaft‘) ersetzen. – Der Civitas Dei stellt Augustinus den „Erdenstaat“ gegenüber, den er auch als ‚Civitas diaboli‘, Staat des Teufels, bezeichnet. Getreu dem Vorbild Platons rechnet er seinen Gottesstaat dem „Ideenhimmel“ zu, der folglich zunächst nur in den Köpfen von Menschen existiert, genauer: in den Köpfen von Christen, die Augustinus nacheifern. Da ihm die christliche Liebe als einer der höchsten Werte gilt, kann der Kirchenvater die beiden „Staaten“ gemäß zwei Arten des Liebens unterscheiden: „… der irdische durch Selbstliebe, die sich bis zur Gottesverachtung steigert, der himmlische durch Gottesliebe, die sich bis zur Selbstverachtung erhebt“. [11] Kirche und weltlicher Staat entsprechen den beiden Reichen in äußeren Erscheinungsformen, doch nicht wenige Menschen gehören beiden Reichen an, die sich somit teilweise überschneiden und durchdringen. Geschichtlich setze sich dieses Zusammenleben fort, bis am Ende der Zeiten die Trennung erfolge, aus welcher der Gottesstaat dann als Sieger hervorgehen werde.
Für das Leben und Erleben der christlichen Werte erweist sich diese Theorie als überaus bedeutsam. Dem Erdenstaat billigt Augustinus durchaus das Streben nach Ordnung und friedlichem Zusammenleben der Erdenbürger zu. Von diesem Frieden könne und solle auch der Gottesstaat profitieren, so dass der Erdenstaat – und zwar auch hinsichtlich fragwürdiger Zwangsmaßnahmen – anzuerkennen sei, solange er nicht den Religionsfrieden stört oder gefährdet. Geistig sei aber Distanz vom Erdenstaat vonnöten, da seine Bewohner zumeist aus Menschen bestünden, die den einen, wahren Gott nicht kennen, sondern Vielgötterei be-treiben, so dass sie weder für wahre Gerechtigkeit noch für sozialen Ausgleich sorgen können. Weil bei ihnen nicht die Liebe, sondern der Egoismus herrsche, hätten sie immer wieder mit Interessenkonflikten zu kämpfen, die häufig nicht gewaltfrei zu lösen seien. Ihre Machthaber bezeichnet Augustinus auch als „Räuberbanden“, die ihre Untertanen durch Steuern ausplündern und nach außen hin kriegstreiberisch auftreten, weil sie imperialistische Ziele verfolgen. [12]
Dagegen herrschen im Reich Gottes, der Civitas Dei, völlig andere Verhältnisse. Da hier der eine Gott verehrt wird, gelten in der Kirche nicht die religiösen Gesetze und Vorschriften des Erdenstaates. Gottes Kirche ist außerdem international, denn sie umfasst eine „Pilger-gesellschaft“ von Christen aus aller Herren Länder, die den Erdenstaat anerkennen, solange er für Frieden sorgt; wahren Frieden und wahres Glück finden die christlichen Pilger aber nur im Himmelreich, vollkommene Seligkeit erst im jenseitigen Leben bei Gott. Erst durch den Glau-ben an ihn wird das irdische Leben erträglich und sinnvoll, wozu Augustinus mit Blick auf den gläubigen Christen schreibt: „Diesen Frieden hat er, solange die Pilgerschaft dauert, im Glauben, und aus diesem Glauben führt er ein gerechtes Leben, indem er zur Erlangung jenes Friedens alles in Beziehung setzt, was er an guten Handlungen gegenüber Gott und den Nächsten unternimmt; denn das Leben einer bürgerlichen Gemeinschaft legt natürlich Wert auf die Beziehung zum Nebenmenschen.“[13]. – Kirche und bürgerliche Gesellschaft, Gottes-staat und Erdenstaat sollen also friedlich zusammenleben, wenn auch auf ganz unter-schiedlichen geistigen Grundlagen. Am besten erreichbar sei diese friedliche Koexistenz, wenn alle Menschen nach dem Grundsatz leben würden: „Dilige et fac quod vis!“ (liebe und tu, was du willst). Neue Regeln für das Gemeinschaftsleben, wenn nicht sogar eine neue Rechtsordnung, würden sich dadurch von selbst ergeben.
Kritische Würdigung. Dennoch ist das Gedankengebäude des Augustinus wohl zu Recht immer wieder kritisiert worden, vor allem anscheinend von Theoretikern des 20. Jahr-hunderts. Anzufangen ist, wie ich meine, dort, wo auch Augustinus angesetzt hat: bei der Ich-Analyse. Spätestens seit Nietzsche und Freud wissen wir, dass der Mensch auch von seiner Leiblichkeit her betrachtet werden kann und muss. Dann entfällt jeglicher Grund, die Sinne abzuwerten. Ohne sinnliche Wahrnehmung gibt es weder Gedächtnis noch Vorstellungen und Denken, zumal diese Bewusstseinselemente ausnahmslos mit der Gefühlswelt des Menschen verbunden sind. Da die Sinne auch zwischen Innenwelt und Außenwelt vermitteln, besteht keinerlei Notwendigkeit, einen „Schnitt zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit“ vorzunehmen. Dialektische Subjekt-Objekt-Beziehungen überbrücken die angebliche Kluft zwischen Bewusstsein und Außenwelt.
Damit entfällt auch die Voraussetzung dafür, den Weg zur „Wahrheit in Gott“ ausschließlich über den Geist, d.h. unter „Ausschaltung“ (besser: künstliche Ausklammerung) der Sinne finden zu können. Gottes Existenz ist ohnehin nicht beweisbar, so dass es völlig abwegig erscheint, in ihm allein das zu lokalisieren, was man Wahrheit nennt. (Auch wenn Jesus von sich behauptet hat, er sei „die Wahrheit“, ohne allerdings die Tatsache leugnen zu können, dass diese „Wahrheit“ nicht einfach göttlich-absolut, sondern in seiner Person inkarniert war, Mensch geworden ist.) Davon abgesehen halte ich es für unzulässig, einen philosophischen Wahrheitsbegriff (z.B. den von K.R. Poppers Korrespondenztheorie) an den Gottesbegriff anzulegen. Dafür fehlt die Voraussetzung, dem Bedeutungsinhalt ‚Wahrheit‘ einen objektiven Bezeichnungsinhalt (linguistisch: eine Referenz) ‚Gott‘ zuordnen zu können.
Geradezu totalitär mutet der Anspruch Augustins an, der Welt ausschließlich vom Gottes-glauben her Wert und Würde zu verleihen. Damit widerspricht der „heilige Kirchenvater“ sich teilweise selbst. Denn er behauptet ja, dass einige Menschen durchaus in der Lage sind, die negativen Aspekte des Lebens zu ertragen und in den Griff zu bekommen (s.o.). Dass er dies nicht allen Menschen zutraut, führe ich auf seine – angeblich auf einem Übersetzungsfehler beruhende [14] – Erbsündenlehre zurück, die ihren Autor überdies offensichtlich dazu verleitet hat, die Mehrzahl der Menschen als „Sündenmasse“ zu bezeichnen und den „Erdenstaat“ zum „Teufelsstaat“ herabzuwürdigen, obwohl nur der Erdenstaat, nicht aber ein Gottesstaat an Hand objektiver Tatsachen nachweisbar ist.
Offensichtlich hat die Werte-Hierarchie des Augustinus zu bedauerlichen Fehlentwicklungen geführt oder beigetragen. Das Liebesgebot verhindert letztlich nicht eine gewisse Intoleranz gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen. Augustinus verlangt z.B. nicht einfach, Abweichler zu ertragen, sondern – und dies sogar unter Berufung auf das Liebesgebot! – sie notfalls zwangsweise umzuerziehen. Indem er den Zwang in Glaubensfragen legitimiert, sichert er scheinbar die christliche Lehre, öffnet aber in Wirklichkeit diversen Formen der Intoleranz – bis hin zu den Erlassen mittelalterlicher Kaiser zur Todesstrafe für Ketzer und zu den Exzessen der Inquisition – Tor und Tür.
Noch fragwürdiger muss uns Heutigen die Tatsache erscheinen, dass Augustinus eine Theorie des gerechten Krieges erfunden hat. „Wer angegriffen werde, so lautet sein simpler Leitsatz, habe das Recht, sich zu verteidigen., er dürfe auch versuchen, geraubtes Gut zurückzuholen und zu diesem Zwecke Krieg zu führen, denn dieser Krieg sei ein gerechter Krieg.“ [15]– Wohin solche Rechtfertigung führen kann, zeigte sich schon zu Augustins Lebzeiten, als er, in seiner Eigenschaft als Bischof von Hippo, die Donatisten (eine Sekte mit „einer … stark sozial orientierten christlichen Richtung“ ebd.) grausam verfolgen ließ und diesen Krieg als „Heiligen Krieg“ bezeichnete. Kaum verwunderlich ist es, dass in der Folgezeit christliche Herrscher immer wieder ihre Kriege, so auch die Kreuzzüge, unter Berufung auf Augustinus gerechtfertigt haben.
Nicht verwunderlich ist auch, dass Augustinus a) als überzeugter Antisemit auftrat und Juden als „Mörder“ bezeichnete, b) „Bücherverbrennungen, Enteignungen und die Zerstörung von Tempelanlagen“ gerechtfertigt hat undc) Theater als „Freistätten der Nichtswürdigkeit, … Verruchtheit und Unzucht“ gebrandmarkt hat. (K. Wolschner a.a.O. S. 2)
Ebenso leuchtet ohne weiteres ein, dass die Verlautbarungen des Augustinus über Ehemoral und Sexualität heute fast nirgendwo mehr akzeptiert werden. Sogar namhafte katholische Theologen kritisieren den „heiligen Kirchenvater“ teilweise heftig. So weist der Universitäts-Professor Konrad Hilpert die generelle Einstufung der Sexualität als „Sünde“ ebenso energisch zurück wie die Behauptung, Ehe und Zeugung dienten vornehmlich der Disziplinierung. Außerdem habe Augustinus die „Subjekthaftigkeit der Liebe“ völlig ignoriert und völlig zu Unrecht die Ehe gegenüber der Ehelosigkeit als „minderwertig“ aufgefasst. [16]
Martin Luther (1483-1546) scheint in mehrfacher Hinsicht voreingenommen und befangen zu sein, und zwar sowohl durch seine Buchgelehrsamkeit und Buchstabengläubigkeit als auch durch seinen unerschütterlichen Glauben an Autoritäten wie Paulus und Augustinus. Umso erstaunlicher ist der Wertewandel, den er durch seine Reformation bewirkt hat. Dieser Wandel ist kaum überschaubar und nur an Hand einiger exemplarischer Themen und Problemstellungen darstellbar. Was nichts an der Tatsache ändert, dass einige der Lutherschen Wertungen bis heute umstritten oder sogar negativ zu beurteilen sind. So seine teilweise abschätzigen Bemerkungen über Frauen, seine äußerst polemischen, hasserfüllten Ausfälle gegenüber den Juden und ähnlich negativ gefühlsbeladene Angriffe auf die Bauern, die für ihr Recht eintraten und in blutigen Kriegen gegen die Obrigkeit kämpften. – In all diesen üblen Abwertungen konnte Luther sich allerdings sogar auf Bibelstellen oder auch auf sogenannte „Kirchenväter“ wie Augustinus oder auf Kirchenlehrer wie Thomas von Aquin berufen.
Christliche Freiheit, aber unfreier Wille? Was Luther darunter versteht, hat er in zwei Schriften niedergelegt, die seinerzeit oft und gern gelesen wurden, nämlich in 1. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, erschienen im Jahre 1520 als Reaktion auf eine kaiserliche Bannbulle, und in 2. „Vom unfreien Willen“ (‚De servo arbitrio‘, wörtlich: ‚Vom Willen als Diener‘, verfasst ca. 1525 als Antwort auf die Streitschrift ‚De libero arbitrio…‘, ‚Vom freien Willen…‘, des Erasmus von Rotterdam ). Was Luther über das Gewissen geäußert hat, gilt teilweise und sinngemäß auch für das Freiheitsproblem. Demnach ist der Mensch frei und unfrei zugleich. Frei – in gewissen Grenzen – gegenüber den Mitmenschen, unfrei jedoch in seiner Beziehung zu Gott.
Um diese Thesen zu begründen, bemüht Luther sich um eingehende Analysen der Natur des Christenmenschen. Diese teilt er in zwei strikt von einander getrennte, völlig unterschiedliche Naturen auf, die leibliche und die seelische. Leiblich, also in Fleisch und Blut, teilt der Christ das Schicksal aller Menschen: äußerlich, sündig und sterblich zu sein. Seelisch aber ist er ein völlig anderer, nämlich ein „geistlicher, neuer, innerlicher Mensch“[17], falls er sich durch das Wort Gottes leiten lässt. Damit nennt Luther zugleich die Voraussetzung für die Rechtfertigung des Menschen einzig und allein aus Gnade (‚sola gratia‘) und aus dem Glauben (‚sola fide‘). Hierauf beruhe jegliche Frömmigkeit – aber auch jegliche Freiheit des Christenmenschen. Es ist in erster Linie Freiheit als „Freiheit vom religiösen Leistungs-zwang“[18]; das Seelenheil hänge nicht von den guten Werken ab.
Wie aber passt dazu die Tatsache, dass Luther in seiner Schrift ‚De servo arbitrio‘ die Willensfreiheit des Menschen massiv in Frage stellt? Der Hauptgrund hierfür liegt, wie ich meine, in einem gewissen Übereifer Luthers, aus dem Konflikte und Widersprüche entstanden sind. Immerhin hatte Erasmus von Rotterdam (1469-1536) in seiner Streitschrift (s.o.) offensichtlich den Kern der Lutherschen Lehre getroffen, wonach der Mensch völlig auf den Glauben und die Gnade Gottes angewiesen sei. Dagegen betonte Erasmus die Fähigkeit des Menschen, aus eigenem Entschluss, also durch den eigenen freien Willen, zu seinem eigenen Seelenheil beitragen zu können, zumal der Mensch ja auch die Freiheit habe, sich für oder gegen Gott zu entscheiden.
Das konnte Luther nicht hinnehmen, ohne seine eigene Überzeugung zu verraten. Deshalb hielt er seinem Kontrahenten entgegen: „Ein gewisses Maß freier Entscheidung kannst Du wohl dem Menschen mit Recht zubilligen, aber ihm in göttlichen Dingen einen freien Willen zuzubilligen, das geht zu weit.“ [19] Anscheinend hieraus schließt Thomas Martin Schneider, Luther habe dem Menschen „in zwischenmenschlichen, weltlichen Angelegenheiten“ durchaus Willensfreiheit eingeräumt, um sogleich hinzuzufügen: „Wirklich frei kann der Mensch aber nach Luther erst sein, wenn ihm die Sache des Heils von Gott gänzlich aus der Hand genommen worden ist.“ (a.a.O. S. 2).
Zweifellos treffen diese Aussagen zu, umschreiben aber ziemlich genau den Widerspruch, in den Luther sich durch seine Lehre selbst verstrickt hat. Denn er widerspricht sich selbst, wenn er in der gleichen Schrift gegen Erasmus behauptet: „Fest steht …, daß wir alles aus Notwendigkeit tun und nichts aus freiem Willen, da die Kraft des freien Willens nichts ist und nichts wirkt und nichts Gutes vermag, wenn die Gnade fehlt.“ Der freie Wille als solcher sei „ein völlig göttlicher Ehrenname“ und könne nur „der göttlichen Majestät“ zugebilligt werden. (Zitate bei K. v. Stosch a.a.O. S. 11 f.)
Wo bleibt denn da das „gewisse Maß freier Entscheidung“, das Luther zuvor dem Menschen zugesprochen hat? Wenn alles von der Gnade Gottes determiniert (durchgängig und vollkommen bestimmt) wird, ist alles Fühlen, Denken und Handeln des Menschen ebenfalls determiniert, so dass für Freiheit eigentlich kein Raum bleibt. Freiheit schlägt bei Luther immer wieder in Unfreiheit, Unterdrückung und Passivität um. Patriarchat und Menschen-würde, die Gleichheit aller Menschen vor Gott, passen nicht zusammen. Frauenverachtung und -herabsetzung ist eine der Folgen.
Für die Rolle eines Teils der jüdischen Oberschicht bei der Verurteilung und Hinrichtung Jesu macht Luther alle Juden verantwortlich – mit grauenhaften Konsequenzen. – Im Konflikt zwischen herrschenden Adligen und leibeigenen Bauern schlägt er sich auf die Seite der Herrschenden – und verstößt damit nicht nur gegen das Prinzip der gleichen Würde aller Menschen, sondern auch gegen das Gebot der Nächsten- und Fernstenliebe.
Einige Kritiker, wie z.B. Hartwig Hohnsbein in einem in der Zeitschrift ‚Ossietzky‘ (No. 22/2013) erschienenen Aufsatz über „Sexuelle Selbstbestimmung“, machen Luther sogar unmittelbar für die Hexenverbrennungen in protestantischen Regionen und sogar für den Holocaust verantwortlich. [20] Ob derart schwerwiegende Vorwürfe historisch gerechtfertigt werden können, wage ich zu bezweifeln. Nicht mehr akzeptabel ist jedenfalls Luthers Menschenbild. Es trifft einfach nicht zu, dass der Mensch von Natur aus böse ist , wie Luther im Anschluss an 1. Mose 8, 21 behauptet, wo es heißt, die Bestrebungen des Menschen seien „böse von Jugend an“. Evolutionsgeschichtlich hat sich nämlich auch das Gegenteil bewahrheitet: Menschen sind durchaus in der Lage, Verbesserungen herbeizuführen, zumal dann, wenn sie untereinander nicht nur konkurrieren, sondern sinnvoll zusammenarbeiten.
Welche Folgen diese Erkenntnis für Luthers Lehre, insbesondere die Gnadenlehre, hat, scheint kaum absehbar. Ohne gute Taten gibt es anscheinend keinen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte. Ob davon das Seelenheil der Menschen abhängt, ist kaum überprüfbar. Festzuhalten bleibt wohl, dass hinsichtlich des Menschenbildes nicht die pessimistischen Auffassungen von Moses, Paulus, Augustin und Luther als wertvoll gelten können, wohl aber die entsprechenden Lehren u.a. von Aristoteles und Thomas von Aquin, denen sich im 18. Jahrhundert u.a. Jean-Jacques Rousseau angeschlossen hat.[21]
Exkurs: Nietzsches radikale Verurteilung des Christentums
Radikale Kritik nicht nur an den frühchristlichen Werten, sondern am Christentum und der Kirche im Ganzen der Geschichte übt Friedrich Nietzsche (1844-1900) . Auf diese Kritik gründet er auch seine berühmte Forderung nach der „Umwertung aller Werte“, nachzulesen in seinen Schriften „Zur Genealogie der Moral“ (1887) und „Der Antichrist“ (1888). [22]
Dabei dürfte Nietzsche in einigen Aspekten – trotz teilweise völlig übertriebener Polemik – durchaus Recht haben, so, wenn er bestimmte Auswüchse brandmarkt, insbesondere diejenigen der seit dem vierten Jahrhundert n.Chr. mit der Würde einer Staatsreligion ausgestatteten ‚Ecclesia triumphans‘, der triumphierenden Kirche (Kreuzzüge, lebens-feindliche Scheinmoral der „asketischen Priester“, Kulturverfall usw.). Als einen für solche Fehlentwicklungen Hauptverantwortlichen bezeichnet Nietzsche allerdings den Apostel Paulus, den er gegen Jesus auszuspielen versucht. [23]
Grundlage seiner umfassenden Kritik am Christentum ist zweifellos seine radikale Ablehnung der frühchristlichen Werte. Dies gilt zunächst für seine Stellungnahme zur Bergpredigt. Sein Vor-Urteil hierzu lautet, in der Psychologie des Neuen Testamentes fehlten völlig die Begriffe Schuld, Strafe und Belohnung [24] – ein Fehlurteil, wie ein Blick auf die tatsächlichen Aussagen der Evangelisten und Apostel zeigt.
Gleiches gilt für Nietzsches Ablehnung des christlichen Gottesbegriffs, den er – entgegen der Logos-Lehre – als völlig lebensfeindlich, nämlich als „zum Widerspruch des Lebens abgeartet“ missversteht (a.a.O. S. 498). Zudem erkennt er in keiner Weise die Schutzfunktion der Bergpredigt und anderer Aussagen Jesu zur Verteidigung der Armen, Schwachen und Unterprivilegierten. Stattdessen polemisiert er dagegen, dass der Christ „dem, der böse gegen ihn ist, weder durch Wort, noch im Herzen Widerstand leistet. Daß er keinen Unterschied zwischen Fremden und Einheimischen, zwischen Juden und Nicht-Juden macht (>der Nächste< eigentlich der Glaubensgenosse, der Jude). Daß er sich gegen niemanden erzürnt, niemanden geringschätzt. Daß er sich bei Gerichtshöfen weder sehen läßt, noch in Anspruch nehmen läßt …“ (ebd. S. 511 f.). Nietzsche sieht offenbar nicht, dass Jesus nicht nur eine neue Moral verkündet, sondern den – oftmals höchst gefährdeten – Gläubigen durch und durch pragmatische Verhaltensregeln mit auf den Weg gibt.
Die Moral Jesu wertet er ohnehin als „Moral des gemeinen Mannes“ und sogar als „Sklavenmoral“ ab. Diese beruhe auf einem „Aufstand“ der Schwachen und Armen gegen die „Herrenmoral“ der Herrschenden, was letztlich auf ein „Ressentiment“, ein rachsüchtiges Minderwertigkeitsgefühl, zurückzuführen sei. Der unterdrückte „kleine Mann“ wolle Rache nehmen dafür, dass er von den herrschenden, „vornehmen“ Tatmenschen zur Untätigkeit gezwungen werde (ebd. S. 192-195). Als den „größten Wert-Gegensatz, den es gibt“ erkennt Nietzsche denjenigen zwischen „christlichen“ und „vornehmen“ Werten (ebd. S. 514).
Dahinter steht jedoch nichts anderes als der anscheinend unüberwindliche Gegensatz von Arm und Reich, Unterdrückern und Unterdrückten, Herren und Knechten. Diesen Gegensatz erhebt Nietzsche quasi zu einem Naturgesetz, an dem nicht zu rütteln sei, so dass die „Sklavenmoral“ – und mithin die Moral der frühchristlichen Werte – auf keinen Fall die Oberhand gewinnen dürfe. Damit entpuppt Nietzsche sich nicht nur in ideologischer und sozialer, sondern auch in politischer Hinsicht als radikaler Widersacher der Ideale des Evangeliums. Für Nächsten-, Fernsten- und Feindesliebe hat er fast nur Hohn und Spott übrig. Wie sehr er den berechtigten Kampf Jesu gegen Unterdrückung, Machtmissbrauch und Korruption verkennt, geht aus der folgenden Bibelstelle hervor, in der es heißt, Jesus habe die Jünger zu sich gerufen und ihnen erklärt: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ (Matth. 20, 25-28).
Unmittelbar verstehbar wird hieraus, woher Nietzsches Begriff „Sklavenmoral“ stammt. Unmissverständlich ist jedoch auch Jesu mitreißende Botschaft, die ich für durchaus revolutionär halte. Eine Liebes-Gemeinschaft ohne Herrschaft von Oberen über Untergebene ist möglich; Willkür und Machtmissbrauch können durch eine neue Moral des Dienens und der Nächstenliebe ersetzt werden. Mit jeglicher Oben-Unten-Hierarchie, wie sie z.B. der von Nietzsche ausdrücklich gelobte Platon in seiner Staatslehre anpreist, ist Jesu neue Gemeinschafts-Ordnung, sein Neuer Bund, unvereinbar. Ebenso natürlich auch Nietzsches Verehrung und Verherrlichung von Gewaltfanatikern und Massenmördern wie Cäsar und Napoleon. Entscheidend ist für ihn stets „der Wille zur Macht“ und das „Recht des Stärkeren“ – im Privaten ebenso wie in Politik und Gesellschaft, wobei er stets auch „die Gewaltsamkeit und Grausamkeit des Willens zur Macht“ betont (S. 90). Er sieht darin sogar ein Grundprinzip der Natur: „Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung – …“ (S. 90 f.). Auch dieses Bekenntnis zur Gewalt-herrschaft wirkt zweifellos wie eine Vorwegnahme des Faschismus !
FazitNietzsches Kritik am Christentum erweist sich als unhaltbar. Auf die bedrohlich-dringlichen Probleme unserer Zeit finden sich in seinen Werken keine bzw. keine zufriedenstellenden Antworten. Seine gesamte Philosophie bleibt hinter Marx‘ realem Humanismus zurück. Er war Antichrist und dabei kein Linker, kein Sozialist. Ein „Links-Nietzscheanismus“, mit Binde- oder Gedankenstrich, lässt sich ebenso wenig begründen wie ein „Rechts-Nietzscheanismus“. Denn Nietzsche war auch kein Rechter. Wer ihn für eine bestimmte politische Richtung vereinnahmt, tut ihm Unrecht. Andererseits bestätigt und verstärkt sein teils archaisches, antikisierendes Welt- und Menschenbild bestehendes Unrecht. Was auch einer der Gründe dafür sein dürfte, dass er sowohl die Demokratie als auch den Sozialismus – beide mit christlichen Wurzeln! – so heftig und fanatisch ablehnt. Zumal in Marxens Reich der Freiheit der Sozialismus die Demokratie vervollkommnet und schließlich aufhebt, indem er jede Form der Herrschaft von Menschen über Menschen beseitigt. – Ein für Nietzsche unerträglicher Gedanke!
Und dies wäre ein zutiefst betrübliches Resultat, hätten wir nicht auch die Gewissheit, dass Nietzsches frenetische Lebensbejahung, sein großes Ja zum Leben, unseren eigenen Willen zum Leben stärken kann und überleben wird. Mit einem Kunstbegriff, in dem sich das Dionysische und das Apollinische zu stets fruchtbaren Synthesen vereinen, wobei im Leben selbst das Prinzip einer umfassenden Kreativität erkennbar wird, wenn auch nicht eines „Ur-Grunds“ der Welt. [25]
b) Feudalismus und Staatskirche („ecclesia triumphans“)
Für die Entwicklung des Feudalismus im frühen Mittelalter waren zwei herausragende Ereignisse von entscheidender Bedeutung: erstens die Erhebung des Christentums zur römischen Staatsreligion durch Kaiser Theodosius I. im Jahre 380 und zweitens die Eroberung des römischen Galliens durch die Franken im späten 5. Jahrhundert. Dazu heißt es in ‚Der große Ploetz‘, in Gallien sei die Verschmelzung der Frankenherrschaft mit der gallorömischen Aristokratie vor Ort vor allem deshalb gelungen, weil Chlodwig zum Christentum übergetreten sei. Dauerhaft allerdings erst Anfang des 8. Jahrhunderts, als Karl Martell „teils durch geschickte Personalpolitik bei der Besetzung des Bistümer, teils durch militärische Mittel“ die fränkische Vorherrschaft auch in Südfrankreich konsolidierte. [26] Mit dem Ergebnis:
„Auf diese Weise entsteht seit Karl Martell und bis zum Tode Karls d. Gr. (814) die fränkische Reichskirche als das sicherste und effektivste Herrschaftsinstrument der Karolinger. Die Kirche wird … sowohl innerlich erneuert als auch gleichzeitig für politisch-administrative Zwecke des Herrschers „instrumentalisiert“ und in ihren wirt-schaftlichen und personellen Ressourcen sogar für militärische Aufgaben (Heeres-folgepflicht der Bischöfe und Reichsäbte) mobilisiert. Das Bündnis der Karolinger mit dem Papsttum und ebenso seit 800 die Kaiserwürde sichern diesen Prozeß der durch-greifenden Reichsreform von päpstlicher Seite her ab und leiten gleichzeitig den Dualismus von weltlicher und geistlicher Gewalt ein, der für das gesamte europäische Mittelalter von entscheidender Bedeutung wird.“ (a.a.O. ebd.)
Auf scheinbar christlicher Grundlage ist hier also ein neues Herrschaftssystem entstanden, aber nicht als Demokratie, sondern als autoritäre Feudalherrschaft mit ausgeklügeltem Lehns-wesen und neuen Synthesen aus Politik und Religion, die sich allerdings nicht immer als stabil erwiesen haben; erinnert sei nur an den Investiturstreit, der im späten 11. und frühen 12. Jahrhundert zwischen Papst („sacerdotium“) und Kaiser („regnum“) tobte. – Jedenfalls konnten sich in diesem System weder die demokratischen Elemente des Evangeliums Jesu noch diejenigen der christlichen Urgemeinden durchsetzen. Welche tieferen Gründe gab es hierfür und was bedeutet es im Einzelnen? Eine erste Antwort hierauf findet sich in einem Interview mit Rolf Bergmeier, in welchem dieser feststellt:
„Eine Religion, die die Askese als höchstes Ziel menschlichen Daseins predigt, die Kaufleute verachtet und den Handel als nichtig bewertet, kann unmöglich den Nährboden für eine breite ökonomische Entwicklung bilden. Insoweit ist die Ideologie des Christentums nicht der einzige, aber ein zentraler Auslöser für den Zusammenbruch der Wirtschaftsordnung. Hinzu kommt die Unbildung der fränkischen Herrscher, die weder lesen noch schreiben können, noch irgendeine Erfahrung im internationalen Handel besitzen. Aus dieser Synthese frommer, ungebildeter Herrscher und glaubensverbohrter Bischöfe wächst seit dem 6. Jahr-hundert eine der abträglichsten Wirtschaftsformen der Menschheitsgeschichte auf: Der Feudalismus mit Grundherrschaft, Leibeigenschaft und Schollenpflicht für mehr als 90 Prozent der Bevölkerung. Weltliche und kirchliche Herrscher dirigieren als von Gott ernannte Bevollmächtigte die Untertanen, die sich im Wesentlichen aus abhängigen Zinsbauern und aus Unfreien bzw. Leibeigenen zusammensetzen und die täglichen Arbeiten auf den kirchlichen, klösterlichen und weltlichen Herrengütern besorgen. Von ihnen wird neben Naturalien- und Fiskalabgaben regelmäßig unentgeltliche Fronarbeit für den kirchlichen oder weltlichen Gutsherrn verlangt. Die Belastungen sind so groß, dass viele Bauern kaum noch den Unterhalt der eigenen Familie bestreiten können. Sie werden im Regelfall wie Immobilien gehandelt und bei Verkauf eines verliehenen Gutes gemeinsam mit dem Gut verkauft. Diese nahezu bedingungslose Unterwerfung Halbfreier und Leibeigener wird von der Kirche "als von Gott in seiner vergeltenden Gerechtigkeit" vorbestimmte Ordnung begründet, gefördert und in den eigenen bischöflichen oder klösterlichen Liegenschaften angewendet.“ [27]
Wodurch schon vorläufig klar sein dürfte, warum dieser „christliche“ Feudalismus als Fehlentwicklung zu bewerten ist.
„Abfall des Katholizismus vom Christentum“?
Ausführlich begründet Bergmeier seine Auffassungen in seiner 2018 erschienenen Abhand-lung Machtkampf. Die Geburt der Staatskirche. Vom Sieg des Katholizismus und den Folgen für Europa . [28] Darin zeigt er auf, welche politischen, ökonomischen und sozialen Folgen der Staatskirchenerlass des Jahres 380 [29] gehabt hat, so im Kulturverfall (u.a. in Folge des Gegen-satzes von geistlicher und geistiger Bildung), im augustinisch verzerrten Menschenbild und schließlich sogar im „Abfall des Katholizismus vom Christentum“, wobei Bergmeier sich – wohl zu Recht – auf Geistesgrößen wie Giordano Bruno, Kant, Goethe, Heinrich Heine und Max Weber beruft (a.a.O. S. 170 ff.). Von Max Weber stammt die Feststellung:
„Eine Religion, … die den Ungläubigen und Ketzern nur die Wahl zwischen Konversion und ausgerottet werden lässt und die grausamste Instrumente zur Folterung und Tötung der Anhänger nicht genehmer Glaubensrichtungen erfindet, kann unmöglich mit der Reli-gion der Nächstenliebe identisch sein.“ [30]
Auch Luther habe Recht gehabt mit seiner These, „dass der institutionelle Katholizismus nicht das eigentliche Christentum widerspiegele“ (ebd.).
Unverstanden und unverständlich sei der „Dreifachgott“ der katholischen Dogmatik (a.a.O. S. 172 ff.). Heftig kritisiert Bergmeier deren Leib-, Sexual- und Frauen-Feindlichkeit und deren totale Intoleranz gegenüber Andersgläubigen und Andersdenkenden – als radikalen Bruch mit der Bergpredigt und dem Gebot der Nächstenliebe, wozu Bergmeier erklärt:
„Art, Intensität und Länge der Nötigung Andersdenkender sind in der Menschheits-geschichte einmalig. Keine andere der Jesus-Bewegungen hat ein derart konsequent-grau-sames Repertoire von Erpressungs- und Folterinstrumenten entwickelt und angewendet wie die Papstkirche. Kein Arianer, kein christlich-orthodoxer Gläubiger, keine altorienta-lisch-christlich Kirche, kein Jude und kein Moslem hat den Begriff der Nächstenliebe so sehr und so lange entwertet wie die katholischen Bischöfe. Hans Küng hat wohl recht, wenn er schreibt: Keine hundert Jahre hat es gebraucht, um aus der verfolgten Kirche eine verfolgende zu machen. Ein schlimmes Zeichen für die kommenden Jahrhunderte sei es gewesen.“ [31] Und es sei „die Trennung vom Ursprünglichen, der Abfall des Katholizismus vom Christentum, der Ruin des ursprünglichen Christentums“ gewesen (a.a.O. S. 176), eine „Deformation zu einem totalitären Herrschaftsgebilde“ (ebd.), oder, mit den Worten Goethes:
„Dem Mittelpunkte des Katholizismus mich nähernd […] trat mir so lebhaft vor die Seele, dass vom ursprünglichen Christentum alle Spur verloschen ist; ja, wenn ich mir es in seiner Reinheit vergegenwärtige, so wie wir es in der Apostelgeschichte sehen, so mußte mir schaudern, was nun auf jenen gemütlichen Anfängen ein unförmliches, ja barockes Heidentum lastet.“ (a.a.O. S. 176 f.)
Zwar fügt Bergmeier an, dass sich inzwischen – zumal seit dem 2. Vatikanischen Konzil von 1962 – auch im Katholizismus ein Wandel vollzogen habe. Dennoch laste die Vergangenheit schwer, wie sich nicht nur in den 1970er und -80er Jahre am Umgang des offiziellen Katholi-zismus mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie (s.u.) gezeigt habe, sondern u.a. auch am neuerlich „staatskirchlichen“ Gehabe vieler Offizieller – und zwar trotz des ausdrücklichen Verbots jeder Form von Staatskirche durch das Grundgesetz. Und:
„So als hätten wir aus der Geschichte nichts gelernt, ist die Staatsregierung des Jahres 2018 ohne Ausnahme mit bekennenden Protestanten und Katholiken besetzt. Kein Vertre-ter der Aufklärung hat sich in diesem Religionskabinett eingefunden, kein säkularer Nach-denker, kein Humanist, kein Atheist, Agnostiker oder Jude, obwohl rund 35 Millionen Bürger nicht Mitglied einer der beiden großen christlichen Kirchen sind. Stattdessen Kir-chenfunktionäre zuhauf.“ (Bergmeier a.a.O. S. 174)
Ob solche Verzerrungen und Ungereimtheiten auch für das Verhältnis des „modernen“ Katho-lizismus zum Kapitalismus charakteristisch sind, wird zu diskutieren sein (s.u.). – Zu Berg-meier ist kritisch anzumerken, dass sein Menschenbild durch sein zwiespältiges Verhältnis zum Begriff `Menschenwürde‘ getrübt ist. Denn er diskutiert diesen Begriff zwar relativ aus-führlich (a.a.O. S. 139 ff.), kommt aber zu dem Ergebnis: „Im Grunde ist der Begriff „Menschenwürde“, gleich ob mit oder ohne göttlichen Zusatz, für eine rationale Diskussion unhaltbar.“ Und: „Menschenwürde“ ist Ausdruck einer prädarwinistischen Weltsicht und eine Worthülse.“ (a.a.O. S. 144 f.) – Dabei übersieht er, dass es möglich ist, den Begriff naturrechtlich, d.h. rechtsphilosophisch mit Natur-Gründen zu bestimmen. Denn die Notwendigkeit, die Würde des Menschen zu achten, ergibt sich aus der Natur des Menschen, in der nachweislich die Fähigkeit sowohl zum Guten als auch zum Bösen angelegt ist (vgl. Baumann-Hölzle 2023, Robra 2022). Schon ein überzogener Selbsterhaltungstrieb kann zu asozialer Bosheit führen. Daher kann und muss der Mensch sich selbst und alle anderen Menschen als Rechtspersonen schützen und zugleich ein möglichst harmonisches Verhältnis zu sich und den anderen gewinnen. Menschenwürde besteht im Bewusstsein der Anerkennung jedes Menschen als Rechtsperson . Insofern ist die Menschenwürde in der Tat unantastbar. Diese Argumentation lässt Bergmeier leider vermissen. Außerdem vernachlässigt er
Die Rolle der Scholastik
Tatsache ist, dass das Geistesleben im Mittelalter in hohem Maße durch den Einfluss der Scholastik bestimmt wurde, die philosophisch nahezu vollständig von der Autorität des Ari-stoteles beherrscht wurde, wobei man bemüht war, diese „heidnische“ antike Philosophie mit dem Katholizismus in Einklang zu bringen. So dass zumindest unter den relativ wenigen Gebildeten dieser Zeit einerseits der Katholizismus an Prestige gewann, andererseits aber das Denken zunehmend in Schematismus und Erstarrung verfiel. Hans Joachim Störigbemerkt hierzu:
„Die Weltherrschaft des Aristoteles. – Vom 12. Jahrhundert ab wurde nach und nach, im wesentlichen durch arabische und jüdische Vermittlung, das gesamte Werk des Aristoteles in Europa bekannt, besonders auch die bis dahin gar nicht gekannten metaphysischen und physikalischen Schriften. … Das Ansehen des Aristoteles stieg so hoch, daß man ihn, als Vorgänger Christi in weltlichen Dingen, Johannes dem Täufer als dem Vorgänger Christi in geistlichen Dingen an die Seite stellte. Sein Werk galt als nicht mehr überbietbare Summe aller weltlichen Weisheit, als Regel der Wahrheit schlechthin. Eine Weltherr-schaft der aristotelischen Philosophie entstand, die bis ins 16. Jahrhundert andauerte. Nie-mals sonst hat ein Einzelner das Denken des Abendlandes so vollständig beherrscht.“ (Störig 1961, S. 284)
Nichtsdestoweniger stellt man andernorts eine solche Alleinherrschaft des Aristotelismus in Abrede. In einem Wikipedia-Artikel zur Scholastik heißt es:
„Man kann aber Scholastik nicht mit Aristotelismus gleichsetzen. Es gab unter den Scholastikern auch Platoniker und Aristoteles-Kritiker. Im Prinzip konnte ein Scholastiker jeden Standpunkt vertreten, wenn er ihn nur methodisch sauber begründete. Praktisch wurde erwartet, dass man auf die Lehren der Kirche Rücksicht nahm, was die Mehrheit der Scholastiker auch tat.“ (In: https://de.wikipedia.org/wiki/Scholastik )
Nicht zu bezweifeln ist allerdings, dass „die Lehren der Kirche“ des Mittelalters in sehr hohem Maße vom scholastischen Aristotelismus geprägt waren.
c) Die Kreuzzüge
Fast alle sieben Kreuzzüge, die in der Zeit von 1095 bis 1270 stattgefunden haben, sind gescheitert. Ergebnis: Schätzungsweise 1 bis 3 Millionen Todesopfer; der Anspruch „christ-licher“ Machthaber auf Herrschaft über das Heilige Land wird endgültig beendet; bei geringen Erfolgen erwuchsen den „Kreuzrittern“ und ihren Geldgebern enorme Kosten; aus der Kreuzzugsbewegung entstand die Inquisition (s.u.); Ketzer und Juden wurden fortan in ganz Europa gnadenlos verfolgt, Kirche und Papsttum nachhaltig geschwächt. [32]
Wie die „Kreuzritter“ sich z.B. bei der Eroberung von Jerusalem im Jahre 1099 verhalten haben, geht aus dem folgenden Bericht hervor, in dem es heißt:
„Die Kreuzfahrer, nach so viel Leiden und Entbehrungen völlig von Sinnen, rasen wie Besessene durch Straßen, Häuser und Moscheen, schreibt der britische Mediävist Steven Runciman. Er stützt sich dabei auf Augenzeugenberichte wie diesen: „Alle Feinde, die sie finden konnten, streckten sie mit der Schärfe ihrer Schwerter nieder, ohne auf Alter oder Rang Rücksicht zu nehmen, und es lagen überall so viele Erschlagene und solche Haufen abgehauener Köpfe umher, dass man keinen anderen Weg oder Durchgang finden konnte als über Leichen.“
Auf das Massaker folgt ein Dankgottesdienst in der Grabeskirche. Nachdem Raimund die Königskrone abgelehnt hat, übernimmt Gottfried als „Princeps“ (Fürst) die Herrschaft über das Heilige Land. Weil Jesus eine Dornenkrone getragen habe, sollten seine christlichen Nachfolger keine Königskrone tragen, heißt es zur Begründung.“ [33]
Unverständlich bleibt all dies, solange man die geschichtlichen, insbesondere kirchen-geschichtlichen Hintergründe der Kreuzzüge außer Acht lässt. Robert Godfrey schreibt in einem Artikel des Jahres 2020:
„Der Geist der Kreuzzüge kam in Europa im 11. Jahrhundert auf und setzte sich mindestens bis ins 16. Jahrhundert als Ideal fort. Zwischen 1096 und 1229 wurden fünf Hauptkreuzzüge mit dem Ziel unternommen, Jerusalem aus den Händen der Ungläubigen zu befreien. Diejenigen, die zu den Kreuzzügen aufriefen, erinnerten sich daran, dass der Mittlere Osten und Nordafrika Länder gewesen waren, die eine überwiegend christliche Bevölkerung hatten, bevor sie von den Muslimen im 7. und 8. Jahrhundert eingenommen wurden. Mohammed starb im Jahr 632 und die islamischen Mächte nahmen 638 Jerusalem ein. Die islamischen Armeen hatten sich vom Süden her sogar bis nach Italien, Spanien und Frankreich vorgedrängt. Ihr weitester Vorstoß nach Norden wurde 732 bei Poitiers, Frankreich, aufgehalten. Im Jahr 841 nahmen islamische Mächte den Petersdom in Rom ein. Im 15., 16. und 17. Jahrhundert bedrohte ein erneuerter Islam Europa von Osten her, nahm 1453 Konstantinopel ein und rückte bis an die Tore Wiens heran.
Genauso wie es etwas Geheimnisvolles bei der plötzlichen Energie und dem Erfolg der frühen Ausbreitung des Islams gibt, so steckt auch etwas Geheimnisvolles darin, was Westeuropa dazu antrieb, einen Krieg gegen die islamischen Nationen im Mittleren Osten zu unternehmen. Jerusalem war seit mehr als vierhundert Jahren vom Islam besetzt. Im späten elften Jahrhundert wurden Berichte verbreitet, die jedoch nur begrenzt vertrauenswürdig waren, dass christliche Pilger verfolgt wurden, die nach Jerusalem unterwegs waren. Peter der Einsiedler behauptete, dass er eine Vision Christi in der Grabeskirche gesehen habe, der die Christen dazu aufrief, die heilige Stadt von den Ungläubigen zu reinigen. Der byzantinische Kaiser in Konstantinopel rief außerdem den Westen gegen den Islam um Hilfe an.
Der Aufruf von Papst Urban II.
Die Vorstellung eines Kreuzzuges gegen die Muslime, die Jerusalem besetzt halten und Christen unterdrücken, wurde von Papst Urban II. seinem Klerus bei einem Konzil im Jahr 1095 verkündet. Urban erklärte:
>Und deshalb ermahne ich, nein, nicht ich, Gott ermahnt euch als Herolde Christi mit inständiger Bitte, Männer jeglichen Standes, Ritter und Fußvolk, reiche und arme, wiederholt aufzufordern, diese böse Rasse in unseren Ländern auszurotten bevor es zu spät ist. Ich richte mich an die Anwesenden, ich sage es jenen, die abwesend sind; außerdem befiehlt es Christus. All jenen, die dorthin gehen, ob auf dem Landweg oder übers Meer, wenn sie im Kampf gegen die Heiden das Ende dieses Lebens in Gefangenschaft finden, werden ihre Sünden vergeben. Dies gewähre ich all denen, die gehen, kraft der Vollmacht, mit der Gott mich ausgestattet hat. …<
Urban forderte Christen auf, als ihre geistliche Pflicht und für ihren geistlichen Lohn, das Schwert aufzunehmen und die Feinde Christi umzubringen. Diese Predigt wird wohl die erste in der Kirchengeschichte gewesen sein, in der Krieg als ein Mittel verkündigt wurde, die Interessen der Kirche Christi voranzutreiben. Obwohl Urban volle Vergebung der Sünden nur denen verheißen zu haben scheint, die in den Kreuzzügen sterben, würden spätere Päpste allen volle Vergebung verheißen, die daran teilnahmen. Das Christentum wurde auf eine völlig neue Weise militarisiert.“ [34]
(Außer Frage steht wohl, dass Papst Urban sich bei dieser Rechtfertigung des „gerechten Kriegs“ auch auf Augustinus (s.o.) berufen konnte.)
Wie es zu einer solchen Verfälschung der Botschaft Jesu kommen konnte, erklärt Godfrey wie folgt:
„Die Bibel kann ein gefährliches Buch sein, wenn sie falsch angewendet und missbraucht wird. In der Geschichte der Kirche hat ein falsches Verständnis der Bibel zu vielen ernsthaften Problemen geführt, angefangen von falscher Lehre über gesetzliche Bräuche bis hin zu einem fehlgeleiteten Leben. Eines der offensichtlicheren Beispiele dafür sind die Kreuzzüge: eine Reihe von Kriegen, die im Mittelalter von den Europäern im Namen Christi gegen die islamischen Staaten im Nahen Osten geführt wurden.
Die Vorstellung, dass Christen das Schwert gebrauchen können, um ihre Sache voranzubringen, kann durch Bibelstellen wie die folgenden gerechtfertigt erscheinen: „Alle Könige werden sich vor ihm niederwerfen, alle Heidenvölker werden ihm dienen“ (Ps 72,11); „Erbitte von mir, so will ich dir die Heidenvölker zum Erbe geben und die Enden der Erde zu deinem Eigentum. Du sollst sie mit eisernem Zepter zerschmettern, wie Töpfergeschirr sie zerschmeißen“ (Ps 2,8–9) und „Der Herr zu deiner Rechten zerschmettert Könige am Tag seines Zorns. Er wird Gericht halten unter den Heiden, es wird viele Leichen geben; er zerschmettert das Haupt über ein großes Land“ (Ps 110,5–6).
Die gewaltlose Botschaft Christi
Wenn diese Verse gebraucht werden, um Gewalt im Namen des Christentums zu rechtfertigen, verpasst man jedoch die wahre Bedeutung dieser Bibelstellen, denn in Wirklichkeit weisen sie auf eine geistliche Ausbreitung des Reiches Christi in der Geschichte und auf das Jüngste Gericht am Ende der Geschichte hin. Die gewaltlose Botschaft Christi wird aus vielen Bibelstellen deutlich:
Segnet, die euch verfolgen; segnet und flucht nicht! … Vergeltet niemand Böses mit Bösem! … Ist es möglich, soviel an euch liegt, so haltet mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes. (Röm 12,14.17–19) …
Denn obgleich wir im Fleisch wandeln, so kämpfen wir doch nicht nach Art des Fleisches; denn die Waffen unseres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern mächtig durch Gott zur Zerstörung von Festungen, so dass wir Vernunftschlüsse zerstören und jede Höhe, die sich gegen die Erkenntnis Gottes erhebt, und jeden Gedanken gefangen nehmen zum Gehorsam gegen Christus. (2Kor 10,3–5)“ [35]
Zusammenfassend lässt sich festhalten:
1. Historische Entwicklungen – wie die Ausbreitung des Islam seit dem 7. Jahrhundert – können fatale Folgen haben, wenn die Bibel zur Rechtfertigung von „Heiligen Kriegen“ missbraucht wird.
2. Im Falle der Kreuzzüge konnte Papst Urban II. sich im Jahre 1095 sogar auf den „Kirchenvater“ Augustinus berufen.
3. Urbans Synthese aus Machtpolitik und missverstandenem Christentum führte zu einer Militarisierung der Kirche.
4. Im Kampfgetümmel – so bei der Eroberung Jerusalems im Jahre 1099 – ließen die „Kreuzritter“ ihrer blutrünstigen Zerstörungswut freien Lauf und verrieten dabei die Kernbotschaft Jesu, die Nächstenliebe, Gleichheit und Solidarität statt (instrumentali-sierter) Mordlust und Zerstörungswut einfordert.
d) Inquisition. Ketzer-, Hexen- und Judenverfolgung
„ >Selbst wenn mein eigener Vater ein Ketzer wäre, würde ich das Holz zusammentragen, um ihn zu verbrennen.< Soll der zu keinem Erbarmen fähige, von Feindbildern besessene Papst Paul IV. gesagt haben, der Mitte des 16. Jahrhunderts regierte, zum Glück nur vier Jahre. Er baute die römische Inquisition aus, steckte die Juden in Gettos und erfand den Index verbotener Bücher. Als er starb, feierten die Römer Freudenfeste und warfen seine Statuen in den Tiber.“ [36]
Der Begriff Inquisition geht auf das lateinische Verb ‚inquirere‘ zurück, das so viel bedeutet wie „aufsuchen, nachstöbern; untersuchen, nachforschen, erforschen; Beweise zur Klage suchen“. Was aber sollte aufgesucht, untersucht, nachgeforscht werden? Bei oberflächlicher Betrachtung knüpft sich daran die Vorstellung, die Inquisition sei typisch für das katholische „finstere Mittelalter“ gewesen; sie habe also während des gesamten Mittelalters existiert, und zwar als eine Art kirchlicher Sondergerichtsbarkeit, die vor allem dazu diente, Missliebige und Abtrünnige bzw. Nicht- und Anders-Gläubige, „Ketzer“ und „Hexen“ aufzuspüren und abzuurteilen, möglichst zum Tode.
Damit aber würde man nicht einmal die halbe Wahrheit des Phänomens Inquisition erfassen und sich überdies ein grobes Fehlurteil zuschulden kommen lassen. Tatsächlich ist nämlich Folgendes zu beachten:
„Im 12./13. Jahrhundert wächst in Rom die Angst vor Häretikern, also Anhängern abweichender Lehren. In Südfrankreich breitet sich die Sektenbewegung der Katharer aus, deren radikale Bußethik große Zustimmung findet. Wegen ihrer Hochburg Albi werden die Anhänger der Katharerlehre auch Albigenser genannt. Die seit etwa 1175 aktiven Waldenser, Anhänger des Kaufmanns Petrus Waldes aus Lyon, gelten ebenfalls als Häretiker. Sie üben die Laienpredigt aus, treten für freiwillige Armut ein und lehnen sowohl die Lehrautorität wie auch Hierarchie der Kirche ab. Während der Papst um die kirchliche Einheit fürchtet, strebt die französische Krone nach der Erweiterung ihres Territoriums. So ermutigt Papst Innozenz III. (1198-1216) den französischen König zum Albigenserkreuzzug (1209-1229), der in einen regelrechten Ausrottungskrieg mündet. …
Zum Aufspüren von Ketzern - der Begriff ist eine Umformung des Wortes Katharer, die in Italien gazzari genannt werden - entsteht die Inquisition (lat. inquisitio = Untersuchung). Sonderermittler – oft sind es Angehörige des neuen Ordens der Dominikaner – sollen im Auftrag des Papstes oder eines Bischofs Abweichler ausfindig machen. Beim strafrechtlichen Verfahren vor dem Glaubensgericht der Inquisition erhebt dieselbe Instanz Anklage, die die Untersuchung führt und das Urteil spricht. Ein Verfahren kann jederzeit aufgrund von Denunziation eröffnet werden, der Name des Zuträgers bleibt geheim. Schuldige werden zur Abstrafung dem "weltlichen Arm der Gerechtigkeit" übergeben. Immerhin: Dank der oft geordneten Prozessführung (Beweissicherung, Zeugenvernehmung) befinden sich Angeklagte in vorteilhafterer Position als vor weltlichen Gerichten.
Die Inquisition wird etabliert
Im Jahr 1231 richtet Papst Gregor IX. (1227-1241) die Inquisition als päpstliche Behörde ein, Verfahrensregeln werden festgeschrieben, das Einsatzgebiet der Ermittler erstreckt sich bald über ganz Europa. Papst Innozenz IV. (1243-1254) gestattet 1252 die Anwendung der Folter - schließlich gilt ein Geständnis als unumstößlicher Beweis, um Anhänger von Irrlehren zu überführen. Im Laufe der Zeit übernimmt die Inquisition dank des oft engen Zusammenspiels von Kirche und Staat vielfältige Aufgaben: Schutz der Reinheit des Glaubens, Vorgehen gegen Andersgläubige und Kirchenkritiker, Bekehren vermeintlicher Ketzer, Ersticken gefährlicher Umtriebe bereits im Keim, Ausüben sozialer Kontrolle, Förderung eines Spitzel- und Denunziantenwesens. Mit anderen Worten: Die Inquisition bläht sich zu einer Art Kirchen-Geheimdienst auf.
Auch bei den grausamen Hexenverfolgungen in der Zeit vom 15. bis 17. Jahrhundert, denen europaweit etwa 50.000 Menschen zum Opfer fallen, findet man Inquisitoren an vorderster Front. Allerdings sind es oft rein weltliche Gerichte und Machthaber kleiner Territorien, die Scheiterhaufen entzünden lassen, während Geistliche zur Zurückhaltung raten. Zudem finden Hexenverfolgungen nicht nur in katholischen, sondern auch in evangelischen Gebieten statt. …
Ab 1480 wird die Inquisition in Spanien als politisches Machtmittel des Staates eingesetzt. Auch hier treten Dominikaner, die geistliche Sturmtruppe der Inquisition, in Erscheinung und helfen beim Aufbau einer rigiden Organisation. Zunächst trifft es Conversos, die als Häretiker und Staatsfeinde denunziert werden. Das Vermögen wohlhabender Neuchristen wird eingezogen, Hinrichtungen und Vertreibungen finden statt. 1492 fällt Granada, die letzte maurische Bastion in Spanien. Nun rücken die Moriscos ins Visier der Inquisitoren. 1609 geht die Bekämpfung der Moriscos in die Schlussphase, ihre Ausweisung wird dekretiert. Bis 1640 müssen etwa 300.000 Moriscos Spanien verlassen.
Eine Auswertung von Inquisitionsakten hat ergeben, dass in Spanien zwischen 1540 und 1700 knapp 45.000 Menschen angeklagt werden; 1,8 Prozent werden auf dem Scheiterhaufen verbrannt, 1,7 Prozent in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Zahlreiche Verdächtige werden versklavt, andere kommen geringeren Strafen davon. Die ökonomischen Folgen vor allem der Morisco-Vertreibung sind beträchtlich. …
Kirche und Staat waren extrem eng verbunden. Ohne die aus der römischen Antike überlieferten Organisations- und Verwaltungsstrukturen sowie das europaweite politische Netzwerk der Kirche konnte ein mittelalterlicher Herrscher seinen Machtbereich nicht effektiv kontrollieren.
Unter solchen Bedingungen war ein Austritt aus der Kirche oder eine Auflehnung gegen sie unweigerlich immer gleichzeitig auch ein Akt der Rebellion gegen die weltliche Gewalt. Und genau so wurde darauf auch reagiert.“ 37
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Judenverfolgungen, die großenteils ebenfalls von der Inquisition ausgingen, und zwar nicht nur während des Mittelalters, sondern auch noch in den Epochen danach. Es kam immer wieder zu Prozessen, Verurteilungen, Pogromen und Ausweisungen wie diejenige in Spanien im Jahre 1492. Dazu stellt Hannes Saas in einer Bachelorarbeit des Jahres 2012 fest:
„Ab dem 14. Jahrhundert gegen Ende der Reconquista kam es schließlich immer häufiger zu Feindseligkeiten gegen die Juden. Hungersnöte, Pest und Seuchen verschlechterten die allgemeine Situation der Bevölkerung, die Wirtschaft war im Abschwung und die Wut entlud sich hauptsächlich an der jüdischen Minderheit. 1391 kam es zu einer Reihe verheerender Massaker und somit zu Pogromen in allen großen Städten des Reiches. Im Juni 1391 wurden allein in Sevilla mehr als 4.000 Juden ermordet. Diese Jahre bedeuteten das Ende der jüdischen Blütezeit in Spanien; doch stellt sich die Frage, wo die eigentlichen Ursprünge dieser Feindseligkeiten lagen. Zwar hatte religiöser Fanatismus einen großen Einfluss, doch schrieb ein Zeitgenosse, dass “das alles mehr aus Raubgier als aus frommer Überzeugung“ geschah. Im 13. Jahrhundert waren wissenschaftliche Leistungen und Einfluss der Juden sehr bedeutend. Jüdische Gelehrte und Schriftsteller zeichneten sich am Hof Alfonsos X. von Kastilien aus und der Beruf des Arztes war nahezu ein Monopol der Juden. Die wichtigste Ursache für den Antisemitismus in Spanien lag jedoch in der finanziellen Aktivität. Als Steuereinnehmer und Beamte der Krone und der Aristokratie hatten jüdische Finanzleute attraktive Positionen. Auch als Minister, königliche Ratgeber, Pächter von Staatseinkünften, als Geldgeber für Feldzüge und als Hausmeister auf Gütern der Krone und des höheren Adels fand man Juden in bedeutenden Schlüsselpositionen.“ Außer der Rolle, die sie als Geldleute im Staat spielten, waren die Juden auch durch ihre soziale Position den Christen zuwider.“ Sie gehörten zum größten Teil der städtischen Bevölkerung an und bildeten eine machtvolle Mittelschicht. Durch Heirat hatten viele, einst jüdische Familien gefährlich enge verwandtschaftliche Verbindungen zur Aristokratie aufgebaut, da viele conversos in diese Kreise eingeheiratet hatten. Für einige Altchristen stellte dies eine klare Bedrohung der Vorherrschaft des Adels dar.“ 38
Offensichtlich geht es auch der Inquisition nicht nur um Glaubensfragen. In großen Teilen der Bevölkerung wurden Ressentiments gegen Juden geschürt, weil von ihnen viele sozial aufgestiegen und zu Wohlstand, Ämtern und Würden gekommen waren. „Altchristen“ empfanden dies sogar als „klare Bedrohung der Vorherrschaft des Adels“ (s.o.). Immer wieder arteten daher die Feindseligkeiten gegenüber den Juden in Pogrome aus, bei denen Christen mit brutalster Gewalt vorgingen, und zwar offenbar „mehr aus Raubgier als aus frommer Überzeugung“ (s.o.).
Wie nachhaltig diese antisemitische Feindseligkeit sich auswirkte, geht aus einem Edikt der „heiligen Inquisition“ des Vatikans hervor, das im Jahre 1843 (!) für „die päpstlichen Staaten“ ergangen ist; worin es heißt:
„ >Kein Jude darf Christen in seiner Behausung wohnen haben, Christen ernähren oder Christen in seinen Dienst nehmen, bei Strafe, nach den päpstlichen Gesetzen bestraft zu werden.
Kein Israelit darf in irgend einer in den römischen Staaten belegenen Stadt wohnen, ohne eine ausdrückliche Genehmigung und Erlaubniß der päpstlichen Regierung.
Kein Jude darf freundschaftliche Verbindungen mit Christen unterhalten.
Kein Jude darf mit Büchern und mit dem Dienst der Kirche geweihten Gegenständen Handel treiben, und zwar bei einer Strafe von hundert Thalern und sieben Jahr Gefängniß.
Bei einem Begräbniß eines Juden darf keine Feierlichkeit oder Ceremonie irgend einer Art stattfinden.
Diejenigen, welche diese Gesetze übertreten, sind der Gerichtsbarkeit der heiligen Inquisition verfallen.
Gegenwärtiges Edict wird in allen Ghetti und in allen Synagogen zur öffentlichen Kenntniß gebracht.
Der Großinquisitor Salua.<
Das Verbot, daß kein Jude außerhalb des Ghetto’s wohnen oder den Ghetto nach Belieben verlassen kann, ist durch die Bestimmung ersetzt, daß kein Jude ohne einen Paß seines Local Inquisitors weder sich vom Orte entfernen, noch eine Reise unternehmen darf.“
(Angeblich ist dieses Edikt auch gegenwärtig noch in Kraft!) 39
Zwischen-Fazit: Kernsätze zum Feudalismus
1. Anscheinend hat es im Mittelalter einen „Abfall des Katholizismus vom Christentum“ gegeben.
2. Tatsache ist, dass das Geistesleben im Mittelalter in hohem Maße durch den Einfluss der Scholastik bestimmt wurde, die philosophisch nahezu vollständig von der Autorität des Aristoteles beherrscht wurde, wobei man bemüht war, diese „heidnische“ antike Philosophie mit dem Katholizismus in Einklang zu bringen. So dass zumindest unter den relativ wenigen Gebildeten dieser Zeit einerseits der Katholizismus an Prestige gewann, andererseits aber das Denken zunehmend in Schematismus und Erstarrung verfiel.
3. Der Feudalismus als Ganzes ist – in Verbindung mit der christlichen Staatskirche – an seinen Widersprüchen gescheitert.
4. Im Verhältnis von Feudalismus und Christentum realisiert sich teilweise, was bereits Augustinus herausgestellt hat: der geistliche „Staat Gottes“ auf der einen, der „teufli-sche Erdenstaat“ auf der anderen Seite.
5. Inwiefern die Feudalherren die breite Volksmasse verachten, zeigt sich u.a. in ihrem wirtschaftspolitischen Versagen, das zu Not und Elend führt.
6. Die Kirche rechtfertigt dies als „von Gott in seiner vergeltenden Gerechtigkeit vorbestimmte Ordnung“ (s.o. S. 24).
7. Der Feudalismus instrumentalisiert das Christentum zu seinen Zwecken.
8. Im Feudalsystem konnten sich „weder die demokratischen Elemente des Evangeliums Jesu noch diejenigen der christlichen Urgemeinden durchsetzen“ (s.o. ebd.).
9. „Historische Entwicklungen – wie die Ausbreitung des Islam seit dem 7. Jahrhundert – können fatale Folgen haben, wenn die Bibel zur Rechtfertigung von „Heiligen Kriegen“ missbraucht wird.“ (s.o. S. 28)
10. Fast alle Kreuzzüge sind – trotz enormer Kosten – gescheitert.
11. In den Kreuzzügen ließen die „christlichen Kreuzritter“ ihrer Raubgier und Mordlust freien Lauf – wobei sie sich u.a. auf päpstliche Weisung berufen konnten.
12. Aus der Kreuzzugsbewegung ging die Inquisition hervor.
13. Die Inquisition war nicht nur eine Sondergerichtsbarkeit der katholischen Kirche, sondern auch ein staatliches Machtinstrument.
14. Hierdurch konnten Staat und Kirche vielfältige Aufgaben wahrnehmen: „Schutz der Reinheit des Glaubens, Vorgehen gegen Andersgläubige und Kirchenkritiker, Bekehren vermeintlicher Ketzer, Ersticken gefährlicher Umtriebe bereits im Keim, Ausüben sozialer Kontrolle, Förderung eines Spitzel- und Denunziantenwesens.“ (Kirchlicher Geheimdienst)
15. „Hexen“- und Judenverfolgung gehen großenteils ebenfalls von der Inquisition aus.
16. Bei der Judenverfolgung spielten nicht nur religiöse, sondern auch soziale und politische Ressentiments eine Rolle.
17. Päpste haben ausdrücklich judenfeindliche Edikte erlassen, die angeblich nach wie vor gültig sind.
Der Dreißigjährige Krieg (1618-48)
Im Zusammenhang mit diesem Krieg werden immer wieder zwei Fragen diskutiert: 1. Wie konnte es überhaupt dazu kommen, obwohl die beiden Konfessionen sich doch im ‚Augsburger Religionsfrieden‘ (1555) auf einen Kompromiss, einen Modus vivendi, geeinigt hatten? 2. Handelte es sich überhaupt um einen Religionskrieg oder nicht vielmehr um das Resultat forcierter Machtpolitik?
Davon abgesehen beantworteten beide Kontrahenten die Frage nach dem Grund für den Krieg – „gut“ augustinisch-lutherisch – damit, er sei eben eine „Strafe Gottes“. Wodurch erneut erkennbar wird, welch horrende Folgen die „Erbsünden“-Verirrung nach sich ziehen kann. Zu der ersten der beiden oben genannten Fragen heißt es in dem Wikipedia-Artikel Dreißig-jähriger Krieg :
„Nach der ersten Phase der Reformation, die Deutschland konfessionell gespalten hatte, versuchten die katholischen und protestantischen Landesherren zunächst eine für beide Seiten akzeptable Verfassungsordnung und ein Mächtegleichgewicht zwischen den Konfessionen im Reich zu finden. Im Augsburger Religionsfrieden vom 25. September 1555 einigten sie sich schließlich auf das Jus reformandi, das Reformationsrecht (später zusammengefasst als cuius regio, eius religio, lateinisch für: wessen Gebiet, dessen Religion; „Herrschaft bestimmt das Bekenntnis“). Demzufolge hatten die Landesherren das Recht, die Konfession der ansässigen Bevölkerung zu bestimmen. Gleichzeitig wurde auch das Jus emigrandi, das Auswanderungsrecht eingeführt, das es Personen einer anderen Konfession ermöglichte, auszuwandern. Unklar blieb aber das Reformationsrecht der freien Reichsstädte, denn der Augsburger Religionsfrieden legte nicht fest, wie sie das Bekenntnis wechseln sollten. Seither waren das katholische und das lutherische Glaubensbekenntnis als gleichberechtigt anerkannt, nicht jedoch das reformierte.“ 40
Dessen ungeachtet entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erneut zuneh-mende Spannungen zwischen den Konfessionen; was schließlich zum Prager Fenstersturz von 1618 führte. Dieser war jedoch nur der äußere Anlass, nicht der wahre Grund für den Ausbruch der Feindseligkeiten. Hierzu schreibt der Historiker Herfried Münkler (2018):
„Im strikten Sinn begann der Dreißigjährige Krieg mit einem Verfassungskonflikt, nämlich der Frage, wer in Böhmen sowie den mit Böhmen verbundenen Mähren, Schlesien und den beiden Lausitzen das Sagen haben solle: die Stände, also der Adel und die Städte, oder der Habsburger Ferdinand, inzwischen böhmischer König, der einer absolutistischen Herrschaftspraxis zuneigte. Dieser Streit kulminierte im Prager Fenstersturz. Der Verfassungskonflikt war von Beginn an mit Auseinandersetzungen um die Konfession verbunden, denn die böhmischen Stände waren überwiegend protestantisch, während Ferdinand ein glühender Anhänger der Gegenreformation war. Diese konfessionelle Komponente sorgte für die „Internationalisierung“ des Konflikts, denn sie hatte zur Folge, dass sowohl die protestantischen als auch die katholischen Mächte die Entwicklung in Böhmen mit größter Aufmerksamkeit beobachteten. Die Konfessionsfrage war eines der Bindemittel, auf dem die Bündnissysteme des Krieges beruhten. Sie war indes nicht das einzige Bindemittel; das andere war die Frage der europäischen Hegemonie, und mit ihr kam Spanien ins Spiel, das eigentlich in Mitteleuropa keine vitalen Interessen hatte und doch von Anfang an der wichtigste „Sponsor“ Ferdinands und seines militärischen Agierens gegen die Böhmen war.“ 41
Die Tatsache, dass damit die religiöse Komponente der Auseinandersetzung keineswegs außer Kraft gesetzt war, erklärt Münkler folgendermaßen:
„Der Dreißigjährige Krieg war ein Krieg, den der schlesische Dichter Andreas Gryphius als das Eintreten dessen begriff, was der Verfasser der Johannes-Offenbarung als Auftakt zum Ende der Geschichte dargestellt hatte: das Auftauchen der vier apokalyptischen Reiter, die für Gewalt und Krieg, Teuerung und Hunger, Seuchen und Pestilenz standen. Diese Wahrnehmung ließ sich nicht revidieren, indem man nur die Toten der Schlachtfelder zählte. Die revisionistische Sichtweise hat sich auch deswegen nicht durchsetzen können, weil sie mit der in Chroniken und Tagebüchern festgehaltenen Erfahrung der kleinen Leute nicht übereinstimmte. Im Gegenteil: In der internationalen Historiographie der Gewalt hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass nicht die absoluten Zahlen der Getöteten, sondern deren relatives Verhältnis zur Bevölkerung eines Raumes für die Abschätzung von Kriegsfolgen maßgeblich ist – und demnach war der Dreißigjährige Krieg mit einem Drittel Bevölkerungsverlust in Deutschland ein tieferer Einschnitt als die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts zusammengenommen. Das erklärt die lange währende Traumatisierung, die dieser Krieg im kollektiven Gedächtnis der Deutschen hinterlassen hat.
Aber was war das eigentlich für ein Krieg, der am 23. Mai 1618 mit dem Prager Fenstersturz seinen Anfang genommen hatte, als böhmische Adlige zwei habsburgische Statthalter mitsamt deren Sekretär aus den Fenstern der Prager Burg warfen? Gemessen an der Dauer und den Folgen dieses Krieges, war der Prager Fenstersturz ein läppisches Ereignis, zumal die drei den Sturz überlebten und mit kleinen Blessuren davonkamen. Man hat deswegen auch davon gesprochen, die Ereignisse in der Prager Burg seien nur der „Anlass“ gewesen, während die eigentliche „Ursache“ des Krieges in der konfessionellen Spaltung Deutschlands und der Paralyse der Reichsinstitutionen zu suchen sei. Aber war der Krieg infolge des Konfessionsgegensatzes wirklich unvermeidlich, nachdem man sich im Augsburger Religionsfrieden von 1555 doch auf einen Modus Vivendi der Konfessionen geeinigt hatte? Wie lässt sich dann erklären, dass Kardinal Richelieu, die leitende Figur der französischen Politik, aufseiten der Protestanten in den Krieg eingriff, während die beiden lutherischen Mächte des Nordens, Dänemark und Schweden, in der Schlussphase des Krieges einander erbittert bekriegten und sich das ebenfalls lutherische Sachsen im ersten Drittel des Krieges auf die Seite des katholischen Kaisers gestellt hatte? Weil es kaum möglich ist, den Krieg auf einen eindeutigen Nenner zu bringen, hat sich eine bis heute andauernde Debatte über seine Ursachen und seinen Charakter entwickelt.“ (Münkler a.a.O.)
Feststeht jedenfalls, dass sich die religiösen und die machtpolitischen Faktoren des Konflikts miteinander verschränkt haben. Mit nicht geringen Folgen auch für die historische Entwicklung und das Selbstverständnis des Christentums. Einen guten Einblick in diese Zusammenhänge vermittelt Aaron Bauer in seiner Arbeit über Predigten im Dreißigjährigen Krieg (2022):
„Inhaltlich basierten viele Predigten im Dreißigjährigen Krieg auf jenen alttestament-lichen Texten, in welchen sich das israelitische Volk von Gott ab- und dem Götzendienst zugewandt hatte. Auf protestantischer wie katholischer Seite wurden diese Bibelstellen als Aufruf zum Kampf gegen die Anhänger der jeweils anderen Konfession verstanden. Diese galt es für ihren fehlgeleiteten Glauben ebenso zu bestrafen, wie die Israeliten für ihren Götzendienst bestraft worden waren. Viele Geistliche beider Konfessionen riefen die Bevölkerung zudem mittels sogenannter ‚Bußpredigten‘ zur Umkehr zu Gott und zum Gebet auf. Auch diese Predigten nutzten meist das biblische Motiv der dem Götzendienst verfallenen Israeliten und die Aufrufe der Propheten, Buße zu tun und zum Bund mit Gott zurückzukehren. Der Krieg an sich wurde in den Bußpredigten als eine Konsequenz menschlichen Fehlverhaltens dargestellt, wodurch er zu einer Angelegenheit wurde, der die Gläubigen durch gottgefälliges Handeln entkommen konnten. Häufig wurde zudem der im Neuen Testament beschriebene Antichrist für die von Krieg und Natur verursachten Leiderfahrungen verantwortlich gemacht. Das lange Andauern des Kriegsgeschehens führte schließlich dazu, dass in ‚Klagepredigten‘ die Gläubigen dazu aufgerufen wurden, ihre Ohnmacht im Angesicht all des Leids anzuerkennen und sich dem göttlichen Willen zu ergeben. Vielen Geistlichen wurde bewusst, dass nur Gott allein den Krieg, mit welchem er die Menschen zu strafen schien, beenden konnte. So dachte auch der Tübinger Professor für Theologie Tobias Wagner (1598-1680), der in seiner 1643 in Stuttgart gehaltenen „Blutpredigt“ … feststellte, dass sich das Verhalten der Menschen durch den Krieg keineswegs zum Besseren gewandelt hatte.“ 42
Womit sich erneut zeigt, was für schlimme Folgen Buchstaben-Gläubigkeit, „Erbsünden“-Irrtum und Obrigkeits-Gehorsam und -Unterwürfigkeit – insbesondere der Lutheraner – be-wirken können.
Christentum und Kapitalismus I
Ein Vorläufer: Johannes Calvin (Jean Caulvin, 1509-64). Von der Prädestinationslehre zur Wirtschaftsethik
1. Prädestination und Wirtschaftsethik
Der Prädestination widmet Calvin nur rund 50 Seiten seines Hauptwerks ‚Institutio …‘ (‚Unterricht in der christlichen Religion‘ von 1536/59, III. Buch, Kap. 21-24). Davon enthalten nur 30 Seiten eine Erläuterung bzw. Rechtfertigung eigener Gedanken, so dass Jochen Denker zu dem Schluss kommt, Calvin habe der Prädestination gar keine besondere Bedeutung zugemessen. 43
Als Grundlagen seiner Abhandlung wählt Calvin erneut einige Bibelstellen, darunter die folgende, aus dem Römerbrief stammende, in der Paulus sich auf Mose bezieht: „Denn er spricht zu Mose: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und welches ich mich erbarme, des erbarme ich mich.“ (Röm. 8, 15). Daher komme es nicht auf das Wollen und das Tun des Menschen, sondern allein auf Gottes Gnade an. Ohne weiteres verbindet Calvin folglich den alttestamentarischen Hinweis mit der christlichen Gnadenlehre, indem er frei übersetzt: „In dieser Zeit werden die übrigen selig werden nach der Wahl der Gnade. Ist’s aber aus Gnaden, so ist’s nicht aus Verdienst der Werke; sonst würde Gnade nicht Gnade sein.“ (Röm. 11. 5 f.).
Wer nun aber durch diese „Wahl“ zum Erwählten wird, darüber gebe es in der Bibel keine Auskunft; es sei und bleibe Gottes Geheimnis, wen er zum ewigen Heil bestimmt und wen zur ewigen Verdammnis. Für Calvin ist das Grund genug, an der „doppelten Prädestination“ (zum Heil oder aber zur Verdammnis) festzuhalten, wobei er den Begriff Prädestination zuweilen auch durch ‚Vorbestimmung‘, ‚Vorherbestimmung‘ oder ‚Erwählung‘ ersetzt. Völlig abwegig sei es, Gott wegen solch offensichtlicher Willkür anzuklagen, denn niemand dürfe mit Gott „rechten“ (wie es in Röm. 9, 20 heißt). 44
Was die Calvinisten, insbesondere nach dem Tod ihres Meisters, aus dessen Lehre gemacht haben, steht auf einem anderen Blatt. Sie empfanden die Ungewissheit über die „Vorher-bestimmung“ mehr und mehr als quälende Last, zumal ihr Lehr- und Zuchtmeister sie auf eine strenge Arbeitsethik (s.u.) und weitgehenden Konsum- und Triebverzicht verpflichtet hatte. Sie fragten sich, welchen Wert alle Plackerei und aller Verzicht haben sollte, wenn beides doch nicht das Seelenheil zu garantieren vermochte. Den Ausweg, den sie fanden, umschreibt Achim Detmers wie folgt: „Die Calvinisten werden … ihr ganzes Leben lang von Ungewiß-heit gequält, ob sie nun erwählt sind, oder nicht. Sie versuchen demzufolge, sich an irgend etwas in ihrem irdischen Leben zu klammern, was einen Hinweis auf Erwähltheit bietet. Da Arbeit das gottgefällige Werk an sich ist und sich abrackern, ohne sich über das Notwendigste hinaus materielle Annehmlichkeiten zu gönnen, erst Reichtum schafft, ist klar, dass Reichtum, der sinnlich nicht genossen werden darf, dieses Kriterium der Erwähltheit wird. Wer also durch Arbeitsausübung sichtbaren Erfolg in der Welt hat …, der hat damit, trotzdem er die Erwähltheit nicht erzwingen kann, einen Hinweis auf seine Erwähltheit.“ 45 Und dies sei sogar entscheidend wichtig gewesen für die Entwicklung (den rasanten „take off“) des Kapitalismus seit der Neuzeit (ebd.).
2. Wirtschaftsethik
Durch die Entdeckung neuer Seewege, z.B. nach Amerika und Indien, aber auch durch Renaissance und Humanismus, hat die Weltwirtschaft seit Beginn der Neuzeit einen Aufschwung wie nie zuvor genommen. Allerdings mit nicht nur positiven Folgen. Der Philosoph Christoph Stückelberger stellt fest, Calvin habe „ … in einer Zeit der wild gewor-denen Geldwirtschaft, aber auch des starken zusätzlichen Geldbedarfs für den weiteren Aufschwung der Wirtschaft“ gelebt. Die dabei zu beobachtenden Auswüchse und Ungerech-tigkeiten hätten den Theologen Calvin auf den Plan gerufen. Seine Wirtschaftsethik habe er „zutiefst theologisch“ begründet. Der Mensch dürfe sich nicht an Geld und Besitz verlieren, sondern vor allem auf Gott vertrauen. Hieraus, so Stückelberger, sei Calvins „glasklare, rationale, zukunftsorientierte Ethik und Gesamtvision der Gesellschaft“ erwachsen. 46
Insbesondere für das Zins- und Bankenwesen habe der Genfer Reformator bedenkenswerte Maßstäbe gesetzt, nicht zuletzt zu Gunsten der Armen. Diese Maßstäbe könnten auch heute noch als Kriterien für einen „fairen Zins“ gelten. Demnach soll man von armen Leuten überhaupt keinen Zins verlangen, keinen Gewinn „auf dem Rücken der Schwachen“ erwirtschaften, Geld nicht aus purer Gier nach noch mehr Geld anlegen, stattdessen karitativ tätig werden und in Geldangelegenheiten stets „die Goldene Regel der Gegenseitigkeit“ befolgen, d.h. Geschäftspartnern nichts zumuten, was sie einem selbst besser nicht antun sollten (a.a.O. S. 8).
Darüber hinaus habe Calvin drei nachhaltig bedeutsame Grundsätze der Wirtschaftsethik klar und für jedermann verständlich formuliert, nämlich: „die Sozialpflichtigkeit des Eigentums …, … gerechte Lastenverteilung (z.B. Steuerlast nach den finanziellen Möglichkeiten“, „Bedarfsgerechtigkeit (Zuteilung der erwirtschafteten Güter und Dienstleistungen zur Armutsbekämpfung)“ (a.a.O. S. 10).
Dass solche Grundsätze mit der Entwicklung des Kapitalismus, bis hin zum neoliberalen, zunächst wenig zu tun haben, ist nicht zu bezweifeln. Daher überrascht es nicht, dass Stückelberger die Auffassung kritisiert, wonach Calvin ein Wegbereiter des Kapitalismus gewesen sei. Zu dieser Meinung hätten im frühen 20. Jahrhundert insbesondere die Arbeiten von Max Weber zur „Berufsethik des asketischen Protestantismus“ beigetragen. Stückelberger weist nach, dass Weber sich hierbei fast gar nicht mit Calvin, sondern mit anderen „Reformierten“ beschäftigt hat. Kapitalismus „in seiner industriellen und heutigen Form“ habe es zu Zeiten Calvins noch gar nicht gegeben. Calvins tatsächliche Auffassungen ergäben ein ganz anderes Bild, das vor allem durch Gottvertrauen, Demut, Bescheidenheit, Gerechtigkeitssinn auch und gerade gegenüber sozial Schwachen sowie „Offenheit für Fortschritt, für die Nutzung von Ressourcen und für Entwicklung“ geprägt sei (a.a.O. S. 13). Es sei eine Wirtschaftsethik, in der den Bedürfnissen des Menschen voll Rechnung getragen werde, und dies beziehe sich verbindlich auch auf Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Maßhalten im Arbeitsleben und in der Wissenschaft und sogar eine „politische Rahmenordnung, die Rechtssicherheit mit Eigenverantwortung verbindet“ – dabei letztlich alles „zur Ehre Gottes“ (a.a.O. S. 14).
3. Calvin-Kritik
Calvins Lehrgebäude ist äußerst weitläufig und folgenreich. Es steht und fällt mit seinem Gottesbegriff. Dieser ist trinitarisch, theistisch und panentheistisch zugleich; mit anderen Worten: Für unumstößlich verbindlich und absolut wahr hält Calvin die Existenz des dreieinigen Schöpfergottes, der im ganzen Universum mit seiner Allmacht und Allgüte präsent sei und allen Menschen seine Gnade anbiete. Diese Glaubensinhalte versucht Calvin durch einen kosmologischen Gottesbeweis zu untermauern, wonach die Allmacht Gottes schon in jedem Naturvorgang erkennbar sei.
Diesen „Beweis“ hat Kant widerlegt. Die Existenz Gottes ist nicht beweisbar, so dass es eigentlich keine Theokratie, keine nur religiös begründete Ausübung von Macht und Herrschaft geben dürfte. Diesem Verdikt (dieser Zurückweisung) unterliegt auch die Prädestinationslehre samt ihrer missverstandenen Weiterungen zu einer „protestantisch-kapitalistischen Ethik“. Zumal die Prädestinationslehre nicht einmal biblisch belegbar ist.
Denn: „Die Bibel lehrt … nicht, dass jemand zum Verderben zuvor bestimmt wird. Die
„doppelte Prädestination“, die die Calvinisten lehren, scheint zwar logisch. Sie ist aber noch nicht einmal eine zulässige logische Schlussfolgerung. Gott hätte zwar das Recht, Menschen zur Verdammnis auszuwählen (Röm 9,20 ff.). Aber Gott will, dass alle Menschen errettet werden (1. Tim 2,4). Wer gerichtet werden wird, war nicht bereit, Buße zu tun, hat sich selbst Verderben aufgehäuft (Röm 2,5) und zum Verderben zubereitet (Röm 9,22; 1. Pet 2,8).“ 47
Wobei zusätzlich kritisch anzumerken ist, dass die erwähnten Bibelstellen Glaubensinhalte, nicht überprüfbares Faktenwissen wiedergeben!
Calvins politische Machtansprüche sind ebenso hinfällig wie seine für absolut verbindlich erklärten ethischen Maßstäbe und Wertungen einschließlich seiner „Wirtschaftsethik“. Ohnehin kann es die von Calvin beschworene Wahrung des Gemeinwohls nicht geben, wenn die Menschenwürde nicht als einer der obersten Werte überhaupt anerkannt, sondern mit Füßen getreten wird, wie es Calvins kriminelle Übergriffe gegen „Hexen“ und Anders-gläubige offenbaren.
Hiergegen mag nun eingewendet werden, dass Calvins Lehre nicht philosophisch oder wissenschaftlich, sondern rein theologisch bedingt sei. Calvins Lehre beschränkt sich jedoch nicht auf nur Religiöses, sondern beansprucht die gesamte Wirklichkeit und die gesamte menschliche Person („le volume total de l’homme“, den Gesamtumfang des Menschen, wie Emmanuel Mounier es einmal ausgedrückt hat). Bei Calvin ist dieser Anspruch aber durch und durch fundamentalistisch und totalitär. Da Calvin diesen Anspruch u.a. durch seine „Kirchenzucht“ konkretisiert, sieht ein Kritiker wie Achim Dethmers sich veranlasst, „dieses Motiv der Reinhaltung“ sogar als „ein eindeutig faschistisches Motiv“ aufzufassen. Deshalb sollten vielleicht beim Namen Johann Calvin nicht die Kirchenglocken läuten, sondern die
Alarmsirenen aufheulen. Jedenfalls geht ein solcher Fundamentalismus jeden Theoretiker der politischen Philosophie, aber auch jeden Humanwissenschaftler unmittelbar an. Gesinnungsterror und Menschenverachtung – wie Calvin sie schamlos betrieben hat – sind unerträglich und müssen bekämpft werden.
Protestantismus und Kapitalismus bei Max Weber
In einem ‚Kapitalismus als Religion‘betitelten Aufsatz erklärt Christoph Fleischmann in seinen Schlusssätzen:
„Das ist ja die Tragik der kapitalistischen Dynamik, dass ihr in den von ihr beherrsch- ten Gesellschaften keiner wirklich entkommen kann. Das Kapital macht nicht nur den „absoluten Reichtum“ zählbar, dieser unbestimmbare Reichtum bestimmt als Wachstumszwang das Leben der Menschen vielleicht unauffälliger, aber wohl noch eindringlicher als die römisch-katholische Kirche die Menschen des Mittelalters.“ 48
Einen Schritt weiter ging Max Weber in seinem vielzitierten Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05), als er im Hinblick auf die angeblich im Kapitalis-mus dominierende protestantische Ethik feststellte:
„Das „summum bonum“ dieser Ethik lautet: der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens.“ 49
Und: „Das sittlich wirklich Verwerfliche ist nämlich das Ausruhen auf dem Besitz, der
Genuss des Reichtums mit seiner Konsequenz von Müßigkeit und Fleischeslust. […] Und nur weil der Besitz die Gefahr dieses Ausruhens mit sich bringt, ist er bedenklich. […] Nicht Muße und Genuss, sondern nur Handeln dient nach dem unzweideutig geoffenbarten Willen Gottes zur Mehrung seines Ruhmes. Zeitvergeudung ist also die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden.“ (a.a.O. S. 12)
Was bedeutet dies? Wie kommt Max Weber zu solchen Feststellungen? Ist etwa im Kapitalismus eine neuartige Synthese aus (Pseudo-)Christentum und kapitalistischer Macht-ausübung entwickelt worden?
Webers Formulierungen erinnern stark an einige Prinzipien des Calvinismus. Dieser dient ihm jedoch nicht als Ausgangspunkt seiner Überlegungen, denen vielmehr u.a. eine mehrmonatige Forschungsreise in die USA zu Grunde liegt, die Weber im Jahre 1905 unternommen hat, um „die protestantischen Sekten und ihren wirtschaftlichen Erfolg“ zu studieren (a.a.O. S. 1).
Fündig wird er dort insofern, als er in fast allen diesen Sekten – von Calvinisten, Pietisten, Methodisten und Quäkern – enge Verbindungen zwischen ausgeprägter protestantischer Frömmigkeit und „virtuosem kapitalistischem Geschäftssinn“ aufspürt (S. 4). Wie kamen diese Verbindungen zustande? Es waren zunächst sozusagen Exportgüter aus europäischen calvinistischen Sekten, wie sie in der frühen Neuzeit vor allem in Holland und England entstanden sind. Hier hatte sich eine neuartige Wirtschaftsgesinnung entwickelt, nämlich das „Ethos einer Wirtschaftsform“, basierend u.a. auf bestimmten religiösen Glaubensinhalten.
Auffälligerweise war dieses Ethos vorwiegend in protestantisch-asketischen Milieus anzu-treffen, und zwar mit stark rationalistischer Komponente auch und gerade bei Kapitalbesitzern und Unternehmern, wohingegen dies bei Katholiken eher selten vorkam. Demgemäß formu-liert Weber seine Aufgabenstellung dahingehend, dass er
„1. die von niemandem bisher bezweifelte Tatsache der auffällig starken Kongruenz von Protestantismus und modernen Kapitalismus …, durch Beispiele in Erinnerung rief, sodann 2. illustrativ einige Beispiele vorführte für solche ethische Lebens-maximen (Franklin),…, und die Frage stellte, wodurch sich diese ethischen Lebens-maximen von abweichenden, speziell von den Lebensmaximen des Mittelalters, unterscheiden, und dann 3. die Art, wie solche seelische Attitüden sich zu dem Wirtschaftssystem des modernen Kapitalismus kausal verhalten, wiederum durch Beispiele zu illustrieren suchte…“,
wobei er
„4. auf den Berufs-Gedanken stieß, dabei an die längst … festgestellte, ganz spezifische Wahlverwandtschaft des Calvinismus … zum Kapitalismus erinnerte, und gleichzeitig 5. aufzuzeigen suchte, dass unser heutiger Begriff des Berufs irgendwie religiös fundiert sei.“ (a.a.O. S. 3)
Ausdrücklich beruft Weber sich also auf Benjamin Franklin (1706-1790), der sich als überzeugter evangelischer Christ im ursprünglichen Sinne verstand und zugleich Allround-Wissenschaftler, Erfinder und Staatsmann („einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten“) war. Um den „Geist des modernen Kapitalismus“ zu ergründen, zitiert Weber Franklins Kernsätze zum Thema Geschäftsklugkeit. In leicht gekürzter Fassung:
„Bedenke, dass die Zeit Geld ist…
Bedenke dass Kredit Geld ist…
Bedenke, dass Geld von einer zeugungskräftigen und fruchtbaren Natur ist…
Bedenke, dass … ein guter Zahler der Herr von jedermanns Beutel ist…
Neben Fleiß und Mäßigkeit trägt nichts so sehr dazu bei, einen jungen Mann in der Welt vorwärts zu bringen, als Pünktlichkeit und Gerechtigkeit bei allen seinen Geschäften…
Der Schlag deines Hammers, den dein Gläubiger um 5 Uhr morgens oder um 8 Uhr abends vernimmt, stellt ihn auf sechs Monate zufrieden; sieht er dich aber am Billardtisch oder hört er deine Stimme im Wirtshause, wenn du bei der Arbeit sein
solltest, so lässt er dich am nächsten Morgen um die Zahlung mahnen, und fordert sein Geld, bevor du es zur Verfügung hast…
…halte eine genaue Rechnung über deine Ausgaben und dein Einkommen…
Wer 5 Schillinge „verliert“, verliert nicht nur die Summe, sondern alles, was damit bei Verwendung im Gewerbe hätte verdient werden können, – was, wenn ein junger Mann ein höheres Alter erreicht, zu einer ganz bedeutenden Summe aufläuft.“ (a.a.O. S. 6)
Weber entdeckt darin allerdings weit mehr als bloße „Geschäftsklugheit“, nämlich nicht nur eine „Philosophie des Geizes“, sondern auch eine „eigentümliche Ethik“, nämlich diejenige der Berufspflicht, d.h. der Verpflichtung jeder Einzelperson gegenüber einer wie auch immer gearteten eigenen Berufstätigkeit. Im Zentrum dieser Ethik steht laut Weber der
„Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen [glückseligen] oder gar hedonistischen [lustorientierten] Gesichtspunkten entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, dass es als etwas gegenüber dem ‚Glück‘ oder dem ‚Nutzen‘ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint“. (ebd.)
Dies offenbar in merkwürdigem Kontrast zur prinzipiellen Rationalität protestantischer Arbeits- und Wirtschaftsethik!
Jedenfalls unterscheidet sich diese Berufsethik wesentlich von vorkapitalistischen Vorstellun-gen: Beruf und Arbeit sind nicht mehr bloß Mittel zum Zweck, sondern „absoluter Selbst-zweck“, und zwar, wie Weber erklärt, als Charakteristikum der „Entwicklung des kapitalisti-schen Geistes“, der sich keineswegs im Anhäufen von Geldvorräten erschöpft (S. 7).
Max Weber stellt dies alles in den größeren Rahmen des „okzidentalen Rationalismus“, dem die protestantische Ethik verpflichtet sei. Stichwortartig: mathematische Fundierung der Naturwissenschaften, Tradition des Römischen Rechts, Technik und Technik-Verwertung auf wissenschaftlicher Grundlage, berechenbare Rechts- und Verwaltungsstrukturen, praktisch-rationale Lebensführung mit religiöser Komponente. („Nicht Arbeit an sich, sondern rationale Berufsarbeit ist eben das von Gott verlangte.“ S. 9)
Kritische Würdigung: die Marxsche Gegenposition
Stellt man sich nun allerdings die Frage, ob die in den Analysen Webers enthaltenen Synthesen aus Kapitalismus und (pseudo-)christlicher Religion den Kapitalismus als typisch neuzeitliches Phänomen zu erklären vermögen, kommt man nicht umhin, an die Marxschen Theorien zu erinnern, auf die Weber gar nicht eingeht. Es gilt, nicht nur den „Geist“, sondern auch das Wesen des Kapitalismus zu erforschen. Nach Marx geht es beim Arbeitsprozess nicht um Religion und auch nicht nur um den „Geist“ (als Subjekt-Objekt-Beziehung schlechthin), sondern um die zweckvolle, zweckmäßige Tätigkeit des Menschen . Das fünfte Kapitel seines Hauptwerks „Das Kapital“ (1867) überschreibt Marx mit dem Titel „Arbeits-prozeß und Verwertungsprozeß“. Den Menschen begreift er darin zunächst als Teil der Natur, als „Naturmacht“. Als solche trete der Mensch dem Ganzen der Natur mit bestimmten Absichten, Ziel- und Zwecksetzungen und Interessen gegenüber. Seine Kräfte benutze er, „um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen“. 50 Dieses „um … zu“, diese Zweckorientiertheit spielt in der gesamten Marxschen Analyse der Arbeit eine entscheidende Rolle.
Der wesentliche Unterschied zwischen der menschlichen Arbeit und den lebenserhaltenden Aktivitäten der Tiere liege in einer quasi teleologischen Planmäßigkeit. Der „zweckgemäße Wille“ des Arbeiters sei ein hervorragendes Mittel der dauernden Konzentration auf den Arbeitsprozess (a.a.O. S. 180). Weitere Zweck-Mittel-Relationen analysiert Marx hinsichtlich der Produktionsmittel , später auch hinsichtlich der Produktivkräfte Arbeit, Boden und Kapital. Seine Beschreibung des Arbeitsprozesses selbst fasst er wie folgt zusammen: „Der Arbeits-prozeß, wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam.“ (a.a.O. S. 186, Hervorhebung durch mich). Damit dehnt Marx die Gültigkeit der Kategorie Zweckmäßigkeit auf die gesamte Gesellschaft aus.
Von den „einfachen und abstrakten Momenten“ der teleologisch geprägten Analyse des Arbeitsprozesses kann aber zweifellos nicht auf die Gesamtheit der Theorien von Marx und Engels geschlossen werden. – Davon abgesehen ist es möglich, die Grundstruktur einer Theorie ganzheitlich-teleologisch zu verstehen, d.h. zu analysieren und zu interpretieren, wenn darin bestimmte Phasen (bzw. Stufen) erkennbar sind. Diese Phasen sind:
Phase I: Der Ausgangszustand, bestimmte Ziel- oder Zweckursache(n). Phase II: Einsatz variabler Mittel zur Erreichung der angestrebten Ziele oder Zwecke. Phase III: Resultat, Ziel- oder Zweck-Erfüllung, End-Wirkung der Ursache(n).
Dieses Schema lässt sich anscheinend problemlos auf das Ganze, d.h. die wesentlichen Inhalte der Theorien von Marx und Engels übertragen, sobald eine weitere zentrale Kategorie ihrer Analyse der kapitalistischen Gesellschaft berücksichtigt wird: die der Entfremdung, die ja nicht nur die Arbeit , sondern die Gesellschaft als Ganze betrifft. Dann ergibt sich folgende Abstufung:
Phase I: die durch den Kapitalismus entfremdete Gesellschaft, Phase II: emanzipatorisches Handeln mit dem Ziel der Beseitigung der Entfremdung, Phase III: Aufhebung der Entfremdung, klassenlose Gesellschaft, freie Assoziation freier Individuen.
Zu Phase I: Entfremdung:Obwohl sich diese Phase anscheinend problemlos marxistisch konkretisieren lässt, bedarf es einiger Erinnerungen, um die entfremdete Gesellschaft als „Anfangszustand“, d.h. als Ziel- oder Zweckursache, verstehbar zu machen: Entfremdung entsteht – angeblich zwangsläufig – innerhalb des kapitalistischen Arbeitsprozesses, so dass Entfremdung vor allem in Form der entfremdeten Arbeit auftritt. Unterschieden werden hier folgende vier Grundformen:
1. Die Entfremdung des Arbeiters vom Produkt seiner Arbeit Da nicht der Arbeiter, sondern der Kapitalist über die Verwendung (den Mehrwert bzw. den Profit!) des Arbeitsprodukts bestimmt, wird dieses für den Arbeiter zu einem fremdartigen Wesen .
2. Die Entfremdung des Arbeiters von der Arbeit. Arbeitsteilung und Ausbeutung führen dazu, dass der Arbeiter sich in seiner Arbeit nicht heimisch, nicht bestätigt fühlt, zumal er die Gesamtzusammenhänge des Produktionsprozesses nicht zu überblicken vermag.
3. Die Entfremdung des Menschen von sich selbst. Wird dem Menschen die freie Selbstverwirklichung in schöpferischer Tätigkeit verwehrt, wird er seines Gattungswesens beraubt und tritt sich selbst als einem fremden Wesen gegenüber.
4. Die Entfremdung des Menschen vom Menschen. Hierzu schreibt Marx: „Überhaupt, der Satz, daß der Mensch seinem Gattungswesen entfremdet ist, heißt, daß ein Mensch dem andern, wie jeder von ihnen dem menschlichen Wesen entfremdet ist.“ 51 Ein allgemeiner Konkurrenzkampf droht an die Stelle von Gemeinsinn und Solidarität zu treten.
Phase II: Mittel und Wege der Emanzipation
Als Ziel der kommunistischen Bewegung nennt Marx u.a. „die Emanzipation der Arbeiterklasse und die darin enthaltene Umwälzung (Umwandlung) der Gesellschaft“. 52 Der lateinischen Grundbedeutung des Verbs ‚emancipare‘ (‚aus den Händen nehmen‘) gemäß bedeutet Emanzipation zunächst ‚Befreiung von etwas‘. Gemeint ist die Befreiung von allen Formen der Entfremdung, insbesondere von Fremdbestimmung und Unterdrückung, um schließlich das Ziel der Selbstbestimmung zu erreichen. Als Voraussetzung hierfür müsse man, wie Marx es an einer vielzitierten Stelle seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie fordert, „alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ – zweifellos ein hoher Anspruch, dessen Tragweite auch heutzutage kaum überschaubar sein dürfte.
Die Mittel zur Erreichung der Ziele seien sowohl theoretischer als auch praktischer Natur: „Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie , ihr Herz das Proletariat.“ 53 Zwischen „Kopf“ und „Herz“ soll sich eine Wechselwirkung ergeben dergestalt, dass die Philosophie sich durch die Aufhebung des Proletariats verwirklicht; die Philosophie soll praktisch werden, um die Menschheit als Ganze von der Entfremdung zu befreien.
Phase III: Endzweck: Ende der Entfremdung, Freiheit des Einzelnen in einer freien Gesellschaft
In einer klassenlosen Gesellschaft wird die Entfremdung aufgehoben. Die dann erreichte Selbstbestimmung ermöglicht jedem einzelnen Menschen wahres Person-Sein54, d.h. freie Zweck- und Zielsetzungen (und Zweckerfüllungen!). In einer wirklich freien Gesellschaft wäre dafür gesorgt, dass die Menschen nicht immer wieder wegen unterschiedlicher Zweck- und Zielvorstellungen untereinander in Konflikt geraten. Es wäre dies die Aufhebung der „Heterogenität der Zwecke“. Was im Kapitalismus bloß heterogen, d.h. stets vor allem konfliktträchtig war, soll im (idealen) Sozialismus nicht etwa durch Gleichmacherei, sondern durch Gemeinsinn und harmonisches Miteinander ersetzt werden. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen“ (jeder,und nicht: jedem!), müsste dann die Devise lauten. Nicht mehr der neidvolle, oft zerstörerische Konkurrenzkampf ums Dasein, sondern friedfertige, harmonische, menschenfreundliche Kooperation müsste das Leben des Individuums und der Gesellschaft bestimmen. Eine bloße Utopie? Marx und Engels glaubten jedenfalls an die Möglichkeit, sie zu verwirklichen. All ihre Hoffnung setzten sie auf eine Internationale Arbeiterbewegung mit dem Ziel der Aufhebung des Proletariats in einer klassenlosen Gesellschaft. Marx schreibt dazu: „Einmal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, und produktive Arbeit hört auf, eine Klasseneigenschaft zu sein.“ 55
Und er antizipiert die wahre Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft – die nicht bloß ein Hegelsches „Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit“ wäre –, indem er sagt: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entfaltung aller ist.“ 56 Eine freie Assoziation freier Individuen erscheint somit als wesentliches Ziel der Emanzipation und unabdingbares Kennzeichen einer Klassenlosen Gesellschaft. Dabei geht es um wirkliche Freiheit im weitesten Sinne – und, wie gesagt, nicht etwa nur um Hegels „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“.
Vergleich
Vergleicht man die Positionen von Marx und Weber, fällt auf, dass Weber dem Phänomen Kapitalismus nur unzureichend gerecht wird. Er erfasst weder den „Geist“ noch das Wesen des Kapitalismus auch nur annähernd; denn hierzu hätte er dessen umfassenden, charakteri-stischen Merkmale der dialektischen Subjekt-Objekt-Beziehungen in den Blick nehmen müssen. Er will die Marxsche Theorie übertreffen und überwinden, unterlässt aber die notwendige kritische Auseinandersetzung mit ihr. Außer Acht lässt er zentrale Begriffe wie Ausbeutung, Entfremdung, Klassen-Gesellschaft u.a.m. Die Entstehung des Kapitalismus erklärt er anders, aber nicht überzeugend. Während einige Theoretiker die ersten Kapitalisten im Florenz des frühen 14. Jahrhunderts verorten, identifizieren andere den Anfang mit der verstärkten Industrialisierung Englands im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Hauptgrund liegt wohl im Aufschwung der Weltwirtschaft seit Beginn der Neuzeit, im Anschluss an die Entdeckung neuer See- und Handelswege z.B. nach Amerika und Indien, wobei Renaissance, Humanismus und Reformation ideologische Schützenhilfe leisteten.
Jedenfalls geht Max Weber fehl in der Annahme, der Calvinismus habe den modernen Kapitalismus erstarken lassen. Unzulässig ist wohl auch die Annahme eines strikt okzidenta-len Rationalismus. Denn starke Vernunft-Motivation ist z.B. schon bei Konfuzius (ca.551-479 v. Chr.) bzw. in den alten chinesischen Großreichen anzutreffen. – Anders steht es mit der Entwicklung des Berufsethos im Zeichen protestantisch-asketischer Grundhaltung. Hier füllt Weber eine Lücke auch in der Marxschen Theorie. Ebenso im Hinblick auf die Auswirkungen der calvinistisch-asketischen Komponenten des frühen Kapitalismus.
Leider bleibt er aber in vielfacher anderer Hinsicht hinter Marx zurück. Seine Auffassungen sind wesentlich affirmativ, vernachlässigen das von Marx analysierte Konflikt-Potential des Kapitalismus. Gänzlich fehlt bei Weber auch die Perspektive der gesellschaftlichen Eman-zipation bis hin zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus, mit einem Zukunfts-Ideal, wie es in Marxens Reich der Freiheit aufscheint. (Wobei es fahrlässig wäre, die Unzuläng-lichkeiten der Marxschen Theorie zu verschweigen. Gescheitert ist Marx vor allem mit seiner Revolutionstheorie, insbesondere in Form der Theorie des „unausweichlichen Zusammen-bruchs des Kapitalismus“, bei der er neue, durch den forcierten Kolonialismus hervorgerufene Entwicklungen nicht erkannt hatte. Vgl. Robra o.J., S. 15 ff.)
Gottesgnadentum
Das Jonglieren mit Begriffen treibt zuweilen seltsame Blüten hervor. So bei dem von P. De Mathies unternommenen Versuch, einen nicht theologischen oder religionsphilosophischen, sondern „rein politischen Begriff des Gottesgnadentums“ zu entwickeln. 57 Mathies geht davon aus, man könne sich auf folgende Formulierung einigen:
„Jeder der im Leben seinen Platz auszufüllen sucht und einem anständigen Berufe ehrlich nachlebt, ist von Gottes Gnaden das, was er ist." Folglich sei „der Arbeiter, der Landmann, der Gelehrte, der Kaufmann, der Künstler, der Beamte genau so gut von Gottes Gnaden wie der Edelmann, der Patrizier, der Fürst, das Staatsoberhaupt.“ (a.a.O., ebd.)
Was letztlich auf den schon von Jesus bekräftigten Grundsatz hinausläuft, dass vor Gott alle Menschen gleich seien. Warum aber bemüht Mathies dann noch den vorbelasteten, negativ konnotierten Begriff ‚Gottesgnadentum‘?
Historisch stammt der Begriff ursprünglich nicht aus dem Christentum, sondern aus dem spätantiken Römischen Reich, in dem es üblich war, den Kaiser als ‚Divus‘ („göttlich“) zu verehren; ein Kult, der seit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion im Jahre 380 allmählich ungebräuchlich wurde. Allerdings ist bereits von Konstantin dem Großen (ca. 280 – 337) der Spruch überliefert, ihm habe der „himmlische Wille […] alles Irdische zur Lenkung anvertraut“. 58 Eine Prätention, die sich später, im Byzantinischen Reich, mit dem dynastischen Prinzip verband (ebd.).
Im Gottesgnadentum des Mittelalters fließen dann mehrere Spielarten des Phänomens zu einem „Konglomerat“ der besonderen Art zusammen, in dem auch das germanische Wahl-königtum noch durchschimmert. Karl der Große, der sich als „von Gott gekrönter Kaiser“ verstand, begründete seinen „göttlichen“ Herrschaftsanspruch sogar unter Berufung auf den alttestamentarischen König David. Dies auch gemäß der auf Paulus zurückgehenden Auf- fassung, jede staatliche Gewalt sei gottgewollt und daher sakrosankt. Die Formel ‚Dei Gratia‘ (‚von Gottes Gnaden‘) findet sich seit Otto I. im ostfränkischen Königssiegel. „Salische und staufische Kaiser des Heiligen Römischen Reichs versuchten die christliche Vorstellung, dass der Herrscher von Gott über seine Untertanen eingesetzt sei, zur Begründung der Auffassung zu nutzen, dass der weltliche Herrscher gegenüber dem Papst über einen eigenständigen Herrschaftsanspruch verfüge (Zweigewaltenlehre).“ (a.a.O., ebd.)
Auf Paulus berief sich auch Luther, als er die Niederschlagung des Bauernaufstands von 1525 rechtfertigte, was auch der Prädestinationslehre des Augustinus (s.o.) entspreche. „Damit lieferte Luther eine Grundlage für das Herrschaftsverständnis des Absolutismus: Aufgrund des neutestamentlichen Gottesgnadentums sei ein christlicher Herrscher weder absetzbar noch in einer anderen Weise an der Ausübung seiner Regentschaft zu hindern. Dieses Herrschafts-verständnis war im christlich-abendländischen Europa bis in die Zeit der Französischen Revolution maßgebend. Prominente Vertreter waren etwa die Bourbonen in Frankreich, das Erzhaus Habsburg oder die russischen Zaren.“ (a.a.O.) – Was allerdings die späteren grauenhaften Religionskriege wie den Dreißigjährigen Krieg nicht verhindern konnte.
Im Jahre 1849 trug der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. entscheidend zum Scheitern der bürgerlich-demokratischen Revolution bei, und zwar unter Berufung auf sein „Gottes-gnadentum“. – „König Ludwig II. von Bayern griff noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die voraufklärerische Vorstellung vom Gottesgnadentum zurück, als er im Schloss Neuschwanstein den Thronsaal nach der Form einer byzantinischen Kirche errichten ließ und anstelle eines Altars einen Thron setzen wollte, der jedoch nie fertiggestellt wurde.“ (a.a.O.)
„Das letzte deutsche Staatsoberhaupt, das sich auf das Gottesgnadentum berief, war Wilhelm II. Sein imperialer Wahlspruch lautete >Gott mit uns< (ebd.).“ Ein höchst fragwürdiges Motto, mit dem die kaiserlichen Soldaten 1914-18 sogar in den Krieg gegen „Feinde“ im Westen und im Osten zogen, die sich ebenfalls auf „Gottes Gnade“ beriefen. – Noch der spanische Diktator Franco (1892-1975) nannte sich „Führer Spaniens von Gottes Gnaden“, und in der neuen spanischen Verfassung von 1978 wurde dem König der Titel „von Gottes Gnaden“ zugestanden.
Auswirkungen
Die katholische Theologin Ingeborg Gabriel weist (2022) darauf hin, dass mit dem Gottes-gnadentum auch politische Verantwortung verbunden war, die in der Demokratie auf das Volk übertragen wurde, allerdings ohne Rückfälle bzw. autokratische und diktatorische Reaktionen und Übergriffe vollständig auszuschließen. Frau Gabriel bemerkt:
„Wenn Leute autokratischen Politikern nachlaufen oder Scharlatanen, die sie dann antidemokratisch verhetzen, dann hat das auch etwas mit individueller Verantwortung zu tun.“ 59
Diktatoren und Autokraten benehmen sich natürlich meistens schlimmer als die Monarchen „von Gottes Gnaden“, scheuen sich aber keineswegs, ihre zuweilen verbrecherischen Anwandlungen religiös zu verbrämen, wie sich gegenwärtig am Beispiel Putin veranschau-lichen lässt; wobei auffällt, dass Rechtsextreme in aller Welt sogar für Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine Sympathien aufbringen.
Und auch in den USA gab es Präsidenten – wie z.B. George W. Bush –, die sich ähnlich wie Putin verhielten, obwohl in der US-Verfassung jegliche Form von Gottesgnadentum aus-drücklich verboten ist. Dabei galten vor allem protestantische US-Gemeinden lange Zeit als „Laboratorien der Demokratie“, in denen z.B. Laien die Finanzen verwalten durften. Was sich allerdings u.a. mit dem Aufkommen der Evangelikalen geändert hat.
Nicht zu übersehen ist, dass nicht nur unter Berufung auf die christliche Religion furchtbare Verbrechen begangen wurden; so z.B. von Dschihadisten im Namen ihres Gottes.
Vorläufige Bewertung
„Nach Ricarda Huch ist Gottesgnadentum keine Rechtfertigung für eine absolutistische Macht „von oben nach unten“, abgeleitet etwa aus deistischen Gottesvorstellungen. Im Heiligen Römischen Reich hätten die Fürsten ihre Interpretation des Römerbriefs und des Gottesgnadentums dazu genutzt, ihre Macht gegen Kaiser, andere Stände und die Bevölkerung absolutistisch auszuweiten.“ 60 Fragt man nach Hintergründen, tieferen Gründen, stößt man auf weitere Fragen. Worauf beruht denn eigentlich das Zusammenleben der Menschen? Feststeht wohl, dass Natur und Gesellschaft sich nicht reibungslos, nicht konfliktfrei entwickelt haben. Entstehen, Kontinuität, substanzielles Beharren und Vergehen sind unleugbare Tatsachen. Folgt daraus ein sinnvolles Werden, ein sinnreiches „Stirb-und-werde!“ – oder nur ein absurdes Kreisen in Kreisen, eine sinnlose ewige Wiederkehr des Gleichen, ein Vorlaufen des Ganzen in den ewigen Tod? Wozu all die Leiden, Sorgen, Ängste, Nöte, Gebrechen? „List der Vernunft“? Welcher Vernunft, und wie „listig“ kann sie denn sein?
Im Nachhinein, wenn das Kind in den Brunnen gefallen, die Katastrophe hereingebrochen ist, faselt man vielleicht gern vom Erdbeben von Lissabon, das Voltaire – wohl zu Recht – gegen Leibniz‘ „beste aller Welten“ ins Feld geführt hat. Und wie sehr bestaunen wir noch heute an der Algarve-Küste die bizarren Fels-Formationen, die das Lissaboner Erdbeben des 18.Jahrhunderts uns hinterlassen hat. – Aber nicht alle Schönheit beruht auf Katastrophen. Oder doch?
Wie dem auch sei: Das Widerwärtige, Wider-Streitende, Widersacherische, Unabgegoltene begegnet uns immer wieder. Nicht zuletzt im Kapitalismus, nicht zuletzt in den mit ihm verbündeten gesellschaftlichen Systemen. Neben dem „Schwarzbuch Kommunismus“ steht – nicht weniger monströs und bedrohlich – das „Schwarzbuch Kapitalismus“. Beides geht nicht. Dritte Wege sind viele versucht worden. Meistens sind sie gescheitert, bis hin zur Sozialen Marktwirtschaft, die offenbar keine einzige Krise des Kapitalismus verhindern konnte. Wir sind mitten drin im Schlamassel. Und die allermeisten von uns sind machtlos, wie vom Kapital Getriebene oder Vertriebene. Das wäre näher zu erklären. Jetzt und noch immer geht es um die Gesellschaft, um die Frage nach dem Wie des Zusammenlebens der Menschen. (Vgl. Robra 2015 S. 522 f.)
Exkurs: G.W.F. Hegel (1770-1831), ein „Autokrat“ von Gottes Gnaden?
Hegels Behauptung, die Weltgeschichte werde durch gottgewollten Sinn geleitet, hat schon Karl Raimund Popper(1902-1994) heftig kritisiert, und zwar in seinem 1945 erstmals erschienenen Hauptwerk „The Open Society and Its Enemies“ („Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde“). Darin bezeichnet er die Hegelsche Sinngebung als „theistischen Historizis-mus“, für den sich auch und gerade im Christentum fast gar keine Begründung finden lasse. Dagegen stellt er fest:
„Die Behauptung, dass Gott sich in dem offenbart, was man gewöhnlich >Geschichte< nennt, in der Geschichte internationaler Verbrechen und Massenmorde, diese Behauptung ist eine grobe Lästerung; und sie wird nicht besser, wenn wir an die zukünftigen Machthaber und Massenmörder appellieren. Was sich wirklich im Bereich des menschlichen Lebens ereignet – das wird durch diese grausame und zugleich kindische Affäre kaum je berührt. Das Leben des vergessenen, des unbekannten individuellen Menschen; seine Trauer, seine Freude, seine Leiden und sein Tod – sie sind der wirkliche Gehalt der menschlichen Erfahrung durch alle Zeiten.“ 61
Die eigentliche Aufgabe des Christentums bestehe darin, den Armen und den Leidenden zu Hilfe zu kommen (woraus, wie ich meine, zu schließen ist, dass diese Leiden keinesfalls als bloße „List der Vernunft“ wegdiskutiert werden können). Abwegig sei es anzunehmen, in der Geschichte offenbare sich der Wille bzw. eine Sinngebung Gottes. Kurz und bündig lautet Poppers Gegenthese: „Die Geschichte hat keinen Sinn, das ist meine Behauptung.“ ( a.a.O. S. 168)
Dennoch argumentiert Popper selbst teleologisch, wenn er, wie Hegel, Vernunft und Freiheit zu geschichtlichen Zielen erklärt; er geht allerdings über Hegel hinaus, indem er diese Ziele, neben denen der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der „Kontrolle des internationalen Verbrechens“, in den Dienst des Kampfes für eine offene Gesellschaft stellt. Anders gesagt: „…obwohl die Geschichte keinen Sinn hat, können doch wir ihr einen Sinn geben.“ (Popper a.a.O. S.169)
Auch Popper verzichtet also nicht auf den Versuch einer teleologischen Sinngebung, obwohl er ein Ziel der Geschichte nicht zu erkennen vermag.
Hegels Setzungen
Subjektive Sinngebung der Geschichte leistet allerdings auch Hegel, obwohl er behauptet, dieser Sinn werde objektiv, nämlich durch das Absolute, gestiftet. Seine teleologische Argumentation enthält jedoch eine Reihe von Setzungen, die zu überprüfen sind. (Eine Überprüfung, die Popper übrigens nicht vorgenommen hat!) Diese Setzungen lassen sich wie folgt umschreiben:
1. Ein Überblick über das Ganze des Weltgeschehens ist möglich und notwendige Voraussetzung einer Philosophie der Weltgeschichte.
2. Glaube und Wissen sind gleichzusetzen.
3. Gott bzw. das Absolute ist der absolute Sinnstifter der Weltgeschichte.
4. Geistige und somit philosophische Einsicht in das Absolute ermöglicht „absolutes Bestimmen“.
5. Gottes Geist manifestiert sich im positiven Fortschreiten der Weltgeschichte, z.B. als Weltgeist, Volksgeister, objektiver und subjektiver Geist, bis hin zum absoluten Wissen und absoluten Geist.
6. Vernunft ist „das Vernehmen des Göttlichen“.
7. Vernunft, Zweck und Wirklichkeit sind identisch, d.h. austauschbare Begriffe. Dadurch wird eine neue Teleologie der Natur entbehrlich, der Zweckbegriff universell verwendbar.
8. Alles Vernunft-, Zweck- und Sinnwidrige kann als „List der Vernunft“ interpretiert werden.
9. Ziele der Geschichtsphilosophie sind a) das Erkennen des gottgewollten (absoluten) Endzwecks, b) die „sich wissende Wahrheit, die sich selbst erkennende Vernunft.“
10. Hegel schwankt gelegentlich zwischen „persönlicher“ und „formeller“ Freiheit als Zielsetzungen.
Hier nun meine Überprüfung dieser Setzungen:
zu 1): Uns Heutigen ist der Überblick über das Ganze der Geschichte verwehrt, weil die Ausdifferenzierungen der Philosophie und insbesondere der Wissenschaften und ihrer Ergebnisse nicht mehr überschaubar sind.
zu 2): Glaube und Wissen sind nicht gleichzusetzen, und zwar schon deshalb nicht, weil – wie schon Kant bemerkte – Wissen stets auf Objekte, d.h. überprüfbare Fakten, angewiesen ist, der religiöse Glaube jedoch nicht.
zu 3): Gott für einen „absoluten Sinnstifter“ zu halten, ist ein Glaubenssatz, d.h. eine unbeweisbare Behauptung.
zu 4): Den Geist zu verabsolutieren, erscheint heute schon deshalb unzulässig, weil die wichtigsten Funktionen des Geistes in der Großhirnrinde (Neocortex) des Menschen nachgewiesen wurden, die als solche nicht vom Ganzen des Gehirns, des Körpers und der leib-seelischen Gesamtkonstellation zu trennen sind. – „Absolutes Bestimmen“ wäre unfehlbar; was es aber nicht geben kann, weil jegliches Bestimmen theorieabhängig und daher fehlbar ist.
zu 5) Letzteres gilt sinngemäß auch für die genannten weiteren Hegelschen Konstrukte.
zu 6): Auch hier werden Glaube und Wissen in unzulässiger Weise vermengt.
zu 7): Vernunft und Wirklichkeit gleichzusetzen, ist kurzschlüssig, weil die Macht des Irrationalen (einschließlich des Unterbewusstseins des Menschen) zuweilen stärker wirkt als die des Vernünftigen. – Befremdlich ist, dass Hegel – wohl als Folge der Gleichsetzung von Vernunft und Wirklichkeit – die Problematik einer Natur-Teleologie nicht diskutiert und den Zweckbegriff universell verwendet.
zu 8): Eine „List der Vernunft“ (überdies noch als „absolute“) zu vergöttern, zeugt von mangelndem Respekt gegenüber den zahllosen Opfern der Weltgeschichte. K. R. Popper hat dies nachdrücklich angeprangert (s.o.).
zu 9) Für den „absoluten Endzweck“ und die „sich selbst erkennende Vernunft“ gelten sinngemäß meine Einwände gegenüber den Begriffen des Absoluten, des Zwecks und der Vernunft; s. unter 1) bis 4) und 6) bis 8). Die „sich wissende Wahrheit“ ist letztlich die des Absoluten.
zu 10): Hegel schwankt zwischen tatsächlicher und formeller Freiheit wahrscheinlich deswegen, weil er weiß, dass keineswegs alle Menschen wirklich frei sind. Wenn er als Ziel der Weltgeschichte gelegentlich den „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ angibt, zeugt dies von ähnlicher Unsicherheit hinsichtlich des Begriffs Freiheit.
Fazit: Anscheinend erweisen sich fast alle Grundbegriffe der Hegelschen Teleologie als unhaltbar. Ähnliches gilt für die damit verbundenen Konstrukte. Und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Hegel selbst die Teleologie nicht für die höchste Kategorie hält, sondern sie den angeblich höher stehenden Begriffen der „Idee“ (des Lebens, der Sittlichkeit und des absoluten Geistes) unterordnet.
Noch weniger als Kant tragen die Deutschen Idealisten zu einer Lösung bestimmter Grundprobleme der Teleologie bei. Dies gilt insbesondere für die Frage, wie weit der Bedeutungsumfang und -inhalt des Zweckbegriffs reicht, ob er auf das Naturgeschehen übertragen werden kann und ob eine Teleologie der Natur überhaupt möglich ist. (Vgl. Robra 2015, S. 406 ff.)
Hegels besondere Tragik liegt wohl darin, dass er sein pseudo-religiöses Zweck-Konstrukt, ein Gemisch aus Glauben und Wissen, nach und nach selbst zerstört hat. Pseudo-religiös ist dieses Konstrukt, weil es im Grunde mit geschichtsphilosophischem Anspruch auftritt, wobei Gott zunächst der allmächtige Schöpfer, Alleinherrscher und alleinige Lenker der Weltge-schichte ist, dann aber auf die Konkurrenz von „Weltgeist“ und „Volksgeistern“ trifft, bis er schließlich am Kreuz stirbt, um sodann im „Absoluten Wissen“ des Philosophen unter-zugehen. Mit diesem „Wissen“ glaubt Hegel, sogar das Ganze der Welt erfassen zu können, behauptet er doch: „Das Ganze ist das Wahre.“ Und: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Demgemäß tritt das „Absolute Wissen“ an die Stelle der Herrschaft Gottes und kann insofern als „autokratisch“ bezeichnet werden. – Was sich – verschlimmernd – bei Nietzsche fortsetzt, der Hegels Rede vom „Tode Gottes“ begierig aufgreift und sich selbst zum Schöpfer seiner selbst und zum selbstherrlichen, je einzigen „Gesetzgeber“ erklärt, den die Gesellschaft einen Dreck angehe. …
Und schließlich: Die Tatsache, dass der Autokrat Lenin trotz und alledem Hegel und Nietzsche, die beiden deutschen „Koryphäen“, – wie auch den skrupellosen Machtfanatiker Machiavelli – verehrte und bewunderte, lässt sogar einige Aspekte der Weltgeschichte in anderem Licht erscheinen. (Näheres hierzu bei Robra o.J., S. 25 ff.)
(Nicht zu vergessen: Mit Karl R. Popper kann man Hegel auch als einen der Ahnherren des totalitären Nationalismus ansehen! Vgl. dazu: Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2, 1945/1992, S. 60, 73 ff.)
Das Christentum in der NS-Zeit
Während der NS-Zeit arrangierten sich die meisten Christen aller Konfessionen mit dem Regime. Nur wenige leisteten aktiven Widerstand. Einige von ihnen – so Dietrich Bonhoeffer, Graf Schenk von Stauffenberg und die Geschwister Scholl – bezahlten ihren Widerstand mit dem Leben. Wie dagegen die große Mehrheit der Christen eingestellt war, geht aus den folgenden Analysen hervor:
„Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat im Nationalsozialismus ist von der historischen und kirchenhistorischen Forschung lange Zeit mit der Epochen-bezeichnung „Kirchenkampf“ beschrieben worden. Damit wurde unterstellt, die beiden großen christlichen Konfessionen im Deutschen Reich, Katholiken und Protestanten, hätten in einem dauerhaften Abwehrkampf gegen die totalitären Geltungsansprüche des NS-Staats und seiner kirchenfeindlichen Weltanschauung gestanden. Eine solche Epochenbeschreibung für das Kirche-Staat-Verhältnis im „Dritten Reich“ trifft indes nur teilweise zu und bedarf dringend mehrfacher Einschränkung und Differenzierung.“ 62
In einer dementsprechend differenzierten Sicht wird deutlich, dass der Hitlerismus anfangs teilweise sogar als eine Form von „christlichem Messianismus“ angesehen wurde:
„Jedenfalls sei das Jahr 1933 von Christen, Konservativen, Deutschnationalen und Nationalsozialisten gleichermaßen als religiöses Erweckungserlebnis empfunden worden, das das Ende der so genannten „Gottlosenrepublik“ von Weimar besiegelt habe, sagt Gailus.
Hitler wurde von vielen als jesusartige Erlösergestalt empfunden. „Der Erste Weltkrieg, die darauffolgenden Revolutionsunruhen, der Moderneschock durch den Kollaps der Monarchie, der Versailler Vertrag, die Hyperinflationszeit Anfang der 20er-Jahre und die Weltwirtschaftskrise zu deren Ende hin beförderten einen ungeheuren Hunger auf Heil“, sagt Manfred Gailus.
Viele politische Parteien, allen voran die NSDAP, seien zu „Trägern heils-versprechender Weltanschauungen mutiert, die nicht nur Lösungen, sondern Erlösungen anboten“. 63
Eine Anschauung, die jedoch nicht von allen Christen geteilt wurde denn:
„Für die evangelischen Landeskirchen wurde die Zeit des Nationalsozialismus zu einer Zerreissprobe. Während vor der Machtergreifung Hitlers vorsichtige Zurückhaltung herrschte, war nach dem 20. Januar eine deutliche Bejahung zu beobachten. Die “Deutschen Christen”, eine innerkirchliche Gruppierung, die sich schon in der Weimarer Republik gebildet hatte, gewannen stark an Einfluss und konnten mit ihren Vorstellungen die Kirchenpolitik bestimmen. So wurden alle Landeskirchen in einer Reichskirche zusammengefasst, leglich Bayern und Württemberg stemmten sich erfolgreich gegen die Vereinnahmung. Die “Deutschen Christen” überspannten allerdings mit ihren unbiblischen Forderungen den Bogen und viele wandten sich enttäuscht ab. Die Opposition sammelte sich in der “Bekennenden Kirche”, die sich als die eigentliche Kirche Jesu Christi in Deutschland sah und mit der “Barmer Theologischen Erklärung” ein Bekenntnis evangelischer Christen in Deutschland formulierte. Die unterschiedlichen Einstellungen zu politischem Engagement und Widerstand führten allerdings zur Handlungsunfähigkeit der Bekennenden Kirche. Nach dem Krieg formulierten Mitglieder der Bekennenden Kirche die “Stuttgarter Schulderklärung”, in der sie das eigene Versagen bekannten.“ 64
Solches Versagen ist auch im Hinblick auf Antisemitismus und Judenverfolgung festzustellen, wie es in der folgenden Analyse heißt:
„Die führenden Vertreter der evangelischen und katholischen Kirchen waren in hohem Maße mitverantwortlich für die Judenverfolgung.
Die meisten Oberhäupter christlicher Kirchen in Deutschland begrüßten den Aufstieg der Nationalsozialisten 1933. Sie sprachen sich nicht gegen Hassreden oder Gewalt aus. Nach 1933 äußerte die Mehrheit von ihnen keinen Protest gegen die gesetzlichen Neuerungen, mit denen Juden zunehmend ihrer Rechte beraubt wurden. Einige Kirchenführer, darunter die stark nationalistisch ausgerichtete Strömung Deutsche Christen der evangelischen Kirche, waren begeisterte Anhänger des NS-Regimes.
Nur eine kleine Minderheit religiöser Autoritätspersonen, Pfarrer und Priester, meist isolierter Kirchengemeinden, sprachen sich gegen den NS-Rassismus aus, beklagten in der Sonntagspredigt die Verfolgung deutscher Juden oder boten Juden Unterstützung oder Unterschlupf. Ohne die Unterstützung ihrer kirchlichen Führer und Einrichtungen hatte die Stimme Andersdenkender kaum Einfluss auf die Regierungspolitik. Zudem beteiligten sich die Kirchen an der Umsetzung der Rassengesetze. Sie waren dafür verantwortlich, Kopien von Taufscheinen auszustellen. Das Regime benutzte diese Unterlagen, um die ,rassische Herkunft‘ einer Person sowie deren Eltern und Großeltern festzustellen.“ 65
Kein Wunder, dass aus solchem Versagen geschlossen wird, das Christentum habe in der NS-Zeit „irreparabel Schaden genommen“, und Gott selber habe „die Vernichtungslager nicht unbeschädigt überlebt“ (s.u.).
Christen und Christdemokraten
Dass in Jesu ursprünglicher Botschaft viel Demokratisches enthalten ist, kann nicht bezweifelt werden (s.o.). Ebenso nicht, dass überzeugte Christen immer wieder versucht haben, sich nicht nur politisch, sondern auch parteipolitisch zu engagieren. Als Beispiele hierfür können die deutsche Zentrumspartei (von den 1920er bis zu den 1950er Jahren) sowie die ‚Democra-zia Cristiana‘ Italiens und die CDU/CSU Deutschlands angeführt werden. Auf die beiden Erstgenannten brauche ich hier nicht näher einzugehen, zumal sie inzwischen nicht mehr exi-stieren. Anders steht es mit der CDU/CSU, in der nach wie vor häufig über das große ‚C‘ im Parteinamen diskutiert wird. Näheres hierzu erfährt man in einem Internet-Artikel von Thomas Schmid, der 2020, zum 75. Gründungstag der Partei, die Frage stellt: „Wie christlich ist die CDU?“, der man „eine – in ganz Europa einzigartige – Vitalität und Stärke“ nachsage, obwohl sie schon seit ihrer Gründung einen „gravierenden Widerspruch mit sich herum“ trage. Denn zu Unrecht führe „diese ganz und gar weltliche Partei das hohe C im Namen“, und zu Unrecht erhebe sie einen Anspruch auf Transzendenz. Hierzu erklärt Thomas Schmid:
„Als die CDU im Sommer 1945 gegründet wurde, konnte es keine deutsche Selbstgewissheit mehr geben. Deutschland hatte sich radikal selbst zerstört. In merkwürdigem Kontrast dazu steht der schnelle, ja fast stürmische Prozess der Selbstkonstituierung der CDU. Anders als es nach zwölf Jahren Diktatur und striktem Obrigkeitsdenken zu erwarten gewesen wäre, war dieser Gründungsprozess kein zentral gesteuertes Geschehen.… Im ganzen Land – in den Städten übrigens weit mehr als auf dem Land – gab es einen starken Wunsch nach einer konfessionell nicht festgelegten C-Partei. Und alle wollten dasselbe: einen vollkommenen politischen Neuanfang im Zeichen des Christentums und der >abendländischen Werte<“.
Darüber hinaus erwähnt Schmid zwei Gründungsdokumente der CDU vom Juni 1945, in denen „viel von deutschen Opfern, aber nur sehr knapp oder gar nicht von den Opfern die Rede ist, die Angehörige anderer Völker, insbesondere Juden und Russen, zu bringen gezwungen worden waren“. – Noch befremdlicher aber sei die Tatsache, dass in den Dokumenten der Bezug zum Christentum überhaupt nicht thematisiert werde. Nur kurz und einsilbig werde darin überhaupt vom Glauben und den „Kräften“ eines übergeschichtlichen Christentums gesprochen, an das ohne weiteres nach Kriegsende angeknüpft werden könne.
Dazu Schmid:
„Das aber war unmöglich. Zwar ist es gut verständlich, dass man nach zwölf Jahren mitleidloser Barbarei die Religion der Nächstenliebe zum Leitstern machte. Denn mit der Idee der Gottesebenbildlichkeit des Menschen bezeugt das Christentum einen unbedingten Respekt vor der Unverletzbarkeit des Individuums und der Freiheit des Einzelnen. Doch zugleich war das Christentum im Jahre 1945 korrumpiert. Denn die beiden großen christlichen Kirchen hatten sich – von wichtigen einzelnen Ausnahmen abgesehen – den Nationalsozialisten nicht entschlossen entgegengestellt. Sie hatten sich – die protestantische Kirche viel mehr als die katholische – in die Diktatur mehr oder minder eingepasst. Das Christentum war – anders etwa als die von der Aufklärung gespeiste Fortschrittsidee der Sozialdemokratie – 1945 schwer beschädigt. Es war moralisch und ethisch kontaminiert. Indem die Gründer der CDU dessen ungeachtet das Christentum zum einzig gültigen Anker erklärten, beschwiegen und beschönigten sie nicht nur dessen Selbstbeschädigung durch das Verhalten der Kirchen in der NS-Zeit. Sie stellten damit auch der großen Mehrheit der Deutschen, die sich auf die beiden christlichen Kirchen verteilten, eine Unbedenklichkeits-bescheinigung aus. Sie stellten sie im Hauruck-Verfahren auf die Siegerseite, auf die Seite des guten Neuen, das das gute, vor der NS-Zeit liegende Alte beerben sollte.“
Mit anderen Worten: Man wollte die CDU-Wähler entlasten, obwohl das C im Parteinamen durch die NS-Zeit diskreditiert war. In Wirklichkeit habe das Christentum „irreparabel Schaden genommen“, und Gott selber habe „die Vernichtungslager nicht unbeschädigt über-lebt“ (ebd.). Woraus sich die Forderung an die CDU ergebe, ihre Werte, Ziele und sonstigen Vorstellungen endlich „außerchristlich“, also nicht-religiös zu begründen, statt sich immer wieder nur auf das hohe C zu berufen. Schmid:
„Es gibt Erfolge, an denen ein ursprüngliches Versagen, zumindest Unvermögen klebt. Im Falle der CDU ist das der Persilschein, den sie – um des schnellen und dann tatsächlich gelungenen Wiederaufstiegs willen – den Deutschen mit ihrer Gründung christlich verbrämt ausgestellt hat.“ (Schmid 2020, s. Literaturverzeichnis!)
Die Folgerungen, die sich daraus ergeben, formuliert drastisch Achijah Zorn in einem Artikel des Jahres 2023, in dem er feststellt:
„Die Forderung nach einer „christlichen Politik“ ist genauso unsinnig wie die Forderung nach christlichen Brötchen, christlichen Waschmaschinen oder christlichen Kondomen. Gerade die Befreiung des Politischen aus den Klammern von religiösen Überhöhungen aller Art ist der spezifische und wertvolle Beitrag des Christentums zu unserer politischen Kultur. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Johannes-evangelium 18,36). Die CDU/CSU ist dann christlich, wenn sie keine christliche, das heißt keine religiös überhöhte Politik macht; auch wenn natürlich der Glaube im ganzen Leben und damit auch in der politischen Existenz eines Christen eine wichtige Hintergrundbasis ist.“ 66
Was A. Zorn hier einfordert, würde allerdings wohl einer Selbstaufgabe der CDU/CSU gleichkommen – und ist folglich nicht zu erwarten, es sei denn, es träten vergleichbare Um-stände ein, die in Italien zum Untergang der ‚Democrazia Cristiana‘ geführt haben.
Christentum und Kapitalismus II: Sollten “gute Christen richtige Kapitalisten“ sein?
Gerhard Schwarz, geb. 1951, langjähriger Top-Manager der ‚Neuen Zürcher Zeitung‘ (NZZ), Publizist und Vordenker des Kapitalismus, präsentiert im Jahre 2016 einen Aufsatz mit dem Titel: ‘Gute Christen denken kapitalistisch‘. 67 Worum es ihm dabei geht, lässt sich in vier Grundthesen zusammenfassen:
1. „Eigentlich müssten gute Christen richtige Kapitalisten sein.“ (a.a.O. S. 1)
2. Vorzüge des Kapitalismus: Wettbewerb, Privateigentum, Marktwirtschaft. Der Kapitalismus bietet den Freiraum, in dem die Menschen „sich so verhalten können, wie sie es für richtig halten. Diesen Freiraum, diesen anthropologischen Realismus und diese Offenheit bietet die marktwirtschaftliche, liberale Ordnung mehr als jede andere.“ (S. 6)
3. „Im Ergebnis ist der Kapitalismus sozialer als der Sozialismus.“ (S. 2)
4. Das liberale Menschenbild: „Das Verständnis des Menschen als Einzelperson, ausgestattet mit gleicher Würde, angenommen von Gott, harmoniert mit dem liberalen Menschenbild. Dass jedem Kind Gottes ewiges Leben gewährt ist und die Seele jedes Menschen in Kontakt mit Gott steht, sind zentrale Wurzeln des Liberalismus.“ (S. 2)
Diese Thesen stützt G. Schwarz mit zahlreichen Argumenten, die sich in mindestens drei unterschiedlichen Argumentationssträngen wiederfinden; wobei auffällt, dass der Autor diese Stränge nicht strikt voneinander trennt, sondern immer wieder zu seinen Zwecken mit-einander verknüpft. Die Stränge bzw. Argumentationslinien sind identisch mit Schwarz‘ Be-hauptungen:
a) Die kapitalistische Marktwirtschaft ist allen anderen Wirtschaftsformen überlegen.
b) Die Kapitalismus-Kritik der Kirchen und einiger Christen ist unberechtigt.
c) Kapitalismus und wahres Christentum gehören zusammen.
Zu a): „Die kapitalistische Marktwirtschaft ist allen anderen Wirtschaftsformen überlegen.“
Denn vor allem durch Wettbewerb, Privateigentum und „freie Marktwirtschaft“ biete der Kapitalismus den Freiraum, in dem die Menschen „sich so verhalten können, wie sie es für richtig halten. Diesen Freiraum, diesen anthropologischen Realismus und diese Offenheit bietet die marktwirtschaftliche, liberale Ordnung mehr als jede andere.“ (S. 6) Wettbewerb gehöre zur „anthropologischen Grundausstattung des Homo sapiens, der wir Innovation und Fortschritt verdanken.“ Darüber hinaus könne der Wettbewerb auch ethischbegründet werden, wobei G. Schwarz aus begründet werden einer Schrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zitiert, in der es heißt, Wettbewerb sei „ein zentrales Moment jeder Marktwirtschaft, . . . auch unter ethischen Gesichtspunkten . . . Er belohnt die Leistung des Tüchtigeren. Dieser Ansporn dient aber dem Gemeinwohl.“ (S. 3 f.) (Wobei vorwegzunehmen ist, dass Schwarz den Begriff ‚Gemeinwohl‘ später, d.h. in einem Artikel vom 23.3.2021, heftiger Kritik unterzogen hat.)
Die Rechtmässigkeit privaten Eigentums werde indirekt schon durch das Jahwe-Gebot «Du sollst nicht stehlen» etabliert. Namhafte Denker wie Augustinus, Thomas von Aquin und Adam Smith hätten „dem Privateigentum und dem Gewinn ihren Segen erteilt; und der polnische Papst Johannes Paul II. wusste aus Erfahrung um die Vorteile des Privateigentums.“ Woraus Schwarz apodiktisch folgert, es gebe „keine bessere Institution, um mit stets begrenzten Ressourcen produktiv umzugehen und knappe Güter zuzuteilen“. (S. 4) Auch die Tatsache, dass Unternehmer sich „mit kühlem Kopf an der ökonomischen Sachlogik“ orientieren (statt Arbeitsplätze zu gefährden!) zeuge von deren ethischer Grundhaltung. … (S. 4) – Ethisch belanglos sei hingegen die Tatsache, dass krasse Einkommensunterschiede bzw. Ungleichheiten „als Folge von Unterschieden der Begabung, der Anstrengung, des Glücks und der Nachfrage“ zu sozialen Spannungen führen. Dies müsse vielmehr in Kauf genommen werden. (S. 5)
Dies könne und müsse auch als Leitlinie für die Rolle des Staates dienen: „Nicht der Umverteilungsstaat, der Leistung bestraft und das Anspruchsdenken fördert, ist sozial, sondern der Staat, der die unternehmerische Initiative und damit die Überwindung von Armut nicht abtötet und die private Wohltätigkeit nicht verdrängt.“ (S. 6)
Zu b): „Die Kapitalismus-Kritik der Kirchen und einiger Christen ist unberechtigt.“
Für christliche Kritik am Kapitalismus bringt G. Schwarz keinerlei Verständnis auf, zumal die Kirchen dabei angeblich Verrat an ihren „eigenen Prinzipien“ übten. Denn: „Eigentlich müssten gute Christen richtige Kapitalisten sein.“ (S. 1) Aber warum? Weil umgekehrt, in der Kritik in unfairer Art und Weise „in Predigten und Fürbitten gerne über die Marktwirtschaft hergezogen“ werde, „die man in den USA ohne negativen Unterton Kapitalismus nennt.“ Dabei würden dem Kapitalismus alle denkbaren Schlechtigkeiten angelastet, so z.B.: „Vergötterung des Mammons, soziale Kälte, Einkommensdisparitäten, Gier, Ausbeutung, Profitdenken, überzogener Individualismus, Hedonismus, Materialismus, Umweltzerstörung“; wohingegen man dem Sozialismus „nur schon wegen des Namens Sympathie“ entgegen-bringe, „obwohl alle sozialistischen Experimente unglaubliches Elend gebracht“ hätten.(S. 1 f.)
In diesem Sinne klagt Schwarz auch darüber, dass viele Christen sich in ihrer Ablehnung des Kapitalismus sogar durch Papst Franziskus bestärkt fühlten, nachdem dieser in einer Enzyklika von «dieser Wirtschaft, die tötet», gesprochen habe „und vom Geld, das regiert, statt zu dienen“. (S. 2)
Gründe für die angeblich unberechtigte Kritik der Kirchen am Kapitalismus sieht Schwarz auch darin, „dass sie ihre individualistischen Wurzeln verdrängen und den Markt als selbständig handelndes Subjekt verstehen.“ Und: „Es ist aber nicht der Markt, der handelt; es sind Menschen, die auf dem Markt freiwillig handeln und schuldig werden.“ (S. 2) („Schuldig werden“? Wo bleibt da die angeblich hohe Ethik des Kapitalismus?)
Der Katholizismus lasse nicht einmal zum Wettbewerb (s.o.) eine adäquate Einstellung erkennen; im Gegenteil: „Wenn in katholischen Dokumenten von Wettbewerb die Rede ist, wird praktisch immer zugleich vor der Zügellosigkeit des Marktes gewarnt. Noch in «Mater et magistra» (1961) wurde der Wettbewerb als unvereinbar mit der christlichen Lehre und der menschlichen Natur verteufelt.“ (S. 3)
„Sehr lasch“ seien die Kirchen auch, „wenn der Staat auf das Privateigentum zugreift, obwohl er damit in die Freiheit des Einzelnen eingreift, obwohl, was sich nicht in privaten Händen befindet, in der Regel weniger sorgfältig gepflegt wird und obwohl privates Eigentum die Basis christlicher Tugenden wie Wohltätigkeit und Gastfreundschaft ist. Dabei würde es christlichem wie jüdischem Denken entsprechen, weltlicher Herrschaft mit Skepsis zu begegnen.“ (S. 5)
Abwegig sei auch die kirchliche Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Denn: „Dabei verwechseln sie Einkommensgleichheit mit Gerechtigkeit und vergessen gerne, dass man produzieren muss, bevor man verteilen kann.“ Demgegenüber sei daran zu erinnern, dass auch „krasse Ungleichheiten“ im Kapitalismus nicht mit ethischen Maßstäben zu beurteilen seien.
(S. 5, s.o.) Ohnehin sei „im Ergebnis … der Kapitalismus sozialer als der Sozialismus2. (S. 2)
Zu c): „Kapitalismus und wahres Christentum gehören zusammen.“
Um diese gewagte These zu begründen, beruft Schwarz sich auf die unantastbare Menschenwürde , die er jedoch nicht naturrechtlich, sondern religiös begründet, indem er erklärt: „Dass jedem Kind Gottes ewiges Leben gewährt ist und die Seele jedes Menschen in Kontakt mit Gott steht, sind zentrale Wurzeln des Liberalismus. Das ist vielen Liberalen nicht bewusst; dabei ruft der Begriff der Würde geradezu nach der Idee einer höheren Instanz, die diese Rangstellung verleiht.“ (S. 2) Dies ist umso bemerkenswerter, als ja eine naturrechtliche Begründung der Menschenwürde stichhaltig und einleuchtend ist, während die religiöse Begründung lediglich Glaubensinhalte reproduziert.
Ähnliches gilt für die Phänomene Gleichheit und Gerechtigkeit. Für Schwarz ist „Gott als oberster Souverän … die Quelle der Gerechtigkeit und des Rechts.“ Erst auf Grund dieser Glaubenswahrheit seien „auch die Herrscher dem Gesetz und der Gerechtigkeit unterstellt“, woraus erst „die Forderung nach Gesetzen“ …, die für alle gleich gelten“ und „eine Absage an einen ausufernden Staat abzuleiten“ seien. (S. 5)
Abschließend fordert Schwarz „Realismus statt Utopie“ und führt dazu aus:
„Voraussetzung für ein Zusammenfinden von kirchlichem und marktwirtschaftlichem Denken wäre eine Absage an die Übertragung der Heilserwartung auf unsere Erde. Die Marktwirtschaft ist kein Paradies und schafft auch keines. Gerade die Kirchen sollten wissen, dass in der Realität vieles unbefriedigend bleiben muss, weil das Reich der himmlischen Gerechtigkeit nicht von dieser Welt ist; sie sollten erkennen, dass die Ökonomie so komplex ist, dass man mit jeder Intervention gravierende unbe-absichtigte Nebenwirkungen in Kauf nimmt; und sie sollten einsehen, dass eine Ordnung, in der die Verteilung politisch gesteuert wird, nicht gerechter, haus-hälterischer und bedürfnisgerechter ist als eine liberale Ordnung.“ (S. 6)
All dies sieht Schwarz als Bestätigung seiner Grundthese an, wonach der Kapitalismus den Freiraum biete, in dem die Menschen „sich so verhalten können, wie sie es für richtig halten.“ (S. 6)
Kritische Würdigung
Außer einem knappen Leserbrief von Matthias Wiesmann (21.12.2016) 68 hat es anscheinend keine Besprechungen des Artikels von G. Schwarz gegeben. – Schwarz verlangt, dass „gute Christen richtige Kapitalisten sein“ müssten, erklärt aber nicht, was gute Christen und was richtige Kapitalisten sind. Stattdessen tut er so, als sei durch den Kapitalismus bereits das er-reicht, was Marx als Fernziel Reich der Freiheit genannt hat. Mit der Marktwirtschaft leben wir demnach in der nach Leibniz „besten aller möglichen Welten“, obwohl die Folgen des globalisierten Neoliberalismus in die völlig entgegengesetzte Richtung weisen. So dass auch kaum herausgefunden werden kann, wie „sozial“ der Kapitalismus tatsächlich ist, und auch nicht, ob er „sozialer als der Sozialismus“ ist, den Schwarz pauschal verurteilt, ohne die Tat-sache zu erwähnen, dass keineswegs alle sozialistischen Experimente schon beendet sind (vgl. China, Vietnam, Kuba u.a.) und in der Vergangenheit sozialistische Projekt wie der Projet Socialiste in Frankreich (1981-83) und der jugoslawische Weg der Arbeiterselbstverwaltung durchaus positive Ergebnisse erzielt haben.
Höchst fragwürdig ist Schwarz‘ Methode, christliche Kapitalismus-Kritik nicht durch nachprüfbare Fakten, sondern durch religiöse Argumente entkräften zu wollen – scheinbar ein Zugeständnis, das wohl auf Schwarz‘ Überzeugung beruht, die christlichen bzw. kirchlichen Kritiker mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können. Abenteuerlich mutet dabei seine Behauptung an, der Liberalismus – ein durchaus weltliches historisches Phänomen – wurzele in der „Gotteskindschaft“ des Menschen; wobei er die tatsächliche, geschichtlich bedingte Entstehung des Liberalismus ausblendet zu Gunsten einer Pseudo-Erklärung auf Grund nicht nachprüfbarer Glaubensinhalte. Eine völlig unwissenschaftliche Methode!
Was Schwarz überhaupt nicht berücksichtigt, sind die wahren Dimensionen des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Form des globalisierten Neoliberalismus. Die Kritiker der Globalisierung kommen zu Schlüssen, die zu denjenigen von G. Schwarz in diametralem Gegensatz stehen. Um sich über die wahren Dimensionen des Kapitalismus zu informieren, hätte es wahrscheinlich schon gereicht, wenn Schwarz das 1999, also 17 Jahre vor seinem ominösen Aufsatz von 2016 erschienene Schwarzbuch Kapitalismus von Robert Kurz konsultiert hätte, das auf 938 Seiten einen eindrucksvollen „Abgesang auf die Marktwirt-schaft“ enthält. – Worum es bei der neoliberalen Globalisierung geht, steht kurz und bündig in der folgenden Analyse aus dem Jahr 2015. Demnach bedeutet sie:
„– Verschärfung des internationalen Konkurrenzkampfes, der sogar Klein- und Mittelbetriebe zum „Run ins Ausland“ zwingt,
– Verlust der politischen Kontrolle der Wirtschaft durch die nationalen Regierungen,
– Verschärfung der sozialen Gegensätze, vor allem in ärmeren Regionen (u.a. Südeuropas und der „Dritten Welt“),
– nahezu unkontrollierbar erhöhte Belastungen für Welt-Klima und Umwelt,
– Verschärfung kultureller und politischer Gegensätze (z.B. zwischen islamischem und westlichem Fundamentalismus) u.a.m.“ (Robra 2015, S. 285)
Alles dies veranlasst die Autoren Hans-Peter Martinund Harald Schumann schon im Jahre 1996, Die Globalisierungsfallezu konstatieren, die sie als höchst gefährlichen Angriff auf Freiheit, Demokratie und Wohlstand empfinden. Freiheit geht verloren, wenn Wirtschaft und Gesellschaft global liberalisiert, aber nicht global politisch kontrolliert werden. Deregulierung und Privatisierung führen zu einer „drastischen Ausweitung der internationalen Finanzmärkte“ – mit verheerenden Folgen, wie sich in zahlreichen Bankenkrisen und insbesondere in der Welt-Finanzkrise ab 2008 gezeigt hat.
„Es besteht ein Trend zur „20:80-Gesellschaft“, in der nur noch ein Fünftel der Arbeitsfähigen einen Arbeitsplatz findet, insbesondere in der „Dritten Welt“. Der Kostensenkungswettlauf („Verschlankung“, z.B. durch Produktionsverlagerung in Billiglohnländer) trägt ständig zur Massen- und Dauerarbeitslosigkeit auch in den „reichen“ Ländern bei. Das Kultur-Niveau sinkt, z.B. durch „Tittytainment“, die seichte Mischung aus Sex, Kitsch und Pop, mit der man die breiten Massen von den Problemen ablenken und bei Laune halten will.“ (Robra 2015, S. 285)
Demgegenüber haben G. Schwarz‘ Tiraden gegen die Kritiker des Kapitalismus keinerlei Bestand; so dass es sich erübrigt, zusätzlich auf die äußerst umfangreiche und ständig anwachsende Literatur zur Kritik der neoliberalen Globalisierung hinzuweisen.
Exkurs: Ernst Blochs Atheismus im Christentum (1968)
Ernst Bloch war in den späten 1960er Jahren einer meiner Philosophie-Lehrer in Tübingen. Leider stimme ich aber inzwischen nicht mehr mit allen seinen Ansichten überein (was ja nicht unnormal sein dürfte). Dies vor allem in zwei Punkten:
1. in Bezug auf den Leninismus,
2. bezüglich von ‚Atheismus im Christentum‘ (1968).
Blochs Leninismus ist eine lange, ziemlich komplizierte Story. Kurz nach der Oktober -Revolution, und dann bis ca. 1920, übte Bloch, ähnlich wie Rosa Luxemburg und andere Linke, scharfe Kritik an Lenins brutalen Methoden; änderte dies aber radikal, je mehr bürgerliche und vor allem faschistische Reaktionäre den Bolschewismus bzw. die Sowjet-union massiv bedrohten. Diese neue, bedingungslose Solidarität ging so weit, dass Bloch – wohl nicht zuletzt aus purer Wut über Hitler bzw. aus purer Angst vor ihm – sogar Stalin unterstützte, und zwar auch hinsichtlich der „Säuberungen“ 1936/37 und des Vorgehens gegen Leute wie Trotzki. – Vom Stalinismus distanzierte sich Bloch allerdings nach dem Ungarn-Aufstand 1958 und erst recht nach seiner Übersiedlung in die BRD 1961. Nicht jedoch von Lenin und dessen forciertem Atheismus. „Ubi Lenin ibi Jerusalem“ lautete Blochs Wahlspruch – anscheinend bis zuletzt, d.h. bis zu seinem Tod im Jahre 1977.
2. Zu Atheismus im Christentum (1968), wo Bloch allen Ernstes behauptet, nur Atheisten könnten gute Christen sein. Was wohl schon deshalb nicht angeht, weil Jesus zweifellos kein Atheist war, sondern sich selbst als Vermittler zwischen sich und seinem „Vater im Himmel“ verstand. („Niemand kommt zum Vater denn durch mich.“) Daher ist es abwegig, von Christen, die ja an den Dreieinigen Gott glauben, zu verlangen, sie sollten Atheisten werden. Einen Grund für Blochs abenteuerliches Ansinnen sehe ich mittlerweile vor allem in politisch-taktischen Erwägungen. Wie sollte man den schon durch Marx und Lenin atheistisch geprägten Kommunismus in einer Gesellschaft propagieren können, die noch weitgehend christlich geprägt war? Dafür boten sich anscheinend u.a. die „weltlichen“, d.h. auf soziale Gerechtigkeit und Gleichheit abzielenden Inhalte der Bibel an. Vielleicht wäre theoretisch ein „christlicher“ Atheismus sogar mit einem kommunistischen vereinbar, aber … (s.o.).
Meine Kritik an Marx, Lenin, Stalin, Pol Pot, Mao und dem sowjetischen Bürokratismus / Totalitarismus habe ich übrigens veröffentlicht, und zwar in ‚Sind die Diktatur des Proletariats und die Bürokratie das Ende des Sozialismus?‘ (München, GRIN-Verlag).
DRITTER TEIL
Positive Entwicklungen seit dem Mittelalter
Es ist davon auszugehen, dass es in der historischen Entwicklung des Christentums minde-stens zwei gegenläufige Tendenzen gegeben hat, eine eher positive und eine eher negative. Letztere ist im Zweiten Teil ausführlich dargestellt worden, wenn auch ohne Anspruch auf Vollständigkeit; was auch für den Dritten Teil gilt. Außerdem können auch hier weitere Tendenzen bzw. Mischformen und Unklarheiten auftauchen, die gegebenenfalls durch ‚Exkurse‘ zu berücksichtigen sind.
Allgemein wird das Mittelalter auch gegenwärtig noch eher negativ bewertet. Richtungswei-send scheint z.B. die folgende Stellungnahme von Karl Marx (aus dem Jahre 1844) gewesen zu sein:
„Im Mittelalter ist die politische Verfassung die Verfassung des Privateigentums, aber nur weil die Verfassung des Privateigentums politische Verfassung ist. Im Mittelalter ist Volksleben und Staatsleben identisch. Der Mensch ist das wirkliche Prinzip des Staats, aber der unfreie Mensch. Es ist also die Demokratie der Unfreiheit, die durch-geführte Entfremdung.“ (Marx 1962, S. 296)
Nicht weniger negativ ist die Einschätzung von Rolf Bergmeier, der im Jahr 2018 schreibt:
„>Finsteres Mittelalter< nennen die Humanisten des 14. Jahrhunderts diesen Zeitab-schnitt. Und sie haben recht. … Sie klagen eine Epoche ohne öffentliche Schulen und Bibliotheken an. Ohne Ingenieurtechnik und Naturwissenschaften, ohne eine mit der antiken oder arabischen Medizin vergleichbare Heilkunde, ohne Bäder und Wasserlei-tungen, ohne Stadtkultur, stattdessen mit grimmigen Erlassen gegen Falschgläubige und Kriegen gegen Ungläubige.“ (Bergmeier 2018, S. 193 f.)
Einzelheiten hierzu wurden im obigen Zweiten Teil dargestellt. Irreführend wäre es jedoch, daraus abzuleiten, dass das Mittelalter – und insbesondere das Christentum jener Zeit – durchweg „finster“ war und sonst nichts anderes. Denn neben den unleugbaren Schattenseiten gab es auch Lichtvolles, Lichtgestalten und positive Entwicklungen – auch und gerade im Christentum. Darunter
Franz von Assisi (1182-1226),
ein Repräsentant christlicher Wertvorstellungen des Mittelalters – neben Geistesgrößen wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Meister Eckhart. Im Unterschied zu den Letzteren ist Franz aber dreifacher Schutzheiliger, und zwar Italiens (‚San Francesco d’Assisi‘), der Tiere und der Ökologie. Seine wichtigsten Wirkungskreise (bzw. „Zielgruppen“) sind damit benannt: seine Mitmenschen und alle anderen Kreaturen im Rahmen der Natur und des Universums im Ganzen. Den Schöpfergott mitsamt der Schöpfung lobt und preist er in seinem Sonnengesang mit einzigartiger poetischer Intensität, und zwar nicht mit Gelehrsamkeit, nicht in Sprache, Stil und Gestus eines Theoretikers, sondern in seiner umbrischen Volkssprache – und dabei in eindrucksvollen, teilweise kühnen Bildern und Vorstellungen, religiösen Ideen und Ermahnungen. Gott, Mensch, Natur und Kosmos vereinigen sich in universeller, personaler Beziehung zu- und miteinander. Francesco wertet den Menschen und die Natur Gott gegenüber nicht ab, leugnet aber keineswegs den Glaubens-inhalt einer schicksalhaften Abhängigkeit des Menschen von Gott. Denn der Mensch könne der Sünde und damit dem ewigen Tod verfallen, wenn er nicht dem Willen Gottes gemäß lebt, wie es fast am Schluss des Sonnengesangs heißt.
Im Übrigen ist Franz von Assisi überzeugt, dass für die Geschöpfe Gottes stets gesorgt ist, wie er es u.a. in seiner ‚Predigt an die Vögel‘ zum Ausdruck bringt, wobei er die Tiere daran erinnert, dass sie ihre sämtlichen Fähigkeiten von Gott geschenkt bekommen hätten, dazu Luft, Nahrung, Kleidung und Unterkommen in der Natur. Für all dies seien sie Gott zu Dank verpflichtet, was die Vögel mit großer Ehrerbietung anerkennen, um schließlich den Segen des Predigers entgegenzunehmen. – Mensch und Tier sollen also Gott dankbar sein. Zwischen den Menschen und den Tieren soll gegenseitiger Respekt herrschen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch daran, dass Francesco sogar einen gemeingefährlichen Wolf besänftigt haben soll.
Die gottgewollte Kreatürlichkeit vereint alle Lebewesen, verbündet Mensch und Tier, den Menschen mit dem Mitmenschen. Dennoch überträgt Franz die „Bedürfnislosigkeit“ der Tiere nicht einfach auf die Menschenwelt. Denn er entnimmt die Prinzipien seines Umgangs mit den Menschen ausnahmslos dem Evangelium. „… der Höchste selbst offenbarte mir, dass ich nach dem Maß des heiligen Evangeliums leben solle“, schreibt er 1126 kurz vor seinem Tod in seinem ‚Testament‘. Ausschlaggebend hierfür waren mehrere Bekehrungserlebnisse, die er nach seinem 20. Lebensjahr in schweren Lebenskrisen hatte. Am stärksten beeindruckte ihn offenbar eine Stelle des Matthäus-Evangeliums, in der Jesus seine Jünger zur Mission aussendet und ihnen empfiehlt, auf Geld und jeglichen Luxus zu verzichten und nur das Not-wendigste mitzunehmen. Demgemäß lebte Franz nach seiner Bekehrung ein Büßerleben in totaler Armut, die er auch seinen Anhängern, den ‚frates minores‘ (niederen Brüdern), verord-nete, aus denen schließlich der Mönchsorden der Franziskaner hervorging.
Gescheitert ist Franz von Assisi allerdings mit seinen Bemühungen, seine Kirche durch-greifend und nachhaltig zu reformieren. Den Gründen für dieses Scheitern kann hier leider nicht nachgegangen werden. Sicherlich waren und sind nur wenige Menschen überhaupt in der Lage, ein Büßerleben in völliger Armut und Demut zu führen. Selbst Jesus hatte ja die Armut als solche nicht als um jeden Preis erstrebenswert und nicht als „Wert an sich“ empfohlen, was allerdings nichts an der Tatsache ändert, dass sowohl Jesus als auch Francesco vorbildlich liebevolle Solidarität mit allen Armen geübt haben. Davon abgesehen gilt wohl bis heute die Regel: Wer Lohn für ehrliche Arbeit bekommt, will zumeist auf Wohlstand nicht verzichten. Technischer Fortschritt und zunehmende Freizeitmöglichkeiten aller Art verlangen keineswegs, die „Sinne abzutöten“, im Gegenteil. Ob aber in der Zerstreuung der wahre Sinn und Wert des Lebens zu finden ist, dürfte zu bezweifeln sein. In ganz andere Richtungen weisen die geistigen Wert-Wege, die Christen wie Franz von Assisi gewiesen haben.
Auf jeden Fall bleibt San Francescos Wertlehre anscheinend aktuell. Stellvertretend für zahlreiche andere zitiere ich dazu zwei Sätze aus einem Interview, das Jacques le Goff (1924-2014), ein französischer Historiker und Spezialist für das Mittelalter, der italienischen Tageszeitung ‚La Repubblica‘ (vom 5.10.2013) gegeben hat. Darin antwortet er auf die Frage, warum es denn eine fortdauernde Faszination durch Francesco gebe: „Weil er Haltungen und Werte überbringt, die vom größten Teil der christlichen Welt für wesentlich gehalten werden.Die Kritik des Geldes und der Bankiers, die Armut und die Solidarität bringen San Francesco unseren Sorgen sehr nahe, besonders zur Krisenzeit.“69Wie kaum ein anderer verkörperte Franz von Assisi die Ideale des wechselseitigen Respekts aller Kreaturen und der völligen Gleichheit in der Brüderlichkeit – und damit sicherlich auch nach wie vor gültige Ideale der Demokratie.
Last not least: Dass der jetzige, aus Argentinien stammende Papst – erstmals in der langen Geschichte der Päpste – den Namen ‚Franziskus‘ angenommen hat, mag als Signal für unsere Zeit gewertet werden. Es dient aber wohl auch dazu, das durch diverse Affären (u.a. sexuellen Missbrauchs) ramponierte Ansehen der katholischen Kirche aufzubessern. Was vielleicht nicht untypisch ist für einen Jesuiten, der seine Mittel geschickt zu wählen weiß. 70
Zusammenfassen lässt sich die Botschaft des Franz von Assisi in den 5 „learnings“, die ein „Wachstumstracker“ den Sonnengebeten entnommen hat:
„1. Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.
Der Buchstabe hat die getötet, die lediglich begehren, die Wörter zu kennen, damit sie unter ihren Mitmenschen als die Weisesten gelten und sich große Reichtümer erwerben.
2. Selig sind die Menschen, die Frieden stiften und trotz allem, was sie in dieser Welt erdulden, aus Liebe den Frieden bewahren.
3. Die Menschen, die nicht in Zorn geraten und sich nicht aufregen, leben richtig und haben sich von allem frei gemacht.
Zorn und Aufregung hemmen in Dir und allen anderen die Liebe.
4. Es sündigt der Mensch, der von seinen Nächsten mehr empfangen will, als er selber von sich geben möchte.
5. Wo Liebe ist und Weisheit, dort ist weder Furcht noch Unwissenheit – und wo Frieden ist und Besinnung, dort ist weder Kummer noch Unruhe.“
(In: https://wachstumstracker.de/sonnengebete/)
Thomas von Aquin (1225-1274)
gilt als der eigentliche Begründer einer verbindlichen christlichen (katholischen) Wertlehre. Ihm ist es gelungen, den faktischen, nicht zu leugnenden Weltbezug des Menschen mit einem christlichen Gottesbezug zu verbinden, und zwar vor allem durch Rückgriff auf platonisches und aristotelisches Gedankengut. Von Aristoteles her hat er sogar die Lehren Augustins neu interpretiert.
Den Menschen begreift Thomas als ein grundsätzlich zielgerichtetes Wesen; er schreibt: „Der Mensch nun hat ein Ziel, dem sein ganzes Leben und sein Handeln zustrebt, denn er handelt nach seiner Vernunft, und diese kann offensichtlich nur im Hinblick auf ein Ziel tätig sein.“ 71 (Wobei natürlich sogleich anzumerken ist, dass dieser Vernunft-Optimismus spätestens seit Sigmund Freud problematisch geworden ist.)
Die Zielgerichtetheit (Telos-Bezogenheit) des Menschen kann und will Thomas aber nicht rein innerweltlich interpretieren. Denn der Urgrund aller Teleologie – die Letztursache aller Ursachen, Ziele und Zwecke – kann für ihn nur Gott, das „höchste Gut“ (Summum bonum), sein. Nur im Wissen darum hält er Teleologie überhaupt für legitim. Daraus schließt Thomas allerdings, dass der Mensch in seinem Erdenleben des vollkommenen Glücks vollkommener Gottes-Erkenntnis nicht teilhaftig werden kann.
Worin besteht nun seine spezielle Wertlehre?
Diese ist weitgehend identisch mit seiner Tugendlehre, die er hierarchisch von oben nach unten konstruiert. Vorrang haben für ihn natürlich die – nur durch die Gnade Gottes zugänglichen – christlichen Grundtugenden Glaube, Liebe, Hoffnung, denen er die vier Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit (‚Mäßigkeit‘) und Gerechtigkeit unterordnet. Die Kardinaltugenden behandelt er an Hand der Differenzierungen und Erweiterungen, die Aristoteles an den ursprünglichen Begriffen Platons vorgenommen hat. Hierzu heißt es im ‚dtv-Atlas Philosophie‘: „Die Kardinaltugenden werden bestimmt als die bestmögliche Verfassung der natürlichen Vermögen. So ist der Vernunft die Weisheit und Klugheit, dem Willen die Gerechtigkeit, dem Streben die Tapferkeit und dem Begehren die Mäßigkeit zugeordnet.“ (a.a.O. S. 85).
Um diese Tugenden wirksam werden zu lassen, soll der Mensch sich an die göttlichen Gebote, insbesondere das christliche Liebesgebot halten. Dabei kann ihm das eigene Gewissen stets behilflich sein, zumal es laut Thomas ein stets zum Guten anspornendes, unfehlbares „Urgewissen“ (‚synderesis‘) gibt, von dem das situative Gewissen (conscientia) zu unterscheiden sei. Als Funktion der ‚conscientia‘ begreift Thomas auch „den konkreten Gewissensakt (…), in dem von außen herangeführte Normen und Erfahrungen auf Grund der Gewissensanlage zu einem Urteil verschmelzen. Das Urteil des Gewissens ist für von Aquin die letzte Instanz, nach der sich der Mensch zu richten hat, auch wenn er damit der offiziellen Kirche widerspricht. Das Gewissen vollzieht die Gründe und Überlegungen nach, die zu einer Handlung geführt haben, ist aber nicht wie das Streben nach Vermögen dem Einfluss durch Affekte und Emotionen ausgesetzt. Deshalb kann es zu einem Missverhältnis zwischen Handlungswahl und Gewissensurteil kommen (genannt ‚schlechtes Gewissen‘).“ 72 Genauer: Im Unterschied zum Urgewissen kann das situative (die ‚conscientia) durchaus dem Irrtum verfallen, woraus sich natürlich schwierige Probleme und Situationen ergeben können. 73
Jedenfalls umschreibt Thomas mit den genannten Werten eine zu fordernde innere Haltung des Menschen, noch nicht die äußere Ordnung. Maßgebend für die äußere Ordnung und die entsprechenden Haltungen sind die Gesetze, angefangen bei Gott als oberstem Gesetzgeber, an dessen „ewigem Gesetz“ der Mensch teilnimmt, und zwar durch das „Naturgesetz“, das der Mensch mittels seiner Vernunft erkennen kann. Nur in der nicht-menschlichen Natur wirke das Naturgesetz als „innere Notwendigkeit“, während der Mensch sich seiner Willensfreiheitbedienen könne, sofern er in der Lage sei, dabei ethische Grundsätze zu beachten. Daher nennt Thomas als obersten Grundsatz der praktischen Vernunft: „Das Gute ist zu tun, das Böse zu meiden.“ (‚atlas der Philosophie‘a.a.O. S. 85).
Für das Zusammenleben in der Gemeinschaft reicht aber weder das Gottesgesetz noch das Naturgesetz aus. Vielmehr bedarf es hierzu spezieller menschlicher Gesetzgebung (‚lex humana‘), zumal Menschen ja ganz unterschiedliche Ziele verfolgen können. Der Mensch ist von Natur aus kein Einzelgänger. Mehr als alle anderen Lebewesen ist der Mensch, wie Thomas erklärt, auf Geselligkeit angewiesen, und, darüber hinaus, „das für gemeinschaft-liches und staatliches Leben erschaffene Geschöpf“74. Von Natur aus sei der Mensch ein Mängelwesen, das aber in der Lage sei, fehlende natürliche Fähigkeiten durch gemeinschaft-liche Kulturleistungen auszugleichen.
Dazu bedürfe es kluger Führung. Ein König müsse stets dem Gemeinwohl dienen. Nur dann sei Herrschaft überhaupt gerechtfertigt. Damit formuliert Thomas einen hohen politisch-sozialen Anspruch: „Wenn also eine Gesellschaft von Freien von ihrem Führer auf das Gemeinwohl der Gesellschaft hingelenkt wird, so wird diese Regierung recht und gerecht sein, wie es Freien angemessen ist. Wenn aber die Führung sich nicht das Gemeinwohl der Gesellschaft, sondern den persönlichen Vorteil des Führers zum Ziel setzt, so wird die Herrschaft ungerecht und wider die Natur sein.“ (a.a.O. S. 147). Auch wenn er Gott für das einzig wahre Ziel des Menschen hält, weiß Thomas doch, dass Ziele allein keine Garantie für Gerechtigkeit enthalten. Menschen können nicht nur völlig unterschiedlichen, sondern auch gemeingefährlichen Zielsetzungen folgen. Nur zu oft hat sich diese Einsicht des Thomas von Aquin im Laufe der Geschichte leider bewahrheitet.
Nachzutragen bleibt, dass Thomas sich auch auf dem Gebiet der Erkenntnislehre Verdienste erworben hat, und zwar durch seine Wahrheitstheorie der Adaequatio intellectus et rei, der Angleichung von Intellekt und Sache, eine Theorie, die auch in die modernen Korrespondenz-theorien der Wahrheit Eingang gefunden hat. – Ähnlich verdienstvoll scheint Aquinos Beitrag zur Wirtschafts- und Eigentumstheorie, insbesondere mit der Theorie des Justum pretium,derzufolge der Preis einer Ware dann gerecht sei, wenn durch ihn die tatsächlich zur Herstellung einer Ware entstandenen Kosten gedeckt sind, wobei ein „standesgemäßer Unterhalt“ des Produzenten zu berücksichtigen sei, so dass allerdings der Faktor Nachfrage außen vor bleibt… 75
Eigentümlich patriarchalisch wirkt Thomas‘ Einstellung zum weiblichen Geschlecht. In seiner ‚Summa theologica‘ (ca. 1270) bezeichnet er die Frau als „etwas Unzulängliches“ (‚aliquid deficiens‘); ihre wichtigste Qualität bestehe in der Gebärfähigkeit. (Ähnlich frauenfeindliche Äußerungen finden sich bei Plato und Aristoteles, an mehreren Bibelstellen sowie bei Augustinus und Franz von Assisi, nicht jedoch bei Jesus und in der Urgemeinde.) 76
Meister Eckhart (ca. 1260-1327)
wird als „Mystiker“ bezeichnet, weil er die erstrebenswerte Vereinigung (‚unio mystica‘) der menschlichen Seele mit Gott gepredigt hat. Was aber nur die halbe Wahrheit ist. Was Meister Eckhart wirklich gedacht hat, geht u.a. aus seiner Predigt über eine Stelle des Lukas-Evangeliums hervor, in der Jesus den Schwestern Maria und Martha begegnet (Lk. 10, 38-42; diese Maria ist nicht mit Jesu Mutter identisch!).
Maria will ganz bei Jesus sein. Deshalb überlässt sie die durch Jesu Besuch anfallende Arbeit ihrer Schwester, setzt sich zu Füßen des Meisters und tut nichts anderes, als ihm zuzuhören. Martha beschwert sich darüber bei Jesus, der ihr jedoch zu bedenken gibt, Maria habe „das bessere Teil gewählt“, das man ihr nicht nehmen könne.
Überraschenderweise verteidigt Meister Eckhart in seiner Predigt aber nicht Maria, sondern Martha. Diese verfüge als die Ältere über mehr Lebenserfahrung und Klugheit. Diese lebens-praktische Erkenntnis verbindet Eckhart mit einer theoretischen, indem er feststellt: „In mancher Hinsicht erkennt das Leben in reinerer Form als das ewige Licht. Das ewige Licht gibt die Erkenntnis seiner selbst und Gottes, das Leben aber gibt sich selbst zu erkennen ohne Gott. Wenn es allein auf sich selbst sieht, erfaßt es den Unterschied von Gleich und Ungleich schärfer.“ (Zit. bei Flasch 2010, S. 225.)
Das entspricht weitgehend meiner Auffassung, dass die christlichen Tugenden ihren Wert behalten, auch wenn man sie nicht theologisch überformt. Meister Eckhart vollzieht diese Trennung allerdings nicht, sondern entwickelt eine Synthese aus Gotteserkenntnis und praktischem Wirken, das den Menschen befähigen soll, “lebendige Wahrheit in ihrer heiteren Gegenwart (zu) finden in guten Taten“ (a.a.O. S. 227 f.).
Damit räumt Meister Eckhart der tätigen Nächstenliebe, nicht aber der Innerlichkeit höchste Priorität ein, wozu Kurt Flasch anmerkt, Innerlichkeit sei nicht Endziel, sondern „erste Stufe“: „Sie ist wesentlich, nicht der oberste Wert.“ (ebd. S. 229). Jedenfalls vermeidet Meister Eckhart durch seinen christlichen Pragmatismus die Sackgassen, in die Augustinus geraten war. Mehr als diesen würde ich daher Meister Eckhart als maßgebend für unsere „Wertschätzungen“ ansehen.
Als höchsten Wert sieht Meister Eckhart den göttlichen Logos an, der in der Vorrede des Johannes-Evangeliums beschworen wird. Diesen übersetzt er allerdings nicht mit ‚Vernunft‘ oder ‚Sinn‘, sondern mit ‚Erkenntnis‘, die er mit der Weisheit, der Gerechtigkeit und der Güte Gottes gleichsetzt. Der Mensch könne daran Anteil nehmen, und zwar vermittelt durch Christus, der im Menschen ein Teil seines Selbst werden soll, so dass der Gläubige in seinem Bezug zu Gott nicht mehr unbedingt auf die Gnadenmittel der Kirche angewiesen ist. – In der erkennenden Subjektivität vermittelt Meister Eckhart Gott, Mensch und Welt. „An die Stelle des absoluten Subjekts jenseits der menschlichen Subjektivität, zu dem der augustinische und nominalistische Voluntarismus Gott verabsolutiert hatte, tritt die Vermittlung von göttlicher und menschlicher Subjektivität.“ 77
Hans Jürgen Luibl fasst (2020) zusammen:
„Gelassenheit bringt Achtsamkeit für das Leben
Das Schlüsselwort dieses Prozesses ist, wonach auch heute noch gesucht wird: die Gelassenheit. Für Eckhart beginnt dies mit dem Loslassen - sich selber loslassen, Altes verlassen und selbst alte Gottesbilder loslassen, Gott loslassen. Gottverlassenheit, das ist der schmerzliche Kern des Lebens. Umgekehrt bedeutet dies aber auch ein Wachwerden für den Augenblick, ein Gespür für Gerechtigkeit, ein Achtsamwerden auf das Leben. Und zwar eine Achtsamkeit für das Leben ohne den modernen Zwang, dass alles für etwas nützlich sein muss, dass man aus dem Leben immer etwas machen muss.“ 78
Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen (1194-1250)
war ebenfalls eine Lichtgestalt des Mittelalters. Auch wenn Päpste ihn in Folge von Machtkämpfen exkommuniziert haben, besteht kein Zweifel, „daß Friedrich II. fest im Chri-stentum verankert ist“79. Unverkennbar von freiheitlichem Geist geprägt, regierte er von 1215 bis 1250 ein Italien und Deutschland umfassendes Großreich. Einige nannten ihn schon zu seinen Lebzeiten einen ‚stupor mundi‘, ein Weltwunder; andere verachteten oder hassten ihn. Für Egon Friedell ist er „einer der genialsten Menschen, die jemals eine Krone getragen haben“80. Gerühmt werden seine Freiheitsliebe, Geistigkeit und Staatsklugheit, sein Unternehmungsgeist und Kunstsinn, seine Weltoffenheit und sein überragendes diploma-tisches Geschick. Er beherrscht zahlreiche Fremdsprachen (bis hin zum Chaldäischen!), erweist sich als entschiedener Gegner des Papstes und jeglicher religiöser Anmaßung und begegnet allen Widrigkeiten und Erstarrungen mit Skeptizismus und einer an Atheismus grenzenden Denkfreiheit. Er gilt als „eminent wissenschaftlicher Kopf“ (Friedell a.a.O. S. 189), besonders auf dem Gebiet der Naturkunde. Weltgewandten, wissenschaftlich und politisch hoch entwickelten Arabern (Sarazenen) steht er näher als den Christen. In Palästina erzielt er, statt Krieg zu führen, einen Verhandlungsfrieden mit dem hochgebildeten, feinsinnigen, ihm ebenbürtigen Sultan. Christliche Machthaber hassten ihn dafür. Im Volk aber blieb die Erinnerung an ihn erhalten: Es verehrte ihn als Nationalhelden. Eine Tradition, zu der wohl auch das grandiose Versepos ‚Mann aus Apulien‘ gehört, das Horst Stern dem sizilianischen Kaiser gewidmet hat. 81
Freiheits- und Emanzipationsbewegungen
Bewegungen solcher Art hat es zweifellos auch schon in der Antike gegeben; man denke nur an den Spartakus-Aufstand und Ähnliches. Im Mittelalter traten solche Bewegungen in neuen Formen auf, zumal durch Christentum (Kirche und Papst), Feudalismus u.a. neue Bedingungen entstanden sind.
Neue Spielräume der Freiheit mussten aber nicht selten erst einmal erkämpft werden. Ein Beispiel hierfür liegt vor in der im Jahre 1215 in England verkündeten Magna Carta Libertatum(der ‚Großen Urkunde der Freiheiten‘). Sie gilt als eine der Keimzellen der europäischen Menschenrechts-Entwicklung, obwohl es in ihr zunächst scheinbar nur um einen Interessenausgleich zwischen Monarchie und Adel geht. Dass es in Wirklichkeit um mehr geht, deutet sich schon im ersten Paragraphen des Dokuments an, in dem der Kirche volle Freiheit und Garantie ihrer Rechte zugebilligt werden. Überhaupt sollen sämtliche ausgehandelten Freiheiten dauerndgültig sein (§ 2). Steuer- und Erb-Angelegenheiten werden geregelt, Witwen wird das Recht zugestanden, unverheiratet zu bleiben.
Von zentraler Bedeutung ist der rechtliche Schutz der Einzelperson, insbesondere der Schutz vor willkürlicher Verhaftung. Jeglicher Angriff auf die Person – wie z.B. durch Enteignung, Ächtung, Verbannung oder Inhaftierung – ist verboten, solange kein entsprechender Beschluss eines standesgemäßen Gerichts oder auf Grund des Landesgesetzes vorliegt (§ 39). – Für jedermann besteht volle Reisefreiheit. Kaufleuten jedweder Nationalität wird, außer in Kriegszeiten, freies Geleit zugesichert. Zwischen dem König und seinen Untertanen soll jeder Missklang vergeben und vermieden werden, insbesondere „Feindschaft, Missgunst, Bosheit“ (§ 76). Grundsätzlich ist das Recht unveräußerlich und gültig für alle.
Das Ziel dieser ‚Großen Freiheitsurkunde‘ besteht also darin, Freiheit durch Rechtssicherheit zu gewährleisten, und zwar in gegenseitiger Verantwortung, d.h. sowohl für die Einzelperson als auch für die Gemeinschaften und die Gesellschaft im Ganzen. (Wobei allerdings Monarchie und Feudalstruktur unangetastet bleiben.)
Im Übrigen ist freiheitliche Gesinnung im europäischen Mittelalter weit verbreitet. Man will sich von unnötigen bzw. unerträglich gewordenen Zwängen befreien: „ … jeder will sein eigener freier Herr sein“82. Könige wollen sich vom Papst trennen, Fürsten von den Königen, Städte von den Landesherren. Rittertum und Leibeigenschaft verfallen allmählich. Frühkommunistische Bewegungen wie die der Hussiten greifen um sich. Handwerk und Bürgertum erstarken und organisieren sich neu, z.B. in den Zünften. Sexuelle Freiheit gipfelt teilweise in nie dagewesener Freizügigkeit, bis hin zu extremer „Sittenlosigkeit“ (Friedell). – Schon um 1200 herum will übrigens Joachim von Fiore(ca. 1130-1202), der kalabresische Abt und Sozialutopist, Staat und Kirche gänzlich abschaffen , und zwar in seiner Vision einer Vollendung der diesseitigen Welt in einem „Tausendjährigen Reich des Heiligen Geistes“, das im 13. Jahrhundert anbrechen sollte. 83
Neuer Materialismus und neuer Realitätssinn finden ihren Niederschlag auch in Kunst und Literatur. Fassnachts- und Passionsspiele enthalten vielfältige satirische Elemente. Erzählende Literatur, (Liebes-)Lyrik und die Aufführungen der Fahrenden Gesellen spiegeln fast alle Lebenssituationen wider. Ähnliches gilt für die Bildende Kunst. 84
Errungenschaften von Luthers Reformation: „Allgemeines Priestertum“, Gewalten-teilung, Pluralisierung
Erstaunen mag die Tatsache hervorrufen, dass Luther trotz seines fragwürdigen Freiheits-begriffs und anderer schwerwiegender Mängel seiner Lehre (s.o.) auf bestimmten Gebieten positive Entwicklungen eingeleitet und aktiv gefördert hat. Dazu gehört zunächst seine Neubestimmung des Verhältnisses von „Priestern“ und „Laien“. In seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung“ (1520) heißt es: „Man hat’s erfunden, daß Papst, Bischöfe, Priester und Klostervolk der geistliche Stand genannt werden, Fürsten, Herren, Handwerks- und Ackersleute der weltliche Stand, was eine gar feine Erdichtung und Heuchelei ist. Doch soll sich niemand dadurch einschüchtern lassen, und zwar aus diesem Grund: Alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes, und es ist zwischen ihnen kein Unterschied…“85.
Das bedeutet: An die Stelle der strikt hierarchischen Trennung zwischen Glaubensvermittlern („Priestern“) und einfachen Gemeindemitgliedern („Laien“) tritt Luthers Lehre vom „allgemeinen Priestertum der Gläubigen“. Mit weitreichenden Folgen auch für die Struktur der Standesgesellschaft, die durch die neue Lehre zwar nicht abgeschafft, aber heftig erschüttert wurde, z.B. dadurch, dass „der einfache Klerus“ verbürgerlichte, zumal unter dem Einfluss der neuen Gepflogenheiten im evangelischen Pfarrhaus, während der hohe Klerus seine Sonderstellung verlor (vgl. a.a.O. ebd.).
Völlige rechtliche und seinsmäßige Gleichstellung im „allgemeinen Priestertum der Gläubi-gen“ will Luther u.a. dadurch sichern, dass er den Zölibat und damit die hervorgehobene Stellung des Priesters abschafft, was dazu führt, dass die Begriffe „Priester“ und „Laie“ aus dem protestantischen Sprachgebrauch nach und nach verschwinden. (Wobei zu beachten ist, dass die völlige Gleichberechtigung der Frauen in der evangelischen Kirche erst im späten 20. Jahrhundert erreicht wurde. Vgl. a.a.O. S. 6.)
Neu bestimmt hat Luther auch das Verhältnis von Kirche und Staat, und zwar in seiner „Zwei-Regimenten-Lehre“ (auch „Zwei-Reiche-Lehre“ genannt), die er 1523 dargelegt hat in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“. Darin empfiehlt er eine neue Gewalten-Teilung, durch die verhindert werden soll, dass Kirche und Staat sich wechselseitig in die inneren und äußeren Angelegenheiten einmischen. „Das weltliche und das geistliche Regiment, haben, so Luther …, sowohl verschiedenen Regenten als auch verschiedene Aufgaben und Ziele als auch verschiedene Mittel und Methoden der Wirksamkeit.“ (Zit. a.a.O. S. 6.) – Nichtsdestoweniger gehören Christenmenschen beiden Reichen an, in denen sie sich relativ frei bewegen können, stets jedoch unter der unabdingbaren Voraussetzung, dass sie am christlichen Glauben an Gott festhalten.
Die Zwei-Reiche-Lehre ist später – insbesondere im lutheranischen Protestantismus – häufig missverstanden worden, nämlich als Freibrief für jegliche Obrigkeit. Dies im Gegensatz zu Luther selbst, der betont hatte, dass weltliche Herrscher nicht weniger Gott gegenüber verantwortlich seien als kirchliche Amtsinhaber. (Näheres hierzu a.a.O. S. 7 f.)
Als „ungewollt freiheitsfördernd“ bezeichnet Thomas Martin Schneider die durch Luthers Reform hervorgerufene Aufspaltung in Konfessionen. Es sei eine Pluralisierungeingetreten, die Luther selbst ebenso wenig gewollt habe wie die Konfessionalisierung. Luther wollte ursprünglich keine „protestierende“ Reformation, sondern eine nachhaltige Reform der katholischen Kirche. Was wir heute „Pluralisierung“ (im positiven Sinne) nennen, hat sich – zumindest in deutschen Landen – erst nach langwierigen, teils äußerst brutalen Auseinandersetzungen u.a. aus der von Luther bewirkten Konfessionalisierung herauskristallisiert. Lange Zeit galt es keineswegs als selbstverständlich, dass Protestanten und Katholiken sich gegenseitig nicht nur tolerieren, sondern auch respektieren, „einander gelten“ lassen (wie Goethe es ausdrückte). Darüber hinaus gilt Pluralisierung solcher Art – wohl zu Recht – als „eine notwendige Voraussetzung und ein Wesensmerkmal moderner freiheitlich-toleranter Gesellschaften“ (a.a.O. S. 9, vgl. Robra 2015, S. 91 f.).
Descartes (1596-1650): „Freiheit nicht in Gott, sondern Gott entgegen“
René Descartes, der Erfinder des Cogito ergo sum und damit der modernen Philosophie, stand zuweilen im Verdacht, sich gegen das Christentum aufzulehnen, weil er das denkende Ich zu stark hervorgehoben habe. Dagegen erklärt John F. Doherty(2023):
“… although Descartes perhaps enabled rationalism’s rebellion against Christianity, his intended project was quite the opposite. He meant to preserve Christianity’s distinctive and closely related commitments to freedom, transcendence, and human dignity.”
Auf Deutsch: “… obwohl Descartes vielleicht eine Rebellion des Rationalismus gegen das Christentum ermöglicht hat, war das von ihm intendierte Projekt das genaue Gegenteil. Er beabsichtigte, die deutlichen und eng bezogenen Verpflichtungen des Christentums zu Frei-heit, Transzendenz und Menschenwürde zu bewahren.“
Was aber meint dann der Romanist Erich Auerbach, wenn er behauptet, Descartes habe „die Sphäre der menschlichen Freiheit nicht in Gott, sondern Gott entgegen“ 86 erkämpft? Es bedeutet zunächst, dass Descartes sein neuartiges System zwar durch Gottesbeweise stützt, damit aber unmittelbar weder die Freiheit noch die Subjektivität des Menschen verbindet. Im Unterschied zur Scholastik leitet er nämlich beide Grundwerte nicht aus Gott, sondern aus eigenen Überlegungen ab. Wobei er immer wieder betont, dass es sich um strikt Persönliches handele, das er anderen keinesfalls aufzwingen will, obwohl er andererseits, unter Hinweis auf den „gesunden Menschenverstand“ (‚bon sens‘), durchaus allenMenschen zutraut, seine Gedanken nachzuvollziehen.
Dem Zeitgeist entsprechend stellt er anfangs alles in Frage, d.h. er nimmt sich die Freiheit, alles und jedes zu bezweifeln, wenn auch mit dem Ziel, einen sicheren Standpunkt zu gewinnen, einen Ausgangspunkt, um „alles Erkannte aus einfachsten Prinzipien“ ableiten zu können. Und doch kommt dieser Zweifelstaumel schließlich zum Halt, denn plötzlich heißt es: „Beginne ich nun also das Philosophieren damit, daß ich schlechthin alles in Frage stelle, so gibt es doch etwas, das ich nicht nur nicht bezweifeln kann, das mir vielmehr, gerade indem und je mehr ich zweifele, immer gewisser werden muß: nämlich die einfache Tatsache, daß ich jetzt, in diesem Moment, zweifle, das heißt denke. Alles, was ich von außen wahrnehme, könnte Täuschung sein, alles, was ich denken mag, könnte falsch sein – aber im Zweifel werde ich jedenfalls meiner selbst als eines denkenden Wesens gewiss.“ Und das bedeutet: „Cogito ergo sum“ (‚je pense donc je suis‘ – ich denke, also bin ich, vgl. Störig 1961, S. 360 f.)
Das ist der Anfang einer neuen Philosophie, ja, einer neuen Epoche der Philosophie. Descartes vergewissert sich seiner eigenen Existenz im Denken, was allerdings nicht missverstanden werden darf: Descartes leitet nicht alles Sein aus dem Denken ab, sondern findet in dem unbezweifelbaren Faktum der eigenen Existenz ein „unerschütterliches Fundament“ (‚fondement inébranlable‘) des Denkens.
„Je suis une chose qui pense – ich bin ein Wesen, das denkt.“
Wer sich seiner selbst als eines denkenden Wesens vergewissert, erkennt sich selbst anscheinend als res cogitans (als ‚denkende Sache‘): „Je suis une chose qui pense“ – ich bin ein Wesen, das denkt, erklärt Descartes, fundiert also das Denken im eigenen Ich, weiß aber sehr wohl, dass er die Existenz dieses Ichs nicht sich selbst verdankt. Anders als ‚res‘ verweist ‚chose‘ auf lateinisch ‚causa‘, den Grund, die Ursache. Und die letzte Ursache kann für Descartes nichts anderes sein als Gott selbst, wie er auch in zwei unterschiedlichen Gottesbeweisen nachzuweisen versucht.
Diese Gewissheiten logisch einwandfrei unter einen Hut, auf einen Nenner, zu bringen, gelingt Descartes nicht immer. Gemäß christlicher Überlieferung ist der Mensch durch die Unsterblichkeit der Seele mit Gott verbunden. Hierauf kann und will Descartes auf keinen Fall verzichten, und zwar wohl nicht nur aus Vorsicht vor der Inquisition, sondern aus einer tiefen Glaubensüberzeugung, in der sowohl Gott als auch der Mensch eine Sonderstellung einnehmen. Dieser will Descartes durch seine Lehre von den drei „Substanzen“ (drei Wesenheiten) gerecht werden. Es sind dies 1.) Gott als erste Ursache allen Seins, 2.) der Mensch als chose qui pense und 3.) die im Raum ausgedehnte Materie, die chose étendue (‚res extensa‘).
Wenn aber 2) und 3) eigenständige Wesenheiten („Substanzen“) sind, treten Geist und Körper, Leib und Seele scheinbar auseinander – ein Widersinn, zumal Descartes selbst später sogar eine Wechselwirkung von Leib und Seele annimmt. Diesen Widerspruch aufzulösen, hat der Autor nie versucht. In seinen zahlreichen Werken finden sich aber genügend Hinweise darauf, dass er die menschliche Person sehr wohl als Einheit begriffen hat. 87 Angemessen erscheinen jedenfalls die Schlussfolgerungen von Dominik Perler , wonach Descartes nicht nur eine „funktionelle“, sondern sogar eine „essentielle“ Einheit von Leib und Seele angenommen hat (auch wenn die Bedeutungssphären von ‚Substanz‘ und ‚Essenz‘ sich in dem Begriff ‚Wesen‘ teilweise überschneiden). – Einheitliches Subjekt ist das denkende Ich.
Nicht akzeptabel sind jedenfalls sämtliche Versuche, den Autor einfach als „Dualisten“ abzustempeln. Geradezu unerträglich wirken die diesbezüglichen Anschuldigungen, die der New-Age-Philosoph Fritjof Capra (1983)– in radikalisierendem Anschluss an Denker wie Hobbes, Gassendi, Leibniz und Schelling – in die Welt gesetzt hat. Demnach wäre Descartes – wegen seines angeblichen „Dualismus“ – für nahezu sämtliche Fehlentwicklungen seit Beginn der Neuzeit verantwortlich, angefangen von der Umweltzerstörung (in Folge einer „mechanistischen“ Natur-Auffassung) bis hin zum Scheitern aller modernen Wirt-schaftstheorien88(!). Einen einzelnen Menschen derart zu beschuldigen, halte ich schon deswegen für unstatthaft, weil damit völlig verkannt wird, welche (letztlich vielleicht unüberschaubaren) Sonder-Interessen tatsächlich für die jeweiligen historischen Fehlentwick-lungen verantwortlich sind. Erkenntnisse werden oft verraten, wenn sie mit Interessen in Konflikt geraten!
Freiheit, Wille und Erkenntnis
Tatsache ist, dass ein menschliches Subjekt seine eigene Lage beurteilen kann und daher niemals total situationsbedingt ist. 89 Dieser Fähigkeit will Descartes gerecht werden, indem er dem Menschen Willens- und Entscheidungsfreiheit zubilligt. Dazu benutzt er die Begriffe ‚libre arbitre‘ (wörtlich: „freier Schiedsrichter“), ‚liberté de ma volonté‘ und ‚ liberté de notre volonté‘ (also Freiheit meines und unseresWillens!). Freiheit und Wille gehören demnach natur- und erfahrungsgemäß zusammen, nicht als bloße Verstandeskategorien (wie es der ‚libre arbitre‘ vermuten lassen könnte). Letztlich zählt Descartes die Willensfreiheit zu drei großen, von Gott gestifteten „Wundern“ (neben der Schöpfung aus dem Nichts und der Menschwerdung Gottes). 90
Die Willensfreiheit bedarf keines Beweises, wie Descartes in Nr. 39 seiner Prinzipien der Philosophie (von 1644) betont. Erkennbar ist sie vielmehr daran, dass sie Wahlfreiheit, nämlich Zustimmung oder Ablehnung, ermöglicht (ebd.). Was wir nicht genau kennen, brauchen wir nicht zu akzeptieren. Darüber hinaus haben wir nicht nur die Freiheit, alles zu bezweifeln, sondern auch, jeglichen Zweifel zu beenden, wenn gute Gründe – wie die des Cogito ergo sum – dieses klar und deutlich nahe legen. Willensfreiheit bedeutet Handlungs-freiheit, weil wir zwischen Richtig und Falsch unterscheiden und daher unserem selbst-bestimmten Willen vertrauen können (37. Prinzip). Das Cogito wird zur Grundlage einer neuen Anthropologie, in der Descartes den Menschen als denkendes, geistbestimmtes, mit Willensfreiheit begabtes Wesen auffasst.
Fazit: Descartes – veraltet und modern zugleich?
Bekanntlich haben nicht wenige der cartesischen Konzepte und Theoreme im Laufe der Jahrhunderte der Kritik nicht standgehalten. Schon zu Lebzeiten des Autors wurde seine Behauptung widerlegt, die Zirbeldrüse (Hirnanhangdrüse) sei der „Sitz der Seele“ und Nahtstelle zwischen Geist und Körper (bzw. ‚res cogitans‘ und ‚res extensa‘). Die beiden Gottesbeweise hat Kant widerlegt. Das Seelische metaphysisch einfach als Eigenschaft des Geistes aufzufassen, hat sich als abwegig erwiesen. – Dass Tiere keine Automaten sind, gilt heute als unbestreitbar.
In Schutz nehmen muss man den Autor allerdings gegen einige Missverständnisse, so hinsichtlich seines angeblichen „reinen Dualismus“. Nicht zu leugnen ist zudem die Tatsache, dass er auf vielen anderen Gebieten, so in Mathematik und Naturwissenschaften, Vorbildliches geleistet hat. Nicht zu unterschätzen ist sein Beitrag zur Ethik, die „provisorische Moral“, in der die Willensfreiheit dazu dient, dem Menschen größtmögliche Selbstbeherrschung, Selbstachtung und Souveränität zu verschaffen.
Nicht weniger bedeutsam erscheinen mir zahlreiche andere Konzepte, so die bereits erwähnte Vorwegnahme moderner Erkenntnispsychologie in der Synthese von Wille und Intellekt. Die Ideentheorie – mit den Stufen Wahrnehmungen, Vorstellungen, begriffliches Denken – findet beachtlichen Nachhall in der neurowissenschaftlichen Theorie der mentalen Objekte, die Jean-Pierre Changeux (1983) vorgetragen hat. Vorausahnen lässt die cartesische Ideentheo-rie übrigens, in Verbindung mit der Neubegründung der Subjektivität durch das Cogito, dass zwischen Subjekt und Objekt dialektische Beziehungen bestehen, wie es Schelling und Hegel ausführlich dargelegt haben. Wesentliche Gedanken der Ideentheorie finden sich auch in den Theorien der Falsifikation und Verifikation wieder, die im 20. Jahrhundert Karl R. Popper erarbeitet hat.
Zu Beginn des Discours de la méthode (von 1637) erklärt Descartes, der gesunde Menschen-verstand ( bon sens) sei dasjenige, was in der Welt „am besten verteilt“ sei. Es sei gleichbedeutend mit a) der Fähigkeit, Wahres von Falschem zu unterscheiden und b) mit der Vernunft (raison) selbst. Und diese Eigenschaften seien von Natur aus bei allen Menschen gleich („naturellement égale en tous les hommes“). In Verbindung mit dem Cogitound der Ideentheorie haben sich diese Feststellungen als revolutionär erwiesen. Wohl nicht zufällig nennt man Descartes in einem Atemzug mit der Französischen Revolution („la Révolution, c’est Descartes“). Der Philosoph André Glucksmann stellt sogar die Gleichung Descartes = Frankreich auf (Descartes c’est la France, Paris 1987). Wogegen allerdings u.a. die Tatsache spricht, dass Descartes etliche Jahre seines Lebens außerhalb Frankreichs verbracht hat. Ohnehin sollte man einen Philosophen solchen Formats nicht einfach auf sein Herkunftsland reduzieren. Descartes gehört niemandem – und er gehört zu allen , die Vernunft und Verstand hochachten; die nicht – wie Campanella – Macht und Hierarchie vergöttern, sondern für das Recht und die Freiheit jeder einzelnen Person eintreten. –
Belege für die von Descartes behauptete funktionale Einheit der Person hat die moderne Hirnforschung erbracht. Ohne den Körper (einschließlich funktionierendem Gehirn) und ohne psychische Grundlage kann der menschliche Geist nicht arbeiten. – Aber auch für die Substanzen-Lehre kann Verständnis aufgebracht werden. Das Wesen des Geistes und des Bewusstseins ist noch keineswegs erklärt, wenn man auf die Geist-Körper-Einheit der Person verweist. Geist kann als dialektische Subjekt-Objekt-Beziehung und diese wiederum als Infor-mationsgeschehengedeutet werden. Information – zumal als Quanteninformation – gilt aber u.a. als „eigentliche Grundlage des Seienden“, durch die auch das Leib-Seele-Problem mehr und mehr als lösbar erscheint. 91
Pierre Gassendi (1592-1655): Epikureismus und Christentum
Gassendiwar nicht nur Philosoph und Mathematiker, sondern auch Priester und seit 1626 Probst der Kathedrale von Digne. In einem von R. Specht verfassten Eintrag des Lexikons ‚Religion in Geschichte und Gegenwart‘ steht:
„Gassendi, Pierre (22.1.1592 Champtercier bei Digne – 24.10.1655 Paris), 1617 Prof. der Philos. in Avignon, 1626 Dompropst in Digne und 1645 Prof. der Mathematik am Collège Royal in Paris, dem heutigen Collège de France. Das Denken der Neuzeit prägte er durch die Erschließung der Philos. Epikurs (Epikureismus) als einer Alternative zu Aristotelismus und Cartesianismus. Er christianisierte sie durch die Einführung einer Unsterblichkeits-, Freiheits-, Schöpfungs- und Vorsehungslehre …“ 92
Dagegen behauptet Olivier Bloch in seinem 1971 in Den Haag erschienenen Werk La philo-sophie de Gassendi, dieser habe christliche „Einsprengsel“ in seinen Arbeiten nur mit Rück-sicht auf die katholische Kirche verwendet; in Wirklichkeit sei Gassendi überzeugter Materi-alist gewesen. Wie dem auch sei, Gassendis Epikureismus erscheint sinnvoll auch als Gegen-gewicht gegen den schematisierenden Aristotelismus und die Leib-, Sexual- und Frauen-Feindlichkeit der Kirche, durch die Epikur im christlichen Abendland jahrhundertelang verkannt und verpönt gewesen war.
Den Aristotelismus und die Scholastik kritisiert Gassendi in Grund und Boden, weil er deren Schematismus und Begriffsspielereien für unwissenschaftlich hält. Denn Gassendi selbst ist als Physiker und Philosoph überzeugt, dass jegliche Erkenntnis sich auf die Erfahrung zu stützen habe. Er ist also Empiriker (Empirist).
Gründe für diese Auffassung findet er zunächst und vor allem in der Materie selbst. In der „Ersten Materie“ sieht er das „beharrliche Substrat“ aller Dinge. Diese Materie sei unerzeugt und unzerstörbar. Aus ihr gehen sämtliche Formen des Seins hervor. Sie besteht aus Atomen, die substanziell identisch, den Figuren bzw. Formen nach jedoch veränderlich sind. Die Dinge entstehen und vergehen gemäß der Art und Weise, in der Atome sich miteinander verbinden oder voneinander trennen. Die Kenntnis dieser Vorgänge bedingt jegliche weitere Erfahrung. – Im Übrigen orientiert Gassendi seine Atomlehre weitgehend an den entsprechenden Lehren Epikurs.
Als Empirist tritt er auch Descartes kritisch entgegen. Mit dessen Metaphysik ist sein Pochen auf Erfahrung nicht vereinbar. Schon das Cogito hält er für fragwürdig. Um sich der eigenen Existenz zu vergewissern, könne man statt vom Denken auch von einer x-beliebigen anderen Handlung ausgehen. Im Übrigen sei es nicht sinnvoll zu fragen, ob man ist, sondern wasman ist. Diese Frage habe Descartes nicht korrekt beantwortet. Abwegig sei es, einem denkenden Wesen körperliche Qualitäten wie Ausdehnung oder Beweglichkeit abzusprechen.
Darüber hinaus kritisiert Gassendi Widersprüche, die durch das ungeklärte Nebeneinander von dualistischer Substanzlehre und monistischer funktionaler Einheit von Leib und Seele entstehen. Den Begriff ‚Substanz‘ hält er für verfänglich. Wer das Wesen eines Dings erkennen will, muss dessen Merkmale und Eigenschaften (z.B. Gestalt, Ausdehnung, Farbe usw.) untersuchen und stößt daher nicht auf die „Substanz“, sondern immer wieder nur auf „Akzidentien“ (die ja traditionell strikt von der Substanz unterschieden werden). Gott als Substanz zu erkennen, würde voraussetzen, dass man das Unendliche begriffen hätte, was ausgeschlossen sei. 93 Wer außerdem Gott als Garanten der Wahrheit bemühe, dürfe nicht zuvor das Cogito und die Wahrheiten der Geometrie als „unerschütterliche Grundlagen“ der Wahrheit einführen (a.a.O. S. 473).
Wer das Denken von der Ausdehnung trennt, verlasse den Boden der Tatsachen, die nur durch das Zusammenspiel von Denken und Anschauung annäherungsweise zu erklären seien. Um hierbei nicht abzuirren, genüge es nicht, „klare und deutliche“ Ideen zu haben; vielmehr brauche man Kriterien dafür, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Dass es „angeborene Ideen“ gäbe, sei ohnehin nicht nachzuweisen (a.a.O. S. 471).
Descartes sei es nicht gelungen, die leib-seelische Grundbefindlichkeit des Menschen angemessen zu würdigen. Mit einer (überdies unhaltbaren) Substanzlehre sei dies nicht möglich, zumal Descartes nicht nachweisen könne, dass das Denken die eigentliche Substanz des Menschen sei, so dass er nur aus Geist und nicht auch aus Körperlichem bestehe. Klar sei doch, dass kein Mensch ohne seinen Körper existiere oder existieren könne. Ein „unkörperlicher“ Mensch könne keinen Schmerz empfinden – eine Anspielung auf das Argument, das Descartes in der 6. „Meditation“ eher unvermittelt zu Gunsten der leib-seelischen Einheit des Menschen vorbringt. Für Descartes ist dies eine Einheit von Körperlichem und Nicht-Körperlichem (rein Geistigem). Das hält Gassendi für unlogisch, indem er feststellt: „Wie soll, was körperlich ist, das, was unkörperlich, erfassen, um es in Verbindung mit sich zu halten, oder wie soll das Unkörperliche das Körperliche erfassen, um es wechselseitig an sich gefesselt zu halten, wenn ganz und gar nichts in ihm ist, wodurch es erfaßt werden oder erfassen kann?“ 94 Wenn Körper und Geist durch die Substanzlehre getrennt worden sind, können sie nicht durch ein paar Beteuerungen der funktionalen Einheit wieder zusammengebracht werden. Descartes erkenne nicht einmal, dass auch der Verstand in gewisser Weise über Ausdehnung verfüge.
Descartes‘ Antworten auf Gassendis Kritik
Erstaunlich ausführlich nimmt Descartes zu den Einwänden seines Kollegen (und Freundes?) Stellung. Im Wesentlichen geht es dabei um Folgendes: 1. Descartes legt größten Wert darauf, zwischen Lebenspraxis und Wahrheitssuche („les actions de la vie et la recherche de la vérité“) zu unterscheiden. Lebenspraktische Handlungen seien nicht ohne Zuhilfenahme der sinnlichen Wahrnehmung zu beurteilen; genau dies reiche aber nicht aus, sobald es um philosophische Wesensbestimmungen gehe. Daher lässt er Gassendis Einwände gegen die Ableitung des Cogitonicht gelten. Das „Ich denke, also …“ könne nicht einfach durch irgend-etwas anderes, z.B. „Ich gehe spazieren, also …“ ersetzt werden. Denn auch Letzteres werde zum Gegenstand „innerer Kenntnis“, mithin also des Denkens. Und nur das Denken über die Handlung, nicht die Handlung selbst, könne Gewissheit schaffen. 2. Gassendis Grundfehler bestehe darin, den substanziellen Unterschied zwischen Körper und Geist nicht anzuerkennen (a.a.O. S. 498). 3. Was aber eine Substanz überhaupt sei, könne man sehr wohl erkennen, und zwar nicht zuletzt an Hand des methodischen Zweifels. Man dürfe nur nicht Substanz und Akzidenz verwechseln. Die Substanz sei stets das zu Grunde Liegende, die Akzidentien das aus ihr Ableitbare, Untergeordnete (S. 488). 4. Gott als unendliche Substanz zu erkennen, sei keineswegs unmöglich. Das Unendliche sei nicht die Negation des Endlichen; vielmehr zeige sich umgekehrt in jedem Vorgang des Begrenzens eine Negation des Unendlichen (S. 489). Daher reiche es zur Bestimmung des Unendlichen aus, sich ein Ding ohne jegliche Begrenzung vorzustellen (S. 491). 5. Zu den Grundkriterien der Klarheit und Deutlichkeit: Diese Ideen könne Gassendi nicht anerkennen, weil er keinen Begriff von dem habe, was eine Idee wirklich sei. Für Gassendi seien Ideen lediglich Phantasie-Bilder („images dépeintes en la fantaisie“) und nicht Bezugsbestimmungen des begrifflichen Denkens (S. 490). Klarheit und Deutlichkeit seien durchaus erreichbar, aber nur dann, wenn man a) sämtliche Vorurteile vermeidet, b) zuvor alle jeweils wesentlichen Ideen prüft und c) alles Obskure und Konfuse ausschaltet (S. 486). 6. Klar und deutlich sei zu erkennen, dass der menschliche Geist eine Substanz für sich und nichts Körperliches sei. Nichtsdestoweniger stehe der Körper durchaus in funktionaler Beziehung zum Geist (S. 481). In diesem Sinne seien die entsprechenden Äußerungen der Sechsten Meditation zu verstehen. Man könne faktisch mit dem Körper verbunden sein und dennoch feststellen, dass Geistig-Seelisches vom Körper substanziell verschieden sei. Um Körperliches zu analysieren und zu beurteilen, sei es nicht erforderlich, dass der Geist selbst aus Körperlichem bestehe. Wenn der Geist Teile des Körpers als räumliche erkennt, bedeutet dies nicht, dass der Geist selbst aus materiellen, räumlichen Teilen besteht (S. 508).
Aus all dem schließt Descartes, dass Gassendis Kritik unbegründet sei. Diesem Kritiker sei es keineswegs gelungen, stichhaltige Gegenargumente vorzubringen oder gar die cartesischen Folgerungen zu entkräften (S. 509). Wobei zu beachten ist, dass er auf eine wesentliche These seines Kritikers, nämlich diejenige hinsichtlich der angeblich „angeborenen“ Ideen (s.o.) gar nicht eingegangen ist. 95
Montesquieu (1689-1755): Teilung der Gewalten
Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu war kein Christ im kirch-lich-offiziellen Sinne. Mit der Staatskirche und ihren Dogmen geriet er auf Grund seiner auf-klärerischen Ideen mehrfach in Konflikt. Sein 1748 erschienenes Hauptwerk Esprit des Lois (‚Geist der Gesetze‘) wurde 1751 „auf Grund jansenistischer und jesuitischer Attacken“ auf den Index gesetzt. 96 Obschon seine Ideale von Toleranz, Menschlichkeit und Frieden zweifel-los zutiefst christlich geprägt waren. In der von J. Grimm herausgegebenen Französischen Literaturgeschichte heißt es zu den Auffassungen, die Montesquieu in seinen 1721 anonym in Köln erschienenen Lettres Persanes (‚Persische Briefe‘) dargelegt hat:
„So werden die Widernatürlichkeit des Despotismus, des Absolutismus, des Papst-tums, des Zölibats und der Dreifaltigkeit, die geltende Morallehre von Kirche und Staat, die Kriminalisierung des Inzests, die Verurteilung des Selbstmords, Fanatismus und Intoleranz (Inquisition) angeprangert oder als vernunftwidrig der Lächerlichkeit preisgegeben. Dagegengesetzt werden Gerechtigkeit und Natur als Grundlage der Gesetzgebung, natürliche Vernunft, Relativierung aller Anschauungen und Sitten, Toleranz, Menschlichkeit, Frieden und konstitutionelle Monarchie.“ (Grimm a.a.O. S. 200)
Vor allem mit seinen Ideen zur Gewaltenteilung wurde Montesquieu, der das Gottesgnaden-tum strikt ablehnte, zu einem der Wegbereiter der modernen Demokratie und Staats-auffassung. Und dies, obwohl er seine Idee der Trennung der Gewalten teilweise von John Locke (1632-1704) übernommen hat.
John Locke gilt als Philosoph der ‚Glorious Revolution‘, in deren Folge in England die Machtverteilung zwischen König und Parlament durch die Bill of Rights (von 1689) neu geregelt wurde. In seiner Staatstheorie fordert Locke die strikte Trennung von Exekutive (ausführender, regierender Gewalt) und Legislative (gesetzgebender Gewalt). Montesquieu übernimmt diese Theorie der Teilung der Gewalten und ergänzt sie durch eine dritte Gewalt: die richterliche (judikative). Die richterliche Gewalt hält Montesquieu sogar für letztlich entscheidend, zumal sie, wie Curt Friedlein erläutert, „Ausdruck der jeweils vorhandenen kritischen Vernunft“ sei. 97 Auf die Ratio, die Vernunft, kann offensichtlich nicht verzichtet werden, obwohl auch Montesquieu im Übrigen durchaus empirisch vorgeht, will er doch „die tatsächlichen politischen Zustände aus ihren historischen, geographischen und anthropo-logischen Bedingungen … verstehen, ohne sich durch den Glanz der herrschenden Autori-täten blenden zu lassen, …“ (Friedlein ebd.).
Zwar hält Montesquieu dennoch die Monarchie für eine durchaus vernünftige und vielleicht sogar beste Herrschaftsform, verlangt aber, ähnlich wie Locke, dass auch der Monarch sich an die vom Parlament beschlossenen Gesetze hält. Damit wendet er sich deutlich gegen den Absolutismus und bereitet zugleich, in Verbindung mit seiner Theorie der Gewaltenteilung, den Weg zur Demokratie vor. 98
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)
„Das Christentum predigt nur Knechtschaft und Unterwerfung. Sein Geist ist der Tyrannei nur zu günstig, als daß sie nicht immer Gewinn daraus geschlagen hätte. Die wahren Christen sind zu Sklaven geschaffen.“,
schreibt Rousseau in seinem Contrat Social IV (‚Gesellschaftsvertrag‘) von 1762. Dagegen erklärt er in Emile… (ebenfalls 1762):
„Ich lege Ihnen gern das Geständnis ab, daß mich die Majestät der heiligen Schriften in Erstaunen setzt und mir die Heiligkeit des Evangeliums zu Herzen spricht.“ 99
Wie erklärt sich dieser Widerspruch? War Rousseau ein Freund oder ein Feind des Christen-tums? War er Christ oder Anti-Christ? Aufschluss hierüber und mehr Klarheit findet sich in dem folgenden Artikel von Christian Modehn (2012):
„Zum 300. Geburtstag des vielseitigen Philosophen am 28. 6. möchten wir noch einmal kurz auf die Aktualität seiner Religionsphilosophie hinweisen. Dabei ist entscheidend:
Rousseau nimmt teil am Kampf der Aufklärung gegen die “betrügerischen Priester” und den Aberglauben (in) der Kirche. Die Gestalt Jesu sieht er als Vorbild eines Erziehers der Menschlichkeit, seine Worte erreichen direkt das Herz des Menschen. Jesu brutaler Tod am Kreuz ist der Tod eines Einzelgängers, von allen Seiten verleumdet. Irgendwie “erlösend”, sozusagen automatisch für alle Menschen aller Zeiten, ist dieser Tod aber nicht. Wer Jesus nachfolgen will, muss einzig auf die Stimme seines Gewissens hören. Das Gewissen ist die Quelle der Wahrheit. “Darin zeigt sich die göttliche Dimension, die unsterbliche und himmlische Stimme”, so Rousseau im “Emile”. Für Rousseau haben die christlichen Kirchen den wahren Geist des Christentums verloren. “Die Herrschaft, die die Theologen ausüben, geschieht über einen priesterlichen Despotismus in der Auslegung der Heiligen Schrift. Dabei wird das Wesentliche vergessen, das Hören auf das Wort Gottes und die Praxis seiner Gebote”, schreibt Dominique Julia in dem Buch “Histoire de la France religieuse”, Band 3, Seite 153. Für Rousseau ist die bestehende Kirche nicht in der Lage, humanistische Ethik in der Welt zu verbreiten und zu fördern, weil ihre Prinzipien auf Willkür und Macht beruhen. “Die Kirche und ihre Lehre dient nur dazu, unter den Menschen Spannungen zu erzeugen, Kriege aller Art”, so Rousseau in einem Brief an Christophe de Beaumont, Erzbischof von Paris. Von daher wird der Wunsch Rousseaus immer stärker, das “Glaubensbekenntnis des Vikars aus Savoyen” zu fördern, für den sich Gott in der Vernunft zeigt und im Gewissen. “Und wenn Gott sich für Rousseau zeigt, dann nicht über kirchliche Vermittler. =Jean Jacques=, wie er von sich selbst schreibt, versteht sich so nicht als Schüler der Priester, sondern als Schüler Jesu Christi”. (ebd. S. 154.) In der Kritik der bestehenden Religion in Frankreich damals stimmt Rousseau weithin mit – seinem Gegner – Voltaire überein. Diese Philosophen waren die ersten, die für die Freiheit und Selbständigkeit der Glaubenden gegenüber den – als willkürllich – autoritär erscheinenden – kirchlichen Institutionen eintraten; deren Überzeugung, so bestätigen Religionssoziologen heute aus Umfragen, setzt sich jetzt immer mehr durch. Wir leben also in einer Gesellschaft, in der die Menschen mit ihrer Vernunft und ihrem Gewissen entscheiden, was sie selbst religiös für wirklich entscheidend halten. Ist das Ende der Institutionen also absehbar, selbst wenn sie faktisch und äußerlich noch bestehen, fragt Rousseau. In jedem Fall: Rousseau lebt, auch sein Denken über Religionen… und lädt ein zum Disput.“ 100
Rousseau unterscheidet also klar zwischen dem ursprünglichen Evangelium und dessen Fehl-entwicklungen in den Staatskirchen. Er versteht sich als „Schüler Jesu Christi“, in dem er das „Vorbild eines Erziehers der Menschlichkeit“ sieht, auch wenn er nicht alle damit verbun-denen Glaubensinhalte kritiklos übernimmt, zumal er das je eigene Gewissen des gläubigen Menschen für entscheidend hält. Dem entspricht seine Ablehnung der Staatskirche und ihrer „betrügerischen Priester“. Um den „wahren Geist des Christentums“ wiederzugewinnen, bedarf es nicht willkürlicher Machtausübung, sondern der bewussten Aktivierung des Gewis-sens und der natürlichen Vernunft jeder Einzelperson, und zwar im Geiste einer humanisti-schen Ethik . Eine neue Grundhaltung, auf der großenteils auch Rousseaus Gesellschaftsver-trag beruht.
Letztlich geht es Rousseau letztlich um nichts anderes als um den Wert der Person . Eine der Grundfragen, die der Genfer Philosoph im VI. Kapitel seines ‚Contrat Social‘, des ‚Gesell-schaftsvertrags‘ von 1762, stellt, lautet: Wie ist eine Gesellschaftsform (‚forme d’association‘) zu finden, „die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes Gesellschafts-mitgliedes verteidigt und schützt und durch welche jeder Einzelne, auch wenn er sich mit allen vereinigt, dennoch nur sich selbst gehorcht und ebenso frei bleibt wie zuvor“? Die Antwort auf diese Frage erteilt er wenig später im gleichen Kapitel; sie lautet: „Jeder von uns vergesellschaftet (‚met en commun‘) seine Person und seine Kraft unter der oberste Leitung des Gemeinwillens (‚volonté générale‘), und wir nehmen jedes einzelne Mitglied in das Gemeinwesen auf als unteilbaren Teil des Ganzen.“
Mit anderen Worten: Die Einzelperson (‚la personne particulière‘) wird zur Gemeinschafts-Person (‚personne publique‘) und damit zur Rechtsperson dadurch, dass sie zunächst alle ihre Rechte an den Souverän, den Gemeinwillen, abtritt, der seinerseits im Gegenzug, d.h. sozusagen als Gegenleistung (‚équivalent‘), jeder Person sämtliche Rechte und damit die größtmögliche Freiheit garantiert. Folglich tritt die „natürliche Person“ in den Zustand der rechtlich völlig gesicherten Person über, was ohne den – durch die Zustimmung aller Mit-glieder des Gemeinwesens gebildeten – Gemeinwillen (und die entsprechende Gesetzgebung) nicht möglich wäre.
In diesen Überlegungen kristallisiert und fokussiert sich nicht nur Rousseaus revolutionäre politische Philosophie, sondern auch die Quintessenz seiner Anthropologie, durch die er den Wert des Menschen als Person neu bestimmt, nämlich als „absolute Unveräußerlichkeit der Person“ (ein Gedanke, dem Ernst Bloch in Naturrecht und menschliche Würde auf 350 Seiten Nachdruck verliehen hat). Erst in Bezug auf diese Unveräußerlichkeit lassen sich die umfangreichen Analysen des Person-Seins erklären, die Rousseau in seinen philosophischen und literarischen Werken geleistet hat. Wo es um die Person geht, müssen die Horizonte sich öffnen, und zwar so weit wie möglich.
Wie hat der Autor dies bewerkstelligt? Im Unterschied zu den meisten Aufklärern seiner Zeit nicht dadurch, dass er vom Atheismus ausgeht. Im Gegenteil: Gott steht für ihn außer Frage, und zwar nicht aus Erkenntnis- oder Offenbarungsgründen, sondern aus Gründen der Natur- und Gefühlsbeobachtung : „Ich sehe Gott in seinen Werken, fühle ihn in mir und über mir, aber ich kann das Geheimnis seines Wesens nicht erkennen.“ 101
Materie und Geist – beide von Gott geschaffen – hält Rousseau für Grundprinzipien; auch dies im Unterschied zu den Materialisten. – Formell war er Christ, d.h. keineswegs im klerikalen Sinne, nicht im Sinn der bestehenden Kirchen, die er scharf kritisierte. In Genf calvinistisch erzogen, trat er als junger Mann zum Katholizismus über, kehrte aber in späteren Jahren wieder zum Protestantismus zurück. In seinen posthum (1788) erschienenen ‚Bekenntnissen‘ spielt er hierauf an, indem er bemerkt: „Der Katholik muss die Entscheidung, die man ihm gibt, annehmen. Der Protestant muss lernen, sich selbst zu entscheiden.“
Wenn es einen Gott gibt, schreibt er einmal in einem Brief an Voltaire, dann ist er allgütig, allweise und allmächtig, so dass er auch mir eine unsterbliche Seele verleihen kann. 102 Es ist also ein nicht ganz zweifelsfreier Glaube an einen persönlichen Gott, der ihn bewegt.
Präziser äußert er sich zu religiösen Fragen im vorletzten (VIII.) Kapitel des ‚Contrat Social‘, in dem er eine „Zivilreligion“, eine Religion des Menschen bzw. des Citoyen, des Staatsbürgers, fordert. Hierzu sei nicht das bestehende Christentum, sondern nur dasjenige des davon völlig verschiedenen ursprünglichen Evangeliums geeignet. Religion und Staat seien zu trennen. Als Souverän habe der Gemeinwille keine religiösen Dogmen zu verkünden, sondern lediglich einige wenige, einfache, präzise, ohne Erläuterung oder Kommentar verständliche Glaubenssätze bekannt zu geben, die im Gemeinwesen das Gefühl der Zusammengehörigkeit (‚sentiments de sociabilité‘) stärken sollen, und zwar 1.: Es gibt eine mächtige, intelligente, wohltätige, vorsorgende und fürsorgliche Gottheit; 2.: es gibt ein Leben in der Zukunft, anscheinend unter Einschluss der Unsterblichkeit der Seele (s. Anm. 357); 3.: Glück für die Gerechten, Bestrafung der Missetäter (,méchants‘); 4. der Gesellschaftsvertrag und die Gesetze sind heilig. – Außer diesen vier positiven zivilen „Dogmen“ gibt es nur ein negatives: das Verbot der Intoleranz. Obwohl niemand gezwungen werden kann, die genannten Glaubenssätze zu befolgen, räumt Rousseau dem souveränen Gemeinwillen das Recht ein, Verstöße gegen diese Regeln der Soziabilität sogar mit Verbannung (!) zu bestrafen. Und er geht noch weiter: Wer die „Dogmen“ öffentlich anerkennt, dies aber durch sein tatsächliches Verhalten dementiert, macht sich des „größten Verbrechens“ überhaupt schuldig: Bruch des Gesellschaftsvertrags durch „Lüge vor dem Gesetz“, was durch die Todesstrafe (!) zu ahnden sei.
Auffälliger Weise äußert Rousseaus sein Bekenntnis zum Gottesglauben im Rahmen seiner berühmten Erziehungsschrift, des ‚ Emile‘ von 1762. Darin bekräftigt er seinen Grundsatz, dass der Mensch von Natur aus gutartig ist und negative Eigenschaften nur in Folge schädigender gesellschaftlicher Einflüsse entwickelt (die durch den ‚Contrat Social‘ allmählich beseitigt werden sollen). Im Unterschied zu Voltaire zählt Rousseau auch Kultur und Wissenschaft innerhalb einer fehlgeleiteten, im Argen liegenden Gesellschaft 103 zu den Quellen möglicher Schädigung. Für die Erziehung bedeutet dies: „Der heranwachsende Mensch muß ferngehalten werden von verbildenden Einflüssen. Alles kommt darauf an, die grundsätzlich in jedem Menschen liegende gute Naturanlage auf natürliche Weise werden und reifen zu lassen. Die Aufgabe der Erziehung ist daher eine negative, die besteht im Fernhalten aller Einflüsse des Gesellschaftslebens, die diesen Prozeß stören können.“ (Störig a.a.O. S. 428)
Fazit
Dann also „zurück zur Natur“? Dieses vielzitierte Bonmot stammt angeblich gar nicht von Rousseau, sondern von Voltaire, der seinen Erzrivalen damit lächerlich machen wollte. Wie dem auch sei, es steht fest, dass Rousseau zeitlebens durch und durch naturverbunden war und stets eine auf „vernünftiger Natürlichkeit“ aufbauende Lebensweise empfohlen hat. In seiner Kulturkritik ging er immerhin so weit, dass er sogar vor Theater- und Konzertbesuchen warnte. Stattdessen solle man sich viel mehr im Freien bewegen, spielen, Sport treiben (z.B. in Regatten auf dem Genfer See), lange Fußmärsche in freier Natur machen usw. Berühmt sind Rousseaus Träumereien eines einsamen Spaziergängers , die (ab 1772) im Anschluss an solche Fußmärsche entstanden sind.
Unbestreitbare Verdienste hat Rousseau sich aber nicht nur durch seine Warnungen vor naturfernem, entfremdetem Leben erworben. Von höchst nachhaltiger Wirkung war vielmehr seine Politische Philosophie in Verbindung mit seiner neuen Wert-Bestimmung der „unveräußerlichen Person“. Kluger Personalismus erwies sich hier als geistesgeschichtliche und politische Wirkungsmacht ersten Ranges. Diese Philosophie beeinflusste so bedeutende Dichter und Denker wie Goethe, Schiller, Kant, Fichte, Herder, Marx, Nietzsche, Pestalozzi und Basedow und damit Strömungen wie den Sturm und Drang, die Romantik, den Sozialismus, die Lebensphilosophie, den Personalismus, die Psychoanalyse und die Reform-pädagogik. Anhänger der heutigen Öko-Bewegung berufen sich ebenfalls auf Rousseau.
Der außerdem den Gang der Geschichte entscheidend mit bestimmt hat, nämlich hin zur Französischen Revolution. Dazu schreibt Karl Vorländer: „Vor allem aber ist ROUSSEAU, wiewohl er persönlich sich gegen jeden gewaltsamen Umsturz ausgesprochen hatte, zum Philosophen der Französischen Revolution geworden. Ihre Schlagworte liberté, égalité, fraternité sind ROUSSEAUschen Gepräges, die Verfassung von 1793, welche die konstitutio-nellen Ideen von 1791 überwand, ist von ROBESPIERE und SAINT-JUST nach dem Muster des < Contrat social> entworfen.“ (a.a.O. S. 73)
Dass mit diesem mächtigen Einfluss Rousseaus auch Tragik verbunden sein konnte, gibt Hans-Joachim Störig zu bedenken, wenn er erklärt: „Auch der tragische innere Widerspruch, welcher sich in der Revolution entfaltete – die wie manche andere mit der Parole der Freiheit begann und in Intoleranz und Despotie endete – ist schon vorgebildet im Denken Rousseaus. Der entschiedene Individualismus, den er vertritt, bleibt doch in einem trotz Rousseaus Beteuerung unaufgelösten Widerspruch mit den schroffen Forderungen nach unbedingter Unterordnung des Individuums unter den Gemeinwillen, die er im zweiten Teil des >Contrat social< erhebt. Sie gehen so weit, daß in Rousseaus Staat Widerspenstigkeit gegen die Staatsreligion, die er aufstellt, mit Tod oder Verbannung bestraft werden soll.“ (Störig a.a.O. S. 431)
Diese Kritik zwingt zum Nachdenken, auch wenn sie Rousseaus Personalismus außer Acht lässt und überzogen wirkt insbesondere hinsichtlich der „Staatsreligion“ (der ja, mit Ausnahme der übertriebenen Strafandrohungen, enge Grenzen gesetzt sind).
Ähnlich wie bei Lamettrie gibt es eine weitere Schwachstelle in der Philosophie Rousseaus, nämlich bei der Frage, wie wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Mächte so zusammenwirken, dass sie soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit herbeiführen bzw. verstärken. Schuld daran ist nicht das pure Privateigentum (das Rouuseau anfangs als den eigentlichen Sündenfall der Menschheitsgeschichte bezeichnet, später jedoch in seiner bürgerlichen Ausprägung durchaus gutheißt). Nicht Rousseau, sondern Karl Marx fragt, wie im Kapitalismus das „fungierende Privateigentum an den Produktionsmitteln“ (Ralf Dahrendorf) die Klassengegensätze verschärft. 104
Immanuel Kant (1724-1804): Ethik, Recht und Freiheit
Dass Kant zeitlebens im Christentum beheimatet war, kann nicht bezweifelt werden. Als Beleg kann u.a. die folgende Äußerung dienen:
„Das Christentum hat zur Absicht, Liebe zu dem Geschäft der Beobachtung seiner Pflicht überhaupt zu befördern, und bringt sie auch hervor; weil der Stifter desselben nicht in der Qualität eines Befehlshabers, der s e i n e n Gehorsam fordernden Willen, sondern in der eines Menschenfreundes redet, der seinen Mitmenschen ihren eigenen wohlverstandenen Willen (d. i. wonach sie von selbst freiwillig handeln würden, wenn sie sich selbst gehörig prüften) ans Herz legt.“ 105
„Liberale Denkungsart“ liege dem zu Grunde. Problemlos verbindet Kant seine Pflichtethik mit dem Christentum, das er u.a. in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1794) ausführlich würdigt, und zwar nicht nur als „natürliche“, sondern auch als „gelehrte“ Religion, wohingegen er das „Pfaffentum“ heftig kritisiert. –
Weniger klar erscheinen Kants Auffassungen hinsichtlich der Demokratie. In seiner Schrift Zum ewigen Frieden bemerkt er 1795, die Demokratie sei ein
„Despotism“, „weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht miteinstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist.“ (in: Eisler a.a.O. S. 85)
Woraus man sogar schließen könnte, Kant sei ein entschiedener Gegner der Demokratie. Aber: Man könnte auch annehmen, dass es sich bei dieser – relativ holprigen – Kritik eher um Schutzbehauptungenhandelt, hätte Kant doch sein philosophisches Lehramt an der Königs-berger Universität aufs Spiel gesetzt, falls er – im preußischen Monarchen-Staat – öffentlich die Demokratie propagiert hätte. Oder hatte er vielleicht Gründe, seine wahren staatspoliti-schen Auffassungen zu tarnen und zu verbergen? Jedenfalls klassifiziert in der gleichen Schrift sein Ideal des Republikanismus , wenn er als dessen „Prinzipien a priori“ nennt:
„1. Die F r e i h e i t jedes Gliedes der Sozietät, als M e n s c h e n. 2. Die G l e i c h- h e i t desselben mit jedem anderen, als U n t e r t a n. 3. Die S e l b s t ä n d i g k e i t jedes Gliedes eines gemeinen Wesens, als B ü r g e r s.“ (in: Eisler a.a.O. S. 509)
Auch Monarchen müssten diese Prinzipien beachten, denn es gebe die „Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Konstitution“. Und dies bedeute
„dass nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen“, und dies sei kein „leeres Hirngespinst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt und entfernt allen Krieg“. (in: Eisler a.a.O. S. 510)
Wohl zu Recht schließt Nico de Federicis (2019) hieraus auf „Kants Theorie der Demo-kratie“. 106 Zwar werde Kants Republikanismus zumeist dem „klassischen Liberalismus“ zugeordnet; nach genauerer Analyse sei jedoch der Schluss erlaubt, dass Kants Repu-blikanismus in den 1790er Jahren „das Profil einer liberalen Demokratie angenommen hat“. 107 Wie die Vorboten dieses Profils sich schon Jahrzehnte zuvor gebildet hätten, erklärt De Federicis folgendermaßen:
„Der Weg zu einer republikanischen Regierung ist in Kants Texten von Mitte
der 60-er bis zu den 80-er Jahren dargelegt. Dennoch ist zum besseren Ver-
ständnis dieses Konzepts eine Voraussetzung nötig, das heißt, wir müssen an-
nehmen, dass Kants politische Theorie vollkommen verständlich wird, wenn sie
auf der Grundlage seiner transzendentalen Philosophie ausgelegt wird. Akzeptiert
man diese These oder nicht, dass Kants politisches Denken eine Anwendung einer
„theoretischen Rechtslehre“ ist, muss zwangsläufig davon ausgegangen werden,
dass der philosophische Kern seiner Lehre von einer reinen Moralphilosophie
abhängt – oder mit den Worten Kants – einer „Metaphysik der Sitten“. Diese These
sollte jedoch in den 1790-er Jahren im Lichte der letzten Phase der transzen-
dentalen Philosophie neuinterpretiert und verfeinert werden, die die dritte
Grundsatzfrage in Kants Kritik in Frage stellte, welche die Vertretbarkeit von
Vernunft geprägter Hoffnung, sowie das Problem des sittlichen Fortschritts der
Menschheit betrifft. Außerdem beschäftigt sich die politische Anwendung der
kritischen Philosophie mit der Frage einer Gemeinschaft von intelligiblen Wesen,
bezugnehmend auf das Konzept des „Reiches der Zwecke“, das heißt einer po-
litischen Ordnung, die fähig ist, ihre eigene moralisch-rechtliche Legitimität zu
gründen, beginnend mit den Prinzipien der menschlichen Freiheit und des ge-
genseitigen Respekts, was zur Realisierung eines souveränen Staates führt, der
allen vernünftig Handelnden äußere Freiheit garantiert.“ (a.a.O. S. 2)
Als grundlegenden Text zur Dokumentation dieser Entwicklung hin zum demokratischen Republikanismus nennt De Federicis die Schrift Zum ewigen Frieden (1795). Voraussetzung für diese Entwicklung sei, dass dem Menschen zugebilligt werde, letztlich nur von seinem eigenen freien Willen abhängig zu sein, und zwar auch als Untertan, denn:
„... in einer kantischen Republik sind alle Bürger Untertanen, weil alle Mitglieder des Gesellschaftsvertrags dem gleichen öffentlichen Recht unterliegen, so dass Republiken Regierungen sind, in denen die politische Gleichheit der Bürger umgesetzt ist (wie die neue Version des dritten a priori-Prinzips festlegt). Deshalb denkt Kant in Zum ewigen Frieden , dass Republikanismus eine wahrhaft demokratische Regierungsform ist, in der alle Rechtssubjekte notwendigerweise aktive Mitglieder der Gesellschaft sind, das heißt freie Bürger mit politischen Rechten, gleich welcher Hautfarbe, sozialen Schicht, Geschlecht, Status, usw. sie angehören.
Außerdem gibt Kant definitiv das Konzept der auf Privateigentum basierenden
Staatsbürgerschaft auf zugunsten eines, das auf der moralischen Würde der Menschen als vernünftige Wesen basiert.“ (a.a.O. S. 6)
Dies entspreche dem „Umbruch in Kants politischem Denken“, wie er in Zum ewigen Frieden festzustellen sein, nämlich als „Umwandlung von einer bloß liberalen zu einer demokrati-schen Form von Republikanismus ähnlich der modernen repräsentativen Anschauung von Demokratie, die auf allgemeinem Wahlrecht und Herrschaft der Gesetzgebungsgewalt basiert, die von Vertretern des Volkes ausgeübt wird.“ (ebd.)
Damit nicht vereinbar sei das Konzept der antiken direkten Demokratie. Kants Demokratie-theorie habe „keine Verbindung mit der direkten Demokratie der Antike, sondern antizipiert vielmehr unser modernes Konzept von Demokratie“. (a.a.O. S. 7) – Und dies stimmt voll-kommen überein mit den Folgerungen des Düsseldorfer Hochschul-Professors Volker Eichener, der feststellt:
„Kant hat geschrieben,
dass alle Menschen gleich sind (das war gegen den Adel und seine Privilegien gerichtet),
dass alle Menschen über Würde verfügen,
dass alle Menschen über Menschenrechte verfügen,
dass alle Menschen frei sind,
dass alle Menschen selbstständig sind und selbstbestimmt handeln sollen.
Daraus folgt, dass die Demokratie die einzige Staatsform ist, die der Natur des Menschen entspricht.“ (In: https://de.quora.com/ ) –
Kants Philosophie ist für die Demokratie von hoher Relevanz und Bedeutung insofern, als in ihr Recht und Ethik harmonisch miteinander verbunden sind, so dass sowohl die Einzel-personen als auch ihre Gemeinschaften unter wirksamen existenziellen Schutz gestellt werden. Erreicht wird dies u.a. durch Kants Kategorischen Imperativ, obwohl dieser nicht mehr als „kategorische“, wohl aber als legitimeForderung weitgehend Bestand hat. Wofür tiefer schürfende Erklärungen notwendig sind.
Der Kategorische Imperativ lautet in seiner Grundform von 1787:
„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könne.“ 108
Und in der „Zweckformel“ (oder auch: Selbstzweckformel, die Kant als den „praktischen Imperativ“ bezeichnet):
„Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ 109 (‚brauchen‘ hier im Sinne von ‚gebrauchen‘)
Was bedeuten diese Formeln? 1. Bei der Grundformel ist zu beachten, dass Kant hier den Willen als „unabhängig von empirischen Bedingungen“ und „objektiv bestimmt“ auffasst. Der Wille werde „durch die bloße Form des Gesetzes“ bestimmt und sei daher als Teil der „reinen praktischen Vernunft“ und folglich als „unmittelbar gesetzgebend“ zu denken (1967 a.a.O. ebd.). Wodurch der Wille in die Lage versetzt werde, nicht den Neigungen, sondern ausschließlich der Pflicht zu gehorchen; Pflicht verstanden als „Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“110. Solche Achtung könne aber niemals aus Neigungen entspringen, wohingegen die Pflicht zum Reich der „reinen praktischen Vernunft“ gehöre und somit als ein unabdingbarer und unverrückbarer Wegweiser für den Willen anzusehen sei.
2. Die Selbstzweckformel gilt unter der Voraussetzung, dass Kant jeder zurechnungsfähigen Person (bzw. Persönlichkeit) „unbedingte Würde“ zuspricht; dies gemäß seiner Herleitung der Würde aus dem Selbstzweck, in der es heißt: „ ... das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde.“ 111
Diese Bedingung bestehe in der Moralität, und nur durch sie könne „ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein“, so dass es in der Lage sei, „ein gesetzgebend Glied im Reich der Zwecke zu sein“ (ebd.) und somit an der Allgemeinen Gesetzgebung zu partizipieren.
Mit dem „allgemeinen Gesetz“ meint Kant vor allem das Sittengesetz . Das Sittengesetz – einschließlich der Zehn Gebote – verlangt, dass unbedingt nicht nur der eigene Wille, sondern auch derjenige unserer Mitmenschen, d.h. aller „vernünftigen Wesen“, zu respektieren ist. Dies ist zugleich der Respekt vor der Person bzw. Persönlichkeit jedes Menschen, nicht zuletzt als Rechtsperson. Als vernünftige Person hat der Mensch nicht nur seinen Selbstzweck in sich, so dass er sich selbst Zwecke setzen darf; er hat sogar unbedingten „inneren Wert, d. i. Würde“. – Eindrucksvoll bestätigt wird diese Auffassung vom Selbstzweck jedes Individuums durch die Ergebnisse der modernen Gen-Forschung. Genetischer Code und DNA bestimmen die Individualität in höchster Komplexität, bis hin zu den neuronalen Kombinations-möglichkeiten des Gehirns, die weder überschaubar noch mathematisch erfassbar sind.
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass Kant den Kat. Imp. gelegentlich auch in Analogie zur Naturgesetzlichkeit formuliert, und zwar folgendermaßen:
„Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wonach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach), d. i. das Dasein der Dinge heißt, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum a l l g e m e i n e n N a t u r g e s e t z e werden sollte. “ 112
Mit anderen Worten: Der Kat. Imp. als solcher kann zwar selbst kein Naturgesetz sein, weil er nicht in der Welt der Erscheinungen, sondern – transzendental – in der Allgemeinen Gesetzgebung verankert ist. Dennoch kann der Kat. Imp. ebenso so viel Gesetzeskraft wie ein Naturgesetz enthalten, das ja, wie Kant behauptet, das Subjekt Mensch der Natur „vorschreibt“(!), während sich im Kat. Imp. die Subjektivität der Maxime mit der Objektivität des Sittengesetzes verbindet.
Wobei zu beachten ist, dass Kant versucht, seine Ethik zu einer allgemein verbindlichen, „kategorischen“, d.h. unbedingt und absolut gültigen auszubauen, indem er die Freiheit der Rechtsperson transzendental nicht nur mit den Glaubensinhalten Gott und Unsterblichkeit der Seele , sondern auch mit seinem erkenntnistheoretischen Konzept des Dings an sich ver-knüpft; denn er behauptet: „ ... sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten.“ 113
Freiheit, so lautet also Kants These, kann nur dann bestehen, wenn Erscheinungen nicht „Dinge an sich selbst“ sind. Und warum? Kants Gedankengang hierzu lässt sich wie folgt rekonstruieren: Da Bedingungen erkennbar sind, wird das Unbedingte zu einer Denk-möglichkeit. Durchgängig bedingt ist die Erscheinungswelt; nicht bedingt, also unbedingt, ist das Ding an sich. Das Unbedingte kann mit dem Absoluten gleichgesetzt werden. Zum Reich des Unbedingten gehören neben dem Ding an sich: Gott, Freiheit und die Unsterblichkeit der Seele. Gott ist nicht nur als höchstes Gut und höchster Endzweck anzunehmen, sondern auch als Schöpfer, der in allen seinen Schöpfungen und somit auch in der Seele des Menschen präsent ist. Daher gelten Gott, Freiheit und die Unsterblichkeit der Seele in der Kritik der praktischen Vernunft als logisch ableitbare Postulate der „reinen praktischen Vernunft“. 114 Da diese Postulate durch das Unbedingte miteinander verbunden sind, kann das Ding an sich, als das schlechthin Unbedingte, als notwendige Voraussetzung der Freiheit aufgefasst werden.
Dies scheint plausibel, wird jedoch vollkommen fragwürdig, wenn nicht hinfällig durch die Schwächen und Unwägbarkeiten des Konstrukts ‚Ding an sich‘. Denn Kant nimmt das Ding an sich zwar als unerkennbar und daher unbestimmbar an, deutet aber trotzdem mehrfach an, was darunter zu verstehen sein könnte, so wenn er für die Beziehung zwischen dem Ding an sich und dem wahrnehmenden bzw. um Verstehen bemühten Subjekt das Verb „affizieren“ benutzt. Der (mögliche) Gegenstand der Erkenntnis „berühre“ das Subjekt dadurch, dass er „das Gemüt auf gewisse Weise affiziere“. 115 Empfindung sei die „Wirkung eines Gegen-standes auf die Vorstellungskraft, sofern wir von demselben affiziert werden“ (ebd.). – Wo und weshalb aber findet solches „Affizieren“, die Affektion, tatsächlich statt? Einerseits erzeugt das Subjekt in der Empfindung den vom Ding an sich ausgehenden Gegenstand nicht selbst, sondern wird von ihm, „berührt“; andererseits affiziert das Ich dabei einen Teil des eigenen Selbst, nämlich seinen „inneren Sinn“ (ebd.). Und Kant räumt sogar ein: „Die Objekte der Sinne, metaphysisch betrachtet, sind Erscheinungen; für die Physik aber sind es die Sachen an sich selbst, die den Sinn affizieren.“ 116 Mit anderen Worten: Kant weiß sehr wohl, dass es bestimmte Kräfte der Materie und des Geistes sind, die das „Ding an sich“ ausmachen und als solches die Sinne und den Verstand des Subjekts affizieren. Da er jedoch an der Annahme festhält, dass die Materie der Welt der Erscheinungen angehört, kann er mit dem Begriff Materie das Ding an sich nicht bestimmen kann. – Das darin enthaltene Dilemma löst sich erst auf, wenn klar ist, dass die Materie in der Evolutionsgeschichte lange vor dem menschlichen Geist existiert hat, so dass „die unvollendete Entelechie der Materie“ (Bloch) mit ihrem In-Möglichkeiten-Sein sowohl dem Ding an sich als auch der Erscheinungswelt zu Grunde liegt. Dies bedeutet allerdings
1., dass der Begriff ‚Ding an sich‘ hinfällig wird und durch Ausdrücke wie ‚das Erschienene und das (noch) nicht Erschienene‘, ‚das Bekannte und das Unbekannte‘, ‚das Erkannte und das (noch) Unerkannte‘, Ernst Blochs ‚Noch-Nicht‘, zu ersetzen ist, und
2., dass der Begriff ‚Ding an sich‘ folglich nicht geeignet ist, die angeblich „unbedingte“ Freiheit transzendental zu fundieren. Hierfür kommt wahrscheinlich eher die „unvollendete Entelechie der Materie“ in Frage, zumal Freiheitsmomente sowohl im Geist als auch in der Natur zu beobachten sind.
Generell kann man den Begriff ‚Ding an sich‘ wohl durch Ernst Blochs NOCH NICHT ersetzen. Gegen einen solchen radikalen Verzicht scheint die Tatsache zu sprechen, dass wir in Folge unserer Gebundenheit an Sinne und Verstand doch wirklich nicht wissen können, ob wir die Dinge so erkennen, wie sie sind. Vollständig abgedeckt und neu interpretiert wird dieser Aspekt jedoch durch Karl Poppers Falsifikationstheorie, wonach man für jedwede Aussage einen Anspruch auf Wahrheit, Stimmigkeit, Richtigkeit und Gültigkeit nur so lange erheben kann, wie keine neuen Fakten dagegen sprechen.
Entfällt der Dualismus von Ding an sich und Erscheinung, werden auch die Verabsolu-tierungen der Kantschen Sollensethik fragwürdig oder hinfällig, darunter vor allem die Begriffe Pflicht und Sollen.
Aus alledem folgt nicht, dass Kants Ethik als Ganze obsolet und daher abzulehnen wäre. Hinfällig wird jedoch, neben den genannten Konstruktionsfehlern, die „Unbedingtheit“ des Kat. Imp., wodurch dieser allerdings nicht zu einem „hypothetischen Imperativ“ wird, sondern zu einer neuen, legitimen Forderung umgeformt werden kann, die als Baustein einer Ethik der Verhaltenssteuerung dienen kann. 117
Zusammenfassung. Kant, Christentum und Demokratie
Kants Versuch, seine Ethik religiös zu überhöhen und abzusichern, gilt aus gegenwärtiger Sicht als gescheitert. Was jedoch nicht bedeutet, dass damit auch „Endgültiges“ über sein Verhältnis zum Christentum und zur Demokratie ausgesagt wäre. Eine christliche Begrün-dung der Demokratie lässt sich allerdings aus seiner Philosophie nicht herauslesen. Dennoch bleiben im Hinblick auf seine entsprechenden Auffassungen folgende Kernsätze festzuhalten:
1. Dass Kant zeitlebens im Christentum beheimatet war, kann nicht bezweifelt werden.
2. Problemlos verbindet Kant seine Pflichtethik mit dem Christentum, wohingegen er das „Pfaffentum“ heftig kritisiert. –
3. Die „Prinzipien a priori“ seines Ideals des Republikanismus sind:
„1. Die F r e i h e i t jedes Gliedes der Sozietät, als M e n s c h e n. 2. Die G l e i c h- h e i t desselben mit jedem anderen, als U n t e r t a n. 3. Die S e l b s t ä n d i g k e i t jedes Gliedes eines gemeinen Wesens, als B ü r g e r s.“
4. Dass die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen, sei kein leeres Hirngespinst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt.
5. Kants Republikanismus hat in den 1790er Jahren „das Profil einer liberalen Demokratie“ angenommen.
6. Der Mensch ist letztlich nur von seinem eigenen freien Willen abhängig, und zwar auch als Untertan.
7. Republikanismus ist eine wahrhaft demokratische Regierungsform, in der alle Rechts-subjekte notwendigerweise aktive Mitglieder der Gesellschaft sind, das heißt freie Bürger mit politischen Rechten, gleich welcher Hautfarbe, sozialen Schicht, Geschlecht, Status, usw. sie angehören.
8. Damit nicht vereinbar ist das Konzept der antiken direkten Demokratie.
9. Kants Philosophie ist für die Demokratie von hoher Relevanz und Bedeutung insofern, als in ihr Recht und Ethik harmonisch miteinander verbunden sind, so dass sowohl die Einzelpersonen als auch ihre Gemeinschaften unter wirksamen existenziellen Schutz gestellt werden.
10. Kant versucht, seine Ethik zu einer allgemein verbindlichen, „kategorischen“, d.h. unbedingt und absolut gültigen auszubauen, indem er die Freiheit der Rechtsperson transzendental nicht nur mit den Glaubensinhalten Gott und Unsterblichkeit der Seele, sondern auch mit seinem erkenntnistheoretischen Konzept des Dings an sich ver-knüpft.
11. Der Begriff ‚Ding an sich‘ ist hinfällig und durch Ausdrücke wie ‚das Erschienene und das (noch) nicht Erschienene‘, ‚das Bekannte und das Unbekannte‘, ‚das Erkannte und das (noch) Unerkannte‘ bzw. Ernst Blochs ‚Noch-Nicht‘, zu ersetzen.
12. Der Begriff ‚Ding an sich‘ ist folglich nicht geeignet, die angeblich „unbedingte“ Freiheit transzendental zu fundieren. Hierfür kommt wahrscheinlich eher die „unvollendete Entelechie der Materie“ (Bloch) in Frage, zumal Freiheitsmomente sowohl im Geist als auch in der Natur zu beobachten sind.
13. Entfällt der Dualismus von Ding an sich und Erscheinung, werden auch die Verabsolutierungen der Kantschen Sollensethik fragwürdig oder hinfällig, darunter vor allem die Begriffe Pflicht und Sollen.
14. Aus alledem folgt nicht, dass Kants Ethik als Ganze obsolet und daher abzulehnen wäre. Hinfällig wird jedoch, neben den genannten Konstruktionsfehlern, die „Unbedingtheit“ des Kat. Imp., wodurch dieser allerdings nicht zu einem „hypo-thetischen Imperativ“ wird, sondern zu einer neuen, legitimen Forderung umgeformt werden kann, die als Baustein einer Ethik der Verhaltenssteuerung dienen kann.
Die US-Revolution (1774 ff.) und die „christliche Politik“ in den USA
„Kein Volk läßt sich finden, das die unsichtbare Hand, welche die Angelegenheiten der Menschen führt, mehr anerkennt und verehrt als das Volk der Vereinigten Staaten. Jeder Schritt, mit dem es dem Charakter einer unabhängigen Nation nahegekommen ist, scheint durch ein Zeichen der wirkenden Kraft der Vorsehung gekennzeichnet gewesen zu sein.“ 118
Dies erklärte der erste US-Präsident George Washington in seiner Antrittsrede des Jahres 1789. Ähnliche Verlautbarungen hatte es schon in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 gegeben, wo es heißt, man berufe sich „wegen der Redlichkeit unserer Gesinnungen auf den allerhöchsten Richter der Welt“, und zwar „mit vestem [sic] Vertrauen auf den Schutz der Göttlichen Vorsehung“ (a.a.O. S. 13). Womit also die Geschichte in Gott, dem „Absichten und Pläne“ zugesprochen werden, personifiziert wird. Diese Personifizierung ist – so W. J. Hoye – „in stark säkularisierter Form heute noch wirksam“, und zwar als „eine Besonderheit des amerikanischen revolutionären Bewußtseins“ (ebd.).
Historisch-politisch und ideologisch gründet die US-Revolution vor allem auf der Virginia Bill of Rights von 1776, der Declaration of Independence aus dem gleichen Jahr und der Bill of Rightsvon 1791, die zugleich – nach den englischen Vorbildern von Magna Charta, Habeas-Corpus-Act und der Bill of Rights von 1689 – weitere Meilensteine auf dem Weg der Menschenrechte zu immer größerer Allgemeingültigkeit sind. Der Kampf für das Personen-recht konkretisiert sich in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 als Kampf gegen Despotie und Tyrannei. Der seinerzeitige englische König gilt als Tyrann, dem in einer langen Liste mehr als zwei Dutzend gewaltsame, nicht mehr erträgliche Willkürakte und Übergriffe zur Last gelegt werden. Der König habe – neben der erwähnten Steuerwillkür – u.a. die Bevölke-rung ausgeplündert, Neu-England vom Welthandel abgeschnitten, dringend notwendige Gesetze verhindert, Volksvertretungen gewaltsam aufgelöst, Richter korrumpiert, zivile Ordnungskräfte englischen Militärs unterstellt usw. Daher kommen die Revolutionäre zu dem Ergebnis, dass ein solcher Fürst, der durch jede seiner Taten den Charakter eines Tyrannen offenbare, nicht Regent eines freien Volkes sein könne („ …is unfit to be the ruler of a free people“), so dass die 13 Unterzeichner-Staaten Neu-Englands mit vollem Recht ihre Unabhängigkeit verkündet und vollzogen hätten.
Philosophisch und religiös begründen die Revolutionäre ihr Handeln vor allem mit der Toleranz und der Achtung vor den unveräußerlichen Rechten der Person, bis hin zum „decent respect to the opinion of mankind“ (dem gebührenden Respekt vor der Menschheitsmeinung). Nicht nur vor dem eigenen Volk, sondern auch vor der Weltöffentlichkeit wollen sie sich rechtfertigen. Wie dies geschieht, fasst ein einziger Satz der Präambel der US-Unab-hängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 präzise und einprägsam zusammen:
„We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.”
Auf Deutsch:
„Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit.“
Nicht Atheismus, sondern tiefreligiöse Achtung vor dem Schöpfer und seinen Geschöpfen liegt also diesen Prinzipien zu Grunde, und zwar in Übereinstimmung mit der christlichen Lehre der Gleichheit aller Menschen vor Gott (also mit dem, was das eigentlich Neue, die neue frohe Botschaft des Christentums ausmacht). Gleiche Würde, Leben, Freiheit und Streben nach Glück sind aber Werte, die alleMenschen, also auch Nicht-Christen und Atheisten, beherzigen und als Rechte beanspruchen können.
Notwendig und vollkommen legitim ist es daher, diese Rechte durch geeignete politische Institutionen abzusichern, und zwar in erster Linie durch Regierungen, deren Macht-befugnisse sich unmittelbar durch die Zustimmung der Regierten legitimieren („deriving their just powers from the consent of the governed“). Offensichtlich sind hier die Einflüsse von Philosophen wie Locke und Rousseau. (Vgl. Robra 2015, S. 241 f.)
Die Einzelheiten der Verquickung von US-Politik und „säkularem“ Christentum bis in die Gegenwart hinein darzustellen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, so dass hier das folgende Zitat genügen muss:
„Christlicher Nationalismus in den USA umfasst breite Segmente der amerikanischen
Bevölkerung mit konservativer politischer Einstellung sowie diverse Randbewegun-
gen, darunter die regierungsfeindlichen Three Percenters, die chauvinistischen, rechts-
extremen Proud Boys und Gruppierungen, die Verschwörungstheorien verbreiten, un-
ter anderem die QAnon-Bewegung. Als Querschnittthema verbindet der christliche
Nationalismus verschiedenste Anliegen, wie Gendernormen (heteronormative Ideale),
patriarchale Strukturen (Herrschaft des Mannes, Unterwerfung der Frau), Nativismus (in den USA geboren), Race (weiss), Religion (Christentum), politische Ideologie (konservativ) und politische Ausrichtung (die Republikanische Partei unter Trump).“ 119
Dass diese gefährlichen Tendenzen (bzw. Entartungen) mit den revolutionären Idealen von 1776 wenig zu tun haben, liegt auf der Hand. Es sind Tendenzen, die natürlich nicht zu den „positiven Entwicklungen seit dem Mittelalter“ zu zählen sind und insofern eigentlich nicht in den Dritten, sondern in den Zweiten Teil dieser Arbeit („Verzerungen und Fehlentwick-lungen“) gehören. Immerhin lässt sich hier aufzeigen, wie ursprünglich Positives in Negatives umschlagen kann.
Exkurs: Zur Französischen Revolution. Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit: christliche Werte?
Die frühen Protagonisten der Französischen Revolution, zumeist bürgerlicher Herkunft, lehn-ten anscheinend weder die ursprüngliche Lehre Jesu noch die Bibel grundsätzlich ab. Beenden wollten sie allerdings das Gottesgnadentum, das feudale Bündnis von Thron und Altar, die Herrschaft einer kleinen Clique von klerikalen bzw. aristokratischen Müßiggängern, die para-sitär lebten, während die Bürgerlichen und die Lohnabhängigen in oftmals harter Arbeit die Reichtümer der Nation erwirtschafteten. Eine neue Legitimierung von Regierungsgewalt wurde erforderlich. Sie geschah im Namen der Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüder-lichkeit, mithin demokratischen Prinzipien, die in vielem durchaus den entsprechenden christ-lichen Idealen von (Gewissens-)Freiheit, Gleichheit aller Menschen vor Gott, Nächsten- und Feindesliebe glichen.
Genau dies wurde jedoch teilweise heftig bestritten, so von dem Schweizer evangelisch-refor-mierten Theologen Samuel R. Külling (1924-2003), und zwar in einem Aufsatz des Jahres 1989120, in dem er eingangs die Frage stellte: „Entsprechen die Parolen der französischen Revolution «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» biblischen Forderungen?“ Külling verneint dies und behauptet, die drei Grundprinzipien der Französischen Revolution gründeten nicht im Christentum, sondern im Atheismus. Schon der Ruf nach allgemeiner Gleichheit sei unbib-lisch, zumal Gott die Menschen als Ungleiche erschaffen habe. Während die Freiheit der Französischen Revolution sich von der Autorität Gottes gelöst habe und dadurch zur „Tyrannei“ verkommen sei. Auch Brüderlichkeit könne es ohne Gott nicht geben; dazu Külling: „Gott möge uns verschonen vor einer Brüderlichkeit des Schafotts!“ (a.a.O.).
Im Einzelnen führt Külling aus:
1. Zur Freiheit:
„Nach der Bibel gibt es keine absolute Freiheit. … Die Proklamation einer ziellosen, zügellosen Freiheit ist völlig unbiblisch. Die Bibel lehrt uns keine Freiheit von aller Sklaverei. Sie lehrt uns, daß wir entweder «Sklaven» der Sünde oder «Sklaven» Gottes sind. Es gibt nur dieses Entweder Oder. Als Knechte Gottes haben wir als Ziel die Heiligung (in diesem Leben) und als Endergebnis das ewige Leben. Wir sind nie absolut frei, also haben wir auch keine solche Freiheit zu verkündigen.“ (a.a.O.)
2. Zur Gleichheit:
„Es gibt nach der Bibel nur eine Gleichheit, die für uns alle gilt, nämlich die von Röm 3, 10 – 19: Die ganze Menschheit ist dem Gericht Gottes verfallen! Und es gibt nur einen Heilsweg für uns alle: Die Gottes Gerechtigkeit, die durch den Glauben an Jesus Christus für alle da ist und an alle kommt, die da glauben (Röm 3,22). Denn hier gibt es keinen Unterschied; alle haben ja gesündigt und bleiben unteilhaftig des Ruhmes, den Gott verleiht; so werden sie geschenkweise durch seine Gnade gerechtfertigt infolge der Erlösung, die in Christus Jesus begründet ist (Röm 3,23.24).
Hier ist es angebracht von Gleichheit zu reden. Aber davon redet die französische Revolution nicht. Und die Gleichheit, die sie verkündet, gibt es, wie wir ausgeführt haben, nicht. Sie führt nur zu neuer Ungerechtigkeit im Namen eines unbiblischen Menschenverständnisses von Gleichheit.“
3. Zur Brüderlichkeit:
„Gott möge uns verschonen vor einer Brüderlichkeit des Schafotts! Gott möge uns verschonen vor einer Brüderlichkeit des atheistischen Genossen! Gott möge uns verschonen vor einer Zwangsbruderschaft! Gott möge uns auch bewahren vor einer Zwangsschwesternschaft des Feminismus! Gott möge uns bewahren vor einer Bruderschaft, die keine ist! Die Bruderschaft der französischen Revolution, die die Vaterschaft Gottes leugnete, ist keine Bruderschaft.
Und diesen Vater in Jesus Christus hat die Revolution ausgeschaltet. Sie wollte «Brüder», ohne den «Meister» anzuerkennen (Mt 23,8). … Reden wir also nicht mehr davon, die französische Revolution habe «christliche Rechte» durchgesetzt. Sie war weit entfernt davon.“ (a.a.O.)
Gegen diese scheinbar unangreifbare Kritik erhebt sich jedoch vollauf berechtigter Einspruch, und zwar auch und gerade bei Theologen beider christlicher Konfessionen. So schreibt z.B. der evangelische Theologe Gerd Schmoll :
„ Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – man spürt diesen Worten noch ihre religiöse Herkunft ab, ihre Verwurzelung im christlichen Glauben. Denn in ihm erfahren Menschen Befreiung. Sie werden frei von ihrer Schuld, vom Zwang, sich selbst rechtfertigen zu müssen, und können im Vertrauen auf Gott leben. Sie erkennen, dass sie vor Gott gleich sind, darum die gleiche Würde haben. Und sie lernen, sich als Schwestern und Brüder zu sehen. Es ist auch Schuld der Kirchen in ihrer Bindung an die Herrschenden, dass die sich vom Glauben lösende Vernunft Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als Werte für das Zusammenleben neu entdecken musste. Es ist zugleich Aufgabe der Christen bis heute, deutlich zu machen, dass die Befreiung des Menschen im Glauben zum Respekt vor der Würde Anderer und zu einem geschwisterlichen Verhalten hilft - und dass dadurch die Vernunft Maßstäbe gewinnt, die ihre Tyrannei verhindern. Zum Beispiel in unserem Gesundheitswesen, wenn der von der Vernunft geforderte Sparzwang die Freiheit von Ärzten und Patienten zu sehr einschränkt, ungleiche Behandlung der Patienten verursacht und in der Pflege Zuwendung erschwert. Vernunft braucht Maßstäbe!“121(a.a.O., Hervorhebungen K.R.)
Und der katholische Theologe Martin Rhonheimer stellt fest:
„Die aus Amerika stammende Forderung des rechtlichen Schutzes individueller Freiheit überquerte in Windeseile den Atlantik und wurde nachweislich zur Grundlage der Ideen der Französischen Revolution. Diese „atlantische“ Sicht ist zwar in Frankreich selbst keineswegs verbreitet, geschweige denn populär, da es zum Selbstverständnis der Franzosen gehört, sich als Erfinder der Menschenrechte zu betrachten [vgl. die Diskussion zwischen Georg Jellinek und Émile Boutmy, Boutmy, 1964]. Die atlantische Sicht, die amerikanische und französische Revolution als in ihren geistigen Grundlagen interdependente Ereignisse sieht, entspricht aber wohl weitgehend der historischen Wahrheit und hilft auch, ein oft einseitiges Bild der Französischen Revolution zu korrigieren.“ 122
In der US-Revolution erfolgte aber die Proklamation der individuellen Freiheitsrechte durchaus in Verbindung mit dem christlichen Schöpfungsglauben , wonach alle Menschen von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten wie Leben, Freiheit und Glücksstreben begabt sind, wie es in der Präambel der US-Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 heißt. Nicht Atheismus, sondern tiefreligiöse Achtung vor dem Schöpfer und seinen Geschöpfen liegt diesen Prinzipien zu Grunde, und zwar in Übereinstimmung mit der christlichen Lehre der Gleichheit aller Menschen vor Gott (also mit dem, was das eigentlich Neue, die neue frohe Botschaft des Christentums ausmacht). Gleiche Würde, Leben, Freiheit und Streben nach Glück sind aber Werte, die alleMenschen, also auch Nicht-Christen und Atheisten, beherzigen und als Rechte beanspruchen können.
Und in genau diesem Sinne heißt es auch in der französischen Menschenrechtserklärung vom 26.8.1789, die französische Nationalversammlung erkläre „die natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte der Menschen“, und zwar „in Gegenwart und unter dem Schutz des Allerhöchsten.“ – Und schon auf Grund dieser Erklärung lassen sich die drei Grundprinzipien der Französischen Revolution mit den entsprechenden Idealen der ursprünglichen Lehre Jesu verbinden, und zwar folgendermaßen:
1. Für Jesus bedeutet Freiheit zunächst die Befreiung von den Zwangsvorschriften der altjüdischen Gesetzesfrömmigkeit, gegen die er eine ganz neue Form von (Willens-) Freiheit setzt, die dem Menschen sogar die Wahl lässt, sich für oder gegen Gott zu entscheiden. Entscheidet er sich frei für Gott, gilt es, diese Freiheit in der diesseitigen Welt abzusichern. Dies zeigt sich deutlich in Jesu Auseinandersetzung mit einigen der mosaischen Zehn Gebote und anderen Regeln und Gepflogenheiten. Diese will er nicht einfach bekräftigen oder kritisieren. Vielmehr geht es ihm darum, die Gründe für Konflikte und die von den Geboten bekämpften Delikte möglichst schon in deren Vorfeld aufzuspüren. Unheil tritt seiner Meinung nach schon dann ein, wenn man nicht versucht, Konflikte außergerichtlich zu bewältigen. Gerichte entscheiden nicht selten zu Gunsten der Mächtigen, gegen sozial oder politisch Schwächere. Ein römisches Sprichwort lautet „Summum ius, summa iniuria“ (Höchstes Recht, höchste Ungerechtigkeit). Es gab und gibt Klassenjustiz. Davor will Jesus seine Gemeinden schützen. Daher warnt er vor jeder Form von Aggression. Das Töten beginnt, wie er sagt, schon dort, wo man seine Mitmenschen beleidigt oder verleumdet, aggressiv mit ihnen umgeht. Ehebruch beginnt nicht erst im Akt der Untreue: „Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“ (Matth. 5, 27). Ehe und Familie müssen geschützt werden, insbesondere in gefährdeten Gemeinschaften wie der Urgemeinde Christi. Im Übrigen ist in der Bibel nirgendwo davon die Rede, Jesus habe grundsätzliche sexuelle Enthaltsamkeit gepredigt, zumal er sich nie frauenfeindlich gezeigt hat. – Bergpredigt und Vaterunser werden zu Grundlagen für Jesu Neuen Bund der Freiheit vom Gesetz, mit dem er den alten Bund ersetzt, den Mose mit Gott geschlossen hatte.
Ähnliches findet sich in der französischen Menschenrechts-Erklärung ( ‚Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen‘) von 1789. „Heilig“ sind darin, wie gesagt, die „unveräu-ßerlichen Rechte“ der Menschen. Worin die Freiheit – als natürliches Recht – besteht, wird in mehreren Artikeln dargelegt. Ihre Grenzen liegen in der Freiheit des Mitmenschen. Erlaubt ist grundsätzlich alles, solange es den Mitmenschen keinen Schaden verursacht. Allerdings: Nur durch Gesetze können diese Grenzen näher beschrieben werden (Art. 4). Nachdrücklich garantiert werden Meinungs- und Religionsfreiheit, solange sie die gesetzlich geregelte öffentliche Ordnung nicht stören (Art. 10). Gleiches gilt für die Verbreitung (‚communi-cation‘) von Gedanken und Meinungen. In Rede, Schrift und Druck (Presse) darf jeder Staatsbürger sich in den Grenzen des vom Gesetz Erlaubten frei äußern. – Gesetzliche Absicherungen dieser Art – wie sie in Jesu ursprünglicher Lehre nicht vorkommen – sind in einer säkularen Verfassungsordnung offensichtlich schon aus rechtlichen Gründen unbedingt erforderlich. Sie entsprechen nichtsdestoweniger dem Geist von Freiheit und Gleichheit im Sinne des Evangeliums!
2. Gleichheit aller Menschen vor Gott ist, wie gesagt, dasjenige, was das eigentlich Neue, die neue frohe Botschaft des Christentums ausmacht. Gleiche Würde, Leben, Freiheit und Streben nach Glück sind Werte, die alleMenschen, also auch Nicht-Christen und Atheisten, beherzigen und als Rechte beanspruchen können. Die Gleichheit vor dem Gesetz gibt es anscheinend erstmals bei dem altgriechischen Staatsmann Kleisthenes , der im 6. Jahrhundert v.Chr. gelebt hat, und zwar in dem Begriff Isonomie , was so viel wie ‚Gleich-Gesetzlichkeit‘ bedeutet. Im modernen Rechts- und Verfassungsstaat der USA findet sich dieser Grundsatz in Form der „unveräußerlichen Rechte“, die allenMenschen zustehen, denn: „all men are created equal“, alle Menschen sind als Gleiche erschaffen, wie es in der Unabhängig-keitserklärung von 1776 heißt. Womit zugleich die Gleichheit vor Gott als Gleichheit vor dem Gesetz garantiert wird. – Eine Garantie, die in Art. 1 der französischen Menschenrechtser-klärung von 1789 wiederkehrt, wo sie lautet:
„Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être fondés que sur l’utilité commune.”
(‘Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unter-schiede dürfen nur im gemeinsamen Nutzen begründet sein.‘)
Die zur Kontrolle dieser Rechte erforderlichen politischen Institutionen (bzw. Vereinigungen) sind nur dann legitim, wenn sie zur Erhaltung der natürlichen, nicht vorschreibbaren Rechte des Menschen dienen, nämlich der Rechte auf Freiheit, Eigentum und Sicherheit und des Rechts auf Widerstand gegen Unterdrückung (Art. 2).
Die Gesetze selbst haben Gültigkeit nur als „Ausdruck des Gemeinwillens“ (‚volonté générale‘, eine deutliche Anleihe bei Rousseau!). Die mit dem Gemeinwillen überein-stimmende Souveränität geht stets von der Nation selbst aus (Art. 3), so dass jeder Staatsbürger persönlich das Recht hat, – direkt oder indirekt – an der Herstellung des Gemeinwillens, und damit an der gesamten politischen Willensbildung, mitzuwirken. Da gleiches Recht für alle gilt, eröffnet sich jedem Staatsbürger gleichermaßen der Zugang zu allen öffentlichen Ämtern, die entsprechend der Eignung und der Fähigkeiten der Bewerber zu besetzen sind.
Weitere Artikel garantieren u.a. die Gewaltenteilung,das Recht auf Eigentum , die gerechte Besteuerung, den Schutz vor willkürlicher Anklage und Verhaftung, die juristische Unschuldsvermutung, die zu den personalen Rechten gezählt wird, und die Einrichtung von Polizei und Justiz, zu der jeder Steuerpflichtige seinem Einkommen gemäß beizutragen hat.
3. Brüderlichkeit. „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Dieses Jesus-Wort steht im Matthäus-Evangelium, Kap. 25, V. 40. Darin versichert Jesus seinen Mitmenschen seine auf Nächsten-, Fernsten- und Feindes-Liebe gegründete So-lidarität, von der niemand ausgeschlossen ist, erst recht nicht die „geringsten Brüder“. In einer Predigt des Jahres 2018 erklärt der rheinische Präses Manfred Rekowski hierzu:
„Jesus schlägt die Brücke zwischen ihm und den Menschen. Zwischen ihm und denen, die Hilfe brauchen. Er sagt: Was ihr für die tut, die in Not sind, das tut ihr für mich; das tut ihr an mir. Dieser Vers beschäftigt mich derzeit aus zwei Gründen besonders.
1. Jesus macht sich mit denen gemein, die in Not geraten sind. Das erinnert mich daran, dass uns in allen Menschen, denen wir helfen, der lebendige Gott selbst begegnet. Dienst am Menschen ist also Gottesdienst.
und
2. Jesus fragt nicht danach, warum die Menschen in Not geraten sind. Der Gedanke „selbst schuld“ spielt für ihn keine Rolle. Er stellt den Menschen in den Mittelpunkt, weil er Hilfe anderer braucht.
In diesen Tagen und Wochen wird in unserem Land und in vielen Ländern Europas heftig diskutiert, ob man Menschen helfen soll, die auf dem Mittelmeer in Seenot und Todesgefahr geraten. Die Menschen, die übers Mittelmeer nach Europa kommen wollen, kommen aus Afrika. Sie fliehen vor Krieg und Gewalt. Viele von ihnen fliehen aber auch vor der eigenen Perspektivlosigkeit aus ihrer Heimat.
Und deshalb denken nicht wenige hierzulande: Sind die nicht selbst schuld, wenn sie sich in die Hände skrupelloser Schlepper und an Bord deren völlig untauglicher Boote begeben? Wenn wir sie vor dem Ertrinken retten, kommen nur noch mehr. Warum also sollten wir ihnen helfen?
Ja, warum sollten die denen helfen? Warum sollen wir dem Junkie helfen? Warum der Frau, die Mann und Kinder verlassen hat und die schließlich auf der Straße gelandet ist? Warum?
Die Antwort auf diese Fragen ist ebenso einfach wie unbequem. Jesus gibt sie: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Matth. 25,40).“ 123
Lebhaften Widerhall hat dieses Jesus-Wort schon in der Urgemeinde gefunden. Dazu heißt es in einem Internet-Artikel unter dem Titel ‚DER ENGEL DER SCHWESTERLICHKEIT‘:
„Die Bibel spricht immer wieder von der Philadelphia, von der Bruderliebe oder Schwesternliebe. Es war die beglückende Erfahrung der frühen Christen, dass sie nicht nur die leiblichen Geschwister als Brüder und Schwestern erleben durften, sondern dass auf einmal die ganze Gemeinde zu einer Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern geworden ist. Der Engel der Schwesterlichkeit und der Brüderlichkeit, der Engel der Geschwisterlichkeit möge Dir zeigen, wie viele Brüder und Schwestern Du bekommst, wenn Du Dich ihnen selbst als Bruder oder Schwester nahst.
Die Grunderfahrung der ersten Christen war, dass alle Mitglieder der christlichen Gemeinde ihre Brüder und Schwestern geworden waren. Der Grund dafür war, dass sie alle den gleichen Vater hatten. Weil wir alle gemeinsam zu unserem Vater im Himmel beten dürfen, sind wir vor und unter diesem Vater alle Geschwister. Jesus nennt jeden, der den Willen Gottes erfüllt, "Bruder und Schwester" (Mk 3,35). Wenn wir die Nähe dieses Vorbilds suchen, uns um Jesus Christus scharen und wie er bereit sind, den Willen des Vaters zu tun, dann sind wir Christi Brüder und Schwestern, dann entsteht eine neue Familie, in der alle gleichberechtigt sind. Jesus verbietet den Jüngern, dass sie sich Rabbi nennen: "Denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder" (Mk 23,8). Der Engel der Schwesterlichkeit soll uns zeigen, dass wir alle gleichberechtigt sind, dass keiner sich über den andern stellen soll.“ 124
In der französischen Erklärung … vom August 1789 kommt das Wort fraternité,also Brüder-lichkeit, nicht vor. Zweifellos aber indirekt – und so auch in den verwandten Bedeutungen der Begriffe ‚Solidarität‘ und ‚Gerechtigkeit‘. Ohne solidarische Anerkennung des Mitmenschen gibt es keine Anerkennung der ursprünglichen Freiheit und der personalen Grundfreiheiten, keine Gleichheit vor dem Gesetz, keinen „gemeinsamen Nutzen“, kein „Glück aller“. Nur wo solche Anerkennung (bzw. Toleranz!) herrscht, kann es Gerechtigkeit geben.
Während der Französischen Revolution wurde fraternité mehr und mehr zum Kampfruf, in übersteigerter Form sogar zu dem Schlachtruf „la fraternité ou la mort!“(im Deutschen verballhornt zu: „Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag‘ ich dir den Schädel ein!“). – Nichtsdestoweniger ist fraternité (zusammen mit liberté und égalité) seit Mitte des 19. Jahrhunderts fester Bestandteil („Devise“) jeder französischen Verfassung. Allerdings: Ein-klagen können die französischen Staatsbürger/innen die entsprechenden Rechte nicht; dies angeblich mit der Begründung, es gebe „so viele verschiedene Konzeptionen von Brüderlich-keit“. 125 –
Insgesamt gesehen stellt sich heraus, dass die drei Grundprinzipien der Französischen Revolution in hohem Maße mit den entsprechenden Grundwerten des Urchristentums über-einstimmen. Besonders augenfällig und frappierend ist die Tatsache, dass wesentliche, christlich geprägte Grundsätze der US-Verfassung von 1776 als Vorbilder und Vorlagen für die französische Menschenrechts-Erklärung von 1789 gedient haben. Was nicht das einzige Faktum ist, das der Theologe S. R. Külling übersieht, so dass sich unabweisbar die Frage nach den Gründen hierfür aufdrängt. Im Wesentlichen handelt es sich um folgende Gravamina:
1.) Külling argumentiert großenteils unhistorisch und dadurch unwissenschaftlich.
2.) In Folge dessen lässt er wesentliche geistesgeschichtliche Zusammenhänge außer
Acht.
3.) Insbesondere ignoriert er die Tatsache, dass es – vor allem in den Jahren 1791 bis
1793 – folgenschwere Fehlentwicklungen der französischen Revolution bis hin
zum Staatsterror gegeben hat.
4.) Killing verallgemeinert, was sich nicht verallgemeinern lässt, so z.B. den Staats-
terror des Jahres 1793.
Es sind Grundfehler, die sich an Hand zahlreicher Beispiele als solche belegen lassen. Zuvor ist es jedoch erforderlich, die Gründe für die genannten Fehlentwicklungen zu benennen. Was hat seit 1791 zu der katastrophalen Radikalisierung geführt? Es sind vor allem
a) Mängel in der Struktur der Verfassung, durch die breite Bevölkerungsteile benachtei-ligt und der König Ludwig XVI. zeitweise privilegiert wurden.
b) Flucht und Hinrichtung des Königs.
c) Wirtschaftliche Probleme, vor allem der Unterschichten, in Folge von Kapital-Kursverfall, Versorgungsnöten, Arbeitslosigkeit u.a.m. Dadurch auch die Radikali-sierung von Sansculotten und Jakobinern.
d) Außen- und innenpolitische Erschwernisse. Wühlarbeit von Emigranten, royalistische Aufstände, fanatische Gleichheitsideologie. „Insgesamt erschien der Kampf für die revolutionären Errungenschaften als eine Notwendigkeit, sowohl gegen den Feind im Innern als auch gegen den Eindringling von außen; schließlich galt es, die revolutio-nären Errungenschaften auch den übrigen unterdrückten Völkern Europas zu bringen (Export der Revolution).“ 126
All dies ignoriert Külling einfach. Im Übrigen sind folgende Beispiele für seine Fehldeutun-gen und Fehlurteile anzuführen:
Zu 1.): Wenn Külling ausruft: „Gott möge uns verschonen vor einer Brüderlichkeit des Schafotts!“ (s.o.), so ist dies nichts anderes als absurde Polemik . Der Terror von 1793 bedeu-tet das Gegenteil von Solidarität und Brüderlichkeit und lässt sich daher nicht verallgemei-nern. Nicht der Terror von 1793, sondern die positiven Grundsätze von 1789 haben sich als so nachhaltig erwiesen, dass sie weltweit fast ausnahmslos in spätere progressive Verfassungen aufgenommen wurden. – Ähnliches gilt für den Begriff Freiheit. Nirgendwo hat die Franzö-sische Revolution „einer ziellosen, zügellosen Freiheit“ das Wort geredet, wie Külling behauptet (s.o.). Vielmehr wurde die Freiheit der Rechtspersonen durch sorgfältige gesetz-liche Bestimmungen abgesichert.
Zu 2.): Külling ignoriert völlig die engen Verbindungen zwischen den Grundsätzen Jesu, der US-Verfassung von 1776 und der französischen Menschenrechts-Erklärung von 1789 in Bezug auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Über die Gleichheit behauptet er, sie könne und dürfe nur religiöse begründet werden, was die Französische Revolution sträflich missach-tet habe. Ihre Vorstellungen von Gleichheit seien unbiblisch und führten daher „nur zu neuer Ungerechtigkeit“ (s.o.). Dabei verkennt Külling die Tatsache, dass Jesus mit der Gleichheit aller Menschen vor Gott deren Gleichheit vor dem Gesetz wesentlich vorbereitet hat. Zu berücksichtigen ist eine Entwicklungslinie, die bei der englischen Magna Charta von 1215 beginnt und über mehrere Stationen bis hin zu den Erklärungen von 1776 und 1789 führt. Der Glaubensinhalt „vor Gott“ ist nicht justiziabel, sehr wohl aber die Gleichheit vor dem Gesetz. Ginge es nach Külling, hätten nur Gottgläubige einen Anspruch auf rechtliche Gleichheit – was völlig abwegig und inakzeptabel wäre.
Zu 3.): Külling nennt keinen einzigen der Gründe, die nach 1791 zur Radikalisierung und Fehlentwicklung der Französischen Revolution bis hin zum Staatsterror geführt haben.
Zu 4.) Statt die Grundsätze von 1789 zu verallgemeinern, verallgemeinert Külling die kata-strophale Fehlentwicklung von 1793. Genau dies widerspricht aber eklatant der geschicht-lichen Wahrheit, die u.a. darin besteht, dass die Grundsätze von 1789 immer wieder in spätere progressive Verfassungen eingegangen sind, so auch in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
Alles in allem: Küllings Kritik erweist sich als durchweg unangebracht, unbegründet und hin-fällig.
Dagegen können Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – insbesondere in den Formen von Willens- und Gewissensfreiheit, gleichem Recht für alle und umfassender Solidarität – als verlässliche Maßstäbe und dauerhafte Orientierung dienen.
Person-Sein und Christ-Sein im Personalismus
Wenn wie in der US-amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und in der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 die Menschenrechte gestärkt und befördert werden sollen, bedarf es einer Klärung und Bewertung des Person-Seins. Dieser Aufgabe widmet sich der Personalismus, insbesondere von Autoren wie Max Scheler und Emmanuel Mounier, wobei das Christentum erneut eine wesentliche Rolle spielt.
a) Max Scheler (1874-1928)
kritisiert Kants Trennung der Sphären von Vernunft und Verstand einerseits und der Gefühls-Ebene andererseits. Er selbst will nicht nur eine Wertlehre, sondern eine „materiale Wert-ethik“ darbieten, in der Gefühl – z.B. in Form von (Nächsten-)Liebe – und Personalismus in neuen Synthesen miteinander verbunden werden.
Oberste Instanz ist für Scheler die „unendliche Person“ Gottes, die er auch als „Person der Personen“ bezeichnet. Als Kern der Individualität der Einzelperson nennt er die „intime Person“, die keinerlei gesellschaftlicher Determinierung unterworfen ist – und dennoch – als „Gesamtperson“ – „vollkommene Person“ werden kann, wenn es ihr gelingt, das Individuelle und das Soziale im eigenen Person-Sein harmonisch zu vereinen. Dazu verhilft vor allem die „Aktsubstanz“, die Handlungsfähigkeit der Person, wobei Scheler zwischen „singulari-sierenden Einzelakten“ der Einzelperson (bzw. Intimperson) und „sozialen Akten“ der „Gesamtperson“ unterscheidet.
Im Übrigen – und diese Wendung scheint mir ausschlaggebend bzw. fatal – sei Person nur, wer über Geist (als höchsten ethischen Wert!) verfügt und daher zum voll verantwortlichen Handeln fähig ist – was zweifellos eine bedenkliche Einschränkung bedeutet, da solche Geist-Mächtigkeit und Verantwortlichkeit nur mündigen, voll zurechnungsfähigen Bürgerinnen und Bürgern zugetraut werden kann.
Dieser Mangel verstärkt sich in Schelers Alterswerk. Um den Geist als höchste Wert-Instanz zu sichern, befürwortet er schließlich einen Dualismus von Leib und Seele, wobei der Leib schließlich zu einer „Sache“ herabgestuft wird, so dass die geistigen und die körperlichen Aspekte des Person-Seins auseinander klaffen. – Dies aber steht in krassem Gegensatz zu Schelers ursprünglicher Absicht, Personalität als leib-seelische Einheit zu erklären. (Näheres hierzu in K. Robra: Und weil der Mensch Person ist … a.a.O. S. 41-44. Zu Locke: ebd. 52 f.)
b) Emmanuel Mounier (1905-1950)
ist derjenige Theoretiker, der dem Personalismus erstmals Breitenwirkung verschafft hat, d.h. diese philosophische Strömung – nicht nur in Frankreich und nicht nur den Bildungs-eliten, sondern breiten Kreisen der Bevölkerung – verständlich gemacht und nahe gebracht hat.
Wie einige andere konstatiert er schon in den 1930er Jahren einen allgemeinen Verfall der abendländischen Werte. Davon war, wie er meinte, nicht nur, aber vornehmlich das Christentum betroffen, das er – mit wenigen Ausnahmen – überall in Europa auf dem „Rückzug“ sieht. Was ihn besonders betrübt, weil er, als überzeugter Katholik, immer noch an die Werte des Christentums glaubt.
Gründe für das „Versagen“ des Christentums sieht Mounier im Vordringen des bürgerlichen Individualismus, in übertriebener Verinnerlichung (Introversion) der gläubigen Christen und in einer allgemeinen Bewusstseinskrise des abendländischen Menschen . Dieses Krisenbewusstsein lässt die Tatsache verständlich erscheinen, dass Mounier in anderen Geistesrichtungen seiner Zeit nach Bundesgenossen – Wert-Genossen! – Ausschau hält.
Er findet sie vor allem in der Existenzphilosophie und in weiten Teilen des Marxismus. In zahlreichen christlichen Denkern – Augustinus, Pascal, Kierkegaard, Péguy, Gabriel Marcel u.a. – sieht er, wohl zu Recht, Wegbereiter der Existenzphilosophien, auch wenn darin, z.B. bei Heidegger und Sartre, atheistische Tendenzen nicht zu leugnen seien.
Ähnlich differenziert äußert Mounier sich zum Marxismus. Er lobt dessen Sinn für die materiellen Gegebenheiten, die „Kameradschaft mit den Dingen“. Gegen bürgerliche Verfallserscheinungen – wie grenzenlosen Egoismus, Profitsucht und Prestige-Denken – sei der Marxismus ein wirksames Gegenmittel. Auf Grund vielfältiger Gemeinsamkeiten mit dem Christentum (z.B. Kritik an der Entfremdung, Hoffnung auf Solidarität, Emanzipation und Selbstbestimmung) vermutet er sogar ein „geheimes Band“ zwischen Christen und Kommunisten.
Dem entspricht Mouniers ausgeprägter Anti-Kapitalismus. Im Kapitalismus gebe es – abgesehen von einigen technischen Fortschritten – im Wesentlichen nur „Irrtum“ und „Korruption“, insbesondere hinsichtlich des „freien Spiels der Kräfte“ in der Marktwirtschaft und der Vergötzung von Produktion, Geld und Profit, wodurch sämtliche menschlichen Werte (einschließlich der privaten und der religiösen) heillos und nachhaltig gefährdet seien. Für besonders schädlich hält er Macht und Einfluss der zu völliger Verselbständigung neigenden Finanz-Oligarchie – wogegen er ausdrücklich die Abschaffung der Börsen-Spekulation und wirksame (Arbeiter-) Kontrolle in einer „industriellen Demokratie“ fordert. Nicht das Kapital, sondern der eigenverantwortliche Mensch als Person müsse der Maßstab jeglicher Politik sein.
Klare Ablehnung äußert Mounier allerdings gegenüber einigen anderen Inhalten des Marxismus, so (wie Sartre) gegen den sozio-ökonomischen Determinismus und die Geringschätzung von Individualität, Freiheit und Eigenverantwortung der Person. Eine „materielle Revolution“ ohne spirituelle bzw. religiöse Komponente hält Mounier für undenkbar und unmöglich.
Den Personalismus hat er – z.B. durch seine Zeitschrift und Bewegung ‚Esprit‘ und zahlreiche eigene Veröffentlichungen – vor allem in den 1930er und -40er Jahren propagiert. Den allgemein krisenhaften Entwicklungen will er einen neuen christlichen Personalismus mit durchaus revolutionärem Anspruch entgegenstellen.
Die Person definiert er, eher vorläufig und versuchsweise, als den „totalen Umfang des Menschen“. Wohl wissend, dass er sich damit auf unsicheres Terrain begibt (wie weit reicht denn der „Umfang“ des Menschen?), ergänzt er seinen Definitionsversuch durch Hinweise auf die Geschichte des Person-Begriffs, wobei er zu den Pionieren neben zahlreichen christlichen Denkern auch das Delphische Orakel („Erkenne Dich selbst!“), den Descartes der persönlichen Meditationen, Leibniz, Kant, Rousseau und Goethe zählt. Das Person-Sein hält er für „gottgegeben“ und daher kaum definierbar oder erklärbar. (Wobei zu berücksichtigen ist, dass Gott im Christentum als dreieinige Person angesehen wird.)
Den Begriff Persönlichkeit ordnet er dem der Person unter, weil die Persönlichkeit – auf Grund mannigfacher Negation bis hin zum Tod – völlig von den Unwägbarkeiten und Wechselfällen der Subjektivität abhänge, zumal dann, wenn das Subjekt sich vorwiegend individualistisch orientiere. (Vgl. K. Robra: Und weil der Mensch Person ist …, a.a.O. S. 105-115, mit ausführlicher kritischer Würdigung.)
Würdigung
Auch Mounier befürwortet eine radikale „Umwertung der Werte“, aber nicht im Sinne Nietzsches, nicht gegen das Christentum, sondern auf dem Boden des Christentums. Dass er dabei den Begriff Persönlichkeit dem der Person unterordnet, scheint verständlich, ist aber bedauerlich. Denn jede Person verwirklicht sich nun mal in ihrer Persönlichkeit, in dem, was sie aus ihrem Leben macht, wohl wissend, dass diese Errungenschaften nicht weniger vergänglich (bzw. „aufhebbar“) sind als die Person selbst.
Ganz unbestreitbar hat Mounier dem Personalismus neue politische, soziale und welt-anschauliche Dimensionen und Horizonte eröffnet. Durch ihn wurde der Personalismus zu einer der bedeutendsten Philosophien des 20. Jahrhunderts – neben Marxismus und Existenzphilosophie. Was Mounier gedacht hat, haben nach ihm Sozialisten in aller Welt (nicht zuletzt auch im Frankreich der frühen 1980er Jahre) zu verwirklichen versucht. Es ist ein Dritter Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus, ein Weg, der jeder Form von Totalitarismus abhold ist – und natürlich auch dem neuesten Totalitarismus: dem des globalisierten Neoliberalismus. (Vgl. Robra 2015, S. 331 ff.)
Christliche Sozialwerte – das Christentum und die sozialen Probleme
Vielfältig und kaum überschaubar sind die Verwicklungen des Christentums in Geschichte und Politik (Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur). Diese umfassend zu analysieren, würde hier zu weit führen. Exemplarischer Betrachtung wert scheinen mir jedoch die Bemühungen von Christen, die sozialen Probleme der Menschen zu lösen oder wenigstens zu verringern.
Dass auch Pietisten und Puritaner auf diesem Gebiet Vorbildliches geleistet haben, steht außer Frage. Falsch wäre es jedoch, ihr Wirken hierauf zu reduzieren. Außerdem gelang ihnen bekanntlich nicht alles. Im Gegenteil, manchmal schufen sie neue Probleme, neue Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten. Man denke nur an die Exzesse des amerikanischen Kolonialismus oder an einige fragwürdige Erziehungskonzepte. Nicht immer ist klar, worum es ihnen eigentlich ging: um das Wohl der Menschen oder um die „Reinheit“ ihrer Lehren und ihrer Frömmigkeit.
Christlicher Sozialismus
Der Begriff ‚Sozialismus‘ ist weithin diskreditiert, insbesondere durch die geschichtlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Wer denkt schon gern an den „real existierenden Sozialis-mus“ zurück, oder gar an den stalinistischen „Sozialismus“ (die einst als Übergangsstadien zum kommunistischen Paradies gedacht waren!)? Nicht weniger Ekel erregend wirkt der Gedanke an das, was die Nazis aus dem gemacht haben, was sie „Nationalsozialismus“ nannten. Leichtes Spiel hatten daher die Konservativen in den 1970er und ‘80er Jahren mit ihrem Slogan „Freiheit oder Sozialismus“ (verballhornt: „Freibier oder Sozialismus“).
Die Frage drängt sich auf, ob trotz solcher Ausartungen und Entstellungen je wieder so etwas wie ein „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ befürwortet werden kann. Allerdings: Zumindest auf das Soziale, das Gemeinschaftliche, wird man nicht verzichten können, auch wohl nicht auf den Gemeinsinn und das Gemeinwohl, erst recht nicht angesichts des heutigen Standes der Erforschung der Evolution. Einer Lehre des Sozialen und damit des Sozialismus bedarf es, schon um die Fehler der Vergangenheit beim Streben nach dem Gemeinwohl zu vermeiden. Eine Definition, die diesen Erfordernissen weitgehend entspricht, lautet: „Sozialismus(zu lat. socialis „gemeinschaftlich“), politische Lehre mit dem Idealbild einer Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die im Gegensatz zum individualistisch orientierten Liberalismus auf den kollektiven Grundsätzen von Freiheit, Gleichberechtigung und Solidarität fußt. Darauf baut die politische Bewegung zur Herbeiführung dieser Zukunftsvorstellung durch die Neugestaltung der bestehenden sozialen Verhältnisse (stattliche Kontrolle der Wirtschafts- und Eigentumsstruktur, gesellschaftliche wie betriebliche Mitbestimmung, Mindestmaß an sozialer Sicherung, Internationalismus) auf.“ 120 Es handelt sich um Grundsätze, die mit den Hauptprinzipien der Französischen Revolution nahezu identisch sind. Ein solcher Demokratischer Sozialismus trägt ein menschliches Antlitz.
Zum Begriff ‚Christlicher Sozialismus‘. Wenn der Sozialismus ein menschliches Gesicht tragen kann, sollte ein christlicher Sozialismus zumindest denkbar sein. Konrad Adenauer (1876-1967), der erste deutsche Bundeskanzler, war in dieser Hinsicht anderer Meinung. Er sorgte dafür, dass der Begriff ‚Christlicher Sozialismus‘ schon ab Oktober 1945 nicht mehr in Programmen der Christlich-Demokratischen Union (CDU) erscheinen durfte, weil er gleichbedeutend mit „Marxismus, Bevormundung … und Mangelwirtschaft“ sei. 121 – Ganz anders sah dies der Theologe Helmut Gollwitzer (1908–1993). Er war zutiefst anti-kapitalistisch eingestellt und forderte aus fester christlicher Überzeugung: „Christen müssen Sozialisten sein!“. 122
Christliche Soziallehren: Katholische Soziallehre und Evangelische Sozialethik
Die Katholische Soziallehre ruht philosophisch und theologisch auf mindestens drei Säulen: 1. dem Naturrecht, 2. den Lehren des Thomas von Aquin und des Neuthomismus, 3. dem Personalismus. Die menschliche Person verfügt demnach – gottgegeben – sowohl über natürliche Vernunft als auch über geistigen Zugang zur göttlichen Offenbarung und damit zu den Grundwerten und zu den höchsten sittlichen Maßstäben, so dass der Mensch als Person höher steht als alle historischen Systeme des Rechts. „Das Naturrecht ist das der Vernunft des Menschen eigene Wissen von Recht und Gerechtigkeit“, wie es Herbert Pribyl im Anschluss an Thomas von Aquin und Johannes Messner formuliert. 123 Dem Naturrecht als Wesensrecht entspricht die unantastbare Würde des Menschen, so dass seine Grundrechte unveräußerlichsind.
In der Katholischen Soziallehre wurden im Laufe der Zeit fünf Prinzipien als Grundwerte herausgearbeitet, nämlich Gemeinwohl, Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Nach-haltigkeit.
Gemeinwohl: Im Anschluss an Thomas von Aquin und den Neuthomismus geht es um eine möglichst ideale Ordnung der Gemeinschaft. Das Gemeinwohl hat Vorrang gegenüber Einzelinteressen, soll aber letztlich auch das Individuum stärken.
Personalität. Diese haben Max Scheler und andere philosophisch begründet. Im Person-Sein kommen Individualität und Gemeinschaftlichkeit zusammen, und zwar in der leib-seelischen Einheit des Menschen, der zugleich als geistbestimmtes, von Gott gewolltes Wesen gilt. Geistiges Selbstbewusstsein soll zur Selbstverwirklichung befähigen. Freiheit und Selbst-verantwortung gelten als Richtwerte des Lebens.
Solidarität. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Ordnung der Gesellschaft soll der Mensch Verantwortung tragen, was ihn zu solidarischem Miteinander verpflichtet.
Subsidiarität. Die Gemeinschaft soll „subsidiär“, d.h. unterstützend, wirken. Bei der Ausübung politischer Macht müssen daher die Untergruppierungen der Gesellschaft berück-sichtigt werden. Zentralgewalt findet ihre Grenzen dort, wo auf unteren Ebenen der Zuständigkeit besser, d.h. sowohl personenbezogen als auch sachdienlich, entschieden werden kann. Dennoch ist die größere Gemeinschaft verpflichtet, der kleineren notfalls Hilfe zu leisten.
Nachhaltigkeitgilt – angeblich in einer Definition des SPD-Politikers Volker Hauff aus dem Jahre 1987 – entwicklungsmäßig „als dann realisiert, wenn die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt werden, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“. 124 Katholische Hilfswerke greifen den Begriff gegen Ende der 1990er Jahre auf, ihnen folgen die meisten Bischöfe und einige katholische Sozialethiker. 125 Aus christlicher Sicht besteht die Aufgabe des Menschen ohnehin u.a. darin, „die Schöpfung zu bewahren“, so dass die Forderungen der Ökologie-Bewegungen in der Katholischen Soziallehre auf fruchtbaren Boden fallen.
Diese großenteils idealistisch anmutenden Prinzipien können vielleicht am ehesten in einer tatsächlich Sozialen Marktwirtschaft verwirklicht werden. Ob dies angesichts der moloch-artigen Ausbreitung des Neoliberalismus gelingen kann, muss bezweifelt werden.
Evangelische Sozialethik
Den Begriff gibt es seit 1868. Daneben ist inzwischen auch eine ‚Evangelische Soziallehre‘ entstanden, die jedoch nur wenig ausgearbeitet und in der Öffentlichkeit kaum beachtet wurde. Weit mehr als das katholische Pendant wirft der Begriff ‚Evangelische Sozialethik‘ Probleme auf, und zwar wegen seiner Vieldeutigkeit und zahlreicher mit ihm verbundener Unwägbarkeiten.
Von der entsprechenden katholischen Lehre wird diese Ethik schon dadurch abgegrenzt, dass man deren Grundpfeiler Naturrecht, Gemeinwohl und Personalität kaum noch diskutiert. Aber was ist das „typisch Evangelische“ an dieser Ethik? Eine Frage, die sich durch den Bezug zur Reformation nicht hinreichend klären lässt. Hilfreich scheint jedenfalls die Berufung auf die einzig maßgebliche protestantische Autorität: die des Evangeliums, obwohl der in ihm enthaltene Sozialauftrag umstritten ist.
Die beiden anderen Begriffskomponenten, dass Soziale und die Ethik, bereiten ebenfalls Schwierigkeiten. Wenn es einen christlichen Sozialauftrag gibt, warum bedarf es dann noch einer Ethik? Diese müsste eine „Seinsethik“ (des Sozialen!) sein, obwohl aus dem bloßen Sein bekanntlich kein Sollen abgeleitet werden kann. Woher kommen dann die das Sollen orientierenden Wert-Maßstäbe?
Im Evangelium verkörpert Christus das Gute überhaupt, das schlechthin Gute, das göttliche Höchste Gut. Daher kann er beanspruchen, die Wahrheit, der Weg und das Leben selbst zu sein, und der sittlichen „Eigenart“ des Menschen weitere Wertmaßstäbe an die Hand zu geben. Wer an Christus glaubt, kann sowohl die eigene Freiheit zum Guten als auch die Freiheit vom Bösen nachhaltig stärken. Darin besteht wahrscheinlich die wahre „Freiheit eines Christenmenschen“, der weitgehend auf die eigenen, letztlich von Gott gegebenen Kräfte, darunter auch die Willens- und Gewissensfreiheit, vertrauen darf.
Dadurch steht es dem Menschen auch frei, sich für das Gute in allen Menschen einzusetzen, d.h. für eine im Ganzen gute Welt-Gesellschaft . Die Menschheit als solche sollte jedem „heilig“ sein, wie Kant fordert. Wobei nicht zu übersehen ist, dass die Welt im Ganzen (noch) keineswegs gut ist, sondern vielerorts im Argen liegt. Außerdem lässt sich aus dem Evangelium zwar ein christlicher Sozialauftrag ableiten, aber Jesus hat weder eine Wirtschaftslehre noch eine Gesellschaftstheorie noch ein politisches Programm verkündet. Mit christlichem Geist unvereinbar ist jedenfalls ein Wirtschaftssystem, in dem Ausbeutung, Profitgier, Entfremdung und Klassengegensätze herrschen, desgleichen ein Gesellschafts-system, das durch Unfreiheit, Missachtung der Person, Bürokratismus, Gesinnungsterror, Fundamentalismus und/oder Terrorismus gekennzeichnet ist.
Als mit den christlichen Werten vereinbares Ideal dürfte dagegen ein freiheitlicher, demokratischer Öko-Sozialismus anzusehen sein. Evangelische Soziallehre kann dazu beitragen, indem sie sowohl den Christlichen Sozialismus (Lamennais, Blumhardt, Tillich u.a.) und die Theologie der Befreiung als auch die Katholische Soziallehre beerbt und sich zu einer echten Christlichen Soziallehre weiterentwickelt.weiterentwickeltww
Theologie der Befreiung
Im Jahre 1965 beginnt Dom Helder Camara (1909-99), der Erzbischof von Recife, den man auch den „roten Bischof“ nannte, in Brasilien mit der Gründung von Basisgemeinden, und zwar im Anschluss an das Leitwort ‚Kirche der Armen‘, das Papst Johannes XXIII. dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) vorgegeben hatte. Aber schon vorher erfahren und erkennen die lateinamerikanischen Theologen der Befreiung, zu denen neben Camara u.a. Leonardo Boff und Gustavo Gutiérrez gehören, dass sie weder mittels katholischer Scholastik und Dogmatik noch an Hand der katholischen Soziallehre in der Lage sind, die völlig unerträglichen sozialen Missstände in ihren Ländern hinreichend zu analysieren. Die Ursachen der Misere erkennen sie zutreffend vor allem in den Auswirkungen des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Daher greifen sie u.a. auf die Theorien und Analysen von Marx und Neomarxisten wie z.B. Gramscizurück. Die krassen Gegensätze zwischen Armen und Reichen nehmen sie nicht länger als nur „gottgegeben“ hin. Dennoch bleiben sie ihren christlichen Grundüberzeugungen treu, so auch dem Prinzip der Gewaltlosigkeit . Aktiv unterstützen sie die Arbeit in den neu entstehenden Basisgemeinden. 126 Bestimmten Formen des „real existierenden Sozialismus“ stehen sie durchaus kritisch gegenüber. Sie verwerfen insbesondere jegliche Form von Diktatur und „Ausnutzung des Klassenkampfes“127.
In seinem 1971 erschienenen grundlegenden Werk ‚Eine Theologie der Befreiung ‘ begründet Gustavo Gutiérrez seine lateinamerikanische Synthese von Christentum und Sozialismus u.a. an Hand eines erweiterten Sünden-Begriffs. „Strukturelle Sünde“ nennt er die im Kapitalismus ständig wachsende Kluft zwischen Armen und Reichen. Die Befreiung von dieser Sünde hält er für „die notwendige Bedingung für die Realisierung der Gerechtigkeit in der Welt“. 128 Demgemäß sehen Leonardo Boff und Jon Sobrino in Jesus den „Befreier …, der mit dem Reich Gottes die strukturelle Revolution und Umwandlung der sozialen und politischen Verhältnisse verkündigt“, wobei sie überzeugt sind, dass das Reich Gottes durch die geschichtlichen Befreiungserfolge allmählich verwirklicht werde (ebd.).
Theorie und Praxis der neuen Befreiungstheologie führen allerdings zum Konflikt mit dem Vatikan, dessen Glaubenskongregation in den 1980er Jahren Joseph Kardinal Ratzingervorsitzt. Exemplarisch lässt sich hierzu der Fall des Theologen, Philosophen und zeitweiligen Franziskanermönchs Leonardo Boff heranziehen. Ausgangspunkt des Streits mit Ratzinger ist Boffs grundlegendes Werk ‚Kirche: Charisma und Macht‘ aus dem Jahre 1981. 129 Gestützt auf eine Rezension des Theologieprofessors Urbano Zilles kritisiert Ratzinger heftig Boffs Arbeit. Die von ihm „Beanstandeten Seiten‘ dieser Arbeit sind in einer von der Brasilianischen Bewegung für Menschenrechte herausgegebenen Dokumentation nachzu-lesen. 130 Im Wesentlichen behauptet Boff darin Folgendes:
1. Die christologische Begründung des Absolutheitsanspruchs der Katholischen Kirche sei biblisch nicht belegbar (a.a.O. S. 207).
2. Ihre Macht und Machtausübung leite die Katholische Kirche nicht nur direkt von Christus ab, sondern auch aus einer früh einsetzenden „Verweltlichung“, auf Grund derer der „römische und feudale Stil der Machtausübung“ die Katholische Kirche geprägt habe. Und dies sei „eine der Hauptursachen für die Konflikte mit unserem Bewußtsein von den Menschenrechten“ (ebd. S. 187).
3. „Die Freiheit zu divergierendem Denken“ werde in der Katholischen Kirche unterdrückt (ebd. S. 189).
4. Im Protestantismus sei eine „neue Kirche“ entstanden, die als einzige „die Möglichkeit zu echter Kreativität und Freiheit gegenüber der Macht“ biete. (S. 193)
Dass Leonardo Boff sich damit in zentralen Punkten den Lehrmeinungen des Vatikans widersetzt, ist unverkennbar. Ratzingers Reaktion erscheint daher geradezu unvermeidlich. Im Jahre 1985 verhängt der Vatikan auf Betreiben Ratzingers eine Disziplinarstrafe über Boff: ein Verbot von Lehre, Vortrag und Veröffentlichungen im Rahmen eines sogenannten „Bußschweigens“ (das allerdings schon im Jahre 1986 vorzeitig aufgehoben wird). Wenig später erfolgt jedoch ein erneutes Lehrverbot. Daraufhin tritt Boff aus dem Franziskanerorden aus, legt sein Priesteramt nieder, heiratet und lehrt danach ohne kirchlichen Auftrag an der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro als Professor für Ethik und Religionswissenschaft. Hierzu bemerkt Nadja Weigel: „Er änderte damit seinen Weg, aber nicht seine Richtung. … Leonardo Boff kämpft weiter für das Reich Gottes, das durch die Armen repräsentiert wird, in einer Leidenschaft für das Evangelium.“ 131
Ungeachtet der päpstlichen Verurteilung hat die lateinamerikanische Bewegung in der gesamten Dritten Welt starken Widerhall gefunden. In politisch, philosophisch und religiös interessierten Kreisen der hochentwickelten Länder war diese Resonanz besonders stark in den 1970er und ‘80er Jahren. Dass sich dies inzwischen geändert hat, erklärt Leonardo Boff in einem 2013 in der Schweiz gehaltenen Vortrag vor allem mit dem Vordringen des neoliberalen Wirtschaftssystems. Da die Befreiungstheologie sich diesem Trend widersetze, solle sie nunmehr „unsichtbar gemacht werden“. 132 Das Medienecho falle inzwischen nur noch spärlich aus, weil die Befreiungstheologen ihren Widerstand und ihre Alternativen „heute weniger polemisch“ vortrügen (ebd.). Zu wachsendem Desinteresse habe auch der Nieder- und Untergang des Staatssozialismus in Osteuropa beigetragen.
Trotzdem zeigt Boff sich nicht pessimistisch, im Gegenteil. Als überaus ermutigend wertet er u.a. die Tatsache, dass in Lateinamerika inzwischen sogar konservative geistliche Würdenträger die „Option für die Armen“ übernommen hätten (ebd.). Aus einer religiös-sozialpolitischen Bewegung sei sogar eine allgemein-kulturpolitische geworden.
Große Hoffnungen setzt Boff auf Papst Franziskus, der bestrebt sei, die „Kirche der Armen“ neu zu beleben. Auf die Frage, ob Franziskus dabei auch die Befreiungstheologie erneuern werde, antwortet Boff:
„Rom hat entschieden, dass die Befreiungstheologie kein polemisches Thema mehr sein soll. Deswegen ist sie aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Doch dies bedeutet nicht, dass sie nicht existiert. Sie ist noch da und lebt weiter. Und jetzt mit diesem Papst wird sie wieder sichtbar. Früher galt Befreiungstheologie als marxistisch, heute ist sie katholisch. Das verändert die Atmosphäre in der Kirche.“ 133
Inwieweit Boff sich bei diesen Formulierungen von taktischem Gespür hat leiten lassen, mag dahingestellt bleiben. Auch mag die Rückwendung (?) des einstigen Papstkritikers zum Katholizismus Verwunderung auslösen; nicht jedoch, wenn man bedenkt, was „katholisch“ ursprünglich bedeutet, nämlich: „das Ganze, alle Menschen betreffend“. Auch in diesem universalen Anliegen berühren sich Marxismus und Christentum. (Wobei allerdings zu beachten ist, dass „das Ganze“ inzwischen nicht mehr überschaubar ist, und zwar weder in wissenschaftlicher noch in philosophischer Analyse. Vgl. Robra 2015, S. 121 ff.)
Folgerungen und Zusammenfassung
Aus den christlichen Soziallehren lässt sich eine Ethik der Verhaltenssteuerung nicht unmit-telbar ableiten. Beide Konzepte können aber relativ leicht miteinander verbunden werden. Ähnliches gilt für das Verhältnis des Christentums zum Demokratischen Ökosozialismus. In jedem Falle stellt sich sogleich die Frage, ob Menschen die genannten Konzepte überhaupt befolgen können. Spätestens seit Nietzscheund Freud geht man häufig davon aus, dass die menschliche Vernunft den Unwägbarkeiten des Irrationalen bzw. der Triebschicht nur selten Stand zu halten vermag. Nietzsche wollte dem abhelfen, und zwar durch die „Überwindung“ des vorfindlichen herkömmlichen Menschen durch einen völlig neuen, den „Übermenschen“. Abgesehen davon, dass Nietzsches Konzept nicht zuletzt auf einer großenteils verfehlten Kritik am verzerrten Christentum beruht, bleibt unbeantwortet die Frage, wie denn der „Über-mensch“ geschaffen werden soll.
Und bei Freud bleibt ebenso unklar, wie die Triebe, die er „großartig in ihrer Unbestimmt-heit“ nennt, wirksam kontrolliert werden können, so dass das Ich wieder „Herr im eigenen Haus“ wird. (Freud: „Wo Es war, soll Ich werden“, während er andernorts den Sexualtrieb als dominant und determinierend bezeichnet.)
Das Problem könnte als unlösbar gelten, gäbe es nicht inzwischen neue wissenschaftliche Erkenntnisse hinsichtlich der Beziehungen zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, so dass sich sogar eine neue Philosophie des Bewusstseins begründen lässt.
Die Bewusstseins-Frage ist, wahrscheinlich von existenzieller Bedeutung für die Zukunft der Menschheit. Werden die Menschen ihre Kontrolle über die „Geschöpfe des Prometheus“ – einschließlich der superintelligenten KI-Roboter – behalten können? Diese Frage stellen sich alle, die nachdenken. Umso wichtiger wird es, sich auf das zu besinnen, was unser Mensch-Sein ausmacht und auszeichnet – wozu zweifellos alles Bewusste und Unbewusste wesentlich gehört.
Aber was ist das Bewusstsein? Es ist das im und dem Menschen bewusste Sein, das sich in Empfindungen, Gefühlen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Sprache, Denken, Wissen, Ver-stand, Vernunft, Geist, Bewegung, Handeln, Arbeit, Kreativität, Phantasie, Kunst, Religion, Philosophie u.a.m. manifestiert .
Die neuen Erkenntnisse zu diesem Themenkomplex betreffen unmittelbar nicht nur die Philosophie im Allgemeinen, sondern auch die bei Experten und Nicht-Experten gängigen Auffassungen. Wenn das Unbewusste in hohem Maße vom Bewusstsein beeinflusst und sogar gesteuert wird, möchte man hierüber Genaueres erfahren. In einer Studie aus dem Jahr 2015 heißt es dazu:
„Unser Wille ist freier als gedacht
Sind wir Sklaven unseres Unbewussten und können nichts dagegen tun? Hirnforscher sagen: Nein! Unser Bewusstsein kontrolliert unbewusste Prozesse im Gehirn. Der Wille und die automatische Verarbeitung arbeiten Hand in Hand, nicht gegeneinander. Das hat eine Forschergruppe an der Universität Ulm herausgefunden.
<http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24954512>. …
Unbewusste Prozesse, die im Widerspruch zu unseren Absichten stehen, werden
weitgehend von unserem Bewusstsein blockiert. "Unser Wille istfreier als gedacht", sagt
Markus Kiefer, Wissenschafter an der Klinikfür Psychiatrie und Psychotherapie der Uni
Ulm.Seine Forschungsgruppe konnte mit Messungen der Hirnaktivität imMagnetreso-
nanztomographen (MRT) zeigen, dass bewusste Vorsätze dieArbeit unserer automa-
tischen Systeme im Gehirn steuern. Die Forscherwiesen erstmals nach, dass solche
Vorsätze für eine gewisse ZeitNetzwerke von Bereichen im Gehirn etablieren, die den
unbewusstenInformationsfluss im Gehirn steuern. …
Seit den Arbeiten des Begründers der Psychoanalyse Sigmund Freund wurde
unhinterfragt angenommen, dass unser Unbewusstes autonom und nicht vom Bewusstsein
kontrollierbar ist. "Die Vorstellung des chaotischen und unkontrollierbaren Unbewussten
prägt bis heute auch die akademische Psychologie und Kognitionsforschung. Dieses
Dogma wurde in der Vergangenheit kaum kritisch hinterfragt", sagt Kiefer.
Die neuen Befunde widerlegen diese Lehrmeinung. Sie zeigen eindeutig, dass unser
Bewusstsein zu den Absichten passende unbewusste Vorgänge in unserem Gehirn
verstärkt, nicht passende dagegen abschwächt. Dadurch werde gewährleistet, dass unser
bewusstes "Ich" Herr im Haus bleibt und nicht durch eine Vielzahl unbewusster
Tendenzen beeinflusst wird, erklärt Kiefer: "Wir sind also keinesfalls Sklaven unseres
Unbewussten, wie lange Zeit angenommen." …
Die bewussten Absichten und Einstellungen entscheiden somit darüber, ob ein
unbewusster Prozess in unserem Gehirn überhaupt ablaufen kann.“ 134
Diese Ergebnisse stimmen weitgehend mit denjenigen von Benjamin Libet (2005) überein. Dass sie allerdings nicht für die epigenetischen und sonstigen unbewussten Körperfunktionen gelten können, liegt auf der Hand. Frappierend ist dennoch a) das hohe Ausmaß der Kontrolle durch das Bewusstsein, b) die Vielfalt der Kooperation zwischen Bewusstem und Unbewuss-tem. Ohne die weit gefassten Begriffe für beide Sphären wäre es nicht möglich, den genannten Befunden und Erkenntnissen gerecht zu werden. Mit erheblichen Folgen für die komplexen Fragen von Ethik, Lebensführung, Gesundheitsfürsorge, Psychohygiene usw.
Außerdem: Nicht zu bestreiten ist, dass die Kontrolle durch das Bewusstsein nicht immer gelingt. Man denke nur an die relativ häufigen Fälle von krankhaften Veränderungen, Ungeschicklichkeiten, Bosheit, Kriminalität und sonstigen angeborenen und/oder erworbenen Beeinträchtigungen (darüber hinaus auch die durch Unfälle, Naturkatastrophen usw. verursachten Schäden). – Die Macht des Unbewussten ist – wie die des Bewussten – nicht zu überschätzen, aber auch nicht zu unterschätzen. Anscheinend aber müssen und können Balance und Maß individuell herausgefunden und hergestellt werden. Auch wenn unklar zu sein scheint, wo innerhalb einer Klassengesellschaft die Grenzen des freien Willens liegen. (Vgl. Robra 2024, S. 7 ff.)
Werte-Synthesen, die das Verhalten steuern (können)
Wenn das Bewusstsein in hohem Maße auch das Unbewusste im Menschen zu steuern vermag, betrifft dies unmittelbar auch dieWerte-Horizonte der Person. Diese sind nicht immer identisch mit denjenigen der geschichtlichen Überlieferung. Wert-Orientierung kann jede/r selbst finden, und zwar auch und gerade in Kombination mit Werte-Synthesen. Diese entstehen durchweg in größeren Zusammenhängen, und zwar im Wesentlichen wohl auf den Gebieten von Anthropologie, Psychologie, Ökonomie, Soziologie, Politik, Ökologie, Weltanschauungen, Ästhetik und Religion. Diesen Gebieten lassen sich Werte-Synthesen zuordnen, und zwar jeweils in größeren Zusammenhängen und entsprechend den Graden ihrer Akzentuierung, zumal die meisten dieser Synthesen aus Werten bestehen, die sich unterschiedlichen Lebens- und Seinsbereichen zuordnen lassen.
Allgemein gültig oder gar verbindlich können nur solche Werte sein, die überall auf der Welt anerkannt werden. Ein Kriterium, das bislang wohl nur selten erfüllt worden ist. Dazu gehören auf jeden Fall – wenn auch mit Einschränkungen – 1. die UN-Menschenrechts-erklärungen (seit 1948) und 2. die Erklärung zum Weltethos, beschlossen 1993 in Chicago vom „Weltparlament der Religionen“.
Für allgemein verbindlich wird allerdings keine dieser Erklärungen gehalten. Den Verfassern des ‚Weltethos‘ war kein Erfolg beschieden. Ihr Ziel, den Weltfrieden durch weltweiten Religionsfrieden zu sichern, haben sie leider nicht erreicht. Unüberwindbar scheinen weiterhin einige der religiösen Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten, so zwischen den drei monotheistischen Weltreligionen, aber auch gegenüber anderen Religionsgemein-schaften, zumeist auf Grund krass unterschiedlicher religiöser Theorien und Praktiken. Wo obendrein Religion noch zu machtpolitischen Zwecken missbraucht wird, kann es zu schwersten Konflikten bis hin zum Krieg kommen, wie sich – nicht erst seit „Nine Eleven 2001“ – immer wieder gezeigt hat.
Auswege aus dem Dilemma kann es wahrscheinlich nur dann geben, wenn sich die Erkenntnis verbreitet, dass auch allen religiösen Werten ein nicht-religiöses Werten zu Grunde liegt bzw. liegen kann. Verstärken lässt sich diese Einsicht, wenn man bedenkt, dass ein großer – vielleicht der größte – Teil der religiösen Werte-Synthesen im Grunde nicht-religiös, nämlich z.B. anthropologisch, sozial oder weltanschaulich, geprägt ist. – Nur 11 der ca. 75 von mir aufgeführten Werte-Synthesen sind völlig „religiös akzentuiert“. Während rund die Hälfte der anthropologisch akzentuierten Synthesen und je ein Viertel der sozio-ökonomisch, politisch und weltanschaulich geprägten Synthesen zumindest teilweise religiösen Ursprungs sind. So dass sich erahnen lässt, in wie hohem Maße religiöse Werte in nicht-religiöse integriert werden.
Außerdem ist ohne weiteres ersichtlich, dass auch die „religiös akzentuierten“ Synthesen durchaus in weltlicher Umgebung akzeptiert werden (können). Man denke nur an das von Juden und Christen ausgegangene Liebesgebot, an die christliche Sozialethik und die gemeinsamen Werte der Religionen (z.B. Gerechtigkeit, Anti-Rassismus, Anti-Fremdenhass, Frieden, Bewahrung der Umwelt).
Solche Gemeinsamkeiten sollten den Weg ebnen zu der Einsicht, dass auf religiöse Absolutheitsansprüche verzichtet werden kann und muss. Dann erst scheint es sogar denkbar, dass Werte-Synthesen aller Art grundsätzlich respektiert und toleriert werden.
Was natürlich noch immer keine Allgemeingültigkeit oder gar allgemeine Verbindlichkeit der Werte bedeuten würde. Letzteres ein hohes, ehrgeiziges Ziel, das zweifellos mit den UNO-Menschenrechtserklärungen angestrebt wird. Wogegen Angehörige nicht-abendländischer Kulturkreise erhebliche Vorbehalte erhoben und teilweise (z.B. im arabischen Raum) eigene, andersartige Menschenrechtserklärungen herausgegeben haben, die wiederum andernorts nicht anerkannt werden. Einige dieser Vorbehalte beziehen sich nur scheinbar auf die Texte der westlichen „Erklärungen“, so wenn sie die Betonung von Perönlichkeitsrechten kritisieren.
Gefährlich scheint mit hier die (zumindest tendenzielle) Gleichsetzung solcher Rechte mit problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen in westlichen Ländern. Woraus unmittelbar folgt, dass Rechte und Rechtserklärungen unwirksam sind, solange die tatsächlichen Entwicklungen ihnen Hohn sprechen, was nicht zuletzt in Folge der neoliberalen Globalisierung zu beklagen ist. Insofern sind die Menschenrechte allenthalben noch einzufordern, was mit Appellen an gemeinsame Werte allein nicht zu erreichen ist. (Und auch nicht mit einer zusätzlichen „Erklärung der Menschenpflichten“.) (Vgl. Robra o.J. (2020), S. 212 ff.)
Öko-Ethik
In der Natur folgt anscheinend auf jedes Vergehen ein neues Entstehen, wobei zu beachten ist, dass Materie und Natur als solche weder gut noch böse sind. Bedeutung gewinnen solche Schwarz-Weiß-Kategorien vielmehr erst in unseren Wertungen. Als böse empfinden und bezeichnen wir das sinnwidrig Zerstörerische, die sinnlose Vernichtung vermeintlicher Feinde, wie sie sich z.B. in der puren Mordlust zeigt, die angeblich, d.h. laut Wilhelm Reich und anderen, bereits in grauer Vorzeit im Tierreich begonnen hat.
Das sinnlos Zerstörerische wird auch als grausame Aggression oder als das Kriminelleschlechthin bezeichnet, das Hans Mohrdrastisch wie folgt beschrieben hat: „Wir alle wissen, daß die Neigung zum Quälen und Töten von Artgenossen beim Homo sapiens besonders ausgeprägt ist und eine entsetzliche Hypothek darstellt, die wir seinerzeit im Pleistozän aufgenommen haben und nicht mehr loswerden konnten. Mord, Totschlag, Folter und Genozid markieren die Kulturgeschichte des Menschen.“ 135
Was folgt daraus? Aggression, auch in ihrer zerstörerischen, sinnwidrigen Form der Bosheit, gehört zum genetischen Erbe der Menschheit. Eine schwere Hypothek, mit der jeder Mensch zu tun und zuweilen arg zu kämpfen hat, wobei Erziehung, Sozialisation, Umwelt- und Milieubedingungen und persönliches Erleben, z.B. von Frustration, Ablehnung und Zurückweisung, in hohem Maße mitwirken. Gut und Böse, positive und negative Neigungen ringen in uns nicht selten miteinander, wobei wir in den ursprünglichen, positiven Anlagen zu Kontakt, Kommunikation und Kooperation wertvolle Hilfe bei unseren Auseinander-setzungen mit dem Bösen erfahren können. Wo dies nicht gelingt, kann Kriminalität die Oberhand gewinnen.
Verständlich und wissenschaftlich bestätigt wird nunmehr jedenfalls, warum Kant es für ausgeschlossen hielt, Ethik auf Neigungen gründen zu können. Es gibt keinerlei Garantie dafür, dass die tief im Unterbewussten und Körperlichen verankerten Neigungen automatisch das Gute bewirken, für das wir normalerweise schon aus Gründen der Selbsterhaltung – spontan oder nach mehr oder weniger reiflicher Überlegung – uns zu entscheiden bereit sind. Wobei es natürlich nicht nur um uns selbst, um unser eigenes Person-Sein geht, sondern ebenso um dasjenige unserer Mitmenschen So dass hier nicht nur das „radikal Böse“, sondern auch die Frage nach dem Person-Sein eine Rolle spielt. Es sind existenziell bedeutsame ethische Probleme, die Kant vor allem im Zusammenhang mit seinen Erörterungen des Kategorischen Imperativs behandelt hat, den ich allerdings zu einer legitimen Forderung umformuliere – so dass der Kat. Imp. zwar weitgehend seine Gültigkeit behält, jedoch nicht als Pflicht- und Sollensethik mit Absolutheitsanspruch, sondern als personale Wertethik. Meine legitime Forderung lautet:
Achte bei allem, was Du tust, darauf, Dich selbst und Deine Mit-Menschen als Rechtspersonen und Persönlichkeiten zu respektieren und möglichst stets das Sittengesetz zu befolgen.
„Möglichst“ deshalb, weil es Ausnahmesituationen gibt, wie z.B. die der Notwehr, in denen die Rechte der eigenen Person gegen existenzielle Bedrohungen und Rechtsbrüche jeder Art zu verteidigen sind.
Unter dieser Voraussetzung halte ich es für möglich, die Ethik der Person durch eine Ethik der Natur zu ergänzen, wofür ich eine Naturformel des Kategorischen Imperativs vorgeschlagen habe, in der die Tatsache berücksichtigt wird, dass im Umgang mit der Natur legitime Interessenabwägungen erforderlich sein können. Es ist eine Formel, die nicht die noch im Gange befindlichen Diskussionen über (mögliche) Rechte der Natur, der Umwelt, der Tier- und Pflanzenwelt (Natur-, Öko-, Tierrechte) präjudizieren kann oder soll. Sie lautet:
Verhalte Dich so, dass Du die Natur in jeder Person und in jeder anderen Erscheinungsform stets als Zweck – und als Mittel nur zu ethisch begründbaren und moralisch vertretbaren Zwecken – behandelst.
Wenn nun zu klären ist, welche konkreten Rechte und Pflichten sich mit dieser neuen Formel begründen lassen, stellt sich die Frage nach der Legitimierung entsprechender gesetz-geberischer Maßnahmen. Was ist legitim? Rechtspositivistisch zweifellos das aktuelle geschriebene und gesprochene Recht. Und in Fällen staatlicher Willkür? Oder gar in Unrechtsstaaten? Da hilft zunächst wohl nur die naturrechtliche Anerkennung des Eigenwerts der Natur und des Selbstzwecks der Person, die auch in Kants Zweckformel des Kategorischen Imperativs enthalten ist, wozu meine Naturformel lediglich als Ergänzung dient.
Zusammenfassung. Ethiken der Verhaltenssteuerung
1. Schon dem Ur-Ethos der Ur-Völker liegen Wertungen zu Grunde, während die Werte selbst sich allmählich herausbilden, sich verändern und auch wieder verschwinden (können.
2. Zu den Zehn Geboten: Aus den u.a. im Sittengesetz enthaltenen 10 Geboten ist nach wie vor moralisch-sittliche Orientierung zu gewinnen. Mit ihnen allein lässt sich aber keine verbindliche Ethik der Verhaltenssteuerung begründen, und zwar vor allem deshalb nicht, weil die 10 Gebote als solche heute keine Rechtsverbindlichkeitmehr implizieren.
3. Auch fast allen religiösen Werten scheinen nicht-religiöse Werte und Wertungen zu Grunde zu liegen.
4.‚Parlament der Weltreligionen‘ (1993), Leitsätze einer Erklärung zum Weltethos : 1. Gewaltlosigkeit und Ehrfurcht vor allem Leben, 2. Solidarität und gerechte Wirtschafts-ordnung, 3. Toleranz und Leben in Wahrhaftigkeit, 4. Gleichberechtigung und Partnerschaft von Mann und Frau, jeweils als kulturell verpflichtend, d.h. als Verpflichtung zu entsprechendem Handeln. (Als ethische Richtschnur soll für alle die Goldene Regel gelten!)
5. Kant(1785) zur Goldenen Regel: „... es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere …, endlich nicht der schuldigen Pflichten gegeneinander …“
6. Christentum.Das Neue an der Wertlehre Jesu auf einen einfachen Nenner gebracht: die seinerzeit völlig neue Begründung der Würde des Menschen in der Gleichheit aller Menschen vor Gott.
7. Jesus gibt sich selbst als eine der obersten Normen aus, indem er erklärt, er sei „der Weg und die Wahrheit und das Leben“. Daher kann es auch als Kritik am Bestehenden verstanden werden, wenn er sagt, sein Reich sei „nicht von dieser Welt.“
8. Das Wesen der Liebe hat Paulus in seinem ‚Hohenlied der Liebe‘ eindrucksvoll dargelegt, und zwar im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes.
9. Glaube, Liebe und Hoffnung sind als Grundwerte des christlichen Person -Seins anzusehen.
10. Die Werte-Hierarchie des Augustinus hat zu bedauerlichen Fehlentwicklungen geführt oder beigetragen, z.B. zu Intoleranz gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen.
11. Wie kaum ein anderer verkörperte Franz von Assisi die Ideale des wechselseitigen Respekts aller Kreaturen und der völligen Gleichheit in der Brüderlichkeit. Jacques le Goff: „ Die Kritik des Geldes und der Bankiers, die Armut und die Solidarität bringen San Francesco unseren Sorgen sehr nahe, besonders zur Krisenzeit.“
12. Zu Thomas von Aquin: „Die Kardinaltugenden werden bestimmt als die bestmögliche Verfassung der natürlichen Vermögen. So ist der Vernunft die Weisheit und Klugheit, dem Willen die Gerechtigkeit, dem Streben die Tapferkeit und dem Begehren die Mäßigkeit zugeordnet.“
13. Zu Meister Eckhart: „An die Stelle des absoluten Subjekts jenseits der menschlichen Subjektivität, zu dem der augustinische und nominalistische Voluntarismus Gott verabsolutiert hatte, tritt die Vermittlung von göttlicher und menschlicher Subjektivität.“
14. Zu Martin Luther: Festzuhalten bleibt wohl, dass hinsichtlich des Menschenbildes nicht die pessimistischen Auffassungen von Moses, Paulus, Augustin und Luther als wertvoll gelten können, wohl aber die entsprechenden Lehren u.a. von Aristoteles und Thomas von Aquin, denen sich im 18. Jahrhundert u.a. Jean-Jacques Rousseauangeschlossen hat. – Posi-tiv ist dagegen Luthers „Allgemeines Priestertum“ mit der daraus folgenden Pluralisierung in der Gesellschaft.
15. Zu Thomas Müntzer: Es scheint geboten, endlich aus der Geschichte zu lernen, d.h. auch und gerade aus dem, was unerschrockene Kämpfer („Geschichtsheroen“?) wie Thomas Müntzer und Karl Marx versucht haben. Zu tragischen Gestalten würden beide nur dann, wenn niemand mehr bereit wäre, sich mit ihnen zu beschäftigen, von ihnen und ihrer Geschichte zu lernen, bei ihnen Antworten auf die unabweisbaren Wert-, Norm- und Sinnfragen zu suchen.
16. Christlicher Sozialismus. F. R. de Lamennais ist es gelungen, Ideen des Christentums, des Sozialismus, des Liberalismus und sogar des Marxismus in neuen Synthesen zu vereinigen.
17. Theologie der Befreiung. Als überaus ermutigend wertet Leonardo Boff (2013) die Tatsache, dass in Lateinamerika inzwischen sogar konservative geistliche Würdenträger die „Option für die Armen“ übernommen hätten (ebd.). Aus einer religiös-sozialpolitischen Bewegung sei sogar eine allgemein-kulturpolitische geworden.
18. Die Katholische Soziallehre ruht philosophisch und theologisch auf mindestens drei Säulen: 1. dem Naturrecht, 2. den Lehren des Thomas von Aquin und des Neuthomismus, 3. dem Personalismus.
19. Die Evangelische Sozialethik. Die „Freiheit eines Christenmenschen“ liegt wahrscheinlich in seinem Vertrauen auf die eigenen, letztlich von Gott gegebenen Kräfte, darunter auch die Willens- und Gewissensfreiheit.
Exkurs: Andere, nicht-christliche Religionen
20. Hinduismus, ‚Dharma‘: „die Praxis der persönlichen und sozialen Verantwortlichkeit innerhalb der kosmischen Ordnung“.
22. Buddhismus, Werte-System: 1. Weisheit und Wissen, dazu: rechtes Denken, Gedenken, Erkennen und Glauben, 2. Ethik und Moral , mit Verhaltensregeln zum Reden, Handeln bzw. zum Leben im Ganzen, 3. Sammlung und Meditation: „rechtes Sich-Versenken“.
23. Wichtiger als der Glaube ist im Islam, ähnlich wie im Judentum (!), das rechte Handeln des Menschen, das umso stärker reglementiert wird, und zwar durch die Scharia, die Rechtsordnung, das Gesetz, das „die Gesamtheit der auf die Handlungen des Menschen bezüglichen Vorschriften Allahs“ umfasst.
24. Sufis und Aleviten. Dass der Islam nicht zwangsläufig auf einen Fundamentalismus hinauslaufen muss, zeigt sich an islamischen Glaubensgemeinschaften wie denen der Sufis und der Aleviten, die weniger die Gründe des Gesetzes und des Buchstabens als vielmehr die Gründe des Herzens und der Menschlichkeit betonen und damit den Wünschen und Sehnsüchten des Volkes entgegenkommen. 136
Literaturhinweise
Bauer, Aaron (2022): Predigten im Dreißigjährigen Krieg , in:
https://www.leo-bw.de/themenmodul/dreissigjaehriger-krieg/quellengattungen/predigten
Baumann-Hölzle 2023:Der Mensch und sein Hang zum Bösen, in: https://www.dialog-ethik.ch>kommentare-zur-zeit
Bergmeier, Rolf: Interview in: https://hpd.de/artikel/buch-schuettelt-den-sakristei-staub-den-geschichtsbuechern-15744
Bergmeier, Rolf 2018: Machtkampf. Die Geburt der Staatskirche. Vom Sieg des Katholizismus und den Folgen für Europa , Aschaffenburg
Bloch, Ernst 1959:Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M.
Bloch, Ernst 1968:Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs,Frankfurt a.M.
Boff/Kern/Müller (Hrsg.) 1988: Werkbuch Theologie der Befreiung , Düsseldorf
Brocker, Manfred / Stein, Tine (Hrsg.) 2006:Christentum und Demokratie, Darmstadt
De Federicis, Nico 2019: Kants Theorie der Demokratie , in:
https://arpi.unipi.it/retrieve/handle/11568/915168/370421/
Descartes 1953: Les Principes de la Philosophie,in: Oeuvres et lettres (ed. par André Bridoux), Paris
Detmers, Achim: 'Arbeit macht frei'. Peinliche Fehlurteile: Calvin als Vater der deutschen Vernichtungslager, in: https://www.calvin09.de/2326-0-105-21.html
Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus https://de.wikipedia.org/wiki/Die_protestantische_Ethik_und_der_Geist_des_Kapitalismus
Doherty, John F. 2023: The Christian Philosophy of René Descartes: Rethinking the Origins of Modern Secularism , in: https://www.thepublicdiscourse.com/2023/04/88236/
Eklkofer / Demmelhuber 2015: Die Geschichte der Inquisition.Gesinnungsterror im Namen Gottes , in: https://www.br.de › ... › radioWissen › Religion
Erbsünde,in: https://de.wikipedia.org/wiki/Erbsünde
Flasch, Kurt 2010: Wert der Innerlichkeit, in: Hans Joas / Klaus Wiegandt Hrsg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a.M. 2010
Friedell, Egon 2009: Kulturgeschichte der Neuzeit – Die Krisis der Europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg , Zürich
Gerhardt, Gerd 1992: Grundkurs Philosophie 2, Ethik Politik, München Godfrey, Robert 2020: Die Kreuzzüge,
https://www.evangelium21.net/media/1824/die-kreuzzuege
Godfrey, Robert 2020: Die Kreuzzüge,
https://www.evangelium21.net/media/1824/die-kreuzzuege
Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde,in: https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCtergemeinschaft_der_Jerusalemer_Urgemeinde arx,
Hoye, William J.: Die religiös-kulturellen Wurzeln westlich demokratischer Verfassungen , in: file:///E:/demokratie.goslar-vortrag.pdf
Kant, Immanuel 1956: Kritik der reinen Vernunft (1781/87), Hamburg
Kant, Immanuel 1965: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Hamburg
Kant, Immanuel 1967: Kritik der praktischen Vernunft (1787), Hamburg
Kurz, Robert 2001:Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, München
Leonhardt, Rochus 2017: Religion und Politik im Christentum. Vergangenheit und Gegenwart eines spannungsreichen Verhältnisses, Baden-Baden
Libet, Benjamin 2005: Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, Frankfurt a.M.
Marx, Karl 1962:Frühe Schriften, Band I, Stuttgart
Marx, Karl 1964:Die Frühschriften, Stuttgart
Marx, Karl 2005: Das Kapital (1867), Köln
Martin, Hans-Peter/ Schumann, Harald 1996, Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Freiheit, Demokratie und Wohlstand , Reinbek
Mathies, P. De: Das "Gottesgnadentum" in der modernen Gesellschaft , in:
https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=alp-003%3A1917%3A18%3A%3A660
Münkler, Herfried 2018:Der Dreißigjährige Krieg, in:
https://www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/der-dreissigjaehrige-krieg
Nathan, Peter 2003: Die Schatten des Augustinus, in: https://www.vision.org/de/die-schatten-des-augustinus-959
Neumann, Stephan U.: Befreite Kirche – Befreite Kultur ,
http://www.christ-in-der-gegenwart.de/aktuell/artikel_angebote_deta…
Nietzsche, Friedrich 1973: Werke in zwei Bänden, München
Robra, Klaus 2003:Und weil der Mensch Person ist. Person-Begriff und Personalismus im Zeitalter der (Welt-)Krisen, Essen
Robra, Klaus 2015:Wege zum Sinn, Hamburg
Robra, Klaus o.J. (2020):Ethik der Verhaltenssteuerung. Eine Neubegründung, München, https://www.grin.com/document/923015
Robra, Klaus 2022:Gut und Böse. Das Gute als Ursprung und Überwindung des Bösen – oder umgekehrt? Eine neue Hypothese, München
Robra, Klaus o.J. (2022): Ist das Christentum am Ende? Zu den Kritiken von Marx, Nietzsche, Dawkins, Kahl und Bauer. Mit einem Ausblick auf den progressiven Säkularismus, München, https://www.grin.com/document/1246983
Robra, Klaus 2024:Individualpsychologie oder Bewusstseins-Philosophie? Mit einem Rückblick auf Alfred Adler, München, https://www.grin.com/document/1449008
Robra, Klaus o.J.:Sind die Diktatur des Proletariats und die Bürokratie das Ende des Sozialismus? Die Frage nach Auswegen aus den Sackgassen, München, https://www.grin.com/document/1032082
Rohls, Jan 1999: Geschichte der Ethik, Tübingen
Saas, Hannes 2012:Die spanische Inquisition: Ein staatliches Machtinstrument mit erheblichem Einfluss auf die Gründung einer einheitlichen Nation, in: https://www.grin.com/document/207994
Schmid, Thomas 2020:Wie christlich ist die CDU? Zum 75. Geburtstag der großen Volks-partei, in: https://schmid.welt.de/2020/06/26/wie-christlich-ist-die-cdu-zum-75-geburtstag-der-grossen-volkspartei/
Schwarz, Gerhard 2016:Gute Christen denken kapitalistisch, ‚Neue Zürcher Zeitung‘ vom 19.12.2016, in: https://www.nzz.ch/feuilleton/zeitgeschehen/christentum-und-kapit...
Seifert, Josef Maria 2021:Hans Küng – Prediger des Weltfriedens und Weltethos – Kämpfer gegen viele Lehren der katholischen Kirche, in: https://proecclesia.ch>uploads>2021/06>Ru...
Sternberger, G. (Hrsg.) 1994: 2000 Jahre Christentum – Illustrierte Kirchengeschichte in Farbe , Erlangen
Störig, Hans Joachim 1961:Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart
Stückelberger, Christoph (2009): Keine Zinsen von den Armen. Calvins Wirtschafts- und Bankenethik , in: https://www.christophstueckelberger.ch/wp-content/uploads/ 2017/07/ calvinswirtschaftsethik-2.pdf
Studie: Unser Wille ist freier als gedacht (2015)
https://www.derstandard.at/story/2000011387060
Vogel, Christian 1989: Vom Töten zum Mord. Das wirkliche Böse in der Evolutions-geschichte , München / Wien
Vorländer, Karl 1967:Philosophie der Neuzeit. Die Aufklärung. Geschichte der Philosophie V, Reinbek
Weber, Max (1904/05): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus , in: https://www.deutschlandfunk.de/max-weber-das-stahlharte-gehaeuse-des-kapitalismus-100.html
Weigel, Nadja 2009: Theologie der Befreiung – Entstehungsgeschichte und der Fall des Leonardo Boff, München
[1] Klaus Robra: Und weil der Mensch Person ist…,Essen 2003, S. 31
[2] Vgl. Seifert 2021
[3] Bloch 1959, S. 1487 f.
[4] Vgl. Robra 2015, S. 42 ff.
[5] Bloch 1959, S. 1488
[6] In: https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCtergemeinschaft_der_Jerusalemer_Urgemeinde
[7] In: https://de.wikipedia.org/wiki/Erbsünde
[8] Nathan 2003, in: https://www.vision.org/de/die-schatten-des-augustinus-959
[9] Plotin: Das Gute (Das Eine),in: Ausgewählte Einzelschriften, Heft 1, Hamburg 1968, S. 57
[10] Zitiert von Frauke Kurbacher: Das ‚sündige Selbst‘, in: http://www.theomag.de/66/fk12.htm , S. 5
[11] Augustinus: De civitate dei, zitiert in: dtv-Atlas Philsosophie, S. 71
[12] Vgl. J. Rohls: Geschichte der Ethik, S. 155-163
[13] Augustinus: De civitate dei, in: G. Sternberger (Hrsg.) 1994, S. 169
[14] Vgl. Klaus Wolschner: Augustinus: Der letzte antike Philosoph und die neue (christliche) Logik des Schreckens , in: http://www.medien-gesellschaft.de/html/augustinus.html , S. 2
[15] Vgl. Theologische Rechtfertigung der Kreuzzüge, in: http://geschichtszentrum.de/?p=1064 , S. 1
[16] Vgl. Konrad Hilpert : Augustinus und die kirchliche Sexualethik , in:
http://epub.ub.uni-muenchen.de/4388/1/4388.pdf , S. 372 f. Ferner: Robra 2015, S. 59 ff.
[17] In: „Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen“,in: http://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/ab...ideengeschichte/mitarbeiter_innen/roth/ ..., S. 1
[18] Thomas Martin Schneider: Freiheit bei Martin Luther, in: http://ekkt.ekir.de/trier/fileadmin/user_upload/gemeinden/trier/Freiheit_bei_Martin_Lut her, S. 1
[19] Zitiert von Klaus von Stosch: Freiheit als theologische Basistheorie? , in:
http://kw.uni-paderborn.de/fileadmin/kw/institute/einrichtungen/kath ..., S. 11
[20] H. Hohnsbein, in: http://www.sopos.org/aufsaetze/526e250266b99/1.phtml , S. 4
[21] Vgl. Robra 2015, S. 85 ff.
[22] In: Nietzsche 1973, Bd. II
[23] Dazu passt die Tatsache, dass Nietzsche gelegentlich Sympathie für Jesus und seine Lehre erkennen lässt, so in Der Antichrist , Nr. 32, 34 und 35. Einige Kritiker sehen in Nietzsche nicht nur einen Gottesleugner, sondern auch einen (verzweifelnden) Gottsucher.
[24] Vgl. Nietzsche 1973,Bd. II, S. 511
[25] Vgl. Robra o.J. (2022), S. 20 ff.
[26] In: ‚Der große Ploetz. Die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte‘ , 32. Aufl. 1998, S. 372
[27] Bergmeier, in:https://hpd.de/artikel/buch-schuettelt-den-sakristei-staub-den-geschichtsbuechern-15744
[28] Vom Christentum entwirft Bergmeier hier ein wesentlich differenzierteres, zutreffenderes Bild als in seinem 2012 erschienenen Buch Schatten über Europa – Der Untergang der antiken Kultur (Aschaffenburg), wo er das Christentum noch pauschal verurteilte und verunglimpfte. Hierzu auch: Robra 2015, S. 81-84.
[29] In seinem Erlass vom 28. 2. 380 schreibt Kaiser Theodosius: „ Nur diejenigen, die diesem Gesetz folgen, sollen katholische Christen heißen; die anderen, die wir für wahrhaft toll und wahnsinnig erklären, haben die Schande ketzerischer Lehre zu tragen.“ (In: Bergmeier 2018, Motto)
[30] Max Weber in: Bergmeier 2018, S. 170
[31] Bergmeier a.a.O. S. 175
[32] Vgl. https://www.nachhilfe-team.net/lernen-leicht-gemacht/kreuzzuege/#SiebterLetzter_Kreuzzug_1270
[33] In: https://www.welt.de/geschichte/article166660980/So-mordeten-Glaubenskrieger-beim-ersten-Kreuzzug-in-Jerusalem.html
[34] Godfrey 2020,in:https://www.evangelium21.net/media/1824/die-kreuzzuege
[35] Godfrey a.a.O.
[36] Vgl. Christian Feldmann: Die Geschichte der Inquisition.Gesinnungsterror im Namen Gottes, in: https://www.br.de › radio › radiowissen › religion
37 In: https://www.br.de › ... › radioWissen › Religion
38 Saas 2012, in: https://www.grin.com/document/207994
39 Vgl. https://de.wikisource.org/wiki/Die_Juden_im_Ghetto_zu_Rom_und_die_heilige_Inquisition
40 https://de.wikipedia.org/wiki/Dreißigjähriger_Krieg
41 Münkler in: https://www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/der-dreissigjaehrige-krieg
42 A. Bauer 2022 in: https://www.leo-bw.de/themenmodul/dreissigjaehriger-krieg/quellengattungen/predigten
43 J. Denker: Doppelte Prädestination – Trostlehre für Verfolgte oder zynische Theologie? In:
http:/cms.reformset-ronsdorf.de/attachments/083_DoppeltePrädestination.pdf, S. 5 f.
44 Vgl. Calvin: Institutio …, in: http://www.calvinismus.ch/wp-content/uploads/03institutio.htm , S. 386
45 Achim Detmers: 'Arbeit macht frei'. Peinliche Fehlurteile: Calvin als Vater der deutschen Vernichtungslager, in: https://www.calvin09.de/2326-0-105-21.html
46 Christoph Stückelberger (2009): Keine Zinsen von den Armen. Calvins Wirtschafts- und Bankenethik , in:
https://www.christophstueckelberger.ch/wp-content/uploads/2017/07/calvinswirtschaftsethik-2.pdf , S. 5
47 In: https://www.folgemirnach.de/2009-03-bibelstudium-der-streit-um-die-auserwaehlung-oder-tulip-die-fuenf-
48 https://de.scribd.com/document/209794760/Fleischmann-Christoph- , S. 11
49 Max Weber a.a.O., in: https://www.deutschlandfunk.de/max-weber-das-stahlharte-gehaeuse-des-kapitalismus-100.html , S. 6
50 Karl Marx: Das Kapital (1867), Köln 2005, S. 179
51 In: Karl Marx zur entfremdeten Arbeit, http://www.luk-kormacher.de/Schule/VWLÖ/zitate69htm, S. 3, a.a.O. auch Weiteres zum Problem Entfremdung, vgl. Robra 2015 , S. 410 ff.
52 Marx, zitiert in:http://www.marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_p/parlament.html
53 Marx 1964, S. 224
54 s. Klaus Robra: Und weil der Mensch Person ist …,Essen 2003, u.a. S. 168 f.
55 Karl Marx: Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 342
56 Karl Marx / Friedrich Engels: Kommunistisches Manifest, MEW 4, S. 482
57 Vgl. Mathies, P. De: Das "Gottesgnadentum" in der modernen Gesellschaft , in:
https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=alp-003%3A1917%3A18%3A%3A660
58 in: https://de.wikipedia.org/wiki/Gottesgnadentum
59 In: Markus Veinfurter: Queen Elisabeth. Eine Königin von Gottes Gnaden ,
https://religion.orf.at/stories/3211288/ , S. 2. Veinfurter stellt fest: „By the Grace of God" – so die englische Formel – ist Elisabeth II. Königin des „Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland“ (wie es mit vollem Namen heißt) und durch das Erbe des „British Empire“ von 14 weiteren Staaten (darunter Australien, die
Bahamas und Kanada).
60 https://de.wikipedia.org/wiki/Gottesgnadentum
61 Popper a.a.O., in: Ch. Fehige, G. Meggle u. U. Wessels (Hrsg.): Der Sinn des Lebens, München 2000, S. 166
62 In: https://www.bpb.de/themen/religion-ethik/504958/das-verhaeltnis-zwischen-kirche-und-staat-im-nationalsozialistischen-deutschland/
63 In: 1933 als religiöses Erweckungserlebnis, https://www.tagesspiegel.de/wissen/vom-kreuz-zum-hakenkreuz-6181264.html
64 In: https://material.rpi-virtuell.de/themenseite/kirche-im-nationalsozialismus/
65 In: Die Rolle der deutschen Geistlichen und Kirchenführer,
https://encyclopedia.ushmm.org/content/de/article/the-role-of-clergy-and-church-leaders
66 In: https://www.tichyseinblick.de/autoren/achijah-zorn/>
67 In: https://www.nzz.ch/feuilleton/zeitgeschehen/christentum-und-kapit...
68 In: https://matthias-wiesmann.ch/112-kapitalismus-und-kirche-in-den-...
69 In: http://www.neldeliriononeromaisola.it/2014/04/75221/ , Hervorhebungen und Übersetzung durch mich.
70 Vgl. Robra 2015, S. 69 ff.
71 In: Gerhardt 1992, S. 146
72 In: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Gewissen&printable=yes , S. 6
73 Näheres hierzu in: http://www.ik-augsburg.de/pdf/berichte/Buch/2003.pdf , S. 94 ff.
74 In: G. Gerhardt a.a.O. S. 146
75 Vgl. http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/thomas-von-aquin.html
76 Vgl. Robra 2015, S. 75 ff.
77 Rohls 1999, S. 234; vgl. Robra 2015 S. 80 f.
78 Luibl in: https://www.sonntagsblatt.de/artikel/spiritualitaet-mystik/meister-eckhart-gott-und-mensch-gehoeren-zusammen
79 In: https://www.mgh.-bibliothek.de/dokumente/a/a053847.pdf , S. 9
80 Friedell 2009, S. 188
81 Vgl. Robra 2015, S. 172 f.
82 Friedell a.a.O. S. 151
83 Vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, a.a.O. S. 590 ff.
84 Vgl. Robra 2015, S. 170 ff.
85 Luther, Zitat bei Thomas Martin Schneider: Freiheit bei Martin Luther , in: http://ekkt.ekir.de/trier/fileadmin/user_upload/gemeinden/trier/Freiheit_bei_Martin_Luther , S. 5
86 Erich Auerbach: Das französische Publikum des 17.Jahrhunderts, in: Münchner Romanistische Arbeiten, 3. Heft, 1933, S. 48
87 Vgl. Dominik Perler: René Descartes, München 1998, S. 213
88 Vgl. Fritjof Capra: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, Bern 1983, S. 55-62, 232
89 So dass das menschliche Subjekt kein bloßes ‚subiectum‘, ein dem Ganzen des Seins „unterworfenes“ Wesen mehr ist! Vgl. Ferdinand Alquié: La découverte métaphysique de l’homme chez Descartes , Paris 1950, S. 346
90 Vgl. ders. a.a.O. S. 299
91 Vgl. Thomas Görnitz / Brigitte Görnitz: Die Evolution des Geistigen , Göttingen 2009, S. 17 et passim. Ferner Klaus Robra:Kann das Leib-Seele-Problem durch einen dialektisch-materialistischen Informationsbegriff gelöst werden? In: Polyphone Dialektik , VorSchein Nr. 30, Jahrbuch 2008 der Ernst-Bloch-Assoziation, Nürnberg 2008, S. 145-161; sowie Robra 2015, S. 188 ff.
92 R. Specht in: https://referenceworks.brillonline.com/search?s.rows=50&s.au=%22Specht%2C+R.%22
93 Vgl. Descartes 1953, S. 471
94 Pierre Gassendi. http://www.philos-website.de/autoren/gassendi_g.htm , S. 17
95 Vgl. Robra 2015, S. 202 ff.
96 Vgl. Jürgen Grimm (Hrsg.): Französische Literaturgeschichte , Stuttgart 1994, S. 200
97 Vgl. Curt Friedlein: Lernbuch und Repetitorium der Geschichte der Philosophie , Hannover 1968, S. 198
98 Vgl. Robra 2015, S. 215
99 Rousseau, Jean-Jacques: Emil oder Ueber die Erziehung, Zweiter Band, Viertes Buch
100 Christian Modehn (2012): 300 Jahre Jean – Jacques Rousseau,
in: https://religionsphilosophischer-salon.de/keys/rousseau-und-jesus
101 Rousseau, zitiert von Karl Vorländer 1967, S. 72.
102 Vgl. J.-J. Rousseau: Du Contrat Social, Paris (Classiques Larousse) 1953, S. 107, Anmerkung Nr. 2
103 Hierzu Rousseau: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ – und, sinngemäß: Alles ist gut so, wie es aus der Hand des Schöpfers kommt; alles wird schlecht in der Hand des Menschen!
104 Vgl. Robra 2015, S. 227 ff.
105 Kant, in: Eisler a.a.O. S. 80 f.
106 In: https://arpi.unipi.it/retrieve/handle/11568/915168/370421/
107 De Federicis a.a.O. S. 1
108 Kant 1967, S. 36
109 Kant 1965, S. 52
110 Kant 1965, S. 18
111 Kant 1965, S. 58
112 Kant 1965, S. 43
113 Kant 1956, S. 526
114 Vgl. Kant 1967, S. 140-153
115 Vgl. Eisler 1964, S. 4
116 Zitiert von Eisler a.a.O. S. 5
117 Vgl. Robra o.J. (2020), S. 3 ff.
118 G. Washington, zit. von William J. Hoye: Die religiös-kulturellen Wurzeln westlich demokratischer Verfassungen , in: file:///E:/demokratie.goslar-vortrag.pdf , S. 11
119 In: Christlicher Nationalismus (2021), https://css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CSSAnalyse288-DE.pdf
120 In: https://horst-koch.de/freiheit-gleichheit-bruederlichkeit/
121 In: https://www.kirche-im-swr.de/beitraege/?id=4082
122 In: https://austrian-institute.org/de/ blog/politische-moral-der-freiheit
-das-liberale-vermaechtnis-der-franzoesischen-revolution-in-atlantischer-perspektive/
123 In: https://www.erf.de/lesen/themen/glaube/mein-lieblingstext-in-der-bibel-7/2803-542-6144
124 In: https://aa-welt.de/store/Engel1/schwesterlichkeit.htm
125 Vgl. Borgetto, in: https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-frankreich-freiheit-gleichheit-bruederlichkeit-100.html
126 Vgl. Die Radikalisierung der Französischen Revolution, in: www.buehler-hd.de/gnet/neuzeit/frz.rev/radikalis.pdf
120 In: Meyers Taschenlexikon in 10 Bänden, Mannheim 1996
121 Wikipedia. Christlicher Sozialismus, htpp://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Christlicher_Sozialismus&printable=yes , S. 2-3
122 http://www.berliner-zeitung.de/archiv/das-war-die-ueberzeugung-de ..., S. 2
123 Herbert Pribyl: Die Bedeutung des Naturrechts für die katholische Soziallehre.
http:/www.bmlv.gv.at/pdf_pool/publikationen/20020905_ethica2002_pribyl.pdf
124 In: Christian Moser: Schlüsselbegriff Nachhaltigkeit: Schneller Profit zerstört langfristigen Wohlstand. www.polak.at/fileadmin/media/news/dokumente/nachhaltigkeit.pdf
125 Vgl. Wikipedia: Christliche Soziallehre, S. 3
126 Vgl. Boff/Kern/Müller (Hrsg.): Werkbuch Theologie der Befreiung , Düsseldorf 1988, S. 32 ff.
127 Nadja Weigel: Theologie der Befreiung – Entstehungsgeschichte und der Fall des Leonardo Boff, GRIN Verlag 2009, S. 6
128 Jan Rohls: Geschichte der Ethik, a.a.O. S. 691
129 Man beachte die Parallelität der historischen Ereignisse: 1981 beginnen die französischen Sozialisten und Kommunisten mit dem Versuch, ihr ‚Projekt‘ in die Tat umzusetzen.
130 Der Fall Boff, Düsseldorf 1986, S. 185 ff.
131 N. Weigel a.a.O. S. 9 f.
132 In: Stephan U. Neumann: Befreite Kirche – Befreite Kultur ,
http://www.christ-in-der-gegenwart.de/aktuell/artikel_angebote_deta…, S. 1
133 In: http://www.christundwelt.de/detail/artikel/befreiungstheologie-war ... , S. 3 (Christ & Welt, Ausgabe 31/2013)
134 In: Studie: Unser Wille ist freier als gedacht (2015), https://www.derstandard.at/story/2000011387060 S. 1, Hervorhebungen KR
135 H. Mohr, in: Christian Vogel: Vom Töten zum Mord. Das wirkliche Böse in der Evolutionsgeschichte , München / Wien 1989, S. 110
136 Vgl. Robra o.J. (2020), S. 212-330
- Citation du texte
- Klaus Robra (Auteur), 2024, Christliche Grundlagen der Demokratie. Ist Jesus ein Demokrat?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1466935
-
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X.