Das neugewonnene Interesse der Geistes- und Kulturwissenschaften am Bild führt dazu, dass sich mehr und mehr eine eigene Bildtheorie oder gar -wissenschaft herauskristallisiert, die versucht, die medialen Grundeigenschaften von Bildern zu klären.
Eine unter bildtheoretisch interessierten Forschern weitverbreiteten Strategie zur Festlegung eines Forschungsfundaments besteht darin, den Begriff des Bildes zunächst von dem der Sprache abzugrenzen.
Doch dabei offenbart sich eine zu naive Auffassung von Sprache. Insbesondere wird kaum zwischen oraler Sprache und Schrift unterschieden. Allzu oft vergleichen Theoretiker Bilder mit Schrift und nicht mit oraler Sprache, ohne dies zu bemerken.
Die These dieser Arbeit lautet, dass gesprochene und geschriebene Sprache zwei verschiedene Medien sind. Dass Medien sich ihrem Inhalt gegenüber nicht neutral verhalten, sondern diesen prägen. Und dass Erkenntnisse, die anhand der Schrift gewonnen werden, nicht auf die Sprache an sich übertragen werden können.
Doch damit noch nicht genug, denn es gilt die besondere Rolle der Alphabetschrift, als nur eines von vielen existierenden Schriftsystemen, zu berücksichtigen.
Argumentationsverlauf
Zunächst werden sowohl die Bildtheorie als auch die Sprachwissenschaft in den Rahmen einer allgemeinen Medientheorie stellen. Es wird also von der Prämisse ausgegangen, dass Bilder und Sprache Medien sind.
Anschließend werden die Medien Schrift und orale Sprache unterschieden und die These von der Medienneutralität der Sprache wird widerlegt.
Die so gewonnenen Begriffe werden mit den Thesen zeitgenössischer Bildtheorien verglichen. Dabei werden die drei Hauptströmungen der Bildtheorie exemplarisch einzeln geprüft.
Anschließend wird untersucht, welche Konsequenzen durch einen revidierten Sprachbegriff für die Theorie vom Bild entstehen. Die Medien Bild, Sprache und Schrift sollen so in ein neues Verhältnis zueinander gesetzt werden.
In einem Nachwort wird noch einmal detailliert auf die – sehr populäre – so genannte „wahrnehmungstheoretische Strömung“ der Bildtheorie eingegangen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Warum Bilder?
1.2 Argumentationsverlauf
1.3 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands
1.4 Prämisse: Bezugnahme als grundlegende Fähigkeit zum Symbolisieren
2. Grundlagen: Medientheorie
2.1 Wie hängen die Begriffe „Medium“ und „Zeichen“ zusammen?
2.2 Sind Bilder, orale Sprache und Schrift Medien?
2.3 Beeinflusst die Wahl des Mediums den präsentierten Inhalt?
3. Schrift und Sprache
3.1 Fluktuanz und Persistenz
3.2 Unterschiede in der kommunikativen Situation
3.3 Die Schrift konstituiert die sprachliche Tatsache
3.4 Analog und digital
3.4.1 Die Theorie der Notation
3.4.2 Alphabetschrift und orale Sprache im Spektrum der Symbolsysteme
4 Zum Sprachverständnis in der Bildtheorie
4.1 Der semiotische Ansatz
4.1.1 Oliver Scholz’ Thesen zur Sprache
4.1.2 Klaus Sachs-Hombach zur spezifischen Differenz von Bildern und Sprache
4.1.2.1 Zur Möglichkeit einer Bild-Syntax
4.1.2.2 Klaus Sachs-Hombachs Thesen zur Bild-Semantik
4.2 Der wahrnehmungstheoretische Ansatz
4.2.1 Das Bild als nursichtbarer Gegenstand
4.2.2 Das Bild als wahrnehmungsnahes Zeichen
4.3 Der anthropologische Ansatz
5. Konklusion: Bild, Sprache und Schrift
5.1 Unterschiede in der kommunikativen Situation
5.2 Fülle
5.3 Dauerhaftigkeit und Starre
5.4 Digital und analog
5.5 Das Rätsel der Bedeutung
5.6 Nicht anwendbare Begriffe
5.7 Zum besonderen Verhältnis von Schrift und Bild
5.8 Text und Textur in Bezug auf Bilder
6. Nachwort: Das Bild als Gegenstand und Zeichen
Bibliographie
1. Einleitung
1.1 Warum Bilder?
„Buchtitel wie Iconic Turn (2004) signalisieren, dass seit einiger Zeit ein neues Interesse am Bild entstanden ist, in dem manche bereits einen bevorstehenden Umschwung des Philosophierens erkennen wollen, der vergleichbar ist der ‚Wende zur Sprache’, dem Linguistic Turn, der seit Frege und Wittgenstein die Art, in der Philosophen ihr Handwerk betreiben, in weiten Bereichen verändert hat.“1
Mit dieser Analyse tritt Hans-Julius Schneider in eine lange Reihe von Autoren, welche in der jüngeren Vergangenheit eine neugewonnene epistemologische Relevanz des Bildes betonten. So pflichtet etwa Martin Seel bei:
„Innerhalb und außerhalb der Philosophie wird seit einiger Zeit lebhaft über das Bild und verwandte Phänomene diskutiert, deren Verhältnis zum Bild noch weitgehend ungeklärt ist, wie etwa Film, Videoclip, ‚interaktiver’ Bildgebrauch, Computerdesign oder Cyberspace. Ein Grund für das Interesse an diesem Thema ist die rapide Veränderung der Bildwelten, mit denen wir leben. Diese Veränderung hat großen Einfluß auf die Wirklichkeiten unseres Lebens [...]“2
Und auch Klaus Sachs-Hombach, dem wir in dieser Arbeit gewissermaßen eine der Hauptrollen zusprechen, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Besagte Hauptrolle wird er einnehmen, da er sich einen gewissen Stellenwert erarbeitet hat aufgrund zahlreicher Publikationen und Herausgeberschaften innerhalb des Teils der Geistes- und Kulturwissenschaften, der das Bild erforscht. Der Stellenwert schlägt sich nicht zuletzt in einer breiten Rezeption nieder. Dieser Klaus Sachs-Hombach also diagnostiziert natürlich ebenfalls:
„Seit einiger Zeit rückt die Bild-Forschung unter den Schlagworten ‚imagic turn’ [...], ‚pictorial turn’ [...] oder ‚iconic turn’ in den Blickpunkt des öffentlichen wie des wissenschaftlichen Interesses.“3
Dieses neugewonnene Interesse am Bild führt dazu, dass sich mehr und mehr eine eigene Bildtheorie oder gar -wissenschaft herauskristallisiert, die sich als unabhängig von der Ästhetik oder Kunstgeschichte versteht und versucht, die medialen Grundeigenschaften von Bildern zu klären.
Doch beim Versuch einer Begriffsbestimmung des Bildes stellt sich „in den laufenden interdisziplinären Bemühungen“ heraus, dass eben diese Begriffsbestimmung „alles andere als einfach ist“.4 Was nicht zuletzt eben jener Interdisziplinarität geschuldet ist. Dass sich im Diskurs über Bilder (noch) kein einheitliches Vokabular ausgebildet hat,5 hängt m. E. direkt damit zusammen, dass unter anderen Philosophen, Kunsthistoriker, Künstler, Sprachwis senschaftler und Psychologen sich alle zu Wort melden, aber von unterschiedlichen Prämissen ausgehen, verschiedene Terminologien verwenden und sich auf einen jeweils anderen Theorienkanon berufen.
Daher ist es zu einer unter bildtheoretisch interessierten Forschern weitverbreiteten Strategie zur Festlegung eines Forschungsfundaments gekommen, die darin besteht, den Begriff des Bildes zunächst von anderen Zeichentypen abzugrenzen. Insbesondere gilt dies für die Sprache. So konstatiert Martin Seel: „Jede Bildtheorie muß zum einen klären, wie sich Bild-Gegenstand und Bild-Darbietung zueinander verhalten, und andererseits, wie sich Bild-Darbietung zu anderen, etwa sprachlichen Darstellungen verhält.“6
Oliver Scholz verdeutlicht, warum dieser Ansatz innerhalb der Bildtheorie so populär geworden ist. Er trage nämlich zu der großen, allgemeinen Frage bei.
„Ein Klärung des Bildbegriffs wird natürlicher Weise von der traditionellen, schon von Platon gestellten Frage ‚Was ist ein Bild?’ ihren Ausgang nehmen. Diese Frage gehört zu den ältesten, aber auch den am wenigsten geklärten Fragen der gesamten Geistesgeschichte.“7
Scholz kritisiert an dieser Was-Ist-Frage, dass sie ohne Einbettung in einen konkreten Untersuchungszusammenhang zu unbestimmt sei.8 Daher sei es sinnig, diese Frage in Teilfragen zu zergliedern. Drei dieser von Scholz vorgeschlagenen Teilfragen lauten:
- Wie unterscheiden sich Bilder von anderen Phänomenen?
- Wie unterscheiden sich Bilder von anderen Zeichen?
- Wie unterscheiden sich Bilder insbesondere von wortsprachlichen Zeichen?9
Die Frage bleibt aber, warum Bilder explizit von Sprache unterschieden werden sollen und nicht von anderen Symbolsystemen, wie zum Beispiel Musik.10 Diese Strategie wird m. E. gerade deshalb gewählt, weil die Sprachwissenschaft im Gegensatz zur angestrebten Bildwissenschaft eine etablierte Disziplin ist, mit einem - mehr oder weniger - unumstrittenen Forschungsparadigma und einem elaborierten Theorienkanon. So versucht man zu klären, was ein Bild ist, indem man linguistische Teildisziplinen wie Syntax, Semantik oder Pragmatik auf Bilder überträgt und nach Analogien und Unterschieden sucht.11
Doch genau an dieser Stelle kommt das Problem auf, welchem wir uns in dieser Arbeit vornehmlich widmen werden. Denn dabei offenbart sich allzu oft eine zu naive Auffassung vom Forschungsgegenstand „Sprache“. Insbesondere wird kaum zwischen oraler Sprache und Schrift unterschieden. Zur vorläufigen Erläuterung, warum dies ein Problem darstellt, soll noch einmal Martin Seel herangezogen werden:
„Das Bild von einem Regenschirm ist dem Regenschirm-Ding und seiner Wahrnehmung näher als der Begriff (oder die Erläuterung des Begriffs) ‚Regenschirm’ der von ihm bezeichneten Sache; dennoch gehört es wie Begriff und Text dem Reich der Zeichen an, die sich auf etwas beziehen, das im Akt des verbalen oder piktoralen Bezugs nicht anwesend sein muß. Das Bild ist sowenig wie das Wort ein Ersatz für das Ding. Dennoch gehört er zur Wahrnehmung eines Bildes, daß wir auf seine jeweilige (und manchmal individuelle) Erscheinung achten, während wir Worte einfach lesen können, ohne ihrer graphischen Ausführung eigens Beachtung zu schenken.“12
Wenn Seel also derart den medialen Unterschied zwischen Bildern und der Sprache zu erfassen versucht, dann spricht er - ohne dies zu bemerken - ganz offensichtlich von Schrift, die man wie Bilder sehen kann, und nicht von oraler Sprache. Da sich aber Wahrnehmen nicht im Sehen erschöpft, sondern Hören durchaus einschließt, verliert die These möglicherweise an Plausibilität.
Ein Bild stellt ein visuelles Medium dar, während orale Sprache ein akustisches ist. Entsprechend sind beide im Hinblick auf ihre „Wahrnehmungsnähe“ gar nicht so leicht vergleichbar, wie es zunächst den Anschein hat. Um aber dieses Kriterium der „Wahrnehmungsnähe“ als Unterscheidungsmerkmal beizubehalten, vergleichen Theoretiker, die diesem Ansatz folgen, Bilder stets implizit mit Schrift.
Daran schließen sich dann die Fragen an, die es fortan zu klären gilt: Besteht denn in dieser Verwechslung ein Problem? Gilt, was hier über die Schrift geäußert wird, nicht für die Sprache als solche, in all ihren medialen Erscheinungen insgesamt? Und selbst falls das nicht der Fall ist, warum sollte man dann Bilder mit oraler Sprache vergleichen? Genügt ein Vergleich mit der Schrift nicht möglicherweise, um den Begriff des Bildes mit schärferen Rändern zu versehen?
Die These, die in dieser Arbeit vertreten und geprüft wird, lautet, dass gesprochene und geschriebene Sprache zwei verschiedene Medien sind. Ferner, dass Medien sich ihrem Inhalt gegenüber nicht neutral verhalten, sondern diesen entscheidend prägen. Aus diesem Grund können Erkenntnisse, die anhand der Schrift gewonnen werden, nicht auf die Sprache an sich übertragen werden. Ferner darf die orale Sprache als das Medium unseres Denkens und Handelns nicht ausgeklammert werden, insbesondere, wenn - was vielfach geschieht - Thesen über die Unterschiede von Sprach- und Bildkompetenz aufgestellt werden. Natürlich kann eine Untersuchung der medialen Unterschiede von Schrift und Bild auch fruchtbar sein und sie wird uns in dieser Arbeit auch abschließend beschäftigen, aber dabei darf eben nicht aus dem Blick geraten, dass sich dieser Vergleich zwischen Bildern und der Schrift abspielt. Doch damit noch nicht genug, denn es gilt schließlich noch zu berücksichtigen, welche besondere Rolle die Alphabetschrift, als nur eines von vielen existierenden Schriftsystemen, hierbei spielt.
Kehren wir - um die These, die fortan vertreten werden soll, kurz zu verdeutlichen - noch einmal zu Martin Seels Vergleich der Wahrnehmungsnähe von Bildern und Sprache zurück. Im Lichte unserer These beginnt dieser Vergleich zu hinken. Denn wie wir sehen werden, sind die Bezugnahmeformen beider Medien (Alphabetschrift und Bild) komplexer, als dass sie beide einfach ein Ding repräsentieren - das eine Medium werde demnach motiviert durch dieses Ding, und das andere soll arbiträr sein. Einerseits kann das Abbild, denn nur dieses kommt für einen Vergleich in Frage, nicht aus seiner doppelten Rolle entfliehen, neben der eigenen repräsentativen Funktion selbst immer durch sprachliche Ausdrücke denotiert zu werden. Andererseits muss das alphabetschriftliche Wort neben seiner Aufgabe, einen semantischen Wert zu exemplifizieren, immer auch ein orales Wort repräsentieren.13
Ob der Begriff der Wahrnehmungsnähe dafür geeignet ist, zwischen Sprache und Bildern zu unterscheiden, werden wir genauso untersuchen, wie wir weitere überprüfungswürdige Analysen zu dieser Unterscheidung aufzeigen, gegebenenfalls korrigieren und so das Medium Bild zwischen Schrift und oraler Sprache neu ausrichten werden.
1.2 Argumentationsverlauf
Zunächst werden wir im Kapitel 2 sowohl die Bildtheorie als auch die Sprachwissenschaft in den Rahmen einer allgemeinen Medientheorie stellen. Es wird also von der Prämisse ausgegangen, dass Bilder und Sprache Medien sind. Denn will man in Zukunft Fragen beantworten, wie sie Hans Julius Schneider stellt „In welchen Situationen ziehen wir ein Bild einer verbalen Beschreibung vor; wo ist es umgekehrt, und was sind die Gründe dafür? Können Bilder dort einspringen, wo die Sprache versagt? In welchem Sinne haben bildliche und verbale Darstellungen überhaupt ‚Inhalte’, in welchem Sinne können sie ‚denselben Inhalt’ haben?“14, so ist diesen Fragen voranzustellen, worin die spezifische Differenz von Bildern und Sprache besteht. Diese Frage lässt sich nun sinnvoll reformulieren, indem wir fragen, worin die medialen Unterschiede zwischen Bildern und Sprache liegen. Um dies beantworten zu können, muss aber zunächst die grundsätzliche Frage zur Medialität beantwortet werden, ob und gegebenenfalls wie das Medium das Mediatisierte, also seinen Inhalt oder seine Botschaft beeinflusst.
Im vorherigen Abschnitt haben wir bereits vorweggenommen, dass es nicht nur sinnvoll ist, zwischen den Medien Bild und Sprache zu unterscheiden, sondern auch zwischen den Medien Schrift und orale Sprache. Im Kapitel 3 werden wir sehen, warum diese Unterscheidung zwischen oraler Sprache und Schrift notwendig ist und so die These von der Medienneutralität der Sprache widerlegen.15
Die so gewonnenen Begriffe werden im darauffolgenden und zentralen Kapitel 4 mit den Thesen zeitgenössischer Bildtheorien verglichen. Ziel soll es dabei sein, diese bildtheoretischen Thesen zu prüfen. Dabei werden die drei Hauptströmungen der Bildtheorie exemplarisch einzeln geprüft.
Ist die Prüfung der These, dass die Bildtheorie an einer falschen Auffassung vom Gegenstand Sprache krankt, gelungen, wird anschließend im Kapitel 5 untersucht, welche Konsequenzen durch einen revidierten Sprachbegriff für die Theorie vom Bild entstehen. Die Medien Bild, Sprache und Schrift sollen so in ein neues Verhältnis zueinander gesetzt werden. Im Kapitel 6 schließlich soll in einem Nachwort noch einmal detailliert auf die - sehr populäre - so genannte „wahrnehmungstheoretische Strömung“16 der Bildtheorie eingegangen werden. Dort werden abschließend zwei zentrale Begriffe dieser Strömung, der „nursichtbare [sic!] Gegenstand“17 und das „wahrnehmungsnahe Zeichen“18 im Rahmen der Ergebnisse von Kapitel 5 neu beleuchtet.
1.3 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands
Die Anzahl der Publikationen zum Forschungsgegenstand „Bild“ ist schier unüberschaubar. Lambert Wiesing spricht sogar von einer „ständig steigende[n] Flut an wissenschaftlichen Publikationen über Bilder“,19 und auch ich stieß bereits bei meiner ersten Recherche auf über 350 relevante Titel. Daher möchte ich mich in meiner zentralen Untersuchung auf deutsch- sprachige Publikationen nach dem Jahr 2000 beschränken, die in Stichproben anhand promi- nenter Vertreter und ihrer Thesen dargelegt werden. Anders einzuordnende Veröffentlich- ungen werde ich nur heranziehen, sofern dies für ein besseres Verständnis sinnvoll ist.
Diese Eingrenzung birgt natürlich die Gefahr der mangelnden Repräsentativität der untersuchten Werke. Dem soll aber entgegengewirkt werden, indem die drei Hauptströmungen, die sich in der zeitgenössischen Bildtheorie ausmachen lassen, einzeln behandelt werden. Bei diesen Strömungen handelt es sich um den semiotischen, den wahrnehmungstheoretischen und den anthropologischen Ansatz.20 Ferner werden exemplarisch Autoren ausgewählt, deren Theorien mir aufgrund hoher Rezeption relevant erschienen. Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass weitere wichtige Vertreter der Bildtheorie durch die getroffene Auswahl vernachlässigt wurden. Der Status der vorliegenden Untersuchung kommt daher im Kapitel 4 nicht über den einer Stichprobe hinaus.
Als zweite Einschränkung des zu untersuchenden Sachverhalts muss ferner der Bildbegriff selbst eingeschränkt werden. Denn „Bild“ kann vieles bedeuten. Der Begriff kann für Gemälde und Fotografien genauso stehen wie für Spiegel und Schatten, Ideal- oder Vorbilder, sprachliche Bilder - also Metaphern - oder Phantasiebilder und Vorstellungen. Es handelt sich bei diesen Phänomenen um sehr verschiedene Kategorien von Bildern. Für eine umfassende Untersuchung aller dieser Phänomene fehlt hier der Raum, denn es ergeben sich jeweils sehr spezifische Probleme.
Was sprachliche Bilder und Vorbilder betrifft, so schließe ich sie aus den Untersuchungen aus, da es sich bei diesen beiden Begriffen selbst um Metaphern handelt, für deren Verständnis ein vorrangiges Verständnis der buchstäblichen Verwendung des Bildbegriffs sicher von Vorteil ist.
Ferner tun sich bei jeder Art von Vorstellungsbildern unzählige ungelöste Fragen auf. Klaus Sachs-Hombach diagnostiziert zutreffend: „Soweit es um eine Definition des Bildbegriffs geht, ist der Verweis auf interne Bilder auch wenig hilfreich, da er das Problem nur in unzugänglicheres Gelände verlagert.“21 Sofern im Folgenden nicht explizit auf eine andere Verwendung hingewiesen wird, handelt es sich also um einen Bildbegriff, der ausschließlich artifizielle Gegenstände umfasst, also Bilder, die von Menschen gemacht wurden und von verschiedenen Menschen betrachtet werden können.
Allerdings werden wir im Kapitel 4 sehen, wie eng der Begriff der Vorstellung von einigen Bildtheoretikern mit dem artifiziellen Bildbegriff verknüpft wird. Weshalb wir uns dort mit dieser Verknüpfung eingehender beschäftigen werden und diese einer Kritik unterziehen. Die Beschränkung auf künstlich geschaffene Bilder zählt schließlich auch sogenannte natürliche Bilder wie Schatten und Spiegelungen nicht zum Untersuchungsgegenstand. Zwar ließe sich dieses Phänomen sicher im Rahmen einer auf Bezugnahmeformen basierenden Theorie - wie sie hier vertreten wird - klären, es fehlt aber schlicht der Raum, um es zu behandeln. Klaus Sachs-Hombach bringt das aufkommende Problem, wenn man natürliche Bilder als unter den Bildbegriff fallend auffasst, auf den Punkt. Er verweist dabei auf Leonardo Da Vincis Empfehlung, „bei der Betrachtung alter Mauern die verschiedensten phantastischen und wundersamen Gestalten [zu] erblicken“.22 Würden wir also unseren Bildbegriff so weit fassen, müssten wir jeden beliebigen Mauerabschnitt, in dem wir etwas zu sehen glauben, in die Untersuchung einbinden, wodurch der Bildbegriff entgrenzt würde und diese Untersuchung zu einer schier unlösbaren Aufgabe würde.23
1.4 Prämisse: Bezugnahme als grundlegende Fähigkeit zum Symbolisieren
Wie bereits dargelegt, ist die Forschung am Bilde eher ein Forschungsfeld als eine Disziplin. Ihr fehlen also ein klares Paradigma und ein akzeptierter Theorienkanon. Ferner äußern sich Vertreter aus den verschiedensten Fachrichtungen zum Thema, die über sehr heterogene Terminologien verfügen. Daher werde ich fortan nur den Terminus Bildtheorie gebrauchen, um dieses Forschungsfeld und seine Vertreter zu bezeichnen und nicht den ebenfalls beliebten Ausdruck Bildwissenschaft, der eher einen angestrebten Status als einen gegenwärtigen Zustand beschreibt.24
Weiterhin muss man, will man sich nicht in philosophische Grabenkämpfe begeben, den unterschiedlichen Terminologien und den dahinter stehenden Traditionen in diesem weiten Feld mit einigem Wohlwollen begegnen. Es soll in dieser Arbeit also nicht in erster Linie darum gehen, ob etwa die Phänomenologie Husserls25 als Prämisse für eine Bildtheorie oder aber psychoanalytische Prämissen26 logisch wie epistemologisch konsistent sind. Statt dessen möchte ich lieber prüfen, ob die in Kapitel 4 vorgestellten Terminologien in ihrer weltbe- schreibenden Funktion der hier verwendeten Terminologie, die weitgehend an Nelson Goodman und die sprachanalytische Philosophie anknüpft, wirklich überlegen sind, wie es ihre Verfasser behaupten.27 Oder ob diese Terminologien sich nicht wenigstens teilweise in unsere übersetzen lassen, was natürlich nur mehr oder weniger der Fall sein kann.
Denn die Prämisse dieser Arbeit basiert auf der Einsicht Nelson Goodmans, dass wir keine Ordnung in der Welt vorfinden, sondern ihr eine aufprägen, weshalb nicht von entscheidender Bedeutung sein kann, ob ein Bild etwa ein wahrnehmungsnaher Gegenstand ist, oder doch ein konventionelles Zeichen, sondern welche Sichtweise uns voranbringt in diesem noch wenig kartographisierten Land.
„In einem solchen Kontext behaupte ich weniger eine Überzeugung und bringe keine These oder Doktrin vor, sondern schlage eine Kategorisierung oder ein Organisationsschema vor und lenke die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Weise, unsere Netze so auszulegen, daß wir damit möglicherweise signifikante Ähnlichkeiten und Unterschiede einfangen können.“28
Mit der dargelegten Prämisse geht einher, dass diese Kategorisierungen auf Bezugnahmen als grundlegende Fähigkeit zum Symbolisieren basieren.
„Unter einem Symbolsystem versteht er [Goodman, DB] ein Symbolschema - ein Bild, eine Partitur, eine Skizze, ein Diagramm, einen sprachlichen Ausdruck, einen Tanz, eine Geste, ... -, das auf ein Bezugnahmegebiet bezogen wird. Erst innerhalb dieser Konstellation wird etwas zu einer Darstellung, gewinnt eine Aufführung Ausdruck, ein Wort Bedeutung. Was unter Worten wie ‚Repräsentation’, ‚Symbol’, ‚Zeichen’ zu verstehen ist, dies hängt von der Stellung und der Beschaffenheit des Symbols oder Zeichens, eben des als Darstellung Genommenen, innerhalb eines stets mehr oder weniger komplexen Systems von Referenzen ab. Goodman ist damit den entgegengesetzten Weg zu dem gegangen, den die Semiotik genommen hat: Diese kommt in allen ihren Ansätzen zu einer stets komplexer werdenden Systematik von Zeichen. Goodman dagegen führt alle Darstellungsweisen, alle Repräsentationen, Abbilder, selbst formale Symbolik auf eine einzige und zwar logische Relation zurück, auf die Denotation, die Beziehung zwischen dem Begriff und der Menge von Objekten, die unter ihn fallen.“29
Demnach gibt es zwar eine Unzahl an verschiedenen Symbolformen, doch alle lassen sich auf eine bestimmte kognitive Leistung zurückführen: die „Bezugnahme auf Weltausschnitte“, die von Menschen in ihrem Verständnis dieser Symbole geleistet wird.30
Von dieser Prämisse ausgehend werden wir prüfen, wie die zeitgenössische Bildtheorie die Unterschiede zwischen Sprache und Bildern verortet.
2. Grundlagen: Medientheorie
In dieser Arbeit sollen die medialen Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Bildern, oraler Sprache und Schrift behandelt werden, mit dem Ziel, den gängigen Sprachbegriff der zeitgenössischen Bildtheorie einer kritischen Analyse zu unterwerfen. Doch bei der Analyse der drei Begriffe „Bild“, „orale Sprache“ und „Schrift“ schleicht sich ein vierter ein, den zu explizieren sich lohnen könnte: der Begriff des Mediums. Denn so leicht dieser Ausdruck vielen Autoren in den zeitgenössischen Geisteswissenschaften von der Hand geht, so chronisch unscharf ist er. Bevor wir uns also den Unterschieden von Bildern, Schrift und Sprache zuwenden, gilt es zu klären, was ein Medium ist.
Es gibt unter den zum Medium forschenden Wissenschaftlern verschiedene Strategien, eine Antwort auf die Frage zu liefern, was ein Medium ist. Eine erste gängige Strategie, eine Antwort zu finden, ist der Weg über die Etymologie des lateinischen Ausdrucks. Diesen Weg verfolgt etwa Reinhard Margreiter:
„Im Fall des lateinischen Wortes ‚medium’ bezeichnet dieses vorerst etwas Topologisches: eine geographische Mitte, somit einen Ort der Begegnung, einen Ort also, der Unterschiedliches zusammenbringt und miteinander in Beziehung setzt. Medium ist, so gesehen, Bedingung der Möglichkeit von Vermittlung, d.h. der Koordination und des Kompromisses, aber auch der Auseinandersetzung und des Kampfes zwischen Mit- und Gegenspielern. Schließlich kann Medium auch das Werkzeug oder Mittel meinen, mit dem und durch das vermittelt wird.“31
Doch dieser Definitionsversuch führt in eine - wie es scheint - missliche Lage. Es folgt daraus das, was man den „weiten Medienbegriff“ nennt. Denn, orientiert man sich an dieser Definition, so fällt beispielsweise auch eine Bushaltestelle als Ort, der Menschen und Fortbe- wegungsmittel zusammenbringt, oder gar Licht, das zwischen Oberfläche eines Dings und dem Auge vermittelt, unter den Begriff. Eine Konsequenz, die nur wenige Medientheoretiker tragen wollen. Margreiter beklagt selbst die Entgrenzung des Begriffes, die aus dieser weiten Definition folgt.32
Christian Stetter erläutert, worin die Probleme des weiten Medienbegriffs liegen. Er wendet sich gegen diesen, um „der Gefahr zu begegnen, die in dem weiten, metaphorischen Sprachgebrauch liegt, wenn wir etwa das Licht als Medium unseres Sehens bezeichnen. Dann droht sich unsere Welt des Erkennens, Handelns und Konstituierens in unendliche Verschachtelungen von Medien der verschiedensten Kategorien aufzulösen. Am Ende wäre alles Medium und nichts.“33 Und auch Lambert Wiesing schlägt in die gleiche Bresche, indem er konstatiert, dass durch den weiten Begriff alles zum Medium werde, wodurch der Begriff letztlich beliebig werde.34
Eine Einengung des Begriffs scheint also geboten, um ihm so schärfere Konturen zu verleihen. Die entsprechende Strategie in der Medientheorie setzt am alltagssprachlichen Begriff vom Medium an. Denn betrachtet man diesen alltagssprachlichen Begriff, so lässt sich wenigstens extensional recht klar sagen, was darunter fällt: Medien sind zum Beispiel mathematische Rechnungen, Sprache, Romane, Filme, Homepages, Speichermedien, Partituren, CDs, Fernsehen, Bilder oder Theater.35 Doch was ist all diesen Medien gemeinsam, wie lässt sich der Begriff „Medium“ also definieren? Nach Lambert Wiesing folgt aus dieser extensionalen Bestimmung des Begriffs, dass - der alltagssprachlichen Auffassung nach - Medien Kommunikationsmittel seien.36
Eine griffige Definition für Kommunikation liefert wiederum Hadumod Bußmann. Demnach ist Kommunikation „[j]ede Form von wechselseitiger Übermittlung von Information durch Zeichen/Symbole zwischen Lebewesen [...] oder zwischen Menschen und Daten verarbeitenden Maschinen.“37 Wenn aber Medien Kommunikationsmittel sind, ferner Kommunikation mittels Zeichen oder Symbolen vonstatten geht, ist dann Medium schlicht ein anderer Begriff für Symbol oder Symbolsystem?
Reinhard Margreiter vertritt genau diese These:
„Statt von einem Medium oder Code kann man auch von einem Zeichen- oder Symbolsystem sprechen. Wobei sich diese vier Begriffe nicht völlig, aber doch weitgehend decken. Sie beschreiben jeweils aus leicht veränderter Perspektive ein einziges, facettenreiches und dennoch in sich zusammenhängendes Phänomen.“38
Diese „weitgehende“ Gleichsetzung von Medium und Symbolsystem wiederum ist gleich von zwei Seiten der Kritik ausgesetzt. Auf der einen Seite bestreitet Lambert Wiesing, dass die Begriffe Medien und Zeichen überhaupt zusammenhängen, so seien etwa Bilder keine Zeichen:
„Der Gedanke ist eindeutig: Wer ein Bild herstellt, schafft nicht ein Zeichen, sondern eine besondere Art von Gegenstand: ein Bildobjekt, ein imaginäres Haus - oder wie Fiedler sagen würde: ein ‚Sichtbarkeitsgebilde’. Er schafft ein nursichtbares Haus, einen Gegenstand aus reiner Sichtbarkeit.“39
Andererseits seien sie aber Medien:
„Bilder werden in [der] wahrnehmungstheoretischen Tradition [der Bildtheorie; DB] als ein Medium verstanden, mit dem sich ein physikloser, aber doch sichtbarer Gegenstand sui generis herstellen läßt, welcher nur unterschiedlich angesprochen wird: nämlich als Bildobjekt, imaginäres Ding, reine Sichtbarkeit oder falsche Einheit.“40
Dieser Position zufolge ist der Zeichencharakter zumindest nicht notwendig für Medien, konkret: für das Medium Bild. Dann kann aber von einer weitgehenden Gleichsetzung der beiden Begriffe „Medium“ und „Symbolsystem“, in der Weise, die Margreiter beschreibt, nicht die Rede sein.
Auf der anderen Seite scheint auch das rege Interesse an der Untersuchung von Medien nicht ohne Weiteres verständlich, wenn es sich bloß um ein Synonym für den Begriff „Symbolsystem“ handeln würde. In diesem Fall wäre die Medientheorie nichts anderes als eine Neuetikettierung der Semiologie. Reinhard Margreiter, der diese Position vertritt, sieht darin allerdings kein Problem und vergleicht den Übergang von der Symbol- zur Medientheorie mit dem linguistic turn:
„Symbolsysteme haben sowohl eine bedeutungshafte wie eine sinnlich-materielle Seite. Wird Letztere eigens und ausdrücklich in den Blick genommen, lassen sich Symbolsysteme als Medien beschreiben - und umgekehrt.“41
Doch die „sinnlich-materielle Seite“ von Symbolen wurde seit jeher auch schon von Sprachwissenschaft und Semiologie untersucht, wenn diese den signifiant analysierte. Zum Beispiel machen Phonetik und Phonologie nichts anderes, als die sinnlich-materielle Seite sprachlicher Äußerungen auf der subsemantischen Ebene zu untersuchen. Sie untersuchen, wo und wie verschiedene Laute artikuliert werden, und welche Funktionen ihnen beim Sprechen zukommen. Die Bedeutung spielt für die Phonetik gar keine und für die Phonologie nur eine marginale Rolle, wenn es darum geht, zu entscheiden, welchem Laut eine bedeutungs- unterscheidende Funktion zukommt. Dennoch wäre es nicht ohne Ironie, ausgerechnet die Phonologie zur eigentlichen Medientheorie auszurufen, wie wir im Kapitel 3 noch sehen werden.
Betrachtet man die rege Diskussion des Medienbegriffs in den vergangenen zwei Jahrzehnten, so scheint es, dass sich mehr mit dem Begriff „Medium“ verbindet, als nur ein neues Wort für signifiant. Im Hinblick auf diese Arbeit werden also im Weiteren folgende Fragen von Interesse sein:
- Wie hängen die Begriffe „Medium“ und „Zeichen“ zusammen?
- Sind Bilder, orale Sprache und Schrift Medien?
- Und beeinflusst die Wahl des Mediums den präsentierten Inhalt, oder verhält es sich diesem gegenüber neutral?
2.1 Wie hängen die Begriffe „Medium“ und „Zeichen“ zusammen?
„[E]s gibt keine Zeichen ohne ein Medium[...]“42
Diese These stellt Sybille Krämer auf, doch sie ist weit davon entfernt, eine Austauschbarkeit der Begriffe „Medium“ und „Zeichen“ zu behaupten. Stattdessen ist ihre These die folgende:
„Das Medium verhält sich zur Botschaft, wie die unbeabsichtigte Spur sich zum absichtsvoll gebrauchten Zeichen verhält [...].“43
Dieser zentrale Satz wird uns noch in Abschnitt 2.3 beschäftigen, wenn wir uns um die sinn- generierenden Aspekte von Medien bemühen werden. Wenn wir aber den Unterschied zwischen Medium und Zeichen wirklich erfassen wollen, muss es hier zunächst um eine Definition von „Medium“ gehen, die es uns zuallererst einmal ermöglicht, diesen Begriff von dem des Zeichens zu unterscheiden, um dann im nächsten Abschnitt der Frage nachzugehen, ob unter anderem Bilder Medien sind. Die Antwort, die Sybille Krämer dazu bereithält, lautet:
„Die ‚stummen’, die materialen Strukturen von Medien stellen geschichtlich sich wandelnde Vorräte von Unterscheidungsmöglichkeiten bereit, in deren Spektrum erst Zeichen gebildet, fixiert und übermittelt werden können, sich also die raum-zeitlich situierte Performanz unseres Zeichenverhaltens wirklich vollzieht.“44
Das ist leider alles andere als klar, es klingt fast, als sei das Medium das Papier, während das Zeichen die Tinte darstellt. Urteilen wir aber nicht voreilig, sondern gehen wir das Zitat Schritt für Schritt durch. Zumindest behauptet Sybille Krämer schon einmal, dass Medien aus „materialen Strukturen“ bestünden, was uns mit Blick auf Saussures Zeichenbegriff erneut näher zum signifiant führt und weg vom signifié.45 Diese Position hatte auch, wie oben gesehen, Margreiter vertreten.46 Krämer behauptet weiter, dass es sich bei Medien um „Vorräte von Unterscheidungsstrukturen“ handle. Damit beruft sie sich auf die Medientheorie von Martin Seel.47 Dieser definiert Medium folgendermaßen:
„Medien eröffnen jeweils ein Spektrum von Differenzen, denen im Wahrnehmen, Erkennen und Handeln eine Gestalt zugewiesen werden kann. Medien stellen eine offene Reihe von Unterschieden oder Abstufungen einer bestimmten Art bereit [...], innerhalb derer etwas als etwas Bestimmtes aufgefaßt oder angestrebt werden kann [...].“48
Ein Beispiel, das Seel dazu bringt, ist die Sprache. Diese stelle etwa unterschiedliche Worte bereit, mittels derer wir eine bestimmte sprachliche Äußerung tätigen können.49 Bestimmte Sätze könnten nur gebildet werden, wo ein mehr oder weniger reichhaltiges Vokabular zur Verfügung stehe.
„Medien sind also keine Instrumente, mit denen etwas erreicht oder zugänglich wird, das auch anders erreicht werden könnte. Medien sind konstitutiv für die Handlung, die in ihrem Element ausgeführt wird. Ohne [...] Sprache hätten wir nichts zu sagen. Medien, mit einem Wort, sind Elemente, ohne die es das in einem Medium Artikulierte nicht gibt.“50
Kehren wir aber zu Sybille Krämer zurück. Diese konstatiert, Seel folgend, dass durch jenes bereitgestellte Spektrum von Differenzen die Grundlage geschaffen werde, um Zeichen überhaupt zu bilden, zu fixieren und zu übermitteln.
Bei der näheren Betrachtung der materialen Strukturen stellt auch Krämer fest, dass Medien „Mittler“ seien und unterscheidet sie von technischen Instrumenten oder Werkzeugen, welche Mittel darstellten.51
„Wenn wir ein technisches Instrument einsetzen, so machen wir mit diesem Instrument etwas; ein Instrument wird gebraucht und zurückgelassen, es bleibt der zu bearbeitenden Sache durchaus äußerlich. Wenn wir hingegen eine Botschaft empfangen, so ist diese ‚in’ einem Medium gegeben. In einem Medium ist etwas eingetaucht und von ihm so durchdrungen, daß es außerhalb des Mediums nicht zu existieren vermag. Auf ein Instrument findet man sich verwiesen, seiner bedient man sich; und was mit ihm bearbeitet wird, hat eine vom Werkzeug durchaus ablösbare Existenz. An ein Medium dagegen ist man gebunden, in ihm bewegt man sich; und was in einem Medium vorliegt, kann vielleicht in einem anderen Medium, nicht aber gänzlich ohne Medium gegeben sein. So gibt es keine Sprache jenseits der Rede, der Schrift oder der gestischen Artikulation.“52
Medien seien keine technischen Instrumente, sondern Apparate:
„Apparate [...] effektieren nicht einfach das, was Menschen auch ohne Apparate schon tun, sondern erschließen etwas, für das es im menschlichen Tun kein Vorbild gibt - und an diesem Tun vielleicht auch gar keinen Maßstab findet.“53
Wo Werkzeuge Arbeit sparten, da eröffneten Medien Welten. Mit Blick auf den Kontext sollten wir ergänzen: symbolische Welten. Das bedeutet, Medien übermitteln nicht bloß Sinn, sie erzeugen diesen erst. Doch dann kann das oben gewählte Beispiel von Papier und Tinte nicht stimmen, um das Verhältnis von Medium zum Zeichen zu klären, denn nicht das Papier bringt den Sinn hervor, sondern die Schrift.
Hier scheint es lohnend, noch einmal zum Anfang zurückzukehren und den Begriff des Kommunikationsmittels etwas näher unter die Lupe zu nehmen. Denn diesen Zusammenhang zwischen Medium und Mittel haben alle hier angeführten Medientheoretiker konstatiert. Christian Stetters Medientheorie bringt uns den entscheidenden Schritt voran, denn er untersucht en detail das Verhältnis von Medium und Mittel, wendet sich dabei aber explizit gegen die Definition des Mittels als eines Dings:
„[D]as Medium verhält sich zum Mediatisierten ähnlich wie das Mittel zum Zweck und ist doch etwas kategorial anderes. Entgegen dem alltäglichen Sprachgebrauch ist, phänomenologisch betrachtet, das Mittel nicht einfach ein Ding, zum Beispiel ein Handwerkszeug. Es ist eine Handlung, ein Verfahren, in dem Dinge benutzt werden, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Als solche ist das Mittel ein zeitliches Ereignis. Insofern steht es zum korrelativen Zweck in einer bestimmten zeitlichen Relation: es geht ihm voraus.“54
Dass das Mittel dem Zweck zeitlich vorausgeht, bedeute etwa, dass man kochen muss, bevor man essen kann, wobei die Handlung des Kochens und nicht etwa der Topf das Mittel zum Zweck sei. Doch im Gegensatz dazu stünden Medium und Mediatisiertes in einer anderen zeitlichen Relation.
„Medium und Mediatisiertes bilden zusammen je ein einziges Ereignis, genau eine Performanz, nicht verschiedene. Medium ist die Geige nur, wenn und indem sie gespielt wird. Liegt sie im Kasten oder in einer Ausstellung, so ist sie nichts als ein Instrument. Das Mittel ist somit der eine Grenzwert, der den Begriff des Mediums einschachtelt.“55
Demnach ist ein Medium kein Gegenstand, wie es in den bisherigen Definitionsversuchen durchklang, es ist eine Handlung, ein Vollzug, wobei Stetter den materiellen Aspekt von Medien auch nicht gänzlich ausblendet, ihm aber einen neuen Platz zuweist.
„So hat man also in erster Näherung unter einem Medium das Sichvollziehen einer Operation über oder in einem materiellen Substrat zu verstehen, über einem Apparat oder auch einem Konglomerat von Dingen, sodaß in diesem Vollzug etwas Wahrnehmbares von bestimmter Gestalt erzeugt wird[...].“56
Christian Stetter fährt fort in seiner Unterscheidung zwischen Mittel und Medium. Nach der phänomenologischen Unterscheidung, wonach Mittel und Zweck nacheinander stattfinden, Medium und Mediatisiertes sich aber zeitgleich abspielen, liefert Stetter noch eine modallogische Unterscheidungsmöglichkeit: Während das Mittel hinreichende Bedingung für seinen Zweck sei, verhalte es sich bei einem Medium nicht so. Letzteres sei hingegen notwendige Bedingung für das Mediatisierte.57 Zum erfolgreichen Vollzug müsse neben dem Medium noch etwas anderes kommen. Diese Beschränkung des Mediums auf die zeitliche Einheit mit dem Mediatisierten einerseits und die logische Beschränkung auf die notwendige Bedingung andererseits seien im Übrigen auch der Grund für die Schwierigkeit, eine tragende Definition des Begriffs zu finden.58
Das, was zum Medium noch hinzukommen müsse, sei die Kompetenz dessen, der sich eines Mediums bedient. Sie erst bilde die hinreichende Bedingung für das Gelingen des Performanzereignisses, was auch der Grund dafür sei, dass Medien zu verschwinden scheinen.
„Das philosophische Problem, das der Begriff des Mediums aufwirft, liegt offenbar in der Paradoxie, daß das Merkmal des Gelingens, das die medial konstituierte Performanz doch auszeichnen soll, nicht ihrer Medialität zugerechnet wird sondern - [...] durchaus zu Recht - der Kompetenz dessen, der sich des Mediums bedient. Dies macht das Medium so blaß, läßt es scheinbar spurlos hinter das Mediatisierte zurücktreten.“59
Medien seien schließlich aber nicht alle Performanzereignisse, sondern lediglich solche, „in denen irgendwelche Bedeutung, Repräsentation oder Information erzeugt wird.“60
„Damit wäre der Bereich des medial Erzeugten auf den von Darstellungen in welch weitem Sinn auch immer zu begrenzen. Dies entspricht auch kategorial dem bis hierher entwickelten Begriff des Mediums: Darstellung ist nach Goodman stets an Performanz, weil an Inskription gebunden.“61
So gelingt es Stetter in seiner abschließenden Definition des Begriffs, das Verhältnis zwischen Medium und Symbol, bzw. Symbolsystem aufzuklären.
„Ein Medium [...] ist eine in Operation gesetzte Apparatur, sodaß durch diese Operation etwas, nämlich eine Darstellung von bestimmter Gestalt hervorgebracht wird. Medien in diesem Sinne sind, verkürzt gesprochen, symbolisierende Performanzen, genauer gesagt: das, was an der performance reiner Vollzug ist.“62
Mit anderen Worten, der Vollzug, in welchem Symbole hervorgebracht werden, ist das Medium dieser Symbole. Doch das, was hervorgebracht wird, sind Darstellungen. Sind Darstellungen und Zeichen oder Symbole nun das gleiche, oder sind es verschiedene Dinge? Was die Darstellung betrifft, so wird dort etwas immer als etwas dargestellt. Ist das ein Unterschied zum Symbolisieren, wo etwas ein Symbol für etwas ist? Nelson Goodmans Sprachen der Kunst können uns hierüber Auskunft geben. Goodman zufolge ist der Kern von Darstellung jeder Art die Denotation.63 Denotation wiederum ist die Relation zwischen einem Etikett und den Objekten, die darunter fallen, die durch es bezeichnet werden. Dies ist, mit anderen Worten, eine extensionale Definition für Symbolisierung. Entsprechend können wir in unserem Kontext Darstellung und Symbol synonym verwenden. Der Zusammenhang zwischen Medium und Symbolen ist also dergestalt, dass Medien die Performanzen sind, die Symbole hervorbringen.
Ausgehend von dieser Definition lässt sich nun die Frage beantworten, ob die drei Untersuchungsobjekte dieser Arbeit Medien sind.
2.2 Sind Bilder, orale Sprache und Schrift Medien?
Basierend auf der Definition des Mediums als „symbolisierende Performanz“64 muss man diese Frage wohl eigentlich mit „Nein“ beantworten. Denn Medien sind demnach jene Performanzen, die erst orale Sprache, Schrift und Bilder hervorbringen - das Sprechen, Schreiben und Malen. Orale Sprache, Schrift und Bilder sind jeweils über andere Apparaturen entstandenes Mediatisiertes, sie sind Darstellungen, mithin Symbole.65 Wobei sich ein erster kategorialer Unterschied zwischen Schrift und Bildern einerseits und oraler Sprache andererseits auftut.
Denn bei Schrift und Bildern auf der einen Seite bleibt eine Darstellung zurück, die die Performanz überdauert. Doch bei oraler Sprache auf der anderen Seite verschwindet die Darstellung wieder mit der Performanz. Diesen Unterschied zwischen dauerhaften Medien und solchen, die flüchtig sind, werden wir anhand der Unterschiede zwischen oraler Sprache und Schrift im Kapitel 3 noch näher untersuchen. Hier aber interessiert uns noch ein anderer, damit zusammenhängender Aspekt. Wenn das Medium Schrift eine Performanz ist, die im Niederschreiben von Sinneinheiten besteht, welche wiederum diese Performanz überdauern, dann muss doch auch beim Rezipieren des Ergebnisses eine solche Performanz stattfinden.
Christian Stetter vermag auch diesem Sachverhalt im Bezug auf Schrift einen begrifflichen Rahmen zu geben, indem er zwischen „Text“ und „Textur“ unterscheidet.66
„Schreiben hat stets die Form der Konstruktion eines Textes, und diese besteht in der Verknüpf- ung von Elementen - Wörtern, Sätzen, sonstigen Zeichen - zu einer Textur. Text ist dasjenige, was geschrieben und verstanden wird, die Textur ist dasjenige, was geschrieben ist und gelesen wird.“67
Das persistente Ergebnis der Schrift, das die Performanz überdauert, ist also die Textur. Erst wenn diese lesend verstanden wird - denn man kann schließlich durchaus lesen ohne zu verstehen - wird aus ihr in einer zweiten Performanz wieder Text. Eine interessante Frage, die sich nun anschließt, lautet: wie verhält es sich beim Bild? Gibt es bei ihm etwas, das dem Verhältnis von Textur und Text entspricht? Wir werden diese Frage im Kopf behalten und uns ihr im Kapitel 5 wieder zuwenden.
Doch zunächst gilt es noch einmal zum Verhältnis zwischen den Medien und den durch sie hervorgebrachten Zeichen zurückzukehren. Denn, wie oben gesehen, bestreitet Lambert Wiesing, dass Bilder Zeichen sind und behauptet zugleich, sie seien Medien. Schauen wir Wiesings Argumente en detail an. Im Wesentlichen kritisiert er, derjenige, welcher Bilder als Zeichen auffasse, mache voreilig aus einer Analogie eine Identität.68
„Muß man einem Bild einen Inhalt oder eine Bedeutung zuweisen? Muß man die Darstellung als Inhalt interpretieren? Ist das, was ein Bild darstellt, allein dadurch, daß das Bild dieses darstellt, der Inhalt eines Zeichens? Hat man dadurch, daß man auf einer Fläche eine Darstellung sieht, dieser Fläche schon einen Sinn zugewiesen? Wenn dies so wäre, wären alle Bilder immer Zeichen.“69
Unter Berufung auf Husserl versteht Wiesing Darstellung im Bild nicht als eine Form von Sinn oder Inhalt, sondern als ein „Bildobjekt“.70
„Der Grund für diese Deutung der Darstellung als ein vermeintes [sic!] Objekt ist gleichermaßen einfach wie überzeugend: Das Bildobjekt kann man sehen; so erscheint es jedenfalls dem Bild- betrachter: als Objekt einer Wahrnehmung. Hingegen einen Sinn oder einen Inhalt kann man nicht sehen. Denn der Sinn eines Zeichens ist eine Regel, wie man sich mit dem Zeichen auf etwas beziehen kann. Regeln können aber nicht wahrnehmbar sein. Deshalb ist für Husserl eine bildliche Darstellung nicht eine Form von symbolisiertem Sinn, sondern eine Form artifizieller Präsenz.“71
Hier müssen wir uns noch einmal Schritt für Schritt Wiesings Medientheorie anschauen, um diesem auf den ersten Blick nicht unplausiblen Einwand zu begegnen. Wiesing sagt, Bilder seien keine Zeichen, da Zeichen Sinn oder Bedeutung haben, was man nicht sehen könne. Bildliche Darstellung sei hingegen sichtbar. Statt dessen seien Bilder Medien, die physiklose, nursichtbare Gegenstände herstellten.72 Medien generell definiert Wiesing wiederum als ihrem Inhalt gegenüber neutrale Kommunikationsmittel. Sie seien Mittel besonderer Art, die die Trennung von „Genesis und Geltung“ ermöglichten.73 Die Trennung von Genesis und Geltung sei die Möglichkeit, „mittels physikalisch beschreibbarer Produktionstechniken etwas herzustellen, das keine physikalischen Eigenschaften hat [...]“74 Geltung wiederum definiert Wiesing äußerst vage als das, was zu sein scheint, was aber eben keine physikalischen Eigenschaften hat.75 Geltung sei „artifizielle Selbigkeit“, und Medien seien die Mittel zur Herstellung dieser artifiziellen Selbigkeit.76 Mit anderen Worten, Medien würden erlauben, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten nicht bloß das gleiche, sondern dasselbe zu produzieren.77
„Das von Medien sichtbar gemachte ist prinzipiell anderer Art als das, was ohne Medien sichtbar ist. Man sieht dem, was von einem Medium sichtbar gemacht wurde, an, daß es von einem Medium sichtbar gemacht wurde: Medien machen etwas sichtbar, hörbar und lesbar, was nicht physikalisch existiert.“78
Unter allen Medien seien Bilder schließlich einzigartig, da nur sie etwas sichtbar machen könnten.
Gehen wir nun Wiesing Medientheorie Schritt für Schritt durch, so scheint sein von phänomenologischer Terminologie geprägter Standpunkt - trotz einiger Widersprüche - nicht allzuweit von dem hier dargestellten entfernt zu sein; wenngleich Wiesing selbst das bestreiten würde.79
Zunächst hatte er behauptet, Medien seien Kommunikationsmittel, damit folgt er der oben dargelegten normalsprachlichen Verwendung des Begriffs. Allerdings vollzieht sich Kommunikation über Zeichen, wodurch Wiesing einen Widerspruch generiert, wenn er Bildern den Zeichencharakter abspricht. Ferner unterläuft Wiesing der von Stetter aufgedeckte Fehlschluss. Er spricht zum einen in einer verdinglichenden Form von Mitteln und setzt diese mit Werkzeugen gleich. Zum anderen verwendet er „Medium“ und „Mittel“ synonym. Wir hatten gesehen, dass sowohl phänomenologische als auch logische Gründe hiergegen sprechen. Davon abgesehen scheinen aber Wiesings Termini „Genesis“ und „Geltung“ mit unseren vereinbar. Unter Genesis kann man demnach das verstehen, was Krämer die Materialität der Kommunikation nennt.80 In Stetters Vokabular wäre es die „in Operation gesetzte Apparatur“.81 Und Geltung ist nichts anderes, als die Botschaft des Mediums, das Mediatisierte, mithin Symbole. Vergleichen wir Wiesings Thesen mit dem Medium Schrift, so treffen sie darauf fraglos zu.82 Schrift entsteht in der Performanz des Schreibens, über die in Operation versetzte Apparatur des jeweiligen Schreibinstruments, seien es nun ein Kugelschreiber und Papier oder ein Computer und - in der Alphabetschrift - unter Gebrauch des Alphabets. Was hervorgebracht wird, ob wir es nun Geltung, Darstellung oder Symbole nennen, hat unter einer gewissen Sichtweise keine physikalische Natur. So schreibt Christian Stetter über Buchstaben:
„Auch wenn die Tinte, mit der ein Buchstabe geschrieben wurde, mit der Zeit vergilbt - solange er noch gelesen werden kann, handelt es sich, auch nach Hunderten von Jahren, noch immer um denselben Buchstaben. Dasselbe gilt, wenn das Papier oder Pergament an der betreffenden Stelle beschädigt und dadurch seine Gestalt teilweise zerstört worden sein sollte. Solange anhand der verbleibenden Fragmente eindeutig erkennbar ist, um welchen Buchstaben es sich handelt, existiert er an dieser Stelle, und zwar ganz, nicht fragmenta- risch.“83
Die Anforderung schließlich, „Selbigkeit“ zu produzieren, erfüllt Schrift als digitales Medium so gut wie kaum ein anderes. Gerade Bilder erfüllen diese Forderung mangels effektiver Differenzierung eher nicht.84
Wie kommt dann aber dieser kategoriale Unterschied zustande, von dem Wiesing spricht, dass man bildliche Darstellung sehen kann, Bedeutung aber nicht? Das grundlegende Missverständnis liegt hier m. E. gleich am Beginn der Theorie, wenn Wiesing die Behauptung aufstellt, Medien seien ihrem Inhalt gegenüber neutral.85 Diese Frage nach der Neutralität von Medien werden wir im nächsten Abschnitt besprechen.
2.3 Beeinflusst die Wahl des Mediums den präsentierten Inhalt?
Rufen wir uns ins Gedächtnis, dass auch Wiesing die Ansicht vertrat, Medien dienten der Kommunikation. Diese These, kombiniert mit jener, dass Medien ihrem Inhalt gegenüber neutral seien, reduziert Medien zu „reinen Repräsentationsmedien“, wie Ludwig Jäger es ausdrückt.86 Dieser Auffassung liegt das Kommunikationsmodell von Shannon und Weaver zugrunde.87 Im Kopf eines Senders existierten demnach medienneutrale Gedanken oder Informationen, die mit Hilfe von Medien an einen Empfänger übertragen, an mehrere Empfänger distribuiert oder zwecks späterer Übertragung zunächst gespeichert würden.88
Dies mag paradox klingen, da das umrissene Kommunikationsmodell neben seinem ursprünglichen Bezugnahmegebiet der technischen Kommunikation für gewöhnlich auf Sprache und weniger auf Bilder angewendet wird. Doch alles, was Wiesing über Medien im Allgemeinen und Bilder im Besonderen sagt, scheint diesem Modell zu entsprechen. Medien machten, so Wiesing, etwas sichtbar, hörbar und lesbar, was nicht physikalisch existiere.89 Ferner wirkten sie wie Fensterscheiben, sodass der repräsentierte Inhalt vom Medium unbeeinflusst bleibe, und sich so besagte artifizielle Selbigkeit zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten herstellen ließe.90
Wenden wir also das Kommunikationsmodell von Shannon und Weaver auf Wiesings Bildbeispiel an, bedeutet das, dass der Sender ein Bild, einen Sinneseindruck von der Welt an sich in seinem Kopf hat. Um dieses dem Empfänger mitzuteilen, schafft er eine artifizielle Präsenz, einen nursichtbaren Gegenstand, der dem Bild in seinem Kopf vollständig gleicht Stil- oder Technikfragen spielen bei der Herstellung des Bildmediums natürlich genauso wenig eine Rolle wie die Wahl des Materials -, woraufhin sich nun dasselbe Bild im Kopf des Empfängers befindet und mit ihm ein unverfälschter Eindruck von der Welt. Dieses Kommunikationsmodell zugrunde gelegt, besteht natürlich ein fundamentaler Unterschied zum Medium der Sprache. Denn wo Bildmedien uns ein unverstelltes, ein authentisches Bild aus dem Kopf des Senders lieferten, habe ein Zeichen nichts weiter zu bieten, als Bedeutung. Durch die Arbitrarität des Sprachzeichens sei dem Sprachbenutzer ein authentischer, ein unmittelbarer Zugang zur Welt verwehrt.91 Stattdessen bleibe nur der Sinn des Zeichens.
„Denn der Sinn eines Zeichens ist eine Regel, wie man sich mit dem Zeichen auf etwas beziehen kann. Regeln können aber nicht wahrnehmbar sein.“92
Doch diese Vorstellung, dass in unseren Köpfen medienneutrale Gedanken, Informationen und Bilder existieren, ist nicht haltbar. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich Ludwig Jäger und dessen Theorie von Sprache als anthropologischem Rahmen-Medium als Vertreter der Antithese anführen.93 Jäger vertritt die Ansicht, dass Medialität „eine anthropologisch grundlegende, konstitutive Gattungseigenschaft des Menschen“ ist, „die im menschlichen Sprach- und Zeichenvermögen ihre höchste Ausprägung findet“.94 Sprache - und neben oder nach ihr alle Medien - ist also viel mehr als bloße Hülle, mit der man einen unveränderlichen Inhalt einkleidet.
„Die im Zuge ihrer Prozessierung in Zeichenhandlungen material erscheinende Medialität von Sprachzeichen fungiert nicht lediglich als Transportmittel sprachunabhängiger, medienindifferenter mentaler Entitäten, sondern gleichsam als Möglichkeitsbedingung solcher Entitäten. Sowohl mentale Entitäten, als auch das Bewusstsein, das sie prozessiert, sind abhängig von medialen Handlungen, unter denen Sprachzeichen-Handlungen eine prädominante Rolle spielen. Medialität ist insofern eine wesentliche Voraussetzung von Mentalität (als Gesamtheit aller mentalen Prozesse und Strukturen).“95
Und wie Medien Voraussetzung für unseren Geist sind, so sind sie es auch für unsere Welterkenntnis. Die in Performanzen erzeugten symbolischen Formen treten zwischen uns und die Gegenstände, schaffen aber nicht bloß Distanz, sondern ermöglichen erst den Umgang mit diesen Gegenständen.96
Unter Berufung auf Ludwig Wittgenstein vermag Jan Georg Schneider auch zu erklären, wie dies vonstatten geht.97 Bereits das Ausgangsszenario, das einem Erkenntnismodell zugrunde liegt, wo ein Individuum die Welt betrachtet und im nächsten Schritt via Medien seine
Erkenntnisse kommuniziert, ist grundlegend falsch. Stattdessen befinden wir uns, in den Worten Wittgensteins, von klein auf immer schon in Sprachspielen.
„In Sprachspielen beziehen wir uns handelnd auf verschiedenste Gegenstände. Sprache und Welt werden somit von vorneherein nicht als voneinander getrennt gedacht. Hieraus ergibt sich [...] die prinzipielle Unabgeschlossenheit und Vielfalt der Sprachspiele: Mangels einer sprachunabhängigen ‚Hinterwelt’ [...] kann es nicht die eine Funktion von Sprache geben, die darin besteht, eine ontologisch vorstrukturierte Wirklichkeit abzubilden.“98
Somit bildet das Zeichen in dem Tripel Erkenntnissubjekt - Zeichen - Erkenntnisobjekt die zentrale Konstituente, weil es - wie Jäger und Schneider zeigten - die anderen beiden Konstituenten erst ermöglicht. Sowohl „Weltlektüre“, als auch Selbstbewusstsein wären ohne den medialen Umweg über sprachzeichenvermittelte Interaktion mit anderen nicht möglich.99 Dies nennt Jäger die „Spurtheorie des Geistes“.100
„Die Spurtheorie geht also von einem zeichentheoretischem Systemzusammenhang aus, der die ontogenetische Herausbildung des menschlichen Selbstbewußtseins und seines kognitiv organisierten Weltbezugs, sowie die funktionale Aufrechterhaltung dieser Ich-Welt-Beziehung an zeichenförmige Entäußerungshandlungen bindet.“101
Ludwig Jägers These, dass es sich bei Sprache um das anthropologische Rahmenmedium handelt, zeigt uns, dass bereits die Prämisse, es gebe medienneutrale Inhalte in unserem Geist, seien es nun Gedanken oder unsere Wahrnehmung von der Welt, nicht haltbar ist. Doch damit ist noch nicht zwangsläufig gesagt, dass sich das Mediatisierte in verschiedenen Medien jeweils anders ausformt. Hier müssen wir den Bogen zurückschlagen zu Sybille Krämer, die wir oben bei der problematischen Beziehungsbestimmung zwischen Medium und Zeichen bereits zu Rate gezogen haben und wo wir auf die These von der medialen Spur am Zeichen gestoßen sind. Diese entwickelt Krämer zunächst an einem Modell vom konventionellen Zeichen, dem Symbol (im Gegensatz zum Index oder Ikon) in der Termino- logie von Charles S. Peirce.102
„Doch mit der medialen Dimension von Zeichenprozessen - und es gibt keine Zeichen ohne ein Medium - kommt etwas in den Blick, was dieses Schema vereinbarter Zeichenbedeutung nicht umstandslos erfüllt: Die Prägekraft eines Mediums - und das ist die Vermutung, auf die es hier ankommt - entfaltet sich in der Dimension einer Bedeutsamkeit jenseits der Strukturen einer konventionalisierten Semantik. Und es ist die Materialität des Mediums, welche die Grundlage abgibt für diesen ‚Überschuß’ an Sinn, für diesen ‚Mehrwert’ an Bedeutung, der von den Zeichenbenutzern keineswegs intendiert und ihrer Kontrolle auch gar nicht unterworfen ist. Kraft ihrer medialen Materialität sagen die Zeichen mehr, als ihre Benutzer damit jeweils meinen.“103
Als Beispiel verweist Krämer auf das Wechselspiel zwischen Stimme und Rede. Die Stimme ist das Medium der Rede, sie macht Aussagen, aber die Stimme kommentiert diese auch.
[...]
1 H. J. Schneider 2006; S. 884. Schneider gibt zwar nicht an, worauf er sich mit „iconic turn (2004)“ beruft, meint aber wohl: Burda und Maar 2004.
2 Seel 2000; S. 255.
3 Sachs-Hombach 2006; S. 9.
4 Vgl. H. J. Schneider 2006; S. 884.
5 Vgl. Liptow 2008; S. 695.
6 Seel 2000; S. 260. Seel versteht unter ‚Bild-Gegenstand’ nicht, wie viele andere Autoren, das Sujet eines
Bildes, sondern den Bild-Träger, das Objekt ‚Bild’. Er exemplifiziert damit die oben angesprochenen Probleme in der heterogenen Terminologie.
7 Scholz 2004; S. 13.
8 Vgl. Scholz 2004; S. 14.
9 Vgl. Scholz 2004; S. 15.
10 Ein Weg, den Nelson Goodman in seinen ‚Sprachen der Kunst’ gegangen ist und über den er dann im Nachhinein auch die Unterschiede zwischen diesen beiden Symbolsystemen und der Sprache ausmachen konnte. Vgl. Goodman 1997, insbesondere S. 101 ff.
11 Vgl. Sachs-Hombach. 2006; S. 100 ff.
12 Seel 2000; S. 280. Die hier konstatierte Wahrnehmungsnähe ist eine These von Klaus Sachs-Hombach, die sich breiter Beliebtheit innerhalb der Bildtheorie erfreut. Ihrer Untersuchung wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit der Stellenwert eingeräumt, der ihr aufgrund dieser weiten Verbreitung gebührt. Vgl. Sachs-Hombach 2006; S. 10.
13 Vgl. Stetter 2005a; S. 127.
14 H. J. Schneider 2006; S. 884.
15 Vgl. zur Medienneutralitätsthese etwa Scholz 2004; S. 106/107 oder Sachs-Hombach 2006; S. 99.
16 Vgl. Wiesing 2005; S. 17 ff.
17 Vgl. Wiesing 2005; S. 31.
18 Vgl. Sachs-Hombach 2006; S. 10.
19 Wiesing 2005; S. 11.
20 Diese Einteilung geht auf Lambert Wiesing zurück. Vgl. Wiesing 2005; S. 17. Es sind natürlich andere
Einteilungen möglich und auch vorgenommen worden. Vgl. etwa Sachs-Hombach 2001. S. 16 ff. oder Scholz 2000. S. 618-696. Bei meiner Lektüre erwies sich die gewählte Einteilung aber als zweckmäßig.
21 Sachs-Hombach 2006; S. 37. Wir werden allerdings sehen, dass Sachs-Hombach sich selbst nicht an diesen Vorsatz hält.
22 Vgl. Sachs-Hombach 2006; S. 90.
23 Vgl. Sachs-Hombach 2006; S. 91.
24 Vgl. Sachs-Hombach 2006; S. 14 ff und 67 ff.
25 Wovon Lambert Wiesing ausgeht. Vgl. Wiesing 2005; S. 28 ff.
26 Hiervon geht wiederum Hans Belting aus. Vgl. Belting 2007a; S. 15 ff.
27 Vgl. etwa Wiesing 2005; S. 30 ff. und Belting 2004. S. 116 ff.
28 Goodman 1984; S. 157.
29 Stetter 2005a; S. 9.
30 Vgl. Stetter 2005a; S. 21.
31 Margreiter 2003; S. 152.
32 Vgl. Margreiter 2003; S. 154.
33 Stetter 2005a; S. 73.
34 Vgl. Wiesing 2005; S. 149.
35 Vgl. zu dieser Aufzählung Wiesing 2005; S. 150ff.
36 Vgl. Wiesing 2005; S. 150.
37 Bußmann 2002; S. 354.
38 Margreiter 2003; S. 155.
39 Wiesing 2005; S. 31. Er bezieht sich auf Fiedler 1991.
40 Wiesing 2005; S. 33.
41 Margreiter 2003; S. 170.
42 Krämer 1998; S. 78/79.
43 Krämer 1998; S. 81.
44 Krämer 1998; S. 90.
45 Vgl. Saussure 1967; S. 76 ff.
46 Vgl. Margreiter 2003; S. 158.
47 Vgl. Seel 1998; S. 244 ff.
48 Seel 1998; S. 244.
49 Vgl. Seel 1998; S. 244.
50 Seel 1998; S. 246.
51 Vgl. Krämer 1998; S. 83.
52 Krämer 1998; S. 83/84.
53 Krämer 1998; S. 84/85.
54 Stetter 2005a; S. 67.
55 Stetter 2005a; S. 68.
56 Stetter 2005a; S. 69/70.
57 Vgl. Stetter 2005a; S. 71.
58 Vgl. Stetter 2005a; S. 70 f.
59 Stetter 2005a; S. 73.
60 Stetter 2005a; S. 74.
61 Stetter 2005a; S. 74. Vgl. auch Goodman 1997; S. 140.
62 Stetter 2005a; S. 74.
63 Vgl. Goodman 1997; S. 15 ff.
64 Stetter 2005a; S. 74.
65 Allerdings sehe ich kein Problem darin, dem gängigen Sprachgebrauch zu folgen und vom Medium Bild oder vom Medium Schrift zu sprechen, solange wir dabei nicht vergessen, dass diese Medien auf Performanzereignisse zurückgehen, wir also - um im oben gewählten Bild zu bleiben - nicht das Papier für das Medium und die Tinte für das Symbol halten.
66 Vgl. Stetter 1997; S. 273 ff.
67 Vgl Stetter 1997; S. 294.
68 Vgl. Wiesing 2005; S. 29.
69 Wiesing 2005; S. 29.
70 Vgl. Wiesing 2005; S. 30. Sowie Husserl 1984, S. 436f.
71 Wiesing 2005; S. 31.
72 Vgl. Wiesing 2005; S. 33.
73 Vgl. Wiesing 2005; S. 154.
74 Wiesing 2005; S. 155.
75 Vgl. Wiesing 2005; S. 155.
76 Vgl. Wiesing 2005; S. 157.
77 Wiesing 2005; S. 158.
78 Wiesing 2005; S. 160.
79 Vgl. hierzu insbesondere Wiesing 2005; S. 37 ff.
80 Krämer 1998; S. 73.
81 Vgl. Stetter 2005a; S. 74.
82 Was Wiesing auch nicht leugnet. Vgl. Wiesing 2005; S. 158.
83 Stetter 2005a; S. 58.
84 Vgl. Goodman 1997; S. 125 ff. Wir werden im nächsten Kapitel darauf zurückkommen.
85 Vgl. Wiesing 2005; S. 150.
86 Vgl. Jäger 2000; S. 15 f.
87 Vgl. Shannon und Weaver 1963.
88 Vgl. Jäger 2000; S. 15.
89 Vgl. Wiesing 2005; S. 160.
90 Vgl. Wiesing 2005; S. 157.
91 Vgl. Jäger 2000; S. 22.
92 Wiesing 2005; S. 31.
93 Vgl. Jäger 2000; S. 9 ff.
94 Vgl. Jäger 2000; S. 12.
95 Jäger 2000; S. 12.
96 Vgl. Jäger 2000, S. 20. Jäger beruft sich hier auf Cassirer 1983.
97 Vgl. J. G. Schneider 2003 und Wittgenstein 1984.
98 J. G. Schneider 2003; S. 29/30. Er beruft sich hier auf H. J. Schneider 1992; S. 24.
99 Vgl. Jäger 2000; S. 29.
100 Vgl. Jäger 2000; S. 28 ff. Damit bezieht er sich auf die oben bereits diskutierte Spuren-These des Mediums von Sybille Krämer. Vgl. Krämer 1998. Mehr dazu weiter unten.
101 Jäger 2000; S. 29.
102 Vgl. zu Peirce’ Systematik der Zeichen Pape 1996; S. 310 ff.
103 Krämer 1998; S. 78/79.
- Quote paper
- Daniel Brockmeier (Author), 2009, Bild, Sprache, Schrift - Zum Sprachverständnis in der zeitgenössischen deutschsprachigen Bildtheorie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146684
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