Diese Modularbeit bearbeitet die Problematik des Wahlrechts für Minderjährige aus der Perspektive der Philosophie. Dabei wird hinterfragt, was wir unter dem historischen Begriff „Kind“ verstehen. Dann wird Wahlrecht philosophisch, um im Hauptteil dieser Modularbeit Argumente dafür zu sammeln, inwiefern der Ausschluss der Kinder vom Wahlrecht philosophisch zu rechtfertigen ist bzw. nicht zu rechtfertigen ist, um im Abschluss zu einem Fazit, zur philosophisch fundierten Beantwortung der Frage zu kommen, ob wir Kinder und Jugendliche das Wahlrecht vorenthalten dürfen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
1.1. Begriffsklärung: Kinder und Kindheit
1.2. Philosophische Gründe für das Wahlrecht
2. Dürfen wir Kindern das Wahlrecht vorenthalten?
2.1. Ja, weil - Philosophische Argumente gegen das Minderjährigenwahlrecht
2.2. Nein, weil - Philosophische Argumente für das Minderjährigenwahlrecht
3. Fazit
4. Literatur
1. Einführung
In Debatten um die politische Mitbestimmung von Minderjährigen im Staat, insb. in Diskussionen, ob und inwiefern das Wahlrecht für Kinder geöffnet oder ob es ihnen vorenthalten werden sollte, werden häufig Argumente aus verschiedenen Disziplinen herangezogen. So z.B. Argumente aus der Kinder- und Jugendpsychologie: Kinder sind unter Berücksichtigung ihrer psychologischen Entwicklung, v.a. unter der Berücksichtigung der Entwicklungspsychologie Piagets, kognitiv nicht in der Lage, die Tragweite und die Konsequenzen ihrer (politischen) Entscheidungen zu überblicken[1], bringen daher die Voraussetzungen für die Beteiligung an Wahlen, die jenes kognitive Wissen herausfordern, nicht mit. Diesen Aspekt der Kognitions- und Entwicklungspsychologie umfassend zu untersuchen, würde bedeuten, zu hinterfragen, inwiefern Kinder tatsächlich kognitiv nicht in der Lage sind, (politische) Entscheidungen oder Urteile zu treffen. Diese Modularbeit hat aber nicht den Anspruch, diese Frage aus der Disziplin der Psychologie umfassend zu reflektieren und konzentriert sich stattdessen auf die Problematik des Wahlrechts für Minderjährige aus der Perspektive der Philosophie. Dabei hinterfragt diese Modularbeit zunächst kurz, was wir unter dem historisch, philosophisch und pädagogisch geprägten Begriff „Kind“ heute verstehen. Daraufhin wird dieses Modularbeit in Ansätzen der Frage nachgehen, inwiefern das Wahlrecht nicht nur juristisch, sondern auch philosophisch begründet werden kann. Diese Grundlagen werden schließlich genutzt, um im Hauptteil dieser Modularbeit Argumente dafür zu sammeln, inwiefern der Ausschluss der Kinder vom Wahlrecht philosophisch zu rechtfertigen ist bzw. inwiefern der Ausschluss der Kinder vom Wahlrecht philosophisch nicht zu rechtfertigen ist, um im Abschluss zu einem Fazit, zur philosophisch fundierten Beantwortung der Frage zu kommen, ob wir Kinder und Jugendliche das Wahlrecht vorenthalten dürfen.
1.1. Begriffsklärung: Kinder und Kindheit
Das Bild vom Kind ist heute historisch geprägt durch das Bild vom Kind in der Neuzeit. In der Epoche der Aufklärung verliert das Kind seine religiöse kultische Symbolkraft, das es im Mittelalter mit dem Vorbild des heiligen, göttlichen Jesuskindes gewonnen hat. Das Kind gewinnt im Zuge der Aufklärung, in der aufblühenden Philosophie des 18. Jhds., eine zentrale Rolle. Es befindet sich fortan im Rahmen der Erziehung, im Sinne einer „Menschwerdung“. Immanuel Kant verdeutlicht:
Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.[2]
Somit ist Kindheit auf Erziehung und Erziehung auf die Zukunft gerichtet, auf das zukünftige Ideal der „Menschheit“:
Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich besseren Zustand des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit, und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden.[3]
Meike Sophie Baader schreibt:
In den theoretischen Entwürfen des 18. Jahrhunderts, des Zeitalters der Aufklärung, setzte sich eine veränderte Vorstellung vom Individuum durch. Es wurde als autonomes, selbstverantwortliches und vernunftgeleitetes Wesen konzipiert. (…) Um jene veränderten Vorstellungen vom Individuum durchzusetzen und dieses zur Autonomie zu befähigen, das heißt, es in den Stand zu versetzen, sich des ‚Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen‘ bedurfte es der Erziehung.[4]
Das Ziel der Erziehung der Kinder lag in der Epoche der Aufklärung in dem Erreichen einer „Vernünftigkeit“[5], die der Menschheit zugesprochen wurde, die Kindern im Rahmen ihrer Kindheit aber abgesprochen wurde, womit sich eine Erziehungsbedürftigkeit und somit eine Pädagogik rechtfertigte und sich etablierte, womit sich so Kindheit als Trennung zur Menschheit (bzw. zur „Erwachsenheit“) vollzog. Heute würden wir jene „Vernünftigkeit“ wohl salopp und unter dem Einfluss des Juristischen „Volljährigkeit“ nennen, in Trennung zur „Minderjährigkeit“. Die „Vernünftigkeit“ wurde in der Aufklärung als Abwesenheit der Triebe verstanden. Vernünftigkeit hieß vor allem: „Disziplinierung von Sinnlichkeit“.[6] Joachim Heinrich Campe stellt in seiner „kleinen Seelenkunde“ fest, dass Kinder nicht vernünftig, sondern triebgeladen sind. Aus jener Feststellung wird eine Festlegung für die Kindheit an sich: Da Kinder triebgeladen sind, ist Kindheit an sich triebhaft. Inge Stephan zitiert aus den Schriften Campes, die er als Sprachrohr aller Kinder nutze: „Oh Pfui! Ich wollte, dass wir den Trieb nicht hätten“[7]. Baader bestätigt, dass das Kind in der Aufklärung zu einem „moralisches Verhalten“ ausgebildet werden sollte, um „seine Begierden zu beherrschen.“[8] . Jedes Kind sollte idealerweise zukünftig ein frei denkender Mensch im Sinne der kantischen Aufklärung, sich seines eigenen Verstandes ohne Anleitung Anderer zu bedienen, werden, was es gegenwärtig als Kind an sich noch nicht war, jedenfalls nicht in den Vorstellungen der Aufklärer. Daher benötigte jedes Kind Erziehung, was im Grunde nicht hieß, dass jedes Kinder seine Erziehung im Rahmen seiner individuellen Förderung erhielt, sondern alle Kinder die gleiche Erziehung. Die Erziehung der Aufklärer gestaltete sich unabhängig von der realen kognitiven Leistungsfähigkeit der Kinder, unabhängig von der Berücksichtigung kindlicher Entwicklungsphasen, unabhängig von persönlichen Vorlieben oder Interessen der Kinder, unabhängig von ihrer Individualität und Subjektivität, , jene gewinnt erst im Zuge der Reformpädagogik durch Ellen Key ab dem Anfang des 20. Jhds. an Einfluss. Kinder wurden in der Aufklärung, im Rahmen ihrer Erziehung, im Rahmen der Pädagogik als Kindheit homogenisiert und objektiviert. Möller betont, dass die Aufklärer in ihrer Erziehung vor allem „belehrend“ waren, die Aufklärung sei daher ein „pädagogisches Jahrhundert“.[9] Das Bild vom Kind in der Epoche der Aufklärung ist daher konsequent mit der Pädagogik im Sinne der Belehrung verbunden. Ziel der Pädagogik der Aufklärung war ein zukünftiges Vernunftideal, das als „Menschwerdung“ verstanden wurde. Das reale Kind wurde damit pädagogisch theoretisiert. Es wurde abstrakt. Das Kind wurde in der Zeit der Aufklärung zum „Objekt der Erziehung“[10]. So schreibt Inge Stephan:
Als eigenständige Gruppe erfasst wurden die Kinder alsbald zum bevorzugten Objekt der Erziehung.[11]
Kurzum: Kinder wurden in der Aufklärung nicht als eigenständige, selbstbewusste und mündige Subjekte, nicht als Persönlichkeiten oder Individualitäten wahrgenommen, sondern als Objekte der Erziehung, die eigenständig, selbstbewusst und mündig werden sollten, aber gegenwärtig, als Kinder nicht eigenständig, selbstbewusst und mündig waren. Somit wurde Kindheit zum Zukunftsprojekt. Somit wurden Kinder im Grunde zu Mängel- bzw. Defizitwesen, die der Erziehung bedürfen, um ihre Defizite mit der Methode der Erziehung zu beheben. Kinder ist damit quasi „erfunden“ worden, als Kontrast und in Trennung zur Vernunft des Erwachsenen, darauf verweist v.a. Philippe Ariès[12].
Neil Postman verweist auf Ariès, wenn er betont, dass die neuzeitliche Erfindung der Kindheit im 20. Jhd. verschwindet.[13] Hierzu schiebt er Medien, insb. dem Fernsehen die Schuld in die Schuhe. Durch das Fernsehen seien Kinder heute aufgeklärter, reifer und sie seien im Grunde heute „kleine Erwachsene“.
Ich denke: Das Bild vom unmündigen und unvernünftigen Kind hat Auswirkungen auf den Umgang mit Kindern bis heute ins 21. Jhd.: Kindheit wird bis heute nicht mit Vernunft, Reife oder Mündigkeit in Verbindung gebracht. Kindern wird daher bis heute weitgehend nicht zugetraut, rechtsverbindliche und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Kinder gelten noch heute als unter der Defizitperspektive als erziehungsbedürftig. Entsprechend gelten Kinder noch heute als „naiv“, als „unreif“ und gar als „unzurechnungsfähig“[14] und „verantwortungslos“. In diesem Sinne führt dieses weit verbreitete Bild vom Kind zwangsläufig zum Ausschluss der Kinder von Kernbereichen der Verantwortung Erwachsener, so z.B. zum Ausschluss von politischer Verantwortung, von politischer Mitbestimmung und somit zum Ausschluss von politischen Wahlen, trotz aller antipädagogischen Versuche und Experimente der 1970er Jahre, Kinder als eigenverantwortliche Subjekte zu begreifen, die mit Erwachsen in Gleichrangigkeit und Gleichberechtigung leben können und sollen, um in der Folge Erziehung abzuschaffen und zu fordern, Kinder sollten an Wahlen teilnehmen dürfen[15].
Inwiefern das Bild vom Kind sich heute im Zuge der Individualisierung im 21. Jhd. verändert, inwiefern wir von einem „Wandel der Kindheit“ reden können, kann hier nicht weiter vertieft werden. Hierzu sei nur gesagt, dass in der Kindheitsforschung immer mehr die Ansicht sich etabliert, dass Kinder nicht mehr in der Defizitperspektive zu betrachten seien, sondern als „Autoritäten in eigener Sache“, als Bürger, die im Rahmen ihrer (Kinder-)Rechte Partizipation in der Gesellschaft erfahren (sollen) können[16]. Die Subjektivität des Kindes und die Heterogenität der Kinder, die Berücksichtigung der Individualität des Kindes im Speziellen führt zwangsläufig zu Reformen in Schulen, in denen immer mehr Wert auf die „individuelle Förderung“ gelegt wird, wobei auch hier wieder mit dem Begriff der „Förderung“ eine Defizitperspektive mitschwingt.
Nach den hier nun vorliegenden Ansätzen, den Begriff „Kinder“, wie den Begriff „Kindheit“ zu klären, wird im Folgenden das Wahlrecht näher untersucht. Hierbei konzentriert sich die Modularbeit auf ausgewählte philosophische Gründe, mit denen das Wahlrecht gerechtfertigt werden kann.
1.2. Philosophische Gründe für das Wahlrecht
Das Wahlrecht ist juristisch betrachtet ein Grundrecht. Im Artikel 20 GG heißt es, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
Somit sichert das Grundgesetz jedem Bürger in Deutschland das Wahlrecht zu. Durch dieses Wahlrecht nehmen die Bürger und Bürgerinnen der Bundrepublik Deutschland Einfluss auf die politische Meinungsbildung des Landes. Dazu wählen Bürger Vertreter bzw. Repräsentanten ihrer jeweiligen Interessen. Diese Mitbestimmung steht nicht nur im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Menschenwürde, wie sie im Artikel 1 GG manifestiert wurde, sie koppelt sich an den Artikel 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, an den Artikel 21, Abs. 1, in dem gesagt wird, dass jeder Mensch das Recht hat,
an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.
[...]
[1] Oerter, Rolf: „Psychologische Aspekte: Können Kinder politisch mitentscheiden?“, In: Palentin, Christian; Hurrelmann, Klaus (Hrsg.): „Jugend und Politik. Ein Handbuch für Forschung, Lehre und Praxis“, Luchterhand, Berlin 1997: S. 34
[2] Rink, Friedrich Theodor (Hrsg.): „ Immanuel Kant über Pädagogik“ In: Vorländer, Karl (Hrsg.): „Immanuel Kant. Sämtliche Werke. Band 8“, Leipzig, 1922
[3] ebd.
[4] Baader, Meike: "Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit : auf der Suche nach der verlorenen Unschuld", Luchterhand, Köln 1996: S. 20
[5] ebd: S. 21
[6] Stephan, Inge: „Aufklärung“, In: Stephan Inge et al: „Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart“, Poeschel Verlag, J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2001: S. 180
[7] ebd.
[8] Baader, Meike: "Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit : auf der Suche nach der verlorenen Unschuld", Luchterhand, Köln 1996: S. 21
[9] Möller, Horst: „Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1986: S. 133
[10] Stephan, Inge: „Aufklärung“, In: Stephan Inge et al: „Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart“, Poeschel Verlag, J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, 2001: S. 180
[11] ebd.: S. 179-180
[12] Ariès, Philippe: „Geschichte der Kindheit“, Dt. Taschenbuchverlag, München, 1984: S. 92, vgl. auch: Richter, Dieter: „Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters“, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1978:: S. 18, vgl. auch: Baader, 1996: S. 20
[13] Postman, Neil: „Das Verschwinden der Kindheit“, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1983: S. 13ff, S. 15
[14] Schneider, Hans-Julius: „Ethisches Argumentieren“, in: Hastedt, Heiner; Martens, Ekkehard: „Ethik. Ein Grundkurs“, Rowohlt, Hamburg 1994: S. 19
[15] z.B. in: Ekkehard von Braunmühl: „Antipädagogik – Studien zur Abschaffung der Erziehung.“, Beltz, Weinheim 1975
[16] Jürgen Zinnecker: „Entwicklung im sozialen Wandel.“ Weinheim 1999, vgl. auch: Palentin, Christian; Hurrelmann, Klaus: „Veränderte Jugend – veränderte Formen der Beteiligung Jugendlicher?“, in: Palentin, Christian; Hurrelmann, Klaus: „Jugend und Politik – Ein Handbuch für Forschung, Lehre und Praxis“, Luchterhand 1997
- Citar trabajo
- Udo Lihs (Autor), 2010, Dürfen wir Kindern das Wahlrecht vorenthalten?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146385
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