Die Pest stellt einen der größten europäischen Erinnerungsorte dar. So verbindet man seit Jahrhunderten mit dieser Seuche Leiden, Verzweiflung und ein einsames, qualvolles Sterben. Kein Bereich des menschlichen Lebens blieb von den Auswirkungen der Pest verschont.
Seuchen, welche der Schulmedizin ihre Grenzen zeigten, riefen immer wieder individuelle und kollektive Maßnahmen auf den Plan, die die Brüchigkeit rationaler Theorien aufzeigte.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Großen Pest von 1348-1352. Dabei ist es notwendig, die komplexen Struktur- und Funktionszusammenhänge der spätmittelalterlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen herauszuarbeiten. Zu Beginn der Arbeit wird auf die krisenhafte Entwicklung Europas im 14.Jahrhundert eingegangen, um die historischen Zusammenhänge zu verdeutlichen. Daran anschließend erfolgt eine Darstellung des medizinischen Bildes der Pest aus heutiger Sicht. Diese Erklärungen liegen darin begründet, dass ohne Kenntnis von Grundzügen der Seuchenlehre manche von zeitgenössischen Chronisten beschriebene Alltagsphänomene schwer zu verstehen sind.
Das Auftreten der Großen Pest sowie das damit verbundene Massensterben bisher unbekannten Ausmaßes riefen Ängste hervor, die sich im sozialen Verhalten der Menschen niederschlugen und bis in den religiösen Bereich ihre Spuren hinterließen. Es ist daher ein zentraler Bestandteil der Arbeit, die verschiedenen Facetten menschlicher Reaktionen zu beleuchten. Da das mittelalterliche Alltagsleben eng mit dem kirchlichen System verflochten war, muss darüber hinaus die Stellung der Kirche und ihrer geistlichen Vertreter besonders ausführlich erörtert werden. Daran anschließend gilt es im weiteren Verlauf, die Verfolgungsphänomene gegen Randgruppen zu untersuchen. So kam es durch den Ausbruch der Pest zu der bis dahin extremsten Judenverfolgung in Europa. Darüber hinaus müssen die so genannten Geißlerbewegungen des Spätmittelalters als eine ausgeprägte Begleiterscheinung der Pest gesehen werden. Auf diesen Untersuchungen basierend soll der übergeordneten Fragestellung nachgegangen werden, ob und wie weit die Pest die Ursache oder lediglich der Auslöser solcher Erscheinungen war.
Inhalt
1. Einleitung
2. Europa am Vorabend des Schwarzen Todes
3. Das medizinische Bild der Pest
3.1. Infektionskette
3.2. Arten der Pest
3.2.1. Beulenpest
3.2.2. Pestsepsis
3.2.3. Lungenpest
3.3. Moderne Behandlungs- und Vorbeugungspraktiken
3.4. Krankheitsverlauf
3.5. Ursprung und geographische Ausbreitung der Pest im 14.Jahrhundert
4. Pest innerhalb mittelalterlicher Deutungsmuster
4.1. Pfeile Appollons
4.2. Miasma - das Gift der Luft
4.3. Kontagionismustheorie
4.4. Astrologisches Ungleichgewicht
5. Reaktionsmuster
5,1. Reaktionen der Ärzte auf die Pest
5.2. Kommunale Reaktionen auf die Pest
5.3. Die bruderschaftliche Bewältigung der Pest
5.4. Heiligenverehrung
5.5. Reaktionen des Papstes
5.6. Reaktionen des Hohen Klerus
5.7. Niederer Klerus; Weltklerus; Ordensklerus
5.8. Individuelle Reaktionen auf die Seuche
6. Geißlerbewegung
6.1. Entstehung und Verbreitung der Geißler
6.2. Ursachen der Geißlerbewegung
6.3. Größe, soziale Schichtung und Dauer
6.4. Organisation und Ritual
6.5. Verbot und Bekämpfung
7. Judenverfolgung
7.1. Ursprung des Judenhasses
7.2. Antijüdische Argumentation der Theologie
7.3. Legende: Brunnenvergiftung
7.4. Legende: Hostienfrevel, Ritualmord
7.5. Zinswucher
7.6. Verlauf der Pogrome
7.7. Motive der Pestpogrome
8. Verfolgung anderer Minderheiten
9. Quellenkritik
9.1. Quellenlage
9.2. Zahl der Opfer
9.3. Fehlender Nachweis einer Epizootie
9.4. Unzureichende Begriffsschärfe der Symptome
10. Schlussbetrachtung
11. Quellen- und Literaturverzeichnis
12. Erklärung
1. Einleitung
Die Pest stellt einen der größten europäischen Erinnerungsorte dar. So verbindet man seit Jahrhunderten mit dieser Seuche Leiden, Verzweiflung und ein einsames, qualvolles Sterben. Kein Bereich des menschlichen Lebens blieb von den Auswirkungen der Pest verschont.
Seuchen, welche der Schulmedizin ihre Grenzen zeigten, riefen immer wieder individuelle und kollektive Maßnahmen auf den Plan, die die Brüchigkeit rationaler Theorien aufzeigte.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Großen Pest von 1348-1352. Dabei ist es notwendig, die komplexen Struktur- und Funktionszusammenhänge der spätmittelalterlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen herauszuarbeiten. Zu Beginn der Arbeit wird auf die krisenhafte Entwicklung Europas im 14.Jahrhundert eingegangen, um die historischen Zusammenhänge zu verdeutlichen. Daran anschließend erfolgt eine Darstellung des medizinischen Bildes der Pest aus heutiger Sicht. Diese Erklärungen liegen darin begründet, dass ohne Kenntnis von Grundzügen der Seuchenlehre manche von zeitgenössischen Chronisten beschriebene Alltagsphänomene schwer zu verstehen sind.
Das Auftreten der Großen Pest sowie das damit verbundene Massensterben bisher unbekannten Ausmaßes riefen Ängste hervor, die sich im sozialen Verhalten der Menschen niederschlugen und bis in den religiösen Bereich ihre Spuren hinterließen. Es ist daher ein zentraler Bestandteil der Arbeit, die verschiedenen Facetten menschlicher Reaktionen zu beleuchten. Da das mittelalterliche Alltagsleben eng mit dem kirchlichen System verflochten war, muss darüber hinaus die Stellung der Kirche und ihrer geistlichen Vertreter besonders ausführlich erörtert werden. Daran anschließend gilt es im weiteren Verlauf, die Verfolgungsphänomene gegen Randgruppen zu untersuchen. So kam es durch den Ausbruch der Pest zu der bis dahin extremsten Judenverfolgung in Europa. Darüber hinaus müssen die so genannten Geißlerbewegungen des Spätmittelalters als eine ausgeprägte Begleiterscheinung der Pest gesehen werden. Auf diesen Untersuchungen basierend soll der übergeordneten Fragestellung nachgegangen werden, ob und wie weit die Pest die Ursache oder lediglich der Auslöser solcher Erscheinungen war.
2. Europa am Vorabend des Schwarzen Todes
Nicht erst die Pest führte zur krisenhaften Situation des spätmittelalterlichen Europas. Nach einer Periode des allgemeinen Wachstums, das geprägt war durch einen starken Bevölkerungszuwachs, Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität, Vermehrung von Siedlungen sowie Entwicklung der Geldwirtschaft, begann zu Beginn des 14.Jahrhunderts der wirtschaftliche Niedergang einzusetzen.[2][1]
Buckl verweist allerdings darauf, dass das 14.Jahrhundert oft als „Herbst des Mittelalters“[3] dargestellt wird und wirft die Frage auf, ob man dieser Periode gerecht werden könne, wenn man es lediglich als ausklingendes Verblühen eines vergangenen Sommers gelten lässt. Vielmehr müsse man sich von geläufigen Denkmustern wie Ausklang, Verfall, Niedergang oder Dahinsiechen lösen. Das krisenhafte 14.Jahrhundert sei demnach auch eine Phase der Vorbereitung auf Neues, indem die Faszination des Wandels liege.[4]
Zinn fügt dem hinzu, dass die Metapher vom Herbst einer Epoche zwar gerechtfertigt sei, jedoch die italienische Renaissance bereits auf die geographische Begrenztheit solcher Deutungen verweist. Die bereits existierenden Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft kennzeichnen bereits den Anfang der Neuzeit.[5]
So lassen sich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zahlreiche Höhepunkte festmachen. Nach dem Ende des Staufischen Hauses und den folgenden Thronstreitigkeiten bekommt Europa wieder Stabilität unter dem Luxemburger Karl IV. Die Städte werden zum Zentrum kultureller Entwicklung. So entstanden gotische Kirchen in Mittel- und Westeuropa, gewaltige Rathausbauten, prunkvolle steinerne Patrizierhäuser und in vielen Städten hohe Stadtmauern mit Türmen und Toren als Zeichen höchster Zivilisation.[6] In dieser Zeit wird die Hanse zur wirtschaftlichen und politischen Großmacht und deutsche Ritterorden in Preußen erschaffen dauerhafte Kulturleistungen. Die Schweizer kämpften für ihre Unabhängigkeit und die Fürsten lassen sich ihr Wahlrecht durch Karl IV. in der Goldenen Bulle verbriefen. Neuerungen gibt es auch in der Landwirtschaft. Durch die Verbesserung der Dreifelderwirtschaft können höhere Erträge erzielt werden. Revolutionär waren auch die Entwicklung von Feuerwaffen sowie die Konstruktion mechanischer Uhren.[7]
Trotz vieler Innovationen und tief greifender politischer Veränderungen begann für die Masse der europäischen Menschen vom 14. Jahrhundert an eine Zeit permanenter Ängste, wie sie das Mittelalter nicht kannte.[8] Katastrophen wie die Unglücksflut von Holland und einer folgenden Hungersnot (1315-1317), das Einsetzen der „Kleinen Eiszeit“ nach der mittelalterlichen Wärmephase, erhebliche Schäden und Ernteausfälle durch Heuschreckeneinfälle (1338) sowie der „Hundertjährige Krieg“ (1337- 1453)[9] waren zu Beginn der Pest tief im Bewusstsein der Menschen verankert.
Der Glaube war das Wesentlichste für die damaligen Menschen. Die Glocken bestimmten den Tagesablauf und die Kirche begleitete die Menschen auf allen Stationen ihres Lebens.[10] Der Klerus befand sich zur Mitte des 14. Jahrhundert allerdings in einer schweren moralischen Krise und die Gläubigen standen der Kirche mit einer zur Abneigung tendierenden Ambivalenz gegenüber. So waren der Sittenverfall des Klerus, die Vernachlässigung der Amtstätigkeit sowie die Geldgier vieler Kleriker die wichtigsten Gründe für den Unmut der Bevölkerung.[11]
Signale für eine Krise in der Christenheit waren allerdings vorher schon deutlich geworden. Die Bettelorden des Franz von Assisi und des heiligen Dominikus setzten dem zunehmenden Werteverfall der Kirche und ihrem weltlichen Reichtum ein alternatives Leben in urchristlicher Armut entgegen. Das Papsttum floh Anfang des 14. Jahrhunderts aus der Unsicherheit der römischen Verhältnisse und verlegte seine Residenz in das südfranzösische Avignon, womit für die Kirche eine verhängnisvolle Entwicklung begann. Die Päpste gerieten von nun an in die Abhängigkeit des französischen Königs, der mit Nachdruck Forderungen stellte. Durch die Ernennung zahlreicher Franzosen, darunter etliche Angehörige des Papstes, hatten diese bald die Zweidrittelmajorität im Kardinalskollegium. Da von nun an nur noch Franzosen zum Papst gewählt wurden, sprach man von der „Babylonischen Gefangenschaft“ der Kirche.[12]
Es herrschten viele kriegerische Auseinandersetzungen und Fehden, die durch die Verbreitung der neu entwickelten Feuerwaffen sehr brutal geführt wurden. Dies äußerte sich oft durch eine flächendeckende Vernichtung der betroffenen Gebiete, das Niederbrennen von Häusern und Stallungen, das Verwüsten von Gärten und Feldern sowie das Ausplündern und Vergewaltigen der ansässigen Bauern.[13]
Die vielerorts bedrohlichen Situationen, die gehäuften militärischen Auseinandersetzungen, die Missernten sowie der Verlust der geistigen Autorität der Kirche erfüllten die Menschen dieser Zeit mit Sorgen, Zweifeln und Zukunftsängsten.[14] Die Angst wurde zum ständigen Begleiter der Menschen.[15]
Das 14. Jahrhundert war über weite Strecken eine Zeit des Sinnverlustes. Mit Einsetzen der Pest in den 1340er Jahren kam die Todesangst nach Europa und das Menschenleben verlor so augenfällig an Wert und Bedeutung, dass die Werte und Normen der Vergangenheit in der Realität nun keinen Halt mehr fanden.[16] Die zunehmende Orientierungslosigkeit der Gesellschaft förderte die Zukunftsängste. Der junge Petrarca[17] glaubte, längst vor Ausbruch der Pest eine Vergreisung der zeitgenössischen Kultur wahrzunehmen. Ihm schienen Kirche, Universitäten, Kunst, Literatur, Sitten und Gebräuche gleichermaßen verdorben.[18] So notierte er in seiner Autobiographie: „Ich wünschte, in jedem anderen Zeitalter geboren zu sein, und um die Gegenwart zu vergessen, suchte ich mich im Geiste in andere Epochen zu versetzen“. Damit spielt Petrarca auf die Antike an, der er die Perspektivlosigkeit und Verkommenheit des eigenen Jahrhunderts gegenüberstellt.[19]
Das 14. Jahrhundert erscheint als Krisenepoche par exellence[20]. Von den zeitgenössischen Chronisten werden alle krisenhaften Erscheinungen im Nachhinein als Vorboten des Schwarzen Todes gedeutet.[21] Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen sind die institutionellen, kulturellen aber auch individuellen Reaktionen auf das Massensterben zu interpretieren.
3. Das medizinische Bild der Pest
Die Pest (Pestilenz)[22] ist eine hochgradig ansteckende Infektionskrankheit, die durch das Bakterium Yersinia pestis ausgelöst wird. Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts sind die Ursachen und Infektionswege der Pest bekannt. Das Bakterium wurde von Alexandre Émile Jean Yersin 1894 entdeckt und ursprünglich nach Louis Pasteur Pasteurella pestis getauft, später jedoch Yersin zu Ehren umbenannt.
3.1 Infektionskette
Als Bedingung für das Auftreten der Pest unter den Menschen zählt eine vorhergehende Pestepidemie unter Ratten (Epizootie). Der traditionelle Infektionsweg der Pest, auf dem wohl die meisten historischen Pestwellen über die Menschheit kamen, verlief folglich von der Ratte über den Rattenfloh (Xenopsylla cheopis) zum Mensch. Dabei nehmen die Flöhe die Pestbazillen eines infizierten Nagetiers auf, ohne selbst daran zu erkranken. Die von den Flöhen einst aufgenommenen Pestbazillen vermehren sich im Eingangsbereich der Flohmägen so stark, dass dieser verstopft wird. Beim erneuten Blutsaugen muss sich der Floh erst in die Bisswunde des Wirtes erbrechen, bevor er wieder Blut saugen kann. So gelangen große Mengen des Pesterregers in die Blutbahn des Wirtes.[23] Verenden nun die in Wald und Feldregionen lebenden Wirtstiere, suchen sich die Flöhe Wander- oder Hausratten als neuen Wirt. Da Ratten in den verschmutzten Wohnsiedlungen ideale Lebensbedingungen fanden und darum die Nähe der Menschen suchten, gerieten auch die Flöhe in das menschliche Umfeld. Verendete die nun infizierte Rattenpopulation an der Erkrankung, wechselten die Flöhe erneut, um nun den Menschen zu infizieren.[24] Befällt der Floh die Wanderratte (rattus norwegicus), tritt die Pest mit hoher Wahrscheinlichkeit nur hier und dort in unregelmäßigen Abständen auf, ohne dass sie sich dabei zu einer wirklichen Epidemie entwickelt. Wird jedoch die Hausratte (rattus rattus) infiziert, gelangt der Erreger massenhaft in menschliche Siedlungsräume, in Häuser, in Speicher, in Keller, aber auch in Laderäume von Schiffen.[25]
Der Floh war also für die Übertragung der Pest entscheidend. Besonders gefährlich waren infizierte bzw. blockierte Flöhe, da sie während der Blockade hungerten und häufiger stachen.[26] Neben dem beschriebenen Infektionsweg via Flohbiss ist ebenfalls eine Infektion mit Flohkot möglich. Beim Menschenflohbefall wird der Kot durch starkes Jucken in die Haut gerieben oder gelangt durch offene Wunden oder Ekzeme in die Blutbahn des Wirtes.[27] Die entscheidende Rolle des Flohs wurde auch darin deutlich, dass der Umgang mit Infizierten bei Abwesenheit der Flöhe relativ gefahrlos war. Kam es allerdings zum Befall der Lunge, so konnte durch eine Tröpfcheninfektion die Pest aber dennoch übertragen werden.[28]
3.2 Arten der Pest
3.2.1 Beulenpest
Die Hautinfektionen, meist durch Flohstiche (-bisse) hervorgerufen, führte nach einer Inkubationszeit von sechs bis zehn Tagen meist zur Beulenpest (Bubonenpest)[29].
Boccacio[30] notiert hierzu:
„Es bildeten sich nämlich bei Männern und Frauen in gleicher Weise Schwellungen in der Leistengegend oder unter den Achseln, von denen einige mehr oder weniger die Größe eines Apfels oder eines Eis erreichten und vom Volk Pestbeulen genannt wurden. Von diesen beiden Körperstellen breiteten sich die tödlichen Pestbeulen in kurzer Zeit gleichmäßig auf den ganzen Körper aus. Kurz darauf begannen sich die Zeichen der Krankheit in schwarze und blaue Flecken umzuwandeln…“[31]
Nach einer weiteren Woche rasanter Kopfschmerzen, Benommenheit und Fieberschüben setzt entweder eine langsame Besserung ein oder die Lymphbarriere bricht nach innen auf und eine Sepsis[32] führt unweigerlich zum Tod.[33] Brechen die Pestbeulen nach außen auf oder schwellen ab, hat der Patient im günstigsten Falle die Chance auf Genesung mit einer länger anhaltenden Immunität.[34]
3.2.2 Pestsepsis
Diese selten beobachtete Form der Pest entsteht durch Eintritt von Pestbakterien in die Blutbahn. Noch bevor äußerliche Pestmerkmale auftreten, führt diese Form der Pest bereits zum Tode des Infizierten. Wenn historische Darstellungen von Menschen berichten, die ohne Anzeichen einer Erkrankung umfielen und tot waren, dürfte es sich um eine Pestsepsis gehandelt haben.[35] Entstehen kann eine solche Sepsis beispielsweise über offene Wunden, aber auch als Komplikation aus den beiden anderen schweren Verlaufsformen, zum Beispiel durch Platzen der Pestbeulen nach innen. Die Erreger im Blut verteilen sich mit dem Blutstrom im gesamten Körper.
3.2.3 Lungenpest
Die Lungenpest ist eine Art der Lungenentzündung, die durch den Pestbazillus ausgelöst wird. Der Infizierte muss um Luft ringen und atmet dadurch rasch. Hierbei entwickelt er ein Lungenödem[36] und produziert wässrigen Auswurf. Diese Speicheltröpfchen enthalten den tödlichen Bazillus, der sich nun durch Husten, Schnäuzen oder einfach im Gespräch verbreiten kann. Die Lungenpest ist dadurch die einzige Form der Pest, die direkt von Mensch zu Mensch übertragen werden kann.[37] Sie führt fast immer zum Tode, der unter Umständen schon nach einigen Stunden eintreten kann.
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sowohl die Lungenpest als auch die Beulenpest lediglich verschiedene Verlaufsformen ein und derselben Krankheit sind. Im praktischen Alltag konnte es demnach keine Beulenpestepidemie ohne vereinzelte Fälle von Lungenpest geben.[38]
3.3 Moderne Behandlungs- und Vorbeugungspraktiken
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestanden keine medizinisch sinnvollen Behandlungsmöglichkeiten. Erst durch das von Jean Yersin entwickelte Pestserum war eine Vorbeugung möglich. Heutzutage wird die Pest mit verschiedenen Breitband-Antibiotika behandelt. Eingesetzte antibiotische Wirkstoffe sind beispielsweise Streptomycin und Chloramphenicol sowie Kombinationen aus Tetracyclinen und Sulfonamiden. Bei einer frühzeitigen Erkennung der Pestsymptome und einer sehr hohen Dosierung der Medikamente bestehen gute Chancen auf Heilung.[39]
Eine Schutzimpfung gegen die Pesterreger ist temporär möglich, bietet aber nur Immunität bis zu maximal einem halben Jahr. Darüber hinaus schützen sie lediglich vor der Beulenpest und sind zudem schlecht verträglich. Umfassende Vorbeugemaßnahmen ergeben sich aus den Übertragungsprozessen der Pest. So führten eine verbesserte Hygiene, sowie eine Bekämpfung der Ratten in Wohngebieten zur Vorbeugung der Pest. Da nach dem Tod der Ratten die Parasiten ihren Wirt wechseln, kommt es darauf an, Menschen mit Insektiziden vor den Flöhen zu schützten. Hygienemaßnahmen verschiedenster Art und Intensität, Verdrängung der Ratten aus dem menschlichen Umfeld, technisch verbesserte Kontrollen sowie länderübergreifende Quarantäneregelungen für den internationalen Transportverkehr dürften dazu beigetragen haben, dass sich der Schwarze Tod seit dem späten 19. Jahrhundert weltweit zurückzog.[40]
3.4 Krankheitsverlauf
Der Inkubationszeitraum kann für die verschiedenen Pestarten unterschiedlich ausfallen. So gilt für die Beulenpest ein Zeitraum von sechs bis zehn Tagen, während bei der primären Lungenpest zwischen Infektion und Ausbruch der Symptome lediglich ein bis drei Tage vergehen.[41] Wurde der menschliche Wirt durch einen Flohbiss infiziert, tritt nach einer Inkubationszeit hohes Fieber auf, das häufig mit Krämpfen, Erbrechen, Schwindelgefühl, Lichtempfindlichkeit und quälenden Gliederschmerzen einhergeht.[42]
3.5 Ursprung und geographische Ausbreitung der Pest im 14.Jahrhundert
Der Ausgangsherd des Schwarzen Todes kann bis heute nur an Hand plausibler Hypothesen eingekreist werden. Die beiden wahrscheinlichsten Vermutungen zum Ursprung betreffen den Kaukasus und die Ufer des Balchaschsees. Dieser These nach wirkte das Balchaschsee -Gebiet als Herd für Pestepidemien im asiatischen Raum und der Kaukasus als Herd für den Schwarzen Tod, der im weiteren Verlauf über den europäischen Kontinent herfiel. Abgesehen von Unsicherheiten über den ursprünglichen Ausgangspunkt des Schwarzen Todes lässt sich der Weg der Seuche nach Westen zuverlässig nachzeichnen. Gesichert scheint demnach, dass die Pest auf dem Seeweg vom Schwarzen Meer nach Süditalien eingeschleppt wurde.[43]
Im Frühjahr 1347 erreichte die Pest erstmals eine europäische Stadt. In Kaffa (das heutige Fiodossa), einer Handelniederlassung der Genuesen am Schwarzen Meer, trieben derzeit tatarische, russische und asiatische Kaufleute regen Handel mit italienischen Importwaren. Hier kam es nun zum folgenschweren Zusammentreffen zwischen Ost und West. Tattaren, die Kaffa belagerten, schleppten die Pest aus Innerasien ein. Durch den regen Schiffsverkehr im Schwarzen Meer kam die Seuche schnell nach Konstantinopel, von wo aus sie auf dem Landweg nach Mazedonien, Griechenland und sogar den Iran vordrang. Das Einfallstor der Pest nach Europa bildete der sizilianische Hafen Messina. Hier zeigte sich ebenfalls das typische Ausbreitungsmuster, das sich im weiteren Verlauf in allen europäischen Ländern wiederholte. Die Schiffsbesatzungen brachten über den Seeweg die Seuche in die jeweilige Hafenstadt, von wo aus sich die Pest entlang der Handelsstrassen ins Hinterland verstreute.[44] Die Handelsruten bildeten so die Hauptwege, auf denen die Pest in Europa voranschritt.
4. Pest innerhalb mittelalterlicher Deutungsmuster
Die Pestgeschichte lässt sich generell einteilen in eine mikrobiologische Epoche seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und einer vor-mikrobiologischen Ära. Die moderne Erkenntnis, dass ein Erreger eine bestimmte Krankheit verursacht, existierte also im 14. Jahrhundert noch nicht. Vielmehr bestanden in der Abendländischen Geschichte mehrere nebeneinander laufende Erklärungsmodelle für Seuchen.[45]
4.1 Pfeile Apollons
Bereits seit der Antike gelten Pfeile als Symbole des von den Göttern oder Gott gesandten Todes. Das um 800 v. Chr. datierte Epos Ilias erzählt, dass der Gott Apollo von den Griechen beleidigt wurde, indem sie seinen Priester Chryes missachteten. Zürnend wandt er sich zu Gott, die Griechen zu strafen. Apollo erhörte ihn, schoss Pfeile auf die Erde herab und löste bei Mensch und Tier ein Massensterben (Seuche) aus. Die Bildniswelt war die gleiche wie in der Bibel, in der Gott in seinem Zorn sagte, er werde Leid über die Menschen bringen, seine Pfeile auf sie verwenden und verzehrende Hungersnöte, Pestilenzen und tödliche Seuchen schicken.[46] Das Motiv der Seuche als himmlische Strafe, häufig symbolisiert in Pfeilen, gehört zu den beständigsten Motiven in der Seuchengeschichte überhaupt und lässt sich über Jahrtausende in Kunst und Literatur verfolgen.[47] Im christlichen Mittelalter war der Heilige Sebastian[48] der wichtigste Schutzheilige gegen die Pest. So sollte er die Pfeile der Pest auf sich ziehen und damit die Menschen vor der Seuche schützen.[49] Der fliegende Pfeil war das traditionelle Sinnbild für den Flug der Ansteckung und die vom Pfeil gerissene Wunde ähnelte der Pestbeule.[50]
In dieser religiösen Denkweise galt die Pest selbst als nicht ansteckend, sondern als durch eine höhere Macht verursachte Krankheit.
4.2 Miasma - das Gift der Luft
Die Miasma[51] - Theorie ist ein zweites Modell zur Erklärung von Seuchen. Dieses Seuchenkonzept geht davon aus, dass Epidemien durch Vergiftung der Luft verursacht würden. Antike Autoren wie Hippokrates von Kos (um 460–375 v. Chr.) gilt als Begründer der Lehre von den Miasmen, die durch die Atmung in die Körper von Mensch und Tier eindringen und die inneren Organe faulen lassen. So können die Lüfte durch atmosphärische Störungen, aber auch durch Ausdünstungen der Erde, stehende Gewässer, Tümpel oder Zisternen verderben.[52] Dieser Theorie folgend stören die atmosphärischen Gifte das Gleichgewicht der Körpersäfte[53] und resultierten in Krankheit und sogar Tod.
Die Gifte konnten nicht nur die Luft selbst, sondern auch von Luft durchdrungene Dinge wie Kleidung, Wolle und Tücher infizieren. Eine mögliche Ansteckung von Mensch zu Mensch spielte in der miasmatische Theorie allerdings nur eine marginale Rolle.[54] Zum Großteil wiesen die medizinischen Texte sogar die Vorstellung zurück, dass Pestilenz ansteckend sei.[55]
4.3 Kontagionismustheorie
Aus den Erfahrungen in den 1340er Jahren, dass die Pest eine hochinfektiöse Krankheit ist, verschaffte sich die kontagionistische Anschauung Einzug in die medizinische Theorie. Somit galten ab der frühen Neuzeit die meist von Ärzten vertretene miasmatische Anschauung und die kontagionistische Anschauung, die ursprünglich eine Laienerfahrung gewesen war. Hinsichtlich der Bekämpfungsstrategien waren sich die beiden Theorien dahingehend einig, dass ein giftartiger Stoff als Ursache der Krankheit vermutet werden müsse. Für die Kontagionisten waren es infektiöse Partikel, die von den Kraken abströmten und an ihnen hafteten. Demzufolge isolierte man Patienten und schloss verdächtige Menschen für eine längere Beobachtungszeit ab.[56]
Miasmatiker hingegen sahen von Quarantänemaßnahmen ab, da sie den krankheitsauslösenden Stoff in der Luft vermuteten, auf die man kaum einwirken konnte. Da die mittelalterliche Quarantäne allerdings nicht zuverlässig vor der Pest zu schützen vermochte, berief man sich weitgehend auf die miasmatische Theorie, die die Quarantäne von beginn an für nutzlos hielt. Im weiteren Verlauf wurde die miamesische Seuchentheorie dahingehend verfeinert, als man nach der Ursache der Luftverschmutzung zu suchen begann.[57]
4.4 Astrologisches Ungleichgewicht
In der Weiterentwicklung der miasmatischen Theorie galten nun der Sternenhimmel bzw. die Planetenkonstellation als Ursprung keimverseuchter Luft. Da die Astrologie für die spätmittelalterliche Medizin von zentraler Bedeutung war, entsprach eine solch astromedizinische Theorie dem zeitgenössischen Denkhorizont der geistigen Eliten. Die Astrologie war bereits Anfang des 14. Jahrhunderts als medizinisches Lehrfach etabliert, sodass jeder Arzt, der zur Zeit des Schwarzen Todes praktizierte, eine umfassende astrologische Ausbildung hatte.[58] Wie alle materiell fassbaren Vorgänge galt auch die menschliche Physiologie als von astrologischen Einflüssen abhängig. Selbst Guy de Chauliac, der päpstliche Leibarzt und prominente französische Medizinprofessor, war wie viele seiner Kollegen davon überzeugt, dass die Pest auf Grund der 1345 eingetretenen Konstellation der drei oberen Planeten Mars, Jupiter und Saturn unvermeidlich war.[59] Das Modell geht von der Konstellation des 22. März 1345 aus, lässt die drei oberen Planeten im Haus des Wassermanns zusammentreten und durch ihre Sekundärqualitäten feuchte, schlechte Ausdünstungen von Land und Meer ansaugen, erhitzen, verderben und als Pesthauch auf die Erde zurückschleudern.[60]
Religionsgeschichtlich stellt der Ausbruch von Krankheiten und Seuchen also eine Störung des kosmischen Gleichgewichtes dar. Ist die kosmische Ordnung gewahrt, ist der Mensch gesund. Angewandt auf den durch Gott gelenkten Kosmos, steht die menschliche Sünde als Ursache einer kosmischen Störung. Es liegt daher nahe, dass Seuchen und Krankheit als eine Strafe der himmlischen Mächte bzw. Gottes Zorn zu sehen ist.[61]
Dieser Einschätzung verlieh auch Boccaccio in seiner Einleitung zum Decameron Ausdruck, indem er die todbringende Pest auf die „Einwirkung der Gestirne“ bzw. den „Zorn Gottes“ zurückführt. In ihrer rasanten Geschwindigkeit zieht sie „von einem Ort zum andern“[62] wobei ihr keiner Einhalt gebieten könne. Boccaccios Zeugnis ist deshalb von Bedeutung, weil er hiermit auch der Einschätzung des kleinen Mannes Ausdruck verlieh.[63]
Durch den gottgelenkten Einfluss der Sterne und Planeten auf die Atmosphäre fügt sich nun die astromedizinische Theorie ergänzend an die die miasmatische Lehre an.
Zusammenfassung:
Die dargestellten Seuchenkonzepte konnten den verängstigten Menschen ein metaphorisches Verständnis für die Übertragungswege der Epidemien bieten, die sie seit der Mitte des 14. Jahrhunderts immer wieder heimsuchte. Somit bot sich den verzweifelten Menschen 1347 ein Deutungsrahmen, um die Krankheit zu verstehen. Die letztendliche Ursache war den Theorien zur Folge der Zorn Gottes, der durch die Sündhaftigkeit seines Volkes angefacht wurde. Das mataphoprische Übertragungssystem waren Pfeile, die auf die Befallenen niedererregneten. Die medizinische Erklärung dazu war ein Gift, das die Atmosphäre durchdrang.
Diesen Modellen entsprechend konnte die Seuche also vermieden werden, indem man Sünden bereute und die Luft säuberte oder einem Gebiet mit ansteckendem Miasma entfloh.[64]
Von der Alltagserfahrung abgesehen, dass die Pest hochinfektiös war, war der Kenntnisstand der Ärzte und Gelehrten hinsichtlich Ursache, Wirkung und Therapie der Pest deprimierend gering. Die spätmittelalterlichen Mediziner standen der Seuche ohnmächtig gegenüber.[65] Die tatsächliche Ursache der Pest war den Zeitgenossen zwar unbekannt, aber sie zweifelten nicht am ansteckenden Charakter der Krankheit. Wir wissen heute, dass die Ansteckungsfurcht und die daran anknüpfenden Vorsichtsmahsnahmen prinzipiell gerechtfertigt waren, auch wenn die Menschen nur intuitiv auf die Infektionsgefahr reagierten. Doch gerade die Unsicherheit über die wirklichen Ursachen und Ansteckungswege der Seuche verstärkte die Furcht und abergläubische Abwehrhaltung.[66]
Vor diesem Hintergrund sind sämtliche Bewältigungsstrategien - sowohl des einzelnen Individuum als auch kirchlicher und weltlicher Institutionen- im Angesicht der Pest einzuordnen.
5. Reaktionsmuster
5.1 Reaktion der Ärzte auf die Pest
Der Schwarze Tod, der seit 1347 Europa und die Länder des Mittelmeeres dezimierte, stellte für Ärzte eine besondere Herausforderung dar. Wie der Klerus oder die Notare sah sich auch die Ärzteschaft[67] zu dieser Zeit einer extremen Gefahr ausgesetzt. Auf ihr ruhende Hoffnungen konnten nicht erfüllt werden, da sie auf Wissen des antiken Hippokrates zurückgreifen mussten, nach dessen Lehre die Infektion eine Fehlmischung der vier Körpersäfte war.
Entscheidend für die Verbreitung der Miasma- und Contagionslehre war das berühmte viel rezitierte Pariser Pestgutachten von 1348, das aus den Theorien Vorbeuge- und Behandlungsmaßnahmen schloss. Diese therapeutischen Folgerungen, die darin und in vielen weiteren Pestgutachten gezogen wurden, zeigten die Hilflosigkeit der zeitgenössischen Medizin. Der in den Pestgutachten gegebene Rat war eindeutig. Die Flucht vor kranken Leuten und Städten, indem die Pest herrschte, galt als sinnvollste Reaktion. Darüber hinaus sollte die eingeatmete Luft durch Duftstoffe wie etwa in den Pestmasken der Ärzte, gereinigt werden. Körperliche Anstrengungen in Form von schweißtreibenderer Arbeit oder auch Geschlechtsverkehr sollten tunlichst vermieden werden.[68]
Obskure Ratschläge machten die Runde. Als besonders gefährlich galten ein feuchtschwüles Klima sowie die gefürchteten Südwinde. Nach Ansicht der Mediziner sollten die Fenster stets nach Norden geöffnet werden, damit nur Nordwind, niemals feuchtschwüler Südwind ins Krankenzimmer gelangte.[69]
Aufgrund der vermuteten Miasmen in der Luft verordneten die Ärzte häufig das Verbrennen aromatischer Substanzen. So lies Papst Klemens VI. vor seinen Gemächern in Avignon ständig zwei große Feuer brennen - und überlebte.[70] Es ist durchaus plausibel, dass die Feuer ihn möglicherweise vor einer Ansteckung bewahrten, da sie unter Umständen die Ratten als Träger der Flöhe fernhielten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 :
Aufschneiden von Pestbeulen,
Holzschnitt von Hans Folz 1482
in: Wilderotter, Hans (Hrsg): Das große Sterben. Seuchen machen Geschichte, Berlin 1995, S.21
Wir wissen heute, dass eine Behandlung bzw. eine Vorsorge auf Grundlage damaliger Pesttheorien wenig effektiv war. Dennoch stellt die Frage nach einer ausreichenden ärztlichen Versorgung in Krisenzeiten auch ein psychologisches Problem dar. Welche Verzweiflung muss unter den Menschen geherrscht haben, wenn im Krankheitsfall Ärzte oder Priester ausblieben. Angesichts der eigenen Hilflosigkeit und Grausamkeit des Pestalltags kamen auf die Ärzte zunehmend ethische Fragen zu.
War es angesichts der hohen Infektionsgefahr lobenswert oder tadelnswert, wenn man, wie der Florentiner Marchionne di Coppo berichtet, den Puls nur mit abgewandtem Gesicht fühlte oder den Urin nur von weitem beurteilte? War es vertretbar, für einen Patienten sein Leben zu riskieren, sodass u.U. Hunderte auf ärztliche Betreuung verzichten mussten?[71]
Die Ärzte spielten zur Zeit der Pest eine tragische Rolle. Obwohl sie viele Pesttraktate verfassten und Rezepte kompilierten, mussten sie aus ihrer Erfahrung heraus wissen, dass dies alles nichts nutzte. Dass die Pesttherapie des 14. Jahrhunderts also nicht effektiv war, verkompliziert die Frage nach Sinn und Notwendigkeit von Pest-Behandlungen nur aus heutiger Sicht. Der Mediziner musste 1348, selbst wenn ihm gelegentlich Zweifel kamen, annehmen, dass die an den Universitäten gelehrte Pesttheorie die Richtige war. Aus ihrer Sicht wäre es Scharlatanerie gewesen, als Arzt andere Argumente ins Spiel zu bringen.[72] Es war darüber hinaus allgemein anerkannt, dass die Pest als Strafe Gottes medizinisch nicht therapierbar ist.[73]
Angesichts der Wirkungslosigkeit ärztlicher Therapien und des enormen Risikos der eigenen Infektion erschien für viele resignierten Mediziner die Flucht vor der Pest als logischste Konsequenz.
Gewiss wurde zu Zeiten der Pest der selbstlose Einsatz und Mut vieler Ärzte dankbar gerühmt. Sicherlich nahm man auch bewundernd zur Kenntnis, wie manche Ärzte (z.B.Gentile da Folignos) während der Seuche lebensgefährliche Forschungen anstellten, etwa Sektionen von Pesttoten, um an das Geheimnis der Krankheit zu kommen. Wann immer Ärzte aber Fluchtgedanken hegten, führte dies zur Kritik. Prominente zeitgenössische Ärzte, wie der bereits genannte Guy de Chauliac, gaben offen zu, dass sie geflohen wären, wenn sie sich nicht vor der Blamage gefürchtet hätten.[74] Chalin de Vinarion, ebenfalls päpstlicher Leibarzt, erklärte nach Ausbruch der Pest unverblümt, dass sie (die Ärzte) sich selbst der Nächste seien. Keiner sei von solch einem Wahnsinn geblendet, dass er sich eher um die Rettung Anderer als um die eigene kümmere.[75]
„Cito, longe, trade“, „fliehe bald, fliehe fern, komm spät zurück!“ In dieser Empfehlung sah der Ulmer Arzt Heinrich Steinhöwel „drei nützlichere Kräuter als eine ganze Apotheke“ und die Verfasser zahlloser Pesttraktate haben es ähnlich formuliert. Viele dieser Autoren priesen in ihren Schriften die Flucht als erste und verlässlichste Präventivmaßnahme.[76]
Verweigerten die Ärzte die Behandlung oder ergriffen sie die Flucht, galten sie als feige.
Eine unehrenhafte Flucht widersprach sowohl der ärztlichen Ethik, die im Abendland durch die hippokratische Tradition geprägt war als auch dem Gebot der christlichen Nächstenliebe. Medizinhistoriker führen allerdings Aspekte an, die den Vorwurf an geflohene Ärzte mildern. So verweist Bergdolt auf Untersuchungen, wonach seit der Antike deontologische Tradition existierte, Kranke nicht zu behandeln, denen nicht geholfen werden kann. Hoffnungslose Fälle kurieren zu wollen, galt im Mittelalter als Scharlatanerie, hinter der man Geldgier, Eigennutz oder Angeberei vermutete. Zum Minimalethos zählte, dass ein Arzt einen Neuerkrankten aufsuchte, da dieser ein Recht auf Diagnosestellung hatte. Verweigerte der Arzt im Falle der Pest die Therapie, galt es nicht unbedingt als ethisches Versagen, sofern der hoffnungslose Zustand des Patienten offenkundig war.[77]
Rath hingegen verweist auf Chronistenberichte, wonach vorwiegend die Reichen flohen. Viele Mediziner verließen die gefährdeten Gebiete und folgten ihrem zahlungskräftigen Klientel bzw. trafen ihre wohlhabenden Patienten an deren Zufluchtsorten. Rath ergänzt diesbezüglich, dass Universitäten und Fakultäten in Pestzeiten in seuchenfreie Gebiete verlegt wurden. Fliehende Mediziner konnten sich also auf solche Umzüge berufen, die sie veranlassten, den Lehrstätten zu folgen.[78] Einige Ärzte haben, flexibel in ihrer Terminplanung, beim Ausbruch der Pest längere Bildungsreisen angetreten. Auf diese Art konnten Mediziner auch, ohne kommunale- oder Standesvorschriften zu verletzen, eine verseuchte Stadt verlassen.
[...]
[1] Der Name Schwarzer Tod ist im Mittelalter nie verwendet worden. Geprägt wurde diese Bezeichnung
offenbar erst durch Chronisten des 16. Jahrhunderts. Mit „Schwarz“ waren dabei nicht die
Symptome oder das Aussehen konotiert, sonder das Furchtbare und Schreckliche dieser Krankheit.
Im Folgenden bezieht sich die Bezeichnung ausschließlich auf die Pestepidemie zur Mitte des 14.
Jahrhunderts.
[2] vgl. Jäckel, Dirk: Judenmord Geißler Pest: Das Beispiel Straßburg 1349. in: Meier Mischa (Hrsg):
Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas, S. 162-178 hier S.182
[3] Johan Huizinga Werk „Herbst des Mittelalters“ nährt die Vorstellung, dass es sich beim späten
Mittelalter um eine Phase handele, in der Reife dem Niedergang weicht. In neueren Ausgaben
verweist der Verfasser jedoch auf die Gefahr, historische Abschnitte mit Jahreszeiten zu vergleichen
und bittet darum, den Titel seines Werkes nur als eine figürliche Ausdrucksweise aufzufassen. vgl.
Huizinga Johan: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15.
Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden, hg. v. K. Köster, Stuttgart 1987. S.XI (Vorrede
des Verfassers)
[4] vgl. Buckl Walter (Hrsg), Das 14.Jahrhundert. Eine Einführung, in: Das 14.Jahrhundert, Regensburg
1995, S.9f
[5] Zinn Karl Georg, Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert,
Opladen 1989, S.22
[6] vgl. Strothmann Jürgen: Der Schwarze Tod – Politische Folgen und die Krise des Spätmittelalters, in:
Meier, Mischa (Hrsg): Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas
[7] vgl. Bergdold, Der schwarze Tod in Europa, München 1994, S.32
[8] vgl. Zinn, Karl Georg: Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und
15. Jahrhundert, Opladen 1989, S.23
[9] Als Hundertjähriger Krieg wird der englisch-französische Konflikt und der französische Bürgerkrieg
zwischen bezeichnet. Den Hintergrund bildete der Streit um die Thronfolge in Frankreich zwischen
dem englischen König Edward III. und Philipp von Valois. Der Krieg endete mit einem Sieg der
Valois und hat zudem entscheidend zur Herausbildung eines Nationalbewusstseins der Franzosen
und Engländer beigetragen.
[10] Stadtmüller Winfried, Kirche und Volksfrömmigkeit im späten Mittelalter. In: Pleticha Heinrich
(Hrsg) Deutsche Geschichte. Vom Interegnum zu Karl IV. 1254-1378, Gütersloh 1982, S.326-345,
S.339
[11] vgl. Zinn S.151
[12] Lenzenwenger Joseph, Die Päpste in Avignon in: Amon Karl et.al (Hrsg), Geschichte der
katholischen Kirche, Graz 1990, S.221-225, hier S.221
[13] Graus, Frantisek: Pest, Geissler, Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, 2. durchges. Aufl.,
Göttingen 1988 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 86), S.21
[14] vgl. Bergdold (1994), S.31
[15] ebd. S. 33
[16] vgl. Zinn, S.22f
[17] Francesco Petrarca war ein italienischer Dichter und Geschichtsschreiber (* 20. Juli 1304; † 18. Juli
1374)
[18] vgl. Bergdolt, Klaus: Die Geschichte des Schwarzen Todes, München 2006, S.54
[19] vgl. Bergdolt (1994) S. 152
[20] ebd.
[21] vgl. Zinn 151
[22] Der historische Begriff Pestilenz, der oftmals in Chroniken auftritt, ist vieldeutig. So bedeutet
Pestilenz, nicht nur Pest, sondern auch ganz einfach Seuche. (lat. pestis „Seuche“), vgl. Vasold
Manfred, Grippe, Pest, Cholera. Eine Geschichte der Seuchen in Europa, Stuttgart 2008, S.65 und
Kapitel 9.4
[23] vgl. Vasold, Manfred: Pest, Not und schwere Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis
heute, München 1991, S.76 und Bergdolt (!994), S.17
[24] vgl. Zinn, S.163f,
[25] vgl. Bergdolt (1994), S.17
[26] vgl. Leven, Karl-Heinz: Von Ratten und Menschen - Pest, Geschichte und das Problem
der retroperspektiven Diagnose in: Meier Mischa (Hrsg): Pest. Die Geschichte eines
Menschheitstraumas, Stuttgart 2005, S. 11-34 hier S.14
[27] ebd. Bergdolt, (1994), S.18
[28] vgl. Leven, S.15
[29] vgl. Zinn, S.166
[30] Giovanni Boccaccio (1313-1375) war ein italienischer Schriftsteller. In seinem Meisterwerk, das
Decamerone, porträtiert er in 100 Novellen die facettenreiche Gesellschaft des 14. Jahrhunderts. Als
Zeitzeuge schildert er sehr detailliert die Auswirkungen der großen Pest in Florenz.
[31] Siehe Boccacio, dt. bei Bergdolt Klaus (Hrsg), Die Pest 1348 in Italien. 50 Zeitgenössische
Quellen, Heidelberg 1989, S.42
[32] Als Sepsis (gr. für Fäulnis) bezeichnet man eine Reaktion des Organismus auf Bakterien oder
Bestandteile von Bakterien im Blut. Sie kommt vor, wenn Bakterien in den Kreislauf gelangen und
Krankheitserscheinungen verursachen. Umgangssprachlich wird eine Sepsis auch Blutvergiftung
genannt.
[33] vgl. Bergdolt (1994), S.20
[34] vgl. Zinn, S.166 und Bergdolt(1994), S.18
[35] vgl. Zinn S.166
[36] Lungenödem ist eine Bezeichnung des Austretens von Blutflüssigkeit aus den Kapillargefäßen in die
Lunge. Die betroffene Person nicht mehr ausreichend Sauerstoff in den Blutkreislauf aufnehmen und
muss dadurch rasch atmen. Als Symptome treten Atemnot, brodelnde Atemgeräusche und/oder ein
schaumiger Auswurf auf.
[37] vgl. Herlihy, David: Der schwarze Tod und die Verwandlung Europas, Berlin 2007, S.14
[38] vgl. Bergdolt (2006), S. 17
[39] vgl. Zinn, S.167
[40] vgl. Bergdolt, (2006), S.113
[41] vgl. Zinn S.166
[42] vgl. Herlihy S.13
[43] vgl. Zinn S.156f
[44] vgl. Bergdolt (1994), S.35f ; Buckl, S. 96; Zinn, S. 158 und Bulst (2005), S.142
[45] vgl. Leven,.S.16
[46] vgl. Naphy, William/ Spicer, Andrew: Der schwarze Tod. Die Pest in Europa, Essen
2006, S.13 und Esser, Thilo: Pest, Heilsangst und Frömmigkeit. Studien zur religiösen
Bewältigung der Pest am Ausgang des Mittelalters, Altenberge 1999, S.32
[47] vgl. Esser, S.234 und Leven, S.17
[48] Sebastian ( † um 288 in Rom), war ein römischer Soldat und wurde zu einem christlichen Märtyrer,
Der Legende nach bekannte sich Sebastian öffentlich zum Christentum, woraufhin Kaiser Diokletian
ihn zum Tode verurteilte und von Bogenschützen erschießen ließ. Die Pfeile seiner Folterung wurden
schon im 7.Jh. als Pestpfeile interpretiert. Wie andere schmerzerprobte Heilige war Sebastian daher
tauglich, eben jene Übel abzuwehren, die er selbst erduldet hatte. Seinen Fürbitten sprach man das
schnelle Erlöschen der Pest 680 in Rom zu. vgl. Herlihy, S.99
[49] vgl. Bergdolt (1994), S.159f
[50] vgl. Herlihy, S.99
[51] Das Miasma (gr. μίασμα) bedeutet so viel wie „übler Dunst“, „Verunreinigung“, „Befleckung“ oder
„sich mit etwas angesteckt haben“. Dabei ist der Bedeutungsumfang dieses Begriffs nicht rein auf den
biologisch-medizinischen Effekt der Krankheitsübertragung beschränkt, sondern kann auch im
übertragenen Sinne auf die religiöse Ebene für rituelle Unreinheit angewandt werden. vgl. Leven,
S.18
[52] vgl.Bergdolt (2006), S.21 und Leven, S.18
[53] Die Säfte des Menschen unterscheidet man in vier Elemente, die die Natur des Körpers bestimmen.
Blut, Schleim, gelbe und schwarze Gallle. Die richtige Mischung dieser entscheidet darüber, ob das
Individuum gesund oder krank ist. vgl. krankmachende Wirkung bei Ungleichverteilung der Säfte
vgl. Werner Golder, Hippokrates und das Corpus Hippocraticum. Eine Einführung für Philologen
und Mediziner, Würzburg 2007, S.137f
[54] vgl. Leven, S.19
[55] vgl. Naphy, Spicer, S.12
[56] Kontagionisten (lat. contagium = Ansteckung) sind die Anhänger der so genannten
Ansteckungstheorie. Diese sind der Auffassung, dass bei epidemischen Krankheiten eine Ansteckung
durch spezifische abströmende Partikel (seminaria morbi), durch direkten Kontakt oder die Luft
erfolge. Die Kontroverse mit der Miasmatologie wurde erst im 19. Jahrhundert durch die
Forschungen von Louis Pasteur und Robert Koch beendet, welche die Ansteckungstheorie bewiesen.
Vgl. Definition Kontagienlehre in: Eckart Wolfgang U., Geschichte der Medizin. Fakten, Konzepte,
Haltungen , Berlin 2008
[57] vgl. Meier, S.22
[58] vgl. Bergdolt (1994), S.26
[59] vgl. Bergdolt (1994), S. 65, S.173 und Bergdolt (2006), S.34
[60] vgl. Keil Gundolf, Pest im Mittelalter. Die Pandemie des Schwarzen Todes in: Buckl Walter
(Hrsg):Das 14. Jahrhundert. Krisenzeit, Regensburg 1995, S.99
[61] vgl. Esser, S.14f
[62] vgl. Bergdolt, Klaus (Hrsg): Die Pest 1348 in Italien. 50 Zeitgenössische Quellen, Heidelberg 1989,
S.39
[63] vgl. Bulst, Neithard: Heiligenverehrung in Pestzeiten . Soziale und religiöseReaktionen
auf die spätmittelalterlichen Pestepidemien in: Kosellek Reinhart (Hrsg): Mundus in imagine.
Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter, München 1996, S.66
[64] vgl. Naphy, Spicer, S.13
[65] vgl. Bergdolt (1994), S.26
[66] vgl. Zinn, S.254
[67] Die Gemeinschaft ausübender Mediziner in der mittelalterlichen Gesellschaft war in vier deutlich
voneinander getrennte Gruppen zerfallen: Ärzte, die einen Universitätsabschluss hatten und denen
die medizinische Theorie geläufig war, die jedoch nur eine begrenzte Rolle bei der Pflege der
Kranken spielen; Wundärzte, die ihre Fertigkeiten in einer Lehrzeit erwarben und die wichtigsten
unter jenen Personen waren, die sich um Kranke kümmerten; Barbiere, die kompetent genug waren,
um kleine Eingriffe wie Aderlass und dergleichen vorzunehmen; und die Anwender einer
Volksheilkunde, in der Mehrzahl Frauen. Siehe: Herlihy S.88f
[68] vgl. Bergdolt (1994), S.25
[69] vgl. Bergdolt (1994), S.24 und Bergdolt (2006) S.26 und Keil (1995), S.104
[70] vgl. Ohler Norbert, Sterben und Tod im Mittelalter, München 1990, S. 251
[71] vgl. Bergdolt Klaus, Das Gewissen der Medizin. Ärztliche Moral von der Antike bis heute, München
2004, S.97
[72] vgl. Bergdolt (1994), S.173 und S. 177
[73] vgl. Esser S.31 und S.38
[74] vgl. Bergdolt (1994), S.173
[75] vgl. Rath G., Ärztliche Ethik in Pestzeiten, in: Münchner Medizinische Wochenschrift 99, (1957) S.
158-160 hier S.159
[76] vgl. Dormeier Heinrich, Religiös motiviertes Verhalten von Laien und Klerikern in Grenz und
Krisensituationen: die Pest als `Testfall wahrer Frömmigkeit` in: Laienfrömmigkeit im späten
Mittelalter (Schriften des Historischen Kollegs/ Kolloquien 20) Klaus Schreiner (Hrsg), München
1992, S.331-398 hier S. 332
[77] vgl. Bergdolt (1994), S.176f
[78] vgl. Rath, S.159
- Citation du texte
- Stefan Denner (Auteur), 2009, Die Flucht vor dem Schwarzen Tod - Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Großen Pest von 1348-1352, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146200
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