Mittelalterliche Legenden, Romane und Epen malten oft Bilder von vollkommenen Helden. Von Helden, die anfänglich meist gerade den Kinderschuhen entwachsen waren und im Laufe der Geschehnisse einen Prozess der Entwicklung durchlaufen. Gerade auch im Epos „Parzival“ werden die Kindheit und die Adoleszenz des Helden zur Grundlage der Erzählung. Der Erzähler zeigt auf, welchen Entwicklungsweg der junge Protagonist Parzival durchlebt und stellt insbesondere Gegebenheiten und Ereignisse heraus, die ihn während der Kindheit bedeutend prägten. Die erste Entwicklungsstufe und die daraus resultierenden Konsequenzen bilden den Fokus dieser Studienarbeit. Diese versucht zu untersuchen, aus welchen Gründen Parzivals Lebensweg von Identitätssuche und Fehlverhalten bestimmt ist. Welche Rolle spielt in dieser Hinsicht Herzeloyde, die Mutter Parzivals beziehungsweise, welchen prägenden Einfluss übt gerade sie auf die Entwicklung ihres Sprosses aus? Und, zieht man die mittelalterliche Auffassung von Erziehung in die Betrachtung ein, was ist so anders an Parzivals Aufwachsen? Auf diese Fragen versucht die Autorin im Verlauf der Studie Antworten zu finden. In ihrer Analyse bezieht sie sich lediglich auf die erste Entwicklungsstufe Parzivals, auf das Aufwachsen in Soltane. Diese Eingrenzung erscheint geeignet, da einerseits der Umfang der Arbeit einzugrenzen ist und andererseits für die Autorin feststeht, dass grundlegende, prägende Einflüsse auf das Wesen des Protagonisten in diesem frühen Stadium anzusiedeln sind. Im Folgenden wird der Aufbau der Arbeit kurz wiedergegeben, um dem Leser einen Einblick in diese Abhandlung gewährenleisten zu können [...]Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel. Die Zielsetzung der Verfasserin und die Einführung in die Thematik bilden die Grundlage des ersten Kapitels. Zusätzlich verweist die Verfasserin kurz auf den Inhalt des Werkes, um dem Rezipienten die Möglichkeit zu geben die späteren, zu analysierenden Entwicklungsstufen in das Gesamtgeschehen einordnen zu können. Der zweite Gliederungspunkt soll im Zeichen der Analyse stehen, d.h. die Autorin versucht in verschiedenen Unterpunkten Antworten auf die im Vorfeld festgelegten Forschungsfragen zu finden. Hierzu werden im Einzelnen Tatsachen und Gegebenheiten zum Aufwachsen Parzivals in Soltane betrachtet. Im dritten Kapitel beruft sich die Autorin auf die im Mittelalter vorherrschende Auffassung von Erziehung. Es wird aufzuzeigen sein welche Entwicklungsstufen den [...]
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik
1.2 Zielsetzung
1.3 Aufbau der Arbeit
1.4 Der Buchinhalt in Kurzfassung
2 Analyse prägender Ereignisse in der Kindheit
2.1 Erste Anzeichen des Unglücks
2.2 Die Geburt Parzivals
2.3 Parzivals Heranwachsen in der Einöde
2.4 Die Gotteslehre der Herzeloyde
2.5 Die Ritterbegegnung
2.6 Die Weltlehre der Herzeloyde
3 Das Mittelalterliche Bild von Erziehung
3.1 Die Generelle Auffassung von Kindheit
3.2 Die Entwicklungsstufen
3.3 Ein Vergleich
4 Zusammenfassende Betrachtung
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik
Das Werk Wolfram von Eschenbachs gehört dem Stoffkreis der keltischen Sagen um König Artus und dessen Ritter an. Zwischen 1200 und 1210 wird die Entstehung des Werkes datiert. Eine Zeit in der Einflüsse fremder Kulturen in verschiedenen kulturellen Bereichen, so auch in der Literatur, spürbar wurden. Geschichten und Legenden aus dem Orient griffen in die Literatur ein. Das Epos „Parzival“ zählt zu den zentralen Mythen des Abendlandes. Über 80 Handschriften des „Parzival“ bescheinigen dem Werk eine außerordentliche Popularität. Die Schrift fand nicht zuletzt durch den gebotenen Einblick in die damaligen ritterlichen Tugenden, das Leben und die Erziehung am Hofe weite Verbreitung. Erfolg versprach das Werk auch in erster Linie durch den Protagonisten an sich. An Hand von Parzival, der Hauptfigur des gleichnamigen Werkes, zeichnete der Verfasser einen menschlichen Entwicklungsweg und die damit verbundenen Konflikte auf. Der Erzähler beschreibt den Werdegang des anfänglichen tumpen Parzival, der am Ende Gralskönig wird. „Die Figur wandelt sich von einem unreflektierten, infantilen, draufgängerischen Charakter zum vorbildlichen Repräsentanten der Gralsgesellschaft […]“[1]. Diese Entwicklung des jungen Protagonisten lässt sich in drei verschiedene Entwicklungsstufen einteilen: die Kindheit in Soltane und der dortigen Erziehung durch seine Mutter Herzeloyde, die Ritterlehre bei Gurnemanz und die religiöse Unterweisung bei Trevrizent.
1.2 Zielsetzung
Mittelalterliche Legenden, Romane und Epen malten oft Bilder von vollkommenen Helden. Von Helden, die anfänglich meist gerade den Kinderschuhen entwachsen sind und im Laufe der Geschehnisse einen abenteuerlichen Prozess der Entwicklung durchlaufen. Gerade auch im Epos „Parzival“ werden die Kindheit und die Adoleszenz des Helden zur Grundlage der Erzählung. Der Erzähler zeigt auf, welchen Entwicklungsweg der junge Protagonist Parzival durchlebt und stellt insbesondere Gegebenheiten und Ereignisse heraus, die ihn während der Kindheit bedeutend prägten. Die erste Entwicklungsstufe und die daraus resultierenden Konsequenzen bilden den Fokus dieser Studienarbeit. Diese versucht zu untersuchen, aus welchen Gründen Parzivals Lebensweg von Identitätssuche und Fehlverhalten bestimmt ist. Welche Rolle spielt in dieser Hinsicht Herzeloyde, die Mutter Parzivals, beziehungsweise welchen prägenden Einfluss übt gerade sie auf die Entwicklung ihres Sprosses aus? Und, zieht man die mittelalterliche Auffassung von Erziehung in die Betrachtung ein, was ist so anders an Parzivals Aufwachsen? Auf diese Fragen versucht die Autorin im Verlauf der Studie Antworten zu finden. In ihrer Analyse bezieht sie sich lediglich auf die erste Entwicklungsstufe Parzivals, auf das Aufwachsen in Soltane. Diese Eingrenzung erscheint geeignet, da einerseits der Umfang der Arbeit einzugrenzen ist und andererseits für die Autorin feststeht, dass grundlegende, prägende Einflüsse auf das Wesen des Protagonisten in diesem frühen Stadium anzusiedeln sind. Im Folgenden wird der Aufbau der Arbeit kurz wiedergegeben, um dem Leser einen Einblick in diese Abhandlung gewährleisten zu können.
1.3 Aufbau der Arbeit
Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel. Die Zielsetzung der Verfasserin und die Einführung in die Thematik bilden die Grundlage des ersten Kapitels. Zusätzlich verweist die Verfasserin kurz auf den Inhalt des Werkes, um dem Rezipienten die Möglichkeit zu geben die späteren, zu analysierenden Entwicklungsstufen in das Gesamtgeschehen einordnen zu können. Der zweite Gliederungspunkt soll im Zeichen der Analyse stehen, d.h. die Autorin versucht in verschiedenen Unterpunkten Antworten auf die im Vorfeld festgelegten Forschungsfragen (vgl. Kapitel 1.2) zu finden. Hierzu werden im Einzelnen Tatsachen und Gegebenheiten zum Aufwachsen Parzivals in Soltane betrachtet. Im dritten Kapitel beruft sich die Autorin auf die im Mittelalter vorherrschende Auffassung von Erziehung. Es wird aufzuzeigen sein, welche Entwicklungsstufen den Heranwachsenden zu dieser Zeit zugeschrieben wurden und, welche Ansichten zum Kind-sein an sich im Mittelalter dominierten. Diese Vorgehensweise soll einem späteren Vergleich dienen. Am Ende des dritten Kapitels unterzieht die Autorin die gewonnenen Erkenntnisse einem gesonderten Vergleich. Zusammenfassend werden schließlich im vierten Kapitel die Ergebnisse der Untersuchung reflektierend vorgestellt. Das letzte Kapitel, Kapitel fünf, zeigt eine Übersicht der herangezogenen Literatur und Quellen. Der Rahmen der Literaturübersicht ist überschaubar, da Literatur zu dem hier behandelten Themenbereich einerseits karg vorhanden ist, der Autorin andererseits schwer zugänglich war. Grundlage der hier aufgezeigten Erkenntnisse bilden hauptsächlich die Werke der Autoren RUSS, BUMKE, ARIÈS und RENGGLI. Im Folgenden verweist die Verfasserin kurz auf den Inhalt des „Parzival“, um dem Rezipienten die Möglichkeit zu geben die späteren, zu analysierenden Entwicklungsstufen in das Gesamtgeschehen einordnen zu können.
1.4 Der Buchinhalt in Kurzfassung
Der Erzähler beschreibt die abenteuerlichen Erlebnisse zweier ritterlicher Hauptfiguren – einerseits die Entwicklung des Protagonisten Parzival vom tumpen Jungen zum Gralskönig, andererseits die gefahrvollen Abenteuer des Artusritters Gawein. Da der Rahmen dieser Studienarbeit klar eingegrenzt ist, geht die folgende Inhaltsangabe lediglich auf den Entwicklungsweg Parzivals ein und lässt die Geschehnisse um Gawein außen vor.
Gachmuret, der Vater Parzivals und Sohn Gandains, zieht nach dem Tod des Vaters in die Welt. Er besteht in kurzer Zeit zahlreiche Abenteuer und gelangt schnell zu Ruhm und Ehre. Nach dem Tod des Bruders übernimmt Gachmuret das väterliche Reich. Er heiratet kurze Zeit später Herzeloyde, stirbt jedoch kurz darauf selbst in einer Schlacht. Herzeloyde bringt zwei Wochen nach Gachmurets Tod einen Erben zur Welt. Um ihren Sohn zu schützen, zieht sie sich in die Einöde Soltanes zurück. Abseits von Rittern, Schlachten und Leid wächst Parzival behütet auf. Eines Tages, so geschah es, begegnet Parzival vier Rittern. Angetan vom Rittertum will er in die Welt ziehen und ebenfalls Ritter werden. Die Mutter ist darüber sehr betrübt. Im Narrenkleid und mit gut gemeinten Ratschlägen lässt sie ihn ziehen. Der unsägliche Kummer über den Verlust des Sohnes bringt sie ins Grab.
Parzival hingegen reitet in die Welt und sollte viele Abenteuer bestehen. Ein erster unbeholfener Versuch an Artus Hof Ritter zu werden, scheitert. So führt ihn sein Weg weiter zu Gurnemanz. Er lehrt dem Jungen die ritterlichen Tugenden und den Umgang mit Waffen. Sein Drang in die Welt zu ziehen, veranlasst Parzival Abschied von seinem Lehrmeister zu nehmen. Auch die Minne Kondwiramurs, einer edlen Jungfrau, vermag es nicht ihn festzuhalten. Nach einiger Zeit gelangt er auf unwegsamen Pfaden zur Gralsburg und trifft dort auf den Burgherrn, den Gralskönig Anfortas, der unter einer schweren Erkrankung leidet. Die Burgbewohner versuchen den über Abend den schweigsamen Ritter zur Nachfrage hinsichtlich der Erkrankung des Königs zu ermuntern, mit der er den siechenden König erlöst hätte. Doch Parzival stellt die erlösende Frage nicht. Lehrte Gurnemanz ihn doch Fragen zu vermeiden. Dies wird ihm später schwer zur Last gelegt. Am nächsten Tag, als Parzival die Burg längst verlassen hatte, wird er von Sigune über das Mysterium der Gralsburg aufgeklärt. Seit dieser Begegnung widmet sich Parzival der Gralssuche erneut, um sein Versäumnis gut zu machen. Einige Zeit später führt ihn seine Suche an Artus' Hof. Er wird nun in die Tafelrunde aufgenommen. Verflucht von der Gralsbotin Cundrie, verlässt er den Hof wenig später und gelangt zu einem Einsiedler, Trevrezent, bei dem er lernt. Nachdem er einige Schlachten und Zweikämpfe bestanden hatte, kommt er zum zweiten Mal zur Gralsburg. Er stellt Amfortas nun die Frage nach dessen Leid und kann ihn dadurch retten. Nachdem sich alles zum Guten gewandt hatte, wird er schließlich zum Gralskönig ernannt.[2]
Die folgenden Hauptgliederungspunkte dienen der Antwortfindung. Eine Analyse prägender Ereignisse in Parzivals Kindheit und die Darstellung der mittelalterlichen Auffassung von Erziehung sollen Klarheit geben. Klarheit zum zentralen Forschungsaspekt dieser Arbeit, der sich in den folgenden Fragen manifestiert: aus welchen Gründen ist Parzivals Lebensweg von Identitätssuche und Fehlverhalten bestimmt; welche Rolle spielt in dieser Hinsicht Herzeloyde, die Mutter Parzivals, beziehungsweise welchen prägenden Einfluss übt gerade sie auf die Entwicklung ihres Sprosses aus und, zieht man die mittelalterliche Auffassung von Erziehung in die Betrachtung ein, was ist so anders an Parzivals Aufwachsen?
2 Analyse prägender Ereignisse in der Kindheit
2.1 Erste Anzeichen des Unglücks
Dass Gachmurets Nachfolger keine gewöhnliche Kindheit verleben wird, lassen einige Anzeichen bereits vor dessen Geburt erahnen. Nachdem Gachmuret in der Ferne seinen Tod gefunden hat, wartete seine schwangere Frau ein halbes Jahr auf seine Wiederkehr. Ein Alptraum nimmt ihr schließlich die Illusion. Der besagte Traum weist das zukünftige Schicksal voraus (si dûhte wunderlicher site / wi si wære eins wurmes amm / der sît zerfuorte ir wamme / und wie ein trache ir brüste süge / und daz der gâhes von ir flüge / sô daz sin nimmer mêr gesac / daz herze err ûzem lîbe brach: die vorhte muose ir ougen sehen / ez ist selten wîbe mêr geschehenin slâfe kumber dem gelîch (104, 10-19)).
Das Wesen, das ihrem Leib entspringt, sich an ihr nährt, zu einem Drachen heran wächst und sie schließlich abrupt verlässt, ist das Abbild des eigenen Kindes.[3] Dieses Bildnis sowie das beschriebene, entrissene Herz der Mutter lassen ein schmerzliches Ende vermuten.[4] Der Traum scheint das Innerste der Herzeloyde nach außen zu kehren: der Treue des Mannes nicht mehr gewiss, gibt dieser doch seiner Gier nach Abenteuern schnell nach, lebt sie seit längerer Zeit in Einsamkeit (mînes herzen freude breitwas Gahmuretes werdekeit / den nam mir sîn vrechiu ger ( 109, 21-23) / ich hân doch schaden ze vil genomn / an mînem stolzen werden man / wie hât der tôt ze mir getân! (110, 2-4)). Ihre Einsamkeit vermag der Erzähler in einer prägnanten Szene treffend zu zeigen: als ein Knappe der Königin die Nachricht vom Tod Gachmurets überbringt, fällt sie alsbald in Ohnmacht.[5] Niemand eilt ihr zu Hilfe. Der einzige, der ihr Wasser reicht, ist ein alter Mann. Die Darstellung des Traumes dient insbesondere darin, dem Leser aufzuzeigen, dass die harten Schicksalsschläge der Herzeloyde Einfluss auf ihre Zukunft und vor allem auf die ihres Kindes nehmen werden.
2.2 Die Geburt Parzivals
Parzival wird zwei Wochen nach dem Tod seines Vaters Gachmuret geboren. Seine Geburt steht unter dem Zeichen des Todes.[6] Und dies in zweifacher Weise: so ist seit dem Tod des Vaters erst kurze Zeit vergangen und die Niederkunft hätte beinahe der Mutter den Tod gebracht (diu vrouwe eins kindlîns gelac / eins suns , der sölher lide was daz si vil kûme dran genas (112,6)). Trotz allen Leides freut sich die Mutter über die Geburt, besonders weil sie einem Sohn das Leben geschenkt hat. Diese Freude mag auf den ersten Blick Verwunderung hervorrufen: so ist die Gefahr gegeben, den Sohn auf gleiche Weise zu verlieren, wie den Mann. Doch der Erzähler macht schnell deutlich, dass Herzeloyde mit dem Kind versucht Gachmuret zu ersetzen und den Sohn mit dem Vater identifiziert (si dûht, si hete Gahmureten / wider an ir arm erbeten (113,13)).
Der Erzähler schreibt Herzeloyde an dieser Stelle erstmals eine neue Rolle zu. Sie ist nicht mehr Ehefrau und Königin, sondern liebende Mutter. Ihr mütterliches Empfinden äußert sich deutlich in bestimmten Handlungsweisen. Ihre Mutterliebe und Geborgenheit drückt Herzeloyde durch die Zuwendung zu ihrem Sohn aus: sie küsst und liebkost ihren Sohn unzählige Male, spricht ihn stets mit Kosenamen an[7] und stillt den Jungen selbst. Letzteres ist eine untypische Handlung für Frauen ihres Standes. In jener Zeit war es üblich, dass vor allem die Mütter höheren Standes ihre Kinder von Ammen stillen ließen. Zwar setzte sich schon im Mittelalter die Kirche für das Selbststillen ein, an der gängigen Praxis änderte sich dennoch lange nichts.[8] Dieses Verhalten der Mutter ist ein deutlicher Ausdruck mütterlicher Hingabe und tiefer Mutterliebe.
Der Erzähler scheint schon an dieser Stelle des Epos den Leser auf die Wende, welche die Geschichte im späteren Verlauf nehmen wird, vorzubereiten. Lässt sich doch hier schon erkennen, dass das Nicht-Loslassen-Können der Mutter und der Betrug an Parzival (sîns vater vröude und des nôt / beidiu sîn leben und sîn tot (112,13f.); barg [...] vor ritterschaft (112,19)) Folgen für den Protagonisten haben wird.[9] Herzeloydes Verhalten gegenüber ihrem Sohn lässt schon an diesem Punkt erahnen, dass sie sich zu einer übervorsichtigen Mutter entwickle, „die sich mit ihrer depressiven Seite an ihr Kind klammert. Sie richtet ihre ungelebte Liebe auf das Kind“.[10]
2.3 Parzivals Heranwachsen in der Einöde
Wie bereits im Vorfeld erwähnt, zieht sich Herzeloyde nach dem Tod Gachmurets und der Geburt Parzivals in die Einöde Soltanes zurück und lebt dort fortwährend in Einsamkeit und Armut. Der Erzähler deutet den Rückzug Herzeloydes als ein religiös motiviertes Bekenntnis zur Armut und stellt heraus, dass Herzeloyde durch den Verzicht auf ein weltliches Leben ewige Seligkeit erlangen kann (116,15ff.).
Herzeloydes Entscheidung war somit bewusst gewählt. Sie wendet sich absichtlich vom höfischen Leben ab, um Parzival vom Weltlichen besonders aber von der Ritterschaft fernzuhalten (nu habt iuch an der witze craft / und helt in alle ritterschaft (117,27)). Mit diesem Entschluss scheint Herzeloyde das Einzige, was ihr geblieben ist, retten zu wollen (was vriesche daz mîns herzen trut / welh ritters leben waer / daz wurde mir vil swaere (117,24)). Um Parzival vor jeglicher Art der Ritterschaft zu bewahren, befiehlt Herzeloyde ihren Begleitern nie von Ritterschaft zu sprechen. Durch diesen Rückzug nach Soltane, die Abkehr von der Außenwelt und die Verhaltensregeln an die Dienstleute wächst Parzival ferngehalten vom höfischen Leben, höfischer Erziehung und Ritterschaft auf.[11] So hat er in seiner Kindheit keinen Lehrmeister, wird weder in der Jagd noch in körperlicher Ertüchtigung gezielt geschult, er erhält keine musikalische Ausbildung und lernt keine höfischen Verhaltensregeln. So wird Parzival in keinster Weise erzogen, sondern wächst lediglich auf. Alles was ein Kind bis zur Adoleszenz im Mittelalter gelernt haben sollte, Tatsachen der christlichen Religion, die Kenntnis zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, die Fähigkeit mit dem Verstand Unterscheidungen vorzunehmen (vgl. Kapitel 3.2), alles das fehlt Parzival und wird ihm früher oder später zum Verhängnis. So wächst Parzival erblos, ohne Bildung und ohne Wissen von der Welt in der Einöde von Soltane auf.
Offensichtlich sind dies alles Tatsachen, die der enormen Mutterliebe und Herzeloydes Bindung an Parzival und umgekehrt entspringen. BUMKE merkt an, dass Parzivals „Wahrnehmungsschwäche“ zu einem Großteil aus der Entscheidung Herzeloydes, ihren Sohn in „totaler Unkenntnis aller Dinge“ aufzuziehen, resultiert.[12] In seinem Weltverständnis ist der junge Parzival ohne Zweifel vollkommen auf seine Mutter gerichtet und beruft sich später des Öfteren auf ihre Lehren.
Der Erzähler stellt an dieser Stelle deutlich heraus, dass dieses Aufwachsen nicht der art Parzivals entspricht (der knappe alsus verborgen wart zer waste in Soltâne erzoegen / an küneclîcher vuore betrogen (117,30)). Indem Herzeloyde versucht Parzivals art und das Erbe Gachmurets im Sohn zu unterdrücken, macht sie sich des Betruges an ihm schuldig. Der Betrug besteht in der „Erziehung“, die in keinster Weise eines Königs würdig ist.
Das Wissen um seine Herkunft kann dem Jungen zwar verwehrt werden, aber seine art vermag niemand zu unterdrücken. Sein Äußeres, das ausgeprägte Jagdinteresse und sein Gerechtigkeitssinn sind königliche Attribute. Dies stellt der Erzähler sehr deutlich in der Vogelepisode heraus. Parzival hegt Interesse an der Jagd. Selbst schnitzt er sich Bogen und Pfeil, um damit auf Vogeljagd zu gehen. Doch hadert er mit sich, als er erkennen muss, dass er unrecht handelt. Er verspürt Mitleid, Trauer und Reue (bogen unde bölzelîn die sneit er mit sîn selbes hant / und schôz vil vogele die er vant. Swenne abr er den vogel erschôz / des schal von sange ê was sô grôz / sô weinder unde roufte sich / an sîn hâr kêrt er gerich. ez enwære ob im der vogelsanc / die süeze in sîn herze dranc: daz erstracte im sîniu brüstelîn /al weinde er lief zer künegîn / sô sprach si ‘wer hât dir getân? du wære hin ûz ûf den plân.’ ern kunde es ir gesagen niht / als kinden lîhte noch geschiht. (118, 15-22)).[13] Dass er in Eifer jagt und dann über den Tod der Vögel weint, weist auf zwei starke Triebe in ihm hin: zum einen lauern in dem Jungen Aggressionen, zum anderen bereut er die Taten zutiefst. BUMKE behauptet, und dieser Behauptung schließt sich die Autorin an, dass sich in diesen beiden Charaktereigenschaften das „Erbe“ seiner Eltern erkennen lässt: Gachmuret steht demnach für die Kampfeslust in Parzival, Herzeloyde verkörpert die Liebe und das Mitgefühl.[14]
In der Reaktion Parzivals erkennt Herzeloyde Gachmurets Art (si wart wol innen daz zeswal von der stimme ir kindes brust / des twang in art und sîn gelust. (118,26)), was sie in blinder Wut handeln lässt. Um das Erbe Gachmurets in Parzival weiterhin zu unterdrücken, lässt sie die Vögel töten. Parzival erweist in seiner Reaktion auf das mütterliche Verhalten adliges Wesen. So tritt er der Mutter gegenüber bestimmt auf, verlangt von ihr Einhalt und offenbart Sinn für Gerechtigkeit.[15]
Die Vogelepisode dient zum einen insbesondere der Charakteristik des Jungen. Parzival erweist adliges Wesen durch Mitleidfähigkeit, Jagdlust, Streben nach Ritterschaft und Gerechtigkeitssinn. Zum anderen erweist sich diese Szene als geeignete Überleitung zur Gotteslehre Herzeloydes. Diese soll im folgenden Gliederungspunkt Gegenstand der Darstellung sein.
Zuvor zieht die Autorin ein Zitat von RENGGLI zu Rate, dass deutlich die Gegebenheiten in Parzivals Kindheit schildert und die bereits gewonnenen Erkenntnisse andeutet: „Der Roman Parzival ist damit eine großartige Darstellung der Folgen des Kleinkinderschicksals der Verlassenheit durch den Vater und der Übernähe oder Überfürsorglichkeit durch die Mutter. Zwanghaft muß deshalb Parzival als erwachsener Mann seine Frau verlassen. Und seine Persönlichkeit ist entsprechend gespalten, ausgedrückt in den beiden Teilaspekten Gawein und Parzival, der Teilaspekt der Suche nach Liebesabenteuern und der Teilaspekt der Depressivität und Melancholie […].“[16]
[...]
[1] Vgl. SASSENHAUSEN (2007), S. 2.
[2] Vgl. HERTZ; HOFSTAETTER (1997).
[3] Vgl. RUSS (2000), S. 35.
[4] Vgl. BRALL-TUCHEL, S. 87, Online unter: http://ler.letras.up.pt/uploads/ficheiros/artigo6391.pdf.
[5] Vgl. RUSS (2000), S. 36.
[6] Vgl. RUSS (2000), S. 38.
[7] Anmerkung: Dem Leser fällt an dieser Stelle auf, dass Parzival von der Mutter nie seinen wahren Namen genannt bekommt. Eine Tatsache, die Folgen haben wird. Der Lebensweg Parzivals wird dadurch von Identitätssuche und Fehlverhalten gekennzeichnet sein.
[8] Vgl. ARNOLD (1980), S. 57.
[9] Vgl. RUSS (2000), S. 39.
[10] Vgl. RENGGLI (1992), S. 187.
[11] Vgl. RUSS (2000), S. 41.
[12] Vgl. BUMKE (2001), S. 77.
[13] Vgl. RUSS (2000), S. 42.
[14] Vgl. BUMKE (2001), S. 82.
[15] Vgl. RUSS (2000), S. 43.
[16] Vgl. RENGGLI (1992), S. 181.
- Citar trabajo
- Karolin Flügel (Autor), 2008, Wolfram von Eschenbachs Parzival - Die Kindheit Parzivals, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146190
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