In dieser Untersuchung wird das Phänomen des Stimmenhörens aus einer originellen Perspektive untersucht: als Gegenstand der Konstruktion sozialer Wirklichkeiten. Der Autor hat sich sehr gezielt drei Interviewpartnerinnen gesucht, die in sehr unterschiedliche Bezugsgruppen eingebettet sind. Er interessiert sich dafür, wie sie die subjektive Realität des Stimmenhörens vermitteln, wie sie das Phänomen verstehen, welche Begriffe sie dabei verwenden, und wie sie sich selbst im Verhältnis zu den Stimmen und den Personen und Institutionen in ihrem Umfeld positionieren. Kernstück der Arbeit sind drei Interviewauswertungen, in denen es dem Autor gelingt, übergeordnete Diskurse und abgrenzbare "Interpretationsrepertoires" herauszuarbeiten. Der Autor versucht zu belegen, daß der Anschluss an alternative Diskurse zu einem besseren Umgang mit dem Stimmenhören führen kann.
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
1. THEORIE
1.1 Einführung in den Sozialen Konstruktivismus
1.2 Das empirische Programm des Sozialkonstruktivismus in der Psychologie
1.3 Diskussion des biomedizinischen Krankheitsmodells
2. METHODE
2.1 Prinzipien der Diskursanalyse
2.2 Methodisches Vorgehen
2.2.1 Forschungsfrage
2.2.2 Auswahl der Intervierwpartner
2.2.3 Interviews
2.2.4 Transkriptions-Konventionen
2.2.5 Auswertung
3 ERGEBNISSE
3.1 Darstellung der Diskurse Fall 1 „ das is ‘ schon ne St ö rung “
Zusammenfassung der Ergebnisse
3.2 Darstellung der Diskurse Fall „ Wenn ich ü ber meine Erkl ä rung rede, da werd ‘ ich schnell in die verrückte Ecke ge- stellt “
Zusammenfassung der Ergebnisse
3.3 Darstellung der Diskurse Fall
„ ich mein ‘ , ich benutz das ja als Beruf also wie, oder Berufung, insofern isses auf alle Fälle was positives “
Zusammenfassung der Ergebnisse
3.4 Vergleichende Darstellung der Ergebnisse
4. DISKUSSION UND AUSBLICK
Literaturverzeichnis
Einleitung
Der Berg hat nie von sich selbst als „Berg“ gesprochen. Das Wasser hat nie verkündet, „Ich bin das Wasser.“ Wer also ist es, der den Berg „Berg“ und das Wasser „Wasser“ nennt?
Buddhistischer Spruch unbekannter Herkunft.
Wenn das, was wir als objektives Wissen sehen,
eher ein Resultat von Perspektiven ist als von nackten
Tatsachen an sich, wie kommt es dann, daß verschiedene Ansichten als „Wissen“ akzeptiert werden und andere als „irrig“ oder „irreführend“ verworfen werden?
Kenneth J. Gergen, Das ü bers ä ttigte Selbst.
Die Beleuchtung verschiedener Perspektiven auf das Phänomen des Stimmenhörens ist Gegenstand und Anliegen dieser Diplomarbeit.
Beginnen möchte ich mit einer Rekonstruktion meines Forschungsprozeßes.
Ausgangspunkt der Überlegungen zum Thema meiner Diplomarbeit waren zwei besondere Interessengebiete.
Zum einen hatte ich großes Interesse für das postmoderne Paradigma und seinen Niederschlag in der psychologischen Forschung entwickelt. Mich faszinierte die Untersuchung der psychischen Realität aus der Perspektive ihrer gesellschaftlich und kulturell konstruierten Natur.
Zum anderen hatte ich mich viel mit dem Thema psychischer Gesundheit und Krankheit und der diskursbedingten Relativität dieser Begrifflichkeiten befaßt. Vor diesem Hintergrund entwickelte ich das Bestreben, in meiner Arbeit eine psychopathologische Kategorie zu dekonstruieren und hierbei sowohl die Relativität, als auch die Implikationen ihrer Bedeutung darzustellen. Statt mich einem gesamten Krankheitsbild zuzuwenden, entschied ich mich dafür, mich mit einem einzigen Symptom zu befassen.
Im Zuge meiner Nachforschungen wurde ich auf das Phänomen des Stimmen- hörens aufmerksam. Mir fiel auf, daß die Diskurse über dieses Phänomen inte- ressante Differenzen und Kontraste aufzeigen. Während das Stimmenhören im gängigen psychiatrischen Diskurs als Ausdruck einer Krankheit gilt, erhält es beispielsweise im esoterischen Diskurs die Bedeutung einer besonderen Fähig- keit.
Hierbei stellte sich mir die Frage nach den Implikationen dieser verschiedenen Bedeutungen auf die Erfahrung und den Umgang mit dem Phänomen.
Zu meiner Überraschung stellte ich in der darauffolgenden Zeit fest, daß zu der oben aufgeworfenen Frage schon einiges an Forschung betrieben worden war. Ich wurde auf die Arbeiten des Psychiaters MARIUS ROMME aufmerksam. ROMME ist Professor für Sozialpsychiatrie in den Niederlanden und einer der Pioniere in der Erforschung des Stimmenhörens aus der Betroffenen- Perspektive. ROMMEs Arbeiten lieferten den Hintergrund für die Gründung der ersten Gruppe von Stimmenhörern im Jahre 1988 in Großbritannien. Inzwischen finden sich solche Gruppen in vielen Städten Europas und bilden alle zusammen das sogenannte Netzwerk der Stimmenhörer (Hearing Voices Network oder HVN ).
Laut Romme besteht eine der wichtigsten Bewältigungsstrategien für den Umgang mit dem Stimmenhören in der Entwicklung einer eigenen stigmafreien Erklärung für das Phänomen. Seiner Meinung nach ist die Pathologisierung des Phänomens durch psychiatrische Institutionen und der sich daraus ergebende Opferstatus der Betroffenen eines der größten Probleme.
Aus der Befragung vieler Menschen, die von sich behaupteten Stimmenhörer zu sein, ohne, daß ihnen diese Tatsache jedoch jemals Schwierigkeiten bereitet hätte, und die oft ein ganz ‘normales’ gesellschaftliches Leben führten, schloß ROMME, daß das Phänomen als solches nicht das Problem sein könne. Das Problem müsse also in der Bewertung liegen. Hieraus zog er die weitere Schlußfolgerung, daß ein nicht-psychiatrisches Interpretationsmodell auch ei- nen besseren Umgang mit dem Phänomen ermöglichen müsse. Die Arbeiten ROMMEs und des HVN erscheinen als aktive Dekonstruktion ei- ner psychopathologischen Kategorie.
Desweiteren findet hier das postmoderne Postulat der erfahrungskonstitutiven Wirkung von Diskursen eine praktische Anwendung.
Die Lektüre verschiedener Publikationen des HVN und von MARIUS ROMME verstärkten mein Interesse an den tatsächlichen Diskursen der Betroffenen und, wie zuvor erwähnt, an möglichst kontrastierenden Darstellungen des Phäno- mens.
Ich begann, mich mit der Auswahl meiner Interviewpartner zu befassen.
Nach einiger Zeit standen mir drei sehr unterschiedliche ‘Stimmenhörer’ für ein Interview zur Verfügung.
Welche Konstruktionen würden sich mir offenbaren?
Wie würden meine Interviewpartner den zu erwartenden ideologischen Konflikt, der sich aus den widersprüchlichen Interpretationsmöglichkeiten des Phänomens ergeben kann, lösen?
Würden sich Implikationen ihrer Konstruktionen auf die Erfahrung und den Umgang mit dem Phänomen enthüllen?
Im ersten Teil dieser Arbeit werde ich eine kleine Einführung in den sozialen Konstruktivismus geben. Hiermit möchte ich versuchen, die gemeinsamen wissenschaftstheoretischen Wurzeln der psychologischen Ansätze, an welchen ich mich in meiner Untersuchung orientiert habe, zu klären.
In einem zweiten Schritt werde ich versuchen, die Forschungsschwerpunkte dieser verschiedenen Ansätze vorzustellen. Hierbei möchte ich besonders die Theorie der diskursiven Psychologie hervorheben, welche mir als hauptsächlicher Hintergrund für meine Forschung gedient hat.
Im Anschluß daran möchte ich das in westlichen Gesellschaften dominierende Modell der klassischen Psychiatrie zur Erklärung ‘anormaler’ Phänomene wie das Stimmenhören einer kritischen Betrachtung unterziehen. Im zweiten Kapitel werde ich einige Konzepte zur Methode der Diskursanalyse vorstellen und mein persönliches Vorgehen bei der Erhebung und Auswertung des Untersuchungsmaterials beschreiben.
Im dritten Teil werde ich die Ergebnisse der Untersuchung ausführlich darstel- len. Im Anschluß werde ich die Ergebnisse meiner Untersuchung diskutieren.
1. THEORIE
1.1. Einführung in den Sozialen Konstruktivismus
Zu Beginn dieses theoretischen Kapitels möchte ich eine kurze Einführung in den ‘Sozialen Konstruktivismus’ geben.
Diese Einführung soll dem Zweck dienen, die Diskursive Psychologie, welche den wesentlichen theoretischen Hintergrund meiner Forschungsarbeit darstellt, in ihre metatheoretische Tradition einzubetten.
Bevor ich kurz die Wurzeln und Ausprägungsformen des Sozialen Konstruktivismus skizzieren werde, möchte ich zunächst die grundlegende Perspektive dieser Strömung darstellen:
Grundsätzlich betrachtet der Soziale Konstrukivismus Diskurse über die Welt nicht als Abbilder der Welt, sondern als Artefakte menschlicher Kommunikati- on. Realität, Wirklichkeit und Objektivität werden als sozial hergestellt aufge- faßt.
GERGEN faßt die einheitliche Betrachtungsweise sozialkonstruktivistischer Ansätze wie folgt zusammen:
„The terms in which the world is understood are social artifacts, products of historically situated interchanges among people. From the constructionist position the process of understanding is not automatically driven by the forces of nature, but is the result of an active, cooperative enterprise of persons in relationship“ (GERGEN 1985: 267).
Das sozialkonstruktivistische Herangehen ist einer objektivistischen bzw. naiv- realistischen Betrachtungsweise entgegengesetzt und insofern auch als Kritik an dem traditionellen positivistischen Wissenschaftsverständnis zu begreifen. Unter Bezugsnahme auf den Artikel ‘The Varieties of Social Construction’ (1997) von DANZIGER, möchte ich nun kurz die Wurzeln und Ausprägungs- formen des Sozialen Konstruktivismus skizzieren, um einen Eindruck über die Verteilung und die Herkunft des konstruktivistischen Gedankenguts deutlich werden zu lassen.
DANZIGER zufolge hat sich der Soziale Konstruktivismus in verschiedenen Gebieten der Wissenschaft mehr oder minder gleichzeitig entwickelt. GERGEN schlägt diesbezüglich vor, eher von einem gemeinsamen Bewußtsein, als einer Bewegung zu sprechen (GERGEN 1985: 266). DANZIGER erwähnt die folgenden Gebiete:
- Das Gebiet der Wissenschaftstheorie mit:
a) Einer Problematisierung des Beobachtungsbegriffs und der Kritik der objektivistischen Forschungslogik.
b) Einer Betonung der scientific communities, der Paradigmen-und Praktikenabhängigkeit von Forschungsprogrammen.
c) Eine Problematisierung der sozial-/ humanwissenschaftlichen Grundbegriffe bzw. Methodologie.
Wesentliche Namen sind hier FEYERABEND, KUHN, QUINE, HANSON, TAYLOR, RORTY.
- Das Gebiet der Soziologie mit:
Verweisen auf den Konstruktionscharakter sozialer Gebilde (Werke von A. SCHÜTZ, G.H. MEAD, E. GOFFMANN, H. GARFINKEL und vor allem die Theorie der Wissenschaftssoziologie von BERGER und LUCKMANN).
- Das Gebiet der Anthropologie/ Ethnologie.
Bedingt durch die besondere Situation der ethnologischen Erkenntnis- gewinnung: das Studium fremder Kulturen führte durch die in ihr ange- legte Konfrontation der kultureigenen Kategorien des Forschers relativ früh zu Selbstreflexion und der Entwicklung konstruktivistischer An- sichten.
- Kybernetik/ Systemtheorie.
In diesem Theoriestrang, der seine Wurzeln vor allem in einem natur- wissenschaftlichen Background hat, werden konstruktivistische Ansich- ten in Schlagwortern wie ‘dissipative Strukturen’, ‘Selbstorganisation’ und ‘Autopoesis’ usw. manifest (H. HAKER, H.R. MATURANA, F.R. VARELA, H.V. FOERSTER, E.V GLASERFELD, N. LUHMAN).
- Kontinentaleurop ä ische Philosophie.
DANZIGER handelt diese unter dem Stichwort Postmoderne bzw. Poststrukturalismus ab (1997: 404).
Hier wären vor allem das Unternehmen der Dekonstruktion und Dis- kussionen über den ‚Gender‘ Begriff zu nennen (FOUCAULT, DERRIDA...)
K. KNORR-CETINA (1989) zufolge haben sich auf diesen verschiedenen Gebieten drei unterschiedliche Varianten des Sozialen Konstruktivismus herausgebildet. In einem gleichlautenden Aufsatz zählt sie diese „drei Spielarten des Konstruktivismus“ wie folgt auf:
1) Den Sozialkonstruktivismus bei BERGER und LUCKMANN.
2) Den kognitions-/erkenntnistheoretischen Radikalen Konstruktivismus.
3) Das empirische Programm des Sozialkonstruktivismus.
In bezug auf die Diskursive Psychologie ist vor allem der hier zuletzt genannte Ansatz von Interesse. Aus diesem Grunde möchte ich an dieser Stelle nicht weiter auf die beiden erstgenannten Ansätze eingehen.
Im Gegensatz zu diesen Ansätzen, zeigt sich in der dritten Version eine Präfe- renz für die empirische Erschließung von Konstruktionsprozessen: Hier wird die eigentliche Konstruktionsmaschinerie zum Analysegegenstand gemacht. KNORR-CETINA beschreibt diese ‘Spielart’ als Ineinandergreifen fol- gender Ansätze:
- Konstruktivistische Wissenssoziologie (z.B. KNORR-CETINA, LATOUR u. WOOLGAR).
- Mikrosoziologie/ Ethnomethodologie (z.B. HERITAGE).
- Kulturanthropologie (z.B. GEERTZ).
- Ansätze zur Analyse sozialer Praxis (z.B. FOUCAULT, BOURDIEU).
Um in Umrissen den metatheoretischen Rahmen für die im weiteren Verlauf dieses Kapitels zu behandelnden Theorien abzustecken, möchte ich nun unter Bezugnahme auf den Aufsatz von KNORR-CETINA, abschließend einige essen- tielle Thesen der dritten ‘Spielart’ des Sozialkonstruktivismus darstellen. Die folgenden Thesen dienten mir als eine Art Grundorientierung bei meiner For- schungsarbeit.
- Konstruktionsmaschinerie von Wirklichkeit:
Realität hat keine Essenz, die man unabhängig von bedeutungs- und realitätsproduzierenden Mechanismen und Konstruktionen der Akteure begreifen könnte; auch die als stabil erscheinende Wirklichkeit muß fortwährend reproduziert werden und enthält insofern Konstruktionsarbeit, wobei der Arbeitsbegriff sich darauf bezieht, daß jedes Verhalten (auch routinemäßiges und unbewußtes) gezielte Tätigkeit voraussetzt.
- Übergang von ‚ Was-Fragen ‘ zu ‚ Wie-Fragen ‘:
Wenn man von der Prämisse ausgeht, daß das Erkenntnisobjekt ein konstruier- tes ist, haben Wie-Fragen Priorität. Denn erst die Klärung der Art und Weise, wie eine spezifische Wirklichkeit konstruiert worden ist, bedeutet auch eine zu- reichende Erfassung dessen, was das Konstrukt ausmacht. Die Betrachtung konstruktivistisch vorgehender Analysen zeigt, daß damit objektivisti- sche/substantialistische Charakterisierungen eines Gegenstands weitgehend vermieden werden können. Die Frage lautet also: Wie wird eine Kategorisie- rung/Unterscheidung/Segmentierung der Welt von den Teilnehmern operatio- nalisiert? KNORR-CETINA (1989: 92).
Dies führt zu einer Methodologie, welche ihren Gegenstandsbereich nur aus der Sicht der Teilnehmer beziehen kann: Gegenstände im sozialen Feld sollen ausschließlich durch die Semantik der Akteursprache, also der jeweilig zu un- tersuchenden Wirklichkeit definiert werden. Au ß erhalb der Ressourcen und Strategien der Teilnehmer zur Definition und Ver ä nderung von deren Wirk- lichkeit gibt es nichts, was dem (etwa von der Seite des Forschers und seiner Theorien aus) hinzuzuf ü gen w ä re.
- Theoriefreiheit der Analyse, Symmetriepostulat:
Der Forscher soll die Analyse möglichst nicht mit vorgefertigten Theorien (etwa soziologischer oder psychologischer Herkunft) vornehmen, sondern sich strikt auf die Kategorisierungen der Teilnehmer einlassen KNORR-CETINA (1989: 93). Durch dieses ‘Symmetriepostulat’ hinsichtlich der Konstrukte von Forscher und Beforschten soll einerseits die Bedeutung vorgefertigter sozial- wissenschaftlicher Grundkonzepte relativiert werden, anderseits gewinnt die Analyse dadurch maximale Beweglichkeit und Flexibilität, so daß sie sich im- mer neuen Kontexten anpassen kann, ohne durch rigide Begrifflichkeiten bzw. Methoden behindert zu werden KNORR-CETINA (1989: 94).
1.2. Das empirische Programm des Sozialkonstruktivismus in der Psychologie
Die bisherige Betrachtung des Sozialen Konstruktivismus und seines theoreti- schen Selbstverständnisses sollte dazu dienen, die gemeinsamen wissenschaft- lichen Wurzeln der verschiedenen diskurstheoretischen Ansätze in der Psycho- logie zu klären.
In diesem Abschnitt möchte ich zunächst diese Ansätze in Kurzform darstellen, um dann zuletzt zu einer Betrachtung der spezifischen konzeptionellen Grundlagen der Diskursiven Psychologie zu gelangen.
Cultural Psychology:
Während sich die Ansätze der diskursiven Psychologie innerhalb des europäi- schen Forschungskontextes entwickelt haben, dient der Cultural Psychology die nordamerikanische Wissenschaftstradition als Bezugspunkt. Die Cultural Psychology betont, daß die psychischen Funktionen innerhalb kultureller Systeme der Repräsentation und der sozialen Organisation lokali- siert werden müssen, in der die individuelle Psyche eingebettet ist und durch die sie konstituiert wird.
In ihrem programmatischen Übersichtsartikel „Cultural Psychology: Who needs it?“ (1993) betonen R.A. SCHWEDTER und M.A. SULLIVAN, daß sich die konzeptionelle Ausrichtung der Cultural Psychology durch ein Interesse an der Frage nach den menschliches Handeln anleitende Bedeutungen und das Zurückgehen auf den spezifischen Kontext, innerhalb dem diese Bedeutungen und alltägliche Praxen zu verorten sind, auszeichne. Aufgabe der Cultural Psychology sei die Ausarbeitung einer „semiotic agenda“:
„The items on the agenda include such questions as „What is meaning such that a situation can have it?“ „What is a person such that what a situation means can determine his or her response to it?“ „What meanings or Conceptions of things have been stored up and institutionalized in everyday practice and discourse in various regions and cultural enclaves of the world?“ „In what ways can different meanings have an effect on the organization and operations of individual consciousness?“ (SCHWEDTER & SULLIVAN 1993: 499).
Im Unterschied zur Diskursiven Psychologie findet innerhalb der Cultural Psy- chology eine Schwerpunktsetzung auf die konkrete Rolle bereits existierender kultureller Kontexte statt. Ihr wissenschaftliches Interesse zentriert sich vor- nehmlich auf kulturvergleichende Studien, die die Kulturspezifik zentraler psychologischer Begriffe aufweisen und begründen wollen (vgl. NANCY MUCH 1995).
Narrative Psychologie:
Die Narrative Psychologie befaßt sich mit der Entwicklung von Konzepten welche eine wissenschaftliche Betrachtung und Analyse narrativer Konstrukti- onen der Wirklichkeit ermöglichen sollen (vgl. SARBIN 1986). Die zu interpretierenden Äußerungen werden zunächst daraufhin betrachtet, ob sie Teil einer Erzählung sind, und, daran anschließend, hinsichtlich ihrer Funk- tion analysiert. In diesem Zusammenhang lassen sich die von SCHÜTZE (1983) formulierten Vorschläge zur Auswertung narrativer Interviews erwähnen.
Theorie der sozialen Repr ä sentationen:
Nach FLICK widmet sich die Theorie der sozialen Repräsentationen
„der Bedeutung von Gegenständen und Prozessen für Subjekte und Gruppen sowie der sozialen Zuschreibung von Bedeutung“ (FLICK 1995: 12). Ihr wissenschaftliches Interesse zentriert sich auf die Untersuchung von Wis- sen als sozialem Wissen, das sich vor allem aus der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen herausbildet. Die zentrale forschungsleitende Kategorie dieses Ansat- zes ist die der ‘sozialen Repräsentationen’. Nach MOSCOVICI werden soziale Repräsentationen verstanden als:
„ein System von Werten, Ideen und Handlungsweisen mit zweifacher Funkti- on; erstens eine Ordnung zu schaffen, die Individuen in die Lage versetzt, sich in ihrer materiellen und sozialen Welt zu orientieren und sie zu meistern; und zweitens Kommunikation unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft zu ermög- lichen, indem es diesen einen Code für sozialen Austausch und einen Code zur Benennung und zur eindeutigen Klassifikation der verschiedenen Aspekte ihrer Welt und ihrer individuellen Geschichte und der ihrer Gruppe liefert“ (MOSCOVICI 1973: 17).
Diskursive Psychologie:
Aus der bisherigen Darstellung der im engeren Umkreis der Diskursiven Psychologie stehenden Ansätze sollte hervorgehen, daß diese alle sprachlichkulturelle Bedeutungen in den Mittelpunkt ihrer konzeptionellen Grundbegrifflichkeit stellen. Die unterschiedlichen Labels dieser Ansätze verweisen dabei eher auf verschiedene Akzentsetzungen bzw. auf unterschiedliche Theorietraditionen, als auf grobe theoretische Uneinigkeiten.
Im folgenden möchte ich versuchen, den Ansatz der Diskursiven Psychologie bzw. die Theorie der Diskursanalyse darzustellen.
Die Schwierigkeit besteht hierbei darin, daß der Diskursiven Psychologie ein einheitsstiftendes Grundkonzept fehlt, anhand dessen sie als einheitlicher theoretischer Zusammenhang ausweisbar wäre.
In einem Kapitel zur Definition der Diskursanalyse bemerken POTTER und WETHERELL:
„Perhaps the only thing all commentators are agreed on in this aera is that terminological confusions abound.“
„It is a field in which it is perfectly possible to have two books on discourse analysis with no overlap in content at all“ (1987: 6).
Auch PARKER bemerkt dieses Problem (1993: 3). PARKER sieht den Grund hierfür in den vielfältigen Ursprüngen der verschiedenen Ansätze welche alle verschiedene Schwerpunkte und Analysestile implizieren.
Zur Frage nach der gemeinsamen Orientierung dieser Ansätze bemerkt PARKER:
„ (...) these approches are united by a common attention to the significance and structuring effects of language, and are associated with interpretative and reflexive styles of analysis“ (1993: 3).
Diese Aussage verweist jedoch nur auf den bereits erörteten paradigmatischen Hintergrund der diskurspsychologischen Ansätze.
Eine Spezifizierung der gemeinsamen Besonderheit dieser Theorien läßt sich meines Erachtens anhand einer Untersuchung des Diskursbegriffes klären.
Eine vorläufige konsensfähige Klärung des Diskursbegriffes kann mithilfe des von HARRÉ und GILETT vorgenommenen Vergleichs zwischen Diskursen und den Wittgenstein‘schen ‘Sprachspielen’ versucht werden (HARRÉ & GILETT 1993: 18ff). Nach WITTGENSTEIN ist das Psychische immer den strukturieren- den Einflüssen der konventionalisierten Bedeutungen von Sprachsystemen, Begriffen, Worten und Zeichen unterworfen (vgl. WITTGENSTEIN 1984). Die Bedeutung eines Phänomens läßt sich demnach nur innerhalb des zu ihr gehörigen ‘Sprachspiels’ untersuchen. Begreift man Diskurse als Sprachspiele, so lassen sich diese als sozial geteilte Symbolsysteme und Bedeutungswelten verstehen. Nach WITTGENSTEIN ist ein Wort kein Abbild oder Name der weltli- chen Dinge, sondern die Bedeutung des Wortes entspringt dem sozio- kulturellen Gebrauch des Zeichens.
In Analogie dazu läßt sich das Psychische auch nur innerhalb des diskursiven Kontextes, in dem es seine spezielle Bedeutung erlangt, verstehen. Durch diesen, mithilfe des Diskursbegriffes geschaffenen Einbezug des gesell- schaftlich/kulurellen und historischen Kontextes, wird die in den Kognitions- wissenschaftlichen Ansätzen vorherrschende individualistische Reduzierung des Menschen auf eine passive, kausale Informationsverarbeitungsmaschine aufgebrochen.
Es entsteht die Möglichkeit, die in der traditionellen Psychologie außer Acht gelassenen öffentlichen, gemeinsam geteilten Bedeutungssysteme in die psychologische Forschung miteinzubeziehen.
Aus dieser kurzen Explikation des Diskursbegriffes ergibt sich die folgende gemeinsame Orientierung diskurspsychologischer Forschung: Sie hat die konkrete Aufgabe, diskursives Geschehen zu beschreiben und zu analysieren.
Hierbei muß der Bezug auf den alltäglichen Kontext, innerhalb dem die Men- schen tatsächlich reden, erhalten bleiben und darf nicht, wie in der traditionel- len Psychologie, auf die artifizielle Situation des Experiments verkürzt werden. Zur Frage, wie eine Diskursanalyse konkret vorgenommen werden sollte, ge- hen, wie zuvor erwähnt, die Meinungen auseinander. Für meine Arbeit habe ich daher versucht, mich hauptsächlich an dem von WETHERELL und POTTER vorgeschlagenen Konzept zu orientieren (vgl. WETHERELL & POTTER 1987).
Auf das konkrete diskursanalytische Vorgehen werde ich in einem eigenen Abschnitt eingehen (Kapitel 2., S. 16).
Bevor ich nun die bisherigen Ausführungen über die Diskursive Psychologie abschließe, möchte ich noch einige Anmerkungen tätigen.
Wie zu Anfang angedeutet, gelangen die spezifischen Beiträge der Diskursiven Psychologie zu keiner einheitlichen Begriffsbildung.
Zu einer präziseren Darstellung müßte jede der einzelnen Theorien in ihrer eigenen Systematik behandelt werden. Dies würde jedoch über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen.
So möchte ich es bei dieser kurzen Darstellung belassen und noch bemerken, daß aus der bisherigen Darstellung vor allem hervorgehen sollte, daß ein dis- kursanalytisches Forschungsvorhaben dem traditionellen Forschungsverständ- nis insofern entgegengesetzt ist, als es primär auf die Dekonstruktion vorhan- dener Modelle und Theorien ausgerichtet ist. Demnach ging es auch mir nicht um die Elaborierung bzw. Überprüfung einer bestimmten Theorie zum Phäno- men des Stimmenhörens, sondern vielmehr darum, durch die Kontrastierung verschiedener Realitätsentwürfe zu diesem Phänomen die kontextbezogene Re- lativität der ihm zugeschriebenen Bedeutungen aufzuzeigen und diese in Hin- blick auf ihre erfahrungs- und handlungsstrukturierende Funktion zu untersu- chen.
1.3. Diskussion des biomedizinischen Krankheitsmodells
In diesem Abschnitt soll es darum gehen, das biomedizinische Krankheitsmo- dell als die dominierende kollektive Vorstellung westlicher Gesellschaften aus- zuweisen. Ferner soll der ontologische Anspruch dieses Modell einer kriti- schen Betrachtung unterzogen werden sowie das Modell als solches bezüglich der Konstruktion von psychischer Krankheit problematisiert werden. In einem zweiten Schritt soll das Phänomen des Stimmenhörens aus der Per- spektive des biomedizinischen Modells und somit der klassischen Psychiatrie dargestellt werden. Eine abschließende Befragung der Pragmatik dieses Mo- dells soll zuletzt dazu beitragen, die im Anschluß an die Darstellung meiner empirischen Untersuchung stattfindende Diskussion einzuleiten.
Beginnen möchte ich mit einer Unterscheidung zwischen Kollektiv- und All- tagsvorstellungen. FLICK liefert diesbezüglich die folgende Definition: „Es lassen sich zwei Ebenen unterscheiden: Einerseits die Ebene der kollekti- ven Vorstellungen, die Interpretationen und Konstruktionen in einer bestimm- ten Epoche und/ oder einem bestimmten lokalen Kontext liefern und als Quelle für das Verstehen, die Interpretation, Konstruktion, kurz Vorstellungen auf der zweiten Ebene dienen - der Ebene des Alltags“ (FLICK 1997: 29). Kollektive Vorstellungen stellen demnach sozial geteilte Sprachsysteme dar, aus denen sich die Diskurse auf der Alltagsebene speisen.
Kollektive Vorstellungen ließen sich auch in Anlehnung an PARKER (1995) als kulturelle Repräsentationen bezeichnen. PARKER warnt jedoch davor, einer kognitivistischen Sichtweise zu verfallen und sich kulturelle Repräsentationen als mentale Bilder vorzustellen. Kulturelle Repräsentationen seien vielmehr als Bündel von Praktiken zu begreifen, die der Verteidigung gesellschaftlicher Machtpositionen dienen. Die Frage, ob kulturelle Inhalte nun wie bei FLICK als mentale Bilder, die dann Verwendung finden, wenn bestimmten Phänomenen eine Bedeutung zugeschrieben wird, oder ob sie vielmehr, wie bei PARKER, als Bestandteil der Interaktion in einzelnen Situationen aufgefaßt werden sollen, ist die Kernfrage vieler Debatten zwischen Vertretern der Theorie der sozialen Repräsentationen und Vertretern der Diskursiven Psychologie (vgl. WETHERELL & POTTER 1995: 177ff, HARRÉ 1995: 165ff). In meiner Betrachtung möchte ich gemeinschaftlich geteilte Erklärungsmodelle zum Phänomen des Stimmenhörens im Sinne der Theorie der sozialen Repräsentationen als kollektive Vorstellungen auffassen. Hierbei soll jedoch auch der interaktionelle Aspekt berücksichtigt werden.
Die sicherlich einflußreichste kollektive Vorstellung zur Erklärung ‘anormaler’ Phänomene in der westlichen Gesellschaft ist die der Medizin. Das biomedizinische Krankheitsmodell entstammt der europäischen Medizintradition und beansprucht auch Gültigkeit in der Psychiatrie und damit für die Erklärung von sogenannten Geisteskrankheiten.
Im medizinischen bzw. psychiatrischen Diskurs werden Phänomene wie das Stimmenhören als Funktionsstörungen betrachtet und auf biologische Vorgän- ge zurückgeführt. Das biomedizinische Krankheitsmodell betrachtet Krankheit als meßbare Abweichung von statistisch ermittelbaren Normen, die für be- stimmte physiologische oder anatomische Gegebenheiten gefunden werden. Umfassende Diagnosesysteme wie das DSM IV oder das ICD 10 werden hier- bei von vielen Wissenschaftlern als neutrales theoriefreies Kategoriesierung- sinstrument angesehen. Sowohl die kulturelle/ gesellschaftliche als auch die geschichtliche Relativität der biomedizinischen Perspektive wird hierbei nicht berücksichtigt.
Eine Konsequenz des Wahrheits- bzw. Objektivitätsanspruches der biomedizi- nischen Perspektive ist die Unterdrückung anderer, von ihr abweichender, Konzeptionen. Hiermit sind nicht nur andere kollektive Konzeptionen gemeint sondern vor allem die subjektiven Konzeptionen der Betroffenen, welche aus einer solchen Haltung heraus schnell als ‚irrelevant‘ oder auch ‚verzerrt‘ durch die jeweils ‘objektiv’ diagnostizierte Krankheit abqualifiziert werden können. Das Problem der Unterdrückung und Abqualifizierung abweichender Ansich- ten stellt sich selbstverständlich nicht nur im Zusammenhang mit dem biome- dizinischen Krankheitsmodell. Wie BILLIG in seinen Studien aufzeigt, liegt dieser Konflikt in allen Ideologien beschlossen und ist somit ein Produkt jedes Diskurses (vgl. BILLIG 1988, 1991). Das biomedizinische Modell hat jedoch aufgrund seiner mächtigen institutionellen Verankerung einen besonderen Stel- lenwert. Nicht zuletzt deswegen hat es zu vielen Reaktionen geführt. Ein Groß- teil der gegen die Biomedizin gerichteten Kritik hat seinen Ursprung in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts und formierte sich in der Antipsychiatriebe- wegung. Einer der wichtigsten theoretischen Beiträge ist hier das Werk FOU- CAULTs, insbesondere das Buch ‘Wahnsinn und Gesellschaft’. Hierin versucht FOUCAULT die Geschichte des Wahnsinns nachzuzeichnen, um den Moment aufzuspüren, an dem der Wahnsinn als Geisteskrankheit konstituiert wurde. FOUCAULT untersucht, wann der Dialog zwischen Wahnsinn und Nicht- Wahnsinn abgebrochen wurde und durch „die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft ü ber die Vernunft ist“ (1973: 8), abgelöst wurde.
FOUCAULT zufolge kam es mit der Philosophie DESCARTEs zur der eigentlichen Entzweiung zwischen Vernunft und Wahnsinn. Mit der Proklamation der Ver- nunft als letzter Instanz der Erkenntnis begann die Verbannung von Verrückt- heit, Demenz und Irrsinn. FOUCAULT betreibt eine subversive Kritik an der Psychiatrie und ihren Methoden und weist diese als Produkt des abendländi- schen Logozentrismus aus. Durch eine Darstellung der geschichtlichen Ent- wicklung der psychiatrischen Institution und ihren Praktiken, gelangt er zu ei- ner Relativierung ihres ontologischen Gültigkeitsanspruches. Desweiteren macht FOUCAULT insbesondere mit ‘Wahnsinn und Gesellschaft’ auf das Leid und die Unterdrückung der Menschen, die, ihm zufolge, von den Anwälten der klassi- schen Vernunft über Jahrhunderte hinweg verbannt und entmachtet wurden, aufmerksam.
Im Geiste FOUCAULTs betreibt auch IAN PARKER Kritik an der Psychiatrie. Mit seinem Buch „Deconstrucing Psychopathology“ macht auch er auf die Diffe- renzierung zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit und die damit ein- hergehende Stigmatisierung und Unterdrückung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen aufmerksam.
[...]
- Quote paper
- Philipp Stahl (Author), 1998, Diskursanalytische Darstellung verschiedener Realitätsentwürfe zum Phänomen des Stimmenhörens, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/145722
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.