Sinn und Zweck dieser Arbeit ist es, dem Leser ein tiefergehendes Verständnis der Chansons Georg Kreislers zu vermitteln und diese innerhalb der Geschichte des deutschsprachigen musikalischen Kabaretts zu verorten.
Analog zu diesen beiden Zielen gliedert sich der Text – neben der obligatorischen Einrahmung durch Einleitung und Schlusswort – in zwei zentrale Kapitel.
Das erste dieser beiden, Kapitel 2, beschäftigt sich mit Kreislers Werk selbst. Um die inhaltlich wie stilistisch äußerst vielfältigen und heterogenen Stücke zu systematisieren, unterteile ich das Oeuvre in sechs verschiedene Phasen, die sich jeweils durch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und durch künstlerische Innovationen auszeichnen. Meines Wissens ist dies der erste Versuch einer wissenschaftlich begründeten Untergliederung von Kreislers umfangreichem Schaffen.
Analysen sollen diese Aufteilung untermauern. Natürlich ist es im Rahmen einer einzelnen Arbeit nicht möglich, sämtliche Kreisler-Lieder oder auch nur eine repräsentative Stichprobe der 500-1.000 Stücke aus seiner Feder zu untersuchen. Anstatt also einen zwangsläufig oberflächlichen Überblick möglichst vieler Werke bieten zu wollen, konzentriere ich mich auf exemplarische Einzelanalysen einiger weniger Lieder aus jeder Phase.
In Kapitel 3 wird der historische Kontext hergestellt. Mögliche Vorbilder Kreislers und Einflüsse aus vorhergehenden Generationen von Kabarettisten werden auf Ähnlichkeiten in Inhalt und Stil untersucht, ebenso wie einige seiner Zeitgenossen und schließlich im letzten Unterkapitel jüngere Musikkabarettisten.
Naturgemäß muss auch hier eine Auswahl getroffen werden. Wer in diesem Kapitel vertreten ist und wer nicht, gründet sich auf meine eigenen Vorstudien zu dieser Arbeit und erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. Um der Frage nachzugehen, welche Stellung Georg Kreisler in der Entwicklung des deutschsprachigen musikalischen Kabaretts einnimmt, ist es auch nicht zwingend notwendig, ausnahmslos jeden Kabarettisten zu erwähnen, der sich in irgendeiner Form an ihm orientiert; wichtig ist vielmehr die Frage, ob Kreisler tatsächlich die "gloriose Randerscheinung" (Klaus Budzinski) ist, die geschichtslose Singularität, als die ihn manche Kritiker wie auch Bewunderer betrachten, oder ob sein Werk nicht vielmehr lebendiger Teil der Kabaretthistorie ist, bestimmten Traditionslinien folgt und auch selbst bestimmte Traditionen des musikalischen Kabaretts begründet hat.
Inhalt
1. Einleitung
2. Einteilung in Schaffensphasen und exemplarische Analysen
2.1 Die amerikanische Phase: Hollywood und New York
2.1.1 Beschreibung
2.1.2 Analyse: Please, shoot your husband
2.2 Die makabre Phase: Wien und die Marietta Bar
2.2.1 Beschreibung
2.2.2 Analysen: Frühlingslied, Der Musikkritiker
2.3 Die surrealistische Phase: Seltsame Gesänge und Liebeslieder
2.3.1 Beschreibung
2.3.2 Analysen: Der schöne Heinrich, Der Bluntschli
2.4 Die jüdisch orientierte Phase: Nichtarische Arien
2.4.1 Beschreibung
2.4.2 Analyse: Ich fühl mich nicht zu Hause
2.5 Die politische Phase: Tauben vergiften gegen Atomkraft
2.5.1 Beschreibung
2.5.2 Analyse: Ich soll immer was Lustiges schreiben
2.6 Die retrospektive Phase: Ein kleines Comeback
2.6.1 Beschreibung
2.6.2 Analyse: Der Politiker. Über partielle Modifikation und komplette Neufassung
3. Historischer Kontext
3.1 Vorläufer, Vorbilder, Einflüsse. Kabarett vor Kreisler
3.1.1 „Platscheplitsch“, „Trippeltrab“. Die Anfänge des deutschsprachigen Kabarettchansons
3.1.2 „Es ist ein Knie, sonst nichts.“ Christian Morgenstern und Joachim Ringelnatz
3.1.3 „Und als die Leichen rochen…“. Bertolt Brecht und Kurt Weill
3.1.4 „Clown, du hast deine Stellung verloren.“ Friedrich Hollaender und Erich Kästner
3.2 Zeitgenossen. Die fünfziger und sechziger Jahre
3.2.1 „Poisoning Pidgeons In The Park“. Tom Lehrer und der Vorwurf des Plagiats
3.2.2 „Die Mitzi hat ja noch ein Messer“. Kreislers ‚Kollegen‘ im „Kabarett ohne Namen“
3.2.3 „wo bleibb da hummoooa“. Ernst Jandl und H.C. Artmann
3.3 Nachfolger? Kreislers Einfluß auf spätere Kabarettgenerationen
3.3.1 „I’ve got the right to sing wrong“. Hubert Wolf und Bruno Reininger
3.3.2 „Du hast vergessen zu geh’n“. Die Wiederkehr des Chansons im gehobenen Schmalz
3.3.3 „Lullt euch ein, ich lall’ euch zu“. Die Rotzfreche Asphalt Kultur
3.3.4 „Prager Blutwurst“ – KIP records und ihre Künstler
4. Zusammenfassung der Ergebnisse
5. Literaturangaben
5.1 Texte und Partituren
5.2 Tonträger
5.2.1 Georg Kreisler
5.2.2 andere Interpreten
5.3 Videoaufzeichnungen, Fernseh- und Radiosendungen
5.4 Internet-Adressen
6. Anhang
6.1 Vollständige Texte der analysierten Lieder
6.1.1 Aus der amerikanischen Phase
6.1.2 Aus der makabren Phase
6.1.3 Aus der surrealistischen Phase
6.1.4 Aus der jüdischen Phase
6.1.5 Aus der politischen Phase
6.1.6 Aus der retrospektiven Phase
6.2 Zitierte unveröffentlichte Aufzeichnungen und Korrespondenzen im Wortlaut
6.2.1 Interview von Stefan Balzter mit Jürgen Keiser (KIP records), MD- Aufnahme vom 18.12.1998 (Auszüge)
6.2.2 Brief von Georg Kreisler an Regula Steiner vom 28.10.1993
6.2.3 Gespräch Stefan Balzters mit Georg Kreisler am 23.10.1998 (Auszüge)
6.2.4 Brief von Georg Kreisler an Stefan Balzter vom 21.3.1999275144
6.2.5 Brief von Georg Kreisler an Stefan Balzter vom 6.5.2000
6.2.6 Email von Hubert Wolf an Stefan Balzter vom 9.5.2000276145
6.3 Diskographie
1. Einleitung
Sinn und Zweck der vorliegenden Arbeit ist es, dem Leser ein tiefergehendes Verständnis der Chansons Georg Kreislers zu vermitteln und diese innerhalb der Geschichte des deutschsprachigen musikalischen Kabaretts zu verorten.
Analog zu diesen beiden Zielen gliedert sich der Text – neben der obligatorischen Einrahmung durch Einleitung und Schlußwort – in zwei zentrale Kapitel.
Das erste dieser beiden, Kapitel 2, beschäftigt sich mit Kreislers Werk selbst. Um die inhaltlich wie stilistisch äußerst vielfältigen und heterogenen Stücke zu systematisieren, unterteile ich das Oeuvre in sechs verschiedene Phasen, die sich jeweils durch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und durch künstlerische Innovationen auszeichnen. Meines Wissens ist dies der erste Versuch einer wissenschaftlich begründeten Untergliederung von Kreislers umfangreichem Schaffen.
Analysen sollen diese Aufteilung untermauern. Natürlich ist es im Rahmen einer einzelnen Arbeit nicht möglich, sämtliche Kreisler-Lieder oder auch nur eine repräsentative Stichprobe der „500-1.000“1 Stücke zu untersuchen. Anstatt also einen zwangsläufig oberflächlichen Überblick möglichst vieler Werke bieten zu wollen, konzentriere ich mich auf exemplarische Einzelanalysen einiger weniger Lieder aus jeder Phase.
In Kapitel 3 wird der historische Kontext hergestellt. Mögliche Vorbilder Kreislers und Einflüsse aus vorhergehenden Generationen von Kabarettisten werden auf Ähnlichkeiten in Inhalt und Stil untersucht, ebenso wie einige seiner Zeitgenossen und schließlich im letzten Unterkapitel jüngere Musikkabarettisten.
Naturgemäß muß auch hier eine Auswahl getroffen werden. Wer in diesem Kapitel vertreten ist und wer nicht, gründet sich auf meine eigenen Vorstudien zu dieser Arbeit und erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. Um der Frage nachzugehen, welche Stellung Georg Kreisler in der Entwicklung des deutschsprachigen musikalischen Kabaretts einnimmt, ist es auch nicht zwingend notwendig, ausnahmslos jeden Kabarettisten zu erwähnen, der sich in irgendeiner Form an ihm orientiert; wichtig ist vielmehr die Frage, ob Kreisler tatsächlich die „gloriose Randerscheinung“2 ist, die geschichtslose Singularität, als die ihn manche Kritiker wie auch Bewunderer betrachten, oder ob sein Werk nicht vielmehr lebendiger Teil der Kabaretthistorie ist, bestimmten Traditionslinien folgt und auch selbst bestimmte Traditionen des musikalischen Kabaretts begründet hat.
Gerade in einem Themengebiet wie dem Kabarett, das noch nicht lange Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen ist und in dem entsprechend umgangssprachliche und fachsprachliche Definitionen von Begriffen wechselweise kursieren, empfiehlt es sich zur Einführung, einige wichtige Vokabeln zu klären. Eine umfassende und genaue Definition des Begriffs ‚Kabarett‘ selbst vorzunehmen – jenseits der ursprünglichen Wortbedeutung, die „zunächst eine runde, mit flächenartig angeordneten Schüsselchen bestückte Speiseplatte bezeichnet und danach jene Schenken, in denen neben Getränken auch solche bunten Platten serviert werden“3 – ist jedoch nicht Anliegen dieser Arbeit und böte wahrscheinlich Stoff genug für eine eigene. Auch kann und will ich nicht an dieser Stelle die gesamte Kabaretthistorie wiederholen. Wer sich über die Entwicklung dieser Gattung informieren will, kann die Geschichte und Vorgeschichte von Ramses III. über Aristophanes, die Troubadouren und Vaganten, Heine und Börne bis zu den französischen „Café-Concerts“ und von dort zum eigentlichen Cabaret in Heinz Greuls außerordentlich informativem und kurzweiligem Buch „Bretter, die die Zeit bedeuten“4 nachlesen. Ich jedoch möchte lediglich auf einige Grundmerkmale des sogenannten „Brettls“ verweisen sowie einen theoretischen Gedanken ausführen, der bei den folgenden Betrachtungen hilfreich sein kann.
Der theoretische Gedanke betrifft einen Definitionsversuch von Jürgen Henningsen, dessen „Theorie des Kabaretts“5 eine treffende und einprägsame Sentenz zum Diskurs beizusteuern weiß, die nicht zuletzt er selbst für so gelungen hält, daß er sie im Verlauf seines Buches unzählige Male wiederholt6: „Kabarett ist Spiel mit dem erworbenen Wissenszusammenhang des Publikums.“7
Was den Begriff des Wissenszusammenhangs betrifft, so erläutert Henningsen:
Der Kabarettist muß wissen, was das Publikum weiß. Eine Anspielung geht ins Leere, wenn das, worauf angespielt wird, nicht schon da ist. Eine Chiffre, ein Zeichen, wird nicht verstanden, wenn es nicht im Bewußtsein des Publikums schon irgendwie ‚definiert‘ ist. Eine Pointe von gestern kann morgen ‚witzlos‘ sein, weil sich der erworbene Zusammenhang des Wissens durch ‚zwischenzeitliche Neuerwerbungen‘ geändert hat.8
Damit ist gleichzeitig auf die Zeitgebundenheit des Kabaretts verwiesen, ein Hauptmerkmal, das sich unter anderem in Greuls Buchtitel (siehe oben) niederschlägt.
Im Hinblick auf den Begriff des Spiels führt Henningsen das Beispiel eines Lehrers aus, dem man ja ebenfalls unterstellen könnte, daß er den Wissenszusammenhang seines Publikums, der Schüler, kennen und darauf aufbauen muß. Aber:
Der Lehrer bedient sich des erworbenen Wissenszusammenhangs, um zu lehren: er ordnet das Mitgebrachte, legt es zurecht, bearbeitet es, um Lernen, Hinzulernen zu ermöglichen. Der Kabarettist bedient sich des erworbenen Wissenszusammenhangs, um damit zu spielen: er bringt (scheinbar) Geordnetes in Unordnung, zwingt Disparates zusammen; er erzielt Effekte, indem er Sprünge und Divergenzen im Gefüge aufdeckt, Schwächestellen markiert, das labile Gleichgewicht umstößt. […] er profitiert von der Tatsache, daß der erworbene Wissenszusammenhang nicht vollkommen integriert ist.9
Auch andere Begriffe verdienen eine Eingrenzung und Spezifizierung in bezug auf das Kabarett. So bezeichnet ein Couplet in diesem Kontext nicht etwa ein Reimpaar oder die Strophe eines altfranzösischen Minneliedes, sondern „ein Strophenlied aktuell-politischen und/oder erotischen Charakters mit meist gleichlautender Endzeile oder Kehrreim, vor allem im Singspiel (Nestroy, Kalisch, Raimund), in der Operette (Offenbach) und im Kabarett (Claire Waldoff).[sic] Otto Reutter, Willy Rosen, Günter Neumann.“10
Diese Definition von Klaus Budzinski, der uns auf den folgenden 110 Seiten noch häufiger begegnen wird, stellt sicher nicht die einzig mögliche oder zutreffende dar; sie reicht aber aus, um sich im folgenden auf sie zu beziehen.
Gleiches gilt für seine Beschreibung der Gattung des Chansons:
Das Chanson hat in Frankreich eine lange und vielfältige Tradition. […] Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war das Volkschanson mehr und mehr zum vulgär-erotischen Amüsierliedchen oder zum chauvinistischen Kitschgesang in den Cafés-chantants und den Cafés-concerts verkommen. Aus diesen Niederungen hob innerhalb dieser Vergnügungsstätten Yvette Guilbert das Chanson durch ihren Vortrag auf eine neue literarische Ebene, während Aristide Bruant dem Volkschanson innerhalb des Cabaret artistique in Text und Vortrag neue Impulse gab, aus welchem Zusammenfließen die neue Gattung des literarischen Kabarettchansons im heutigen Sinne entstand.11
Wie man im Zusammenhang mit dieser Arbeit betonen sollte, „nahm es in den deutschsprachigen Ländern eine eigene, eng mit dem Kabarett verbundene Entwicklung […], bis es sich seit Mitte der sechziger Jahre in den Liedern der Liedermacher […] erneut verselbständigte.“12
Das Verhältnis der beiden oft synonym benutzten Begriffe des Chansons und des Couplets untereinander erläutert Budzinski folgendermaßen, verläßt dabei jedoch den Bereich der Definition und pauschalisiert zumindest gewagt, wenn nicht gar ungerechtfertigt:
Ähnlich dem Chanson, das aber nicht unbedingt auf einen Kehrreim angewiesen ist, bezieht das Couplet seinen Witz aus der Mehrdeutigkeit, die der Kehrreim durch die jeweils vorangehende Strophe erhält. Anders als das Chanson beutelt das Couplet Zeit und Zeitgenossen weniger auf satirisch- aggressive als vielmehr auf humoristisch-versöhnliche Art.13
Während man für diese Behauptung ohne weiteres Gegenbeispiele finden kann (wenig aggressive Chansons wie Kreislers „Unheilbar gesund“ oder umgekehrt unversöhnliche Couplets wie Claire Waldoffs „Wegen Emil seine unanständ’je Lust“), überzeugt der Chanson-Definitionsversuch in Metzlers Literaturlexikon, der sich zunächst inhaltlicher Kriterien enthält und das Kabarett-Chanson in seinen typischen formalen Charakteristika beschreibt:
[…] im engeren Sinn bez[eichnet] es eine spezif[ische] literar[isch]- musikal[ische] Vortragsgattung: den rezitativen oder gesungenen Solovortrag (meist nur von einem Instrument begleitet), der durch Mimik und Gestik des Vortragenden unterstützt wird. Zur Vortragssituation gehören der intime Raum mit engem Hörerkontakt und eine fortwährend variierte mim[ische] Animation des Publikums durch den Vortragenden (z.B. durch Refrain, pointierten Strophenschluß usw.).14
Diese präzise Aufzählung trifft auch auf unseren Untersuchungsgegenstand zu und ist anderen, teils sehr subjektiven Beschreibungen wie in Gero von Wilperts „Sachwörterbuch der Literatur“15 oder im „Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte“16 vorzuziehen. Dazu verweist sie bereits auf ein Hauptproblem jeder wissenschaftlichen Beschäftigung mit Musikkabarett: Während man Musik (Worte sowieso) noch einigermaßen zuverlässig aufzeichnen kann und ausreichend Fachvokabular besitzt, um darüber zu reden, läßt sich die Person des Vortragenden, im Kabarett ein ungleich wesentlicherer Faktor als in anderen Bereichen, nur unzureichend in die Analyse mit einbeziehen. Allenfalls interpretatorische Eigenheiten (wie z.B. der bewußt dilettantisch gehämmerte „Fröhliche Landmann“ in Kreislers „Musikkritiker“, siehe Kapitel 2.2.2) können berücksichtigt werden, kaum jedoch Faktoren wie Mimik oder Gestik, die im Kabarett oft ebenso entscheidend sind wie das musikalische und textliche Material selbst.
Als letzten Begriff, der auch in dieser Arbeit eine wichtige Rolle spielen wird, sollen nun die verschiedenen Bedeutungen des Wortes ‚Parodie‘ erläutert werden. Da ist zum einen der musikwissenschaftliche Begriff, der mit der Parodie der Alltagssprache wenig zu tun hat und auch in der Musikgeschichte einen vielfältigen Bedeutungswandel durchlebte. Für unsere Zwecke ist die heute wohl verbreitetste Definition einer „Umtextierung zumeist eigener musikalischer Kompositionen“17 maßgeblich, obwohl es sich in den vorliegenden Fällen nicht immer, ja nicht einmal in der Mehrzahl um eigene Werke handelt. Eine Parodie in diesem Sinne „kann, muß aber durchaus nicht mit musikalischer Umarbeitung verbunden sein.“18 Zweitens gibt es den germanistischen Terminus:
Ein literar[isches] Werk, das in satir[ischer], krit[ischer] oder polem[ischer] Absicht ein vorhandenes, bei den Adressaten der P[arodie] als bekannt vorausgesetztes Werk unter Beibehaltung kennzeichnender Formmittel, aber mit gegenteiliger Intention nachahmt. Der durch das so entstandene Auseinanderfallen von Form und Aussageanspruch gewonnene Reiz des Komischen ist dabei umso wirkungsvoller, je größer die Fallhöhe vom Parodierten zur P[arodie] ist.19
Das Gegenstück zur Parodie in diesem Sinn ist die Travestie, die „einen bekannten Stoff beibehält, aber seine Stillage oft grob verändert“20.
Der alltägliche Sprachgebrauch bezeichnet als Parodie eine „überdrehte Imitation“21. Weil diese ein sehr verbreitetes Mittel im Kabarett darstellt, wird das Wort auf diese Art in vielen Texten verwendet, die sich mit der Brettlkunst beschäftigen; so auch bei Henningsen.
Es wird sich im Verlauf der folgenden Untersuchung nicht ganz vermeiden lassen, den Begriff in seinen verschiedenen Bedeutungen zu verwenden, wenn er sich im jeweiligen Kontext nun einmal als der angemessenste herausstellt. Falls sich dadurch Mißverständnisse ergeben könnten, versuche ich, an kritischen Stellen durch Spezifizierungen wie ‚musikalische Parodie‘ auf die gemeinte Bedeutung hinzuweisen.
Bezüglich der Literaturangaben sei darauf hingewiesen, daß Liedtexte nur dann mit einer entsprechenden Fußnote versehen sind, wenn sie auch aus schriftlichen Quellen zitiert werden. Bei einem von einer Aufnahme abgehörten Text wird gemäß der Rücksprache mit dem betreuenden Dozenten auf eine Literaturangabe verzichtet.
Eine formale Anmerkung zum Sprachgebrauch innerhalb dieser Arbeit erscheint mir zum Abschluß der Einleitung noch geboten: Im Gegensatz zum sonstigen wissenschaftlichen Usus habe ich mich bewußt dafür entschieden, zugunsten des Sprachflusses auch Lieder- und Plattentitel zu deklinieren. Ich spreche also, wenn der Dativ verlangt ist, vom „schönen Heinrich“ und nicht von „Der schöne Heinrich“, ich nenne im Akkusativ den „Musikkritiker“ und nenne nicht „Der Musikkritiker“. Das hat zum einen den Vorteil, daß der fließende Text, falls man denn einmal in die Situation gerät, ihn laut vorzulesen, trotzdem nicht wie grammatikalisches Kauderwelsch klingt. Zum anderen berufe ich mich damit auf die Gewohnheiten des Künstlers selbst.22 Die Inkonsequenz, den bestimmten Artikel manchmal als Teil des Titels zu nennen und dann auch als Eigenname großzuschreiben, manchmal jedoch außerhalb der Anführungszeichen kleingeschrieben zu beugen oder gar verkürzend an Präpositionen anzuhängen, nehme ich angesichts dieser Vorteile in Kauf.
2. Einteilung in Schaffensphasen und exemplarische Analysen
Obwohl Kreisler selbst dem Gedanken, sein Werk in verschiedene Phasen zu unterteilen, im Grunde zustimmt23, muß man zunächst die Unzulänglichkeiten erwähnen, die eine solche Gliederung mit sich bringt.
Allenfalls kann sie eine grobe Orientierung bieten über ein außerordentlich umfangreiches und heterogenes Gesamtwerk, und mit jeder möglichen Einteilung muß man Inkonsequenzen in Kauf nehmen, will man nicht für jede neue Schallplatte eine neue ‚Phase‘ einführen und so die eigenen Ordnungsversuche ad absurdum führen.
Zu den von mir im folgenden eingeführten Abschnitten muß außerdem vorab gesagt werden, daß es sich nicht um eine diachrone Aufeinanderfolge im eigentlichen Sinn handelt. Vielmehr bedeutet jedes neue Kapitel, jeder Versuch Kreislers, „eine neue Art von Chansons zu schreiben“24, eine Erweiterung seines künstlerischen Vokabulars, auf die er auch in späteren Zeiten immer wieder zurückgreift. Das Ende z.B. der makabren Phase (siehe Kapitel 2.2) bedeutet also keineswegs das Ende der makabren Chansons, sondern besagt lediglich, daß von diesem Zeitpunkt an neue Schwerpunkte in Musik und Text gesetzt werden, denen Kreisler eine Weile huldigt, bevor er sich wiederum neuen Ufern zuwendet.
Die Einteilung ist also nicht so eindeutig und unumstößlich, wie man es sich als Wissenschaftler wünscht, zumal auch die Praxis, sich an den veröffentlichten Tonträgern zu orientieren, infrage gestellt werden kann; denn diese selbst stellen ja bereits eine Selektion vergangener Kompositionen dar, gebündelt auf einen Zeitpunkt, nämlich den der Publikation. Der Zeitpunkt der Entstehung, des kreativen Prozesses wird so außer acht gelassen. Wenn ich nun diese bereits bestehende Selektion noch einem weiteren Selektionsprozeß unterwerfe – meiner Systematisierung – gerät leicht in Vergessenheit, daß wir es mit einer fließenden Entwicklung zu tun haben, die auch Rückgriffe auf frühere Phasen mit einschließt. Dennoch halte ich es, all diese Einschränkungen im Hinterkopf, für sinnvoll, eine solche Einteilung vorzunehmen, um einen Einblick in den jeweiligen Kontext der Entstehung von Georg Kreislers Chansons zu erhalten.
Seine Biographie verfolge ich dabei nur insoweit, als sie für den Verlauf seiner Karriere und seine Art, sich auszudrücken, wesentlich ist. So scheint es mir kein Zufall zu sein, daß er sich ausgerechnet in Wien befand, als er mit einer Art von Liedern erfolgreich wurde, an der er sich zuvor in Amerika vergeblich versucht hatte (siehe Kapitel 2.1.1). Andererseits ist es nicht die Aufgabe dieser Arbeit, seinen Lebenslauf bis ins Detail nachzuerzählen, weswegen auf eine ausführliche Schilderung seiner Kindheit oder eine weitere exakte Verfolgung seiner wechselnden Wohnorte nach dem Wegzug aus Wien 1958 verzichtet wird25. Wichtig sind biographische Einzelheiten also nur, soweit sie Änderungen im künstlerischen Ausdruck zur Folge haben, die in einer werkimmanenten Betrachtung nachgewiesen werden können.
Jedem Kapitel mit der Eingrenzung und Beschreibung einer Schaffensphase folgt die exemplarische Analyse von einem oder mehreren Stücken aus der betreffenden Zeit.
Damit denke ich, wenigstens die Schwerpunkte seiner Arbeit ausreichend gewürdigt zu haben und einige Grundprinzipien aufdecken zu können. Das schließt nicht aus, daß es auch Kreisler-Lieder gibt, die wieder ganz anderen Gesetzen gehorchen; seine häufigsten Techniken, wiederkehrende Strukturen, die wichtigsten Charakteristika hoffe ich jedoch damit abzudecken.
Aus dieser Zielsetzung ergibt sich auch, daß mein Ziel nicht eine schablonenartige Abarbeitung sämtlicher gängiger Analysekriterien ist, sondern ich bei jedem Lied herauszustellen versuche, welche Merkmale für dieses Stück wesentlich sind.
2.1 Die amerikanische Phase: Hollywood und New York
2.1.1 Beschreibung
Als Georg Kreisler 1938 als Sechzehnjähriger mit seinen Eltern aus Wien vor den Nationalsozialisten fliehen mußte, zog die Familie zunächst nach Hollywood, wo man Verwandte hatte. Er hielt sich, nachdem eine Zusammenarbeit mit der berühmten Grotesktänzerin Valeska Gert fehlgeschlagen war, mit verschiedenen Tätigkeiten rund um das Klavier über Wasser, gab Stunden, korrepetierte und arbeitete für den Film26. Neben der erwähnenswerten Tatsache, daß er dort später mit Charles Chaplin bei dem Film Monsieur Verdoux zusammenarbeitete27, bedarf aus dieser Zeit vor allem seine Begegnung mit Friedrich Hollaender der Erwähnung28. Wie Kapitel 3.1 noch zeigen wird, ist der Einfluß des deutschen Zwanziger-Jahre-Kabaretts auf Kreislers Stil nicht zu leugnen, obwohl er zu jung war, um es selbst bewußt mitzuerleben.
Als Kreisler 1942 zur Armee eingezogen wurde, verschafften ihm seine künstlerischen Begabungen und Erfahrungen einen Freiraum, der ihn diese Zeit als wesentliche Verbesserung seiner Situation empfinden ließ: „Als Soldat durfte ich Theater spielen, komponieren, inszenieren, und auch meine ersten Schreibversuche fanden in Uniform statt.“29
Das waren bereits „satirische Stücke“30, auf die das amerikanische Publikum offensichtlich ansprach („[…] sonst hätte ich’s ja nicht weitergemacht“31 ).
Nach dem Krieg fand er sich dieser kreativen Möglichkeiten wieder enthoben und entschloß sich zur Übersiedlung nach New York, wo er sich größeren Erfolg mit seinen eigenen Stücken erhoffte.
Vergeblich, wie sich zeigen sollte: „1946 bis 1951 waren für Kreisler Jahre des Hungers, vielen Vermietern ging er aus dem Weg, weil er den Zins nicht bezahlen konnte, und auch für nichtkünstlerische Berufe schien er nicht geeignet; als Verkäufer stellte er sich so ungeschickt an, daß er sogleich wieder entlassen wurde.“32
Immerhin brachte er es in dieser Zeit zu kleineren Tourneen „in Dörfer […], in denen man noch nie einen Menschen mit Brille gesehen hatte“33 und 1947 zu einem Plattenalbum namens „Please, shoot your husband“, aus dem zwei Titel vor kurzem wieder der Öffentlichkeit zugänglich wurden durch eine Neueinspielung des Künstlers selbst – wobei das Wort „wieder“ hier strenggenommen nicht am Platze ist, denn die Schallplatten gelangten damals „nie in die Plattenläden, weil sich die Vertreter der Firma weigerten, ein Album mit einem derart unmoralischen Titel anzubieten.“34
In den fünfziger Jahren wurde immer klarer, daß mit dieser Art von Humor im Amerika der McCarthy-Ära und ihrer paranoiden Furcht vor allem, was in irgendeiner Form mit der politischen Linken assoziiert wurde (und dazu gehörten auch provozierende makabre Lieder, die versuchten, mit alten Hörgewohnheiten zu brechen), nur schwer zu überleben und kaum Karriere zu machen war. Im Jahr 1955 entschloß sich der Amerikaner Georg Kreisler, der die Staatsbürgerschaft dieses Landes übrigens bis heute besitzt35, zur Rückkehr nach Wien.
Das Interessante daran, daß Georg Kreisler in den USA der Jahrhundertmitte damit begann, den schwarzen Humor zum Grundprinzip seiner Lieder zu ernennen, ist die Tatsache, daß die Erfindung desselben von vornehmlich US-amerikanischen Forschern (fälschlicher-, aber doch bezeichnenderweise) gern auf ebendiese Zeit und Nation datiert wird: „Black Humor fiction is in fact a product of the American 1950’s“36. Das unterschlägt natürlich nicht nur so berühmte Vorläufer wie Bert Brecht oder Frank Wedekind (siehe Kapitel 3.1), sondern sogar denjenigen, der den Terminus als humour noir in die Literaturwissenschaft einbrachte, André Breton37. Es spricht jedoch andererseits eine deutliche Sprache in bezug auf die moderne Literatur dieser Zeit. Der schwarze Humor scheint zumindest eine ausreichend starke Strömung gewesen zu sein, um jemandem wie Georg Kreisler – der keineswegs so unabhängig von den Ansichten seines Publikums war, wie man einem Künstler seines Formats gern zugestehen würde38 – eine Art diesbezügliche Initialzündung zu geben; gleichzeitig war diese Spielart des Humors aber noch neu und provokant genug, um oben erwähnten Boykott der Firmenvertreter auszulösen. Immerhin jedoch war es Kreisler zu diesem Zeitpunkt bereits gelungen, als relativ unbekannter Künstler mit dem Genre des Makabren einen Plattenvertrag zu erlangen, den die Gesellschaft sicher nicht abgeschlossen hatte, ohne sich damit grundsätzlich Profitchancen auszurechnen.
2.1.2 Analyse: Please, shoot your husband
Im Gegensatz zu späteren Liedern, die fast immer sehr textlastig sind – gerade in den meist nicht wenigen Strophen – hat man bei „Please, shoot your husband“ den Eindruck, das ganze Lied sei um die zweifellos griffige und provokante Refrainzeile herum geschrieben worden. Kreisler selbst beschreibt, wie ein Lied oft von einer einzigen Zeile seinen Ausgang nimmt: „[Ich] erfand also die erste Textzeile gleichzeitig mit der Musik, schrieb dann die Musik zu Ende und erst dann den Rest des Textes.“39
Der Vorgehensweise, die Strophen beinahe stiefmütterlich zu behandeln, um einen bemerkenswerten Refrain ins rechte Licht zu rücken, begegnen wir in den sechziger Jahren wieder in dem beinahe zum Bonmot gewordenen „Der Tod, das muß ein Wiener sein“. Selbst Reiseführer kommen bei einer Beschreibung der Wiener Lebensart nicht um diesen Satz herum40 – meist jedoch ohne Angabe seines Verfassers. Er ist fast eine Art Volksgut geworden. Selbst sein Autor definiert das Chanson hauptsächlich über „die Refrainzeile dieses Liedes[, die] hier in Wien so in der Luft liegt.“41
Ein ähnliches Procedere liegt also wohl schon 1947 vor. Strophen als formal gleichbleibende, textlich unterschiedliche Abschnitte eines Liedes kommen in „Please, shoot your husband“ überhaupt nicht vor, lediglich ein Intro und eine Art Intermezzo, das man vielleicht als Strophe bezeichnen würde, wenn es nicht das einzige seiner Art bliebe.
Das Intro führt in das Thema ein auf die Art und Weise, der wir bei Kreisler noch häufiger begegnen werden: Die erste Zeile und der Großteil der zweiten stellen einen keineswegs ironisch gebrochenen, auch nicht parodierten, sondern völlig intakten Liebesschlager dar, in dem die Angebetete als einmalig, wunderbar und himmlisch beschrieben wird, und zwar in einer Art arhythmischem Parlando, wie es für die Einleitung eines populären Musikstücks nicht nur in dieser Zeit üblich war42.
Diese Idylle wird nun in zweifacher Hinsicht ins Gegenteil verkehrt; zunächst, indem die enthusiastische Aufzählung der weiblichen Vorzüge mit einem desillusionierten und frustrierten „she’s married“ fortgeführt wird.
Durch den Bruch mit der romantischen Verklärung und den Einfall der Realität wird der erste komische Effekt, der erste Lacher erzielt, der sich jedoch noch im gesellschaftlich akzeptierten Rahmen hält – schließlich gab und gibt es in der Schlagerwelt sehnsuchtsvolle, resignierte oder auch ins Komische gewendete Dreiecksgeschichten en masse von Friedrich Hollaender („Guck doch nicht immer nach dem Tangogeiger hin“) bis hin zu Roland Kaiser („Manchmal möchte ich schon mit dir“).
Im Folgenden setzt der Erzähler denn auch zu neuerlicher Bewunderung an, deren Stimmung durchgehalten wird bis zum Ende des Intros (typischerweise auf der Dominante, der dann im Refrain natürlich die auflösende Tonika folgt).
In einem gängigen Liebeslied würde man nun nach der Zeile „There is just one thing to be done“ eine romantische Lösung erwarten – er könnte etwa auf einem Frachter anheuern, um sie zu vergessen (wie im Musikfilm „Große Freiheit Nr. 7“), oder mit ihr durchbrennen, wenn ihr Mann im Lied ausreichend unsympathisch geschildert würde. Erst an diesem Punkt erfolgt bei Kreisler der endgültige Bruch mit sämtlichen vom Schlager her bekannten Gewohnheiten, erst jetzt die Wendung ins Makabre. Die Aufforderung, den Ehemann einfach per Todesschuß aus dem Weg zu räumen, ist zwar gerade in den USA mit ihrer lockeren Waffengesetzgebung und der mächtigen Lobby der National Rifle Association nicht gar so unrealistisch, wie man eigentlich hoffen würde, hat jedoch im Ideal einer romantischen Liebe, wie sie in der Schlagerwelt üblich ist, selbstredend keinen Platz.
Dadurch jedoch, daß sich die sacht swingende Begleitung in ihrem easy listening - Charakter überhaupt nicht ändert, erfährt der im Prinzip ungeheuerliche Vorschlag seine komische Brechung. Mit dieser Zusammenstellung wird das Lied zur eigentlichen Groteske im Sinne einer „phantastischen Verknüpfung artfremder Schöpfungsformen“43.
Im Rest des Liedes geschieht weder musikalisch noch textlich viel Neues, und Georg Kreisler wäre wahrscheinlich heute der erste, der dem Stück eine gewisse Einfachheit zugestehen würde. Auf komisch überzogene Weise wird dargestellt, warum Mord kein Verbrechen ist („All of us must die.“), wie schön das Leben ohne die hinderliche Person wäre und daß ein guter Kumpel doch wohl solch einen kleinen Gefallen tun würde („Please, be a sport.“). Eine kleine Anmerkung wert ist allerdings die Tatsache, daß die Schlußpointe des Liedes nicht etwa die Zeile ist, in der sich der Erzähler selbst zum Erschießen anbietet („Then, if any guy should offer more than I, / You can shoot me.“), sondern die Enthüllung, daß er auch noch verheiratet ist und das natürlich nicht etwa durch Scheidung, sondern ebenfalls durch die Waffe zu ändern gedenkt. Heute würde man im Interesse einer kontinuierlichen Steigerung wahrscheinlich die Reihenfolge umgekehrt setzen, da ein sich zur eigenen Ermordung bereitstellender Mensch ungleich grotesker wirkt; damals war offenbar der Gedanke, daß ein so hingebungsvoll um eine Frau werbender Mann selbst verheiratet ist, noch unvorstellbarer.
2.2 Die makabre Phase: Wien und die Marietta Bar
2.2.1 Beschreibung
Bei seiner Rückkehr nach Wien anno 1955 weist anfangs noch nichts darauf hin, daß Kreisler jetzt die drei Jahre seines Lebens vor sich hat, die sein Bild in der (deutschsprachigen) Öffentlichkeit für alle Zeiten prägen werden; im Gegenteil: „Ich wäre wahrscheinlich unverrichteter Dinge nach Amerika zurückgeeilt, wenn mir ein anderer Wiener aus Amerika nicht beim Bleiben geholfen hätte“44, beschreibt er seine anfängliche Frustration.
Besagter anderer Wiener war Fred Jacobson, damals besser bekannt unter dem Namen Fritz Jahn als Autor von Liedern und Kabarett-Chansons. Er schien Kreislers Begabung zu erkennen und brachte ihn über Peter Wehle mit dem seinerzeit bekanntesten Wiener Kabarettisten Gerhard Bronner zusammen. Bronner engagierte Kreisler in der Marietta Bar45, „die auch ein Künstlertreffpunkt wurde; es kamen viele Produzenten, Regisseure, Theaterintendanten, die sich dabei auch sehr gut unterhielten, aber sagten: Bitte, das ist nur für uns, für die große Masse ist so etwas nicht zumutbar.“46
Dieser Kommentar scheint jedoch nicht allgemeingültig zu sein – wie Kreisler überhaupt dazu neigt, in seinen Erinnerungen die negativen Reaktionen, Zensur und Verriß ein wenig überzubetonen, und sich offenbar lieber an jeden einzelnen Buh- Ruf erinnert47 als zum Beispiel an das, was der Kritiker Hans Weigel damals über seine ersten Auftritte in der Spiegelgasse schrieb: „Geht hin und bewundert ihn! Wenn nicht alles trügt, wird er bald sehr berühmt sein. Und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“48
Kreisler selbst erklärt sein Erfolgsrezept dieser Zeit ebenso lakonisch wie zutreffend: „Man nehme ein an und für sich grausiges Ereignis und übertreibe es maßlos, so daß es seinen Schrecken verliert und grotesk wird, und dann kann man noch eine Musik dazu schreiben, die gar nicht dazu paßt, und schon ist das Lied fertig.“49
Es verwundert nicht, daß er nach drei Jahren (oder noch längerer Zeit, wenn man die amerikanischen Lieder mitzählt) „genug von dieser makabren Masche [hat], es wiederholt sich ja doch eigentlich ein bißchen, immer wieder“50, und wenn er auch später in Einzelfällen immer wieder auf dieses Rezept zurückgreift, so sehe nicht nur ich, sondern sieht auch er selbst am Ende dieser drei Jahre einen neuen künstlerischen Lebensabschnitt anbrechen, der jedoch – wie alle folgenden – nie den fast sensationellen Bekanntheitsgrad erreichte wie die Wiener Zeit, denn „[in] den nächsten 39 Jahren schrieb ich weitere 500-1.000 Lieder […], aber viele Leute sprechen immer nur von den erwähnten drei Anfangsjahren, so als wäre ich danach verschwunden. Es gibt eben Menschen, die ihr ganzes Leben lang Rotkäppchen lesen. Man ist versucht, diese Menschen für glücklich zu halten, aber man vergißt dabei, daß die Langzeiterinnerung nur dazu dient, alles, was danach geschah, schlecht zu finden.“51
2.2.2 Analysen: Frühlingslied, Der Musikkritiker
Jede Arbeit über Georg Kreisler wäre unvollständig, ohne mindestens einen Blick auf sein berühmtestes Stück zu werfen, auch wenn es seiner Ansicht nach angeblich das „dümmste Lied [ist], das je geschrieben wurde“52. Heute kennt man es unter Titeln wie „Tauben vergiften“, „Gehn ma Tauben vergiften im Park“ oder ähnlichen. Damals jedoch verriet Kreisler, als Humorist versiert genug, „die Pointe natürlich nicht bereits im Titel, sondern nannte die Nummer ‚Frühlingslied‘.“53
Die grundsätzliche handwerkliche Machart ist die gleiche wie schon in „Please, shoot your husband“; es ist Kreislers oben erwähntes Grund- und Erfolgsrezept. Das an und für sich grausige Ereignis einer Tier-Massentötung wird jedoch nicht nur maßlos übertrieben, sondern wirkt vor allem dadurch komisch, daß es nicht nur musikalisch, sondern auch textlich in einen gänzlich unpassenden Kontext gestellt wird, namentlich in den Assoziationsbereich Frühling–Liebe–Romantik. Die Zusammenstellung des Disparaten als Markenzeichen der Groteske wurde bereits in Kapitel 2.1.2 erwähnt.
Kreislers ‚Rezeptur‘ wird also in ihrer Einfachheit den angesprochenen Stücken nicht ganz gerecht, sie trifft aber dennoch im Grunde den Kern der Sache: Seine erfolgreichsten Lieder sind keineswegs seine anspruchsvollsten. Im Falle des „Frühlingsliedes“ ist es der Wiener Walzer, der parodiert wird. Das Wort ‚Parodie‘ ist hier sowohl im literatur- als auch im musikwissenschaftlichen Sinn – als textliche Neugestaltung eines schon existierenden Musikstücks – zu verstehen. Zwar handelt es sich um Kreislers eigene Komposition; deren Funktion besteht jedoch darin, ein typischer Wiener Walzer zu sein, ein Lied, bei dem man automatisch das Gefühl bekommt, man hätte es schon einmal irgendwo gehört. Dieser Walzer, die Melodie zum ‚Frühlingslied‘, enthält für sich gesehen keinerlei parodistische Elemente (diesmal im kabarettistischen Sinn), wird aber mit dem Text der bekannten Tiermordphantasie bestückt. Dieser Kontrast, diese Inkongruenz macht die komische Wirkung aus.
Es gehört zu den wichtigsten Merkmalen Kreislerscher Persiflagen, daß er das Handwerk des Originals bis ins i-Tüpfelchen beherrscht. Das „Frühlingslied“ könnte bis zum Einsetzen des ersten Refrains ein urtümliches Wienerlied sein und wäre als solches gar nicht mal schlecht, vorausgesetzt man bezeichnet als ‚schlecht‘ etwas, das die Qualitätsmerkmale seiner Gattung nicht erfüllt.
Der Walzer – wienerisch bis hin zum vorgezogenen zweiten Schlag der Begleitung – ist einerseits so einfach und eingängig, daß er das Zeug zum Gassenhauer hat, denn die Schwerpunkte der Harmonien liegen auf Tonika und Dominante, und so will es die deutschsprachige Schlagertradition (im Gegensatz etwa zum Blues, der weit mehr die Subdominante betont). Andererseits steckt er voller raffinierter Durchgänge und (meist verminderter) Zwischenakkorde und ist kompositorisch betrachtet durchaus von respektablem Niveau – in Relation zu anderen Schlagern gesehen.54
Um meiner eigenen Einschränkung, mit meiner Systematisierung lediglich Schwerpunkte setzen zu wollen, gerecht zu werden, analysiere ich im folgenden ein Stück aus derselben Periode (genauer: aus dem Jahr 1960), das völlig anderen Gesetzen gehorcht und sich nur an einer einzigen Stelle des Makabren bedient: das Lied vom „Musikkritiker“.
Es handelt sich hierbei – zusammen mit dem „Opernboogie“ und dem „Triangel“ – um eines der bekanntesten Beispiele für den komischen Einsatz musikalischer Zitate in Kreislers Oeuvre. Schon der Beginn besteht aus einem verfremdeten Zitat aus Bizets „Carmen“, das mit einigen absichtlich falschen Tönen55 und dem konsequenten Ignorieren jeglicher Punktierung des Originals zweierlei klarstellt: a) Im Folgenden wird klassische Musik das Thema sein, b) der davon redet, hat jedoch wenig Ahnung. Natürlich erschließt sich diese Interpretation erst im Nachhinein durch den Text, aber schon an dieser Stelle provoziert Kreisler einen Gedanken, der sich durch das ganze Lied zieht: Hier stimmt etwas nicht!
Was nicht stimmt, wird bereits in den ersten Zeilen erläutert:
Heute findet jede Zeitung größere Verbreitung durch Musikkritiker.
Und so hab auch ich die Ehre und mach jetzt Karriere
als Musikkritiker.
Ich hab zwar ka Ahnung, was Musik ist, denn ich bin beruflich Pharmazeut,
aber ich weiß sehr gut, was Kritik ist:
je schlechter, umso mehr freu’n sich die Leut.
Als Charakteristikum für Kreislers Stil ist hierbei zu vermerken, daß er sich nicht mit einem Endreim zufrieden gibt, sondern das, was beim Hören als eine einzige Zeile erscheint („Heute findet jede Zeitung größere Verbreitung durch Musikkritiker.“), in drei Unterzeilen aufteilt, nämlich ein (Binnen-)Reimpaar und das anschließende sich wiederholende Zeilenende (Epipher).
Im „schönen Heinrich“ (siehe Kapitel 2.3.2) wird dieses Prinzip noch konsequenter verfolgt, auch mit absichtlich falschen, ‚zurechtgebogenen‘ Reimen.
Mit diesen Anfangszeilen ist das eigentliche Anliegen des Liedes erfüllt, nämlich die Mitteilung, daß die meisten professionellen Musikkritiker keine Ahnung von ihrem Metier haben. Der größte Teil des restlichen Liedes ist humoristische Ausgestaltung, die fiktive Biographie des Ich-Erzählers. Am Ende wird wieder der Bogen in die Gegenwart geschlagen. Dieser Grundaufbau ist also in der Tat nicht sehr kompliziert, und der erste, der das kritisch anmerkt, ist natürlich wiederum Georg Kreisler: „[…] ich schrieb es in wenigen Stunden, und es ist wohl auch etwas primitiv.“56
Dennoch verdient diese Ausgestaltung nähere Betrachtung, insbesondere der erwähnte Umgang mit musikalischen Zitaten. Diese kommen in dreierlei Gestalt vor:
a) als verfremdetes, dissonant klingendes Zitat wie im Intro,
b) als ‚Lückenfüller‘ zwischen dem Ende einer Textzeile und dem Beginn der nächsten (kurze Ausschnitte, in Tonart und Tempo dem Stück angepaßt),
c) als mit Text unterlegter Teil der fiktiven Kritikerbiographie (längere Ausschnitte, meist originalgetreu zitiert).
Auf a) wurde bereits eingegangen. Bei b) handelt es sich durchweg um Zitate aus dem Bereich der E-Musik57, die hauptsächlich die Funktion haben, bekannte Melodien zu sein, durch deren beiläufige Verwendung der Berufsalltag des unfähigen Kritikers musikalisch dargestellt wird und nebenbei der Interpret (meistens ja Kreisler selbst) seine Fingerfertigkeit unter Beweis stellen kann. Letzteres gibt er ohne Umschweife im Zusammenhang mit einem früheren zitatbeladenen Stück zu, es gilt jedoch gleichermaßen für das vorliegende: „eine Nummer, die beim Publikum immer gut ankam, weil sie brillantes Klavierspiel […] vortäuschte.“58
Hinter dieser augenscheinlichen Funktion verbirgt sich jedoch manchmal noch ein tieferer Sinn, der sich erst im Vergleich mit dem Original erschließt. So lauten die ersten Zeilen der „Champagner-Arie“ aus Mozarts „Don Giovanni“:
Auf zu dem Feste, froh soll es werden, bis meine Gäste glühen vor Wein.59
Im Kreislerlied folgt das Zitat der höhnischen Feststellung: Endlich hab ich einen Posten,
und die Zeitung läßt es sich was kosten.
Es darf also angenommen werden, daß hier nicht nur eine berühmte Arie willkürlich angespielt wird, sondern zwischen den Zeilen die rauschenden Parties imaginiert werden, die unser Musikkritiker von seinem offenbar großzügigen Gehalt besucht oder veranstaltet und die ihm, daran läßt das Lied keinen Zweifel, wesentlich näher sind als die musikalischen Ereignisse, denen er von berufs wegen beiwohnen muß.
An dieser Stelle muß auch Henningsens These vom erworbenen Wissenszusammenhang präzisiert werden (siehe Kapitel 1): Natürlich muß das Publikum die zitierten oder parodierten Stücke wenigstens schon einmal gehört haben, um die Zitate oder Parodien zu erkennen. Herausragenden Kabarett- Chansons jedoch wird die Eigenschaft zuteil, verschiedene Pointen für verschiedene Wissenszusammenhänge bereitzuhalten, so wie es hier der Fall ist: Selbst wer „Don Giovanni“ überhaupt nicht kennt, kann über Kreislers bissige Karikatur eines Musikkritikers lachen. Wer die Melodie (wie auch die anderen Zitate) schon einmal gehört hat, aber nicht zuordnen kann, lacht ganz allgemein über das lockere und beiläufige Einspielen der großen Klassiker abendländischer Musikgeschichte. Wer jedoch die Standardwerke europäischer E-Musik gut kennt und den Arientext (und sei es auch beim dritten oder vierten Hören) im Hinterkopf mitassoziiert, hat für sich eine Extra-Pointe, die dem Stück noch einmal eine andere Qualität verleiht. Exzellentes Kabarett, um noch einmal auf Henningsen zurückzukommen, ist also Spiel mit den verschiedenen erworbenen Wissenszusammenhängen eines heterogenen Publikums.
Mozart ist nicht das einzige Beispiel für diese Art hintergründigen Bezuges. Wenn sich der Erzähler am Ende einen völlig überzogen pathetischen Tonfalls befleißigt, dann dröhnt das Pathos fortissimo in der Musik mit:
Bebet zu den Füßen des Musikkritikers. Daß die Welt es wisse,
lest die lustigen Verrisse des Musikkritikers.
Dazu erklingt aus Beethovens Neunter Sinfonie deren bekannteste Stelle, die Vertonung von Schillers Zeilen:
Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium,
wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum!60
Der bombastische Choreinsatz darf beim Kabarett-Publikum, erst recht in einem „Künstlertreffpunkt“61 wie der Marietta Bar, als hinreichend bekannt vorausgesetzt werden, Schillers Botschaft, daß alle Menschen Brüder werden, dürfte jedoch so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eher zynisch als hoffnungsvoll geklungen haben. Das Pathos, zu Beethovens Zeit noch ernste Utopie, ist Mitte des 20. Jahrhunderts zur Phrase geworden. Wir können die Welt nicht so perfekt gestalten, wie uns die Utopie verspricht: Das erzählende Ich lebt also lediglich Omnipotenzphantasien aus. In diese fügen sich wie ein Puzzleteil die Allmachtsgedanken des Musikkritikers, der sich als mächtiger Herrscher mit weltweitem Einfluß darstellt. So verzahnen sich Schillers Text und Beethovens Musik mit Kreislers Figur.
Die oben unter c) aufgeführte Art, mit musikalischen Zitaten umzugehen, finden wir im Mittelteil des Liedes, der einer recht freien Reihungsform gehorcht und im mehr oder minder symmetrischen A-B-C-B’-A’-Aufbau des Gesamtstücks das Zentrum bildet. Während der B-Teil („Ich seh, wie ein liebliches Mädchen […]“) gänzlich ohne Zitate auskommt, besteht C aus einem Wechselspiel zwischen Eigenkomposition und Fremdmaterial, letzteres als musikalische Parodie mit (neuem) Text und damit neuem Sinn versehen.
So erscheint Schumanns „Fröhlicher Landmann, von der Arbeit zurückkehrend“ (Album für die Jugend, op.68 Nr.10) hier keineswegs als musikalische Darstellung eines pflichteifrigen Bauern, sondern wird funktionalisiert als Paradebeispiel eines Anfängerstücks für den Klavierunterricht. Von Kreisler entsprechend hämmernd und ungelenk intoniert, korrespondiert das Zitat mit dem Geständnis des Erzählers:
Als Kind hab ich zwar Klavier gelernt und übte brav zuhaus, doch über gewisse Stücke kam ich nie hinaus.
Daß der „Landmann“ direkt vor der zweiten dieser beiden Zeilen einsetzt, läßt keine Zweifel über seine Funktion an dieser Stelle offen. Zumal Schumanns musikalisches Portrait auch heute noch in Klavierschulen zu finden ist, etwa in „Der junge Pianist“62.
Nach Dvoraks „Humoreske“, zu deren fröhlicher Melodie der Tod des Geigenlehrers beschrieben wird (wieder das makabre Rezept der unpassenden Musik), folgt der kometenhafte Aufstieg von Kreislers Protagonist als Autor eines Schubert-Buches, natürlich unterlegt von Franz Schuberts eigener Musik: Moment Musical, Op. 94 Nr. 3. Hier ist die inhaltliche Beziehung des musikalischen Zitats zum Text sehr deutlich. Ironisch gebrochen wird das Verhältnis dadurch, daß der Komponist in dem Text nicht eben angemessen gewürdigt wird:
Er schrieb gar viele Töne,
sicher auch wunderschöne,
für mich sind sie leider bestialisch, denn ich bin ganz unmusikalisch.
Als letztes Zitat dieses Mittelteils greift Kreisler auf die allseits bekannte 5. Sinfonie Ludwig van Beethovens zurück, für deren Pathos Ähnliches gilt, wie es schon über Nr. 9 gesagt wurde. Auch an dieser Stelle gibt es für Kenner eine Extrapointe, indem die Macht des Schicksals, die in der Sinfonie behandelt wird, nun das weitere Schicksal des Protagonisten und seinen unverdienten Einstieg in das Kritikerdasein entscheidet:
Ich sagte ja, und es geschah.
Aber nicht jeder komische Effekt wird im „Musikkritiker“ über Zitate erzielt. Eine Analyse dieses Stücks wäre unvollständig, wenn man nicht den haarsträubend falschen Gesang in der wiederkehrenden Zeile „weil ich unmusikalisch bin“ erwähnen würde. Von Mal zu Mal steigert sich die Schieflage der Stimme, den Inhalt der Zeile dergestalt eindrucksvoll bestätigend. Beim ersten Mal intoniert
Kreisler den Satz noch korrekt, wie um zu zeigen, daß die folgenden gesanglichen Mißgriffe absichtlich geschehen; am Ende schwingt er sich gar in hohe Lagen und kehlig gedrückten Gesang und verharrt geradezu penetrant etwas mehr als eine kleine Sekunde unterhalb des korrekten Tones.
Der absichtliche Fehlgesang ist zwar im Kabarett vor Kreisler im Zusammenhang mit Rollengedichten und -liedern nicht unbekannt; in dieser Extremform jedoch hatte es vor ihm noch niemand versucht, und nach ihm versuchte es lange niemand mehr – bis in die Gegenwart (siehe Kapitel 3.3.1).
2.3 Die surrealistische Phase: Seltsame Gesänge und Liebeslieder
2.3.1 Beschreibung
1958 verließ Kreisler Wien, dem er auch später immer sehr ambivalente Gefühle entgegenbrachte: „Nichts Negatives ist je gesagt worden, was nicht auch über Wien gesagt werden könnte […] Wien ist ein großer Platsch, schlammig, faul, wurstig, vielleicht das einzige in der Welt, von dem man sagen kann: ein bißchen tot.“63 Auf der anderen Seite spricht er in Anspielung auf sein Buch „Ist Wien überflüssig?“64 von einer „Liebe zu Wien, Liebe im weitesten Sinne…sonst würde man, glaube ich, kein Buch über Wien schreiben.“65
Etwa zur gleichen Zeit, da er der Stadt und seinen ehemaligen Mitstreitern wegen künstlerischer und persönlicher Differenzen und „Querelen“66 den Rücken kehrte, wandte er sich von der makabren Groteske ab und schrieb eine Anzahl von Chansons, die sich in der Tat von seinem vorherigen Stil sehr unterschieden und sich vor allem auf den beiden LPs „Seltsame Gesänge“ sowie „Seltsame Liebeslieder“ konzentrieren.
Im Gegensatz zu dem von ihm selbst so lakonisch umschriebenen Procedere beim
Verfassen einer makabren Groteske handelt es sich bei den meisten dieser Lieder um „surrealistisch angehauchte Wortspielereien, die sehr mit Symbolen arbeiteten“67. Was Kreisler in dieser Erklärung unter Symbol versteht, scheint allerdings eher ein Sammelausdruck für eine sehr bildhafte Ausdrucksweise zu sein und z.B. Allegorien ebenfalls einzuschließen – bis hin zum berühmten „Bluntschli“, dem Gegenstand, der nie eindeutig beschrieben oder erklärt wird, um größtmögliche Deutungsvielfalt offenzulassen.
Daß in diese Zeit auch die LP „Lieder zum Fürchten“ fällt, die hauptsächlich sehr direkte, makabre oder sogar schaurige Lieder enthält68, ist kein Widerspruch zu meiner Einteilung, sondern belegt, daß man bei Kreisler von einer kontinuierlichen Erweiterung des künstlerischen Vokabulars sprechen kann. Keinen Teil dieses Vokabulars läßt er in späteren Zeiten völlig fallen, nur die Gewichtung ist jeweils unterschiedlich, und diese Unterteilung ist bestrebt, die Schwerpunkte dieser Gewichtung und die neuen ‚Vokabeln‘ herauszuarbeiten.
Im Übrigen befindet sich auch auf dieser Platte das eine oder andere surrealistische Lied, etwa „Dreh das Fernsehn ab“, das zwar sehr deutlich auf das wirkliche Leben verweist, selbst jedoch traumhaften, mehr noch: alptraumhaften Charakter hat und in der Tat von einer Einleitung und deren Reprise mehr oder weniger umrahmt wird, in denen Schlaf und Traum thematisiert werden. Die Nähe zwischen Traum und Surrealismus ist allgemein bekannt und wird auch in jeder Charakterisierung des Surrealistischen zu Recht betont.69
Auch „Die Augen von meiner Maschine“ auf demselben Album kann man unter den Oberbegriff Surrealismus fassen, denn die unheimliche Maschine, die der Protagonist als Ersatz für nicht vorhandene Sozialkontakte gebraucht, ist durchaus metaphorisch zu verstehen und verweist auf moderne Ersatzbefriedigungen aller Art.
2.3.2 Analysen: Der schöne Heinrich, Der Bluntschli
„Der schöne Heinrich“ auf der LP „Seltsame Gesänge“, mit der die surrealistische Phase 1959 eingeläutet wird, ist die skurrile Beschreibung eines Frauenschwarms aus der Sicht eines offenbar weniger erfolgreichen Ich-Erzählers. Kreisler hatte dabei „einen eitlen Gecken, vielleicht einen Filmschauspieler, der sich von der
Damenwelt anhimmeln läßt“70, im Kopf. Am bemerkenswertesten ist jedoch nicht so sehr der Inhalt, sondern ein im Grunde formales Kriterium:
Wenn der „Musikkritiker“ als Exempel für den Einsatz musikalischer Zitate herangezogen werden kann, dann muß „Der schöne Heinrich“ als Inbegriff Kreislerscher Reimkunst und Wortspielereien gelten. Ich habe den vollständigen Text, der sich wie alle anderen hier besprochenen Texte im Anhang findet, farbig markiert, um auf Alliterationen (Worte farbig), Anaphern (unterstrichen) und Reime (Hintergrund farbig) hinzuweisen:
Ich bin ein gerechter, durchschnittlich echter Wiener. Schamster Diener! Verdien bei der Firma, Freundin heißt Irma Lehmann. Die wohnt nehman. Und das ist der springende Punkt, als ich gingende Firma, war Irma mir gut. Doch das Wohlwollen endete, denn Irma wendete sich ab und ich hab a Wut!
Dabei behaupte ich nicht, daß diese Methode besonders übersichtlich wirkt, im Gegenteil: Mein Ziel war es zu visualisieren, daß in diesem Lied eine nicht nur bei Kreisler, sondern im gesamten Kabarett seltene, wenn nicht einzigartige ‚Reim- Dichte‘ erreicht wird, die so weit geht, daß ein einziges Wort zwei Reim-Endungen enthält:
Dann geht sie sich kämmen, bleich wie ein Emmentaler, ein ovaler. […] Es sucht sein Gefolge im Alkohol Genesung und Erlösung.
Beiden Zeilen liegt ein Binnenreimschema aabb zugrunde. Sowohl beim Emmentaler wie auch in der Genesung gehört dabei der Wortanfang noch zum zweiten a-Reim, das Wortende jedoch bereits zu b. Diese Aufteilung korrespondiert auch mit der Strophenmusik, die jeweils einem Reimpaar eine melodische Wendung zuordnet.
Bekannter noch als „Der schöne Heinrich“, ja „eines der beliebtesten [Lieder aus den Seltsamen Gesängen] war das böhmische Lied vom Bluntschli.“71 Auch heute noch ist „Der Bluntschli“ eines der bekannteren Stücke Georg Kreislers, hauptsächlich deshalb, weil trotz vieler Andeutungen im Verlauf des gesamten Liedes nicht aufgeklärt wird, um was für einen Gegenstand es sich eigentlich handelt, und auch der Künstler selbst schwieg lange Jahre hierzu, bevor er in den Neunzigern schließlich zur Aufklärung beitrug (siehe unten).
Tatsächlich steht das Kunstwort, das inhaltlich weder mit dem Züricher Baumeister Alfred Bluntschli noch mit dem schweizerisch-deutschen Politiker und Staatstheoretiker Johann Kaspar Bluntschli zu tun hat72, bildhaft für alles, womit sich Menschen interessant zu machen versuchen. „Der eine hat einen langen roten Vollbart, […] andere befestigen Sicherheitsnadeln in den Nasenlöchern, jeder will auffallen, alle fürchten die Anonymität.“73 So auch der neben dem Ich-Erzähler zweite Protagonist Herr Wachtel, der – reimtechnisch adäquat – durch „a große Schachtel“, deren Inhalt unbekannt ist, die Aufmerksamkeit seines Nachbarn erregt. In Wachtels Abwesenheit unternimmt der Erzähler etwas, das man im wirklichen Leben als Einbruch bezeichnen würde, um den Inhalt der Kiste zu erkunden, und entdeckt dort neben anderen merkwürdigen Dingen auch den fraglichen Gegenstand. Herr Wachtel, darauf angesprochen, schilt jedoch keineswegs den Einbrecher oder ruft gar die Polizei – was man als Hinweis auf den surrealistischen Gehalt des Liedes und die Nähe zum Traum deuten könnte, in dem sich ja ebenfalls Menschen untypisch oder seltsam verhalten – sondern setzt an, den Zweck des Bluntschlis zu erklären. Die Erklärung fällt jedoch weitaus phantastischer und im Wortsinne sinnloser aus, als es das Objekt selbst war:
In der Schachtel liegt a Bluntschli. Das wissen Sie genau.
A Knopf, a Birn’, a Spitzer, der Letztere ist blau.
Sehen S’, diesen Spitzer nehm ich, und ich steck ihn mir ins Ohr.
Dann nehm ich noch den Knopf zur Hand und halt ihn hoch empor.
Und jetzt mit meiner Linken ergreife ich die Birn’.
Mit’m Stengel schön nach unten, halt ich sie an die Stirn.
No, jetzt sind meine Händ’ voll, jetzt werden Sie verstehen.
Wenn ich jetzt noch die Augen schließ, kann ich den Bluntschli gar nicht sehen.
Man sieht also, daß der Text seine Spannung daraus bezieht, daß die beim Hörer aufgebaute Erwartungshaltung immer wieder enttäuscht wird: Bei Erwähnung einer rätselhaften Schachtel erwartet man, im Verlauf des Liedes einen sinnvollen Inhalt zu erfahren. Das geschieht nicht, der Inhalt wird zwar aufgezählt, erschließt sich jedoch nicht als zusammenhängend oder in irgendeiner Weise bedeutend. Dann wird man zweifellos darauf harren, daß dieser Sinn noch nachgeliefert wird, indem erklärt wird, wie ein Bluntschli aussieht oder was er mit den anderen Objekten zu tun hat. Die Erwartung dieser Auflösung stellt sich mit der Nachfrage des Erzählers ein, auf die man ja gemeinhin eine Antwort erhoffen können sollte. Wieder wird dem Bedürfnis nach Sinn und Einordnung, das dem Menschen in allen Lebenslagen eigen ist, nicht Rechnung getragen, die Spannung pflanzt sich weiter fort bis zur zweiten Nachfrage des Erzählers. Nun, so könnte man denken, wird Herr Wachtel endlich Rede und Antwort stehen müssen.
Zum Teil passiert das auch. Allerdings – und das macht die lang andauernde Interessantheit des Liedes aus – wird nicht erklärt, was ein Bluntschli ist, sondern lediglich, was er bewirkt. Herr Wachtel weiß nämlich:
[…] wenn ich nicht den Bluntschli hätt’, wer schauet mich schon an?
Da wär ich der Herr Wachtel, no, der hat eine Schachtel und trinkt einmal ein Achtel. Ansonsten ist er fad.
Mit'm Bluntschli in der Schachtel, bin ich: DER HERR WACHTEL!
Und trinke ich ein Achtel, dann ist es eine Gnad’.
Gerade die fehlende gegenständliche Beschreibung ermöglicht es, den Bluntschli so universell auf das wirkliche Leben zu übertragen und in Bart, Sicherheitsnadel oder ähnlichen Accessoires einen Bluntschli zu erkennen, „ein Ding, das an sich wertlos war, seinem Besitzer aber Ansehen brachte“74. Der Autor selbst geht sogar so weit zu vermuten: „Hitlers Bluntschli war das deutsche Volk.“75
Man könnte Vermutungen anstellen, warum der Bluntschli gerade mit böhmischem Akzent besungen wird. Der Inhalt des Liedes läßt keinen zwingenden Grund erkennen, und Kreisler selbst ist in diesem Fall mit seinem Kommentar keine große Hilfe: „Warum ich das Lied mit böhmischem Akzent sang, weiß ich nicht, wie man ja überhaupt bei solchen Liedern kaum weiß, warum man sie schreibt. Weiß man, warum man sie anhört?“76
Generell kann man sagen, daß der Einsatz von Akzenten und Dialekten im Kabarett lange Tradition hat und heute immer noch gerne als komisches Mittel verwandt wird – auch ohne daß ein direkter Bezug zur der Region besteht. Man denke an das hessische Duo Badesalz, die Figur Heinz Becker aus der Feder Gerd Dudenhöffers, die Lieder Herbert Knebels oder die Sketche Gerhard Polts. Vielleicht war Kreislers Ausgangspunkt schlichtweg, daß ein böhmischer Akzent gut zu der in ihrer wohldosierten Chromatik und schwungvollem Off-Beat leicht osteuropäisch anmutenden Musik passen würde. Hier jedoch verlasse ich das Territorium begründbarer Interpretation und betrete das Reich des bloßen Spekulierens, wo ich innerhalb einer wissenschaftlichen Arbeit wenig zu suchen habe und aus dem ich mich daher schnellstmöglich entferne, um zum nächsten Kapitel zu kommen.
2.4 Die jüdisch orientierte Phase: Nichtarische Arien
2.4.1 Beschreibung
Kreislers folgende Station wird – wie übrigens schon die surrealistische Phase – durch eine Auftragsarbeit für den NDR eingeläutet und stellt einen Versuch dar, die alte Tradition jüdischen Kabaretts wiederaufzugreifen. Daß dieser Versuch von einigen Zeitgenossen gründlich mißverstanden wurde, belegt die von ihm erzählte Anekdote über den Interviewer, der ihn voller Verwunderung fragte: „Darf man das jetzt wieder?“77
Keineswegs geht es jedoch in den sogenannten „Nichtarischen Arien“ um eine Verunglimpfung des Judentums, auch wenn der parodierte jüdische Akzent einen komischen Effekt zeitigt (siehe Kapitel 2.3.2). Kreisler jedoch sieht in diesem aufgesetzten Akzent „nichts anderes […] als in einem böhmischen oder ungarischen oder französischen, wie man ihn in jeder zweiten Operette hört“78, und in der jüdischen (Selbst-)Parodie die Manifestation typisch jüdischen Humors. Dabei darf man natürlich Kreislers eigene Erfahrung als ausländischer Chansonnier in den USA nicht vergessen, die ihm vielleicht einen etwas unbefangeneren Umgang mit dem Thema Sprache ermöglichte. Schließlich setzte er dort auch seine eigenen sprachlichen Unzulänglichkeiten witzig um und nutzte so die vermeintliche Schwäche als humoristische Stärke:
Please, shoot your husband.
Please, kill him dead.
Dem jüdischen Humor wird oft eine Nähe zur Melancholie zugeschrieben oder auch zum Trotz, eine Neigung zur Selbstkritik und eine Funktion als verzweifeltes Mittel, eine zu großen Teilen antisemitische Umwelt ertragen zu können.79
Das alles sind tatsächlich Charakteristika, die wir in fast jedem einzelnen von Kreislers Stücken wiederfinden, nicht nur in den jüdischen Chansons. In bezug auf die Melancholie, die Traurigkeit des Clowns etwa, könnte man auf das Lied „Bessarabien“ aus den „Seltsamen Liebesliedern“ verweisen oder auf seinen eigenen Kommentar zu den Wiener Liedern der fünfziger Jahre: „Schön waren die 50er Jahre in Wien für mich nicht, und dementsprechend sind die Lieder zwar vielleicht lustig, aber sie sind nicht glücklich.“80 Die Unterscheidung, daß hinter lustigen Liedern durchaus unglückliches Denken stehen kann, ist einer der wesentlichen Grundzüge sowohl seines eigenen als auch des jüdischen Humors.
Für die „Nichtarischen Arien“ und ihre Beschreibung jüdischer Charaktertypen gilt, was Salcia Landmann über den jiddischen Schriftsteller Scholem Alejchem und seine Darstellung des Ostjudentums schrieb: „Mit einem lachenden und einem weinenden Auge malt er die Typen des ostjüdischen Lebens, gleichzeitig ein wenig karikierend und doch voll Liebe.“81
Auch der zweite Punkt, die Selbstkritik, die als Merkmal „letztlich dem gesamten jüdischen Schrifttum […] gemeinsam“82 ist, zieht sich wie ein roter Faden durch Kreislers Werk. Er macht sich keine Illusionen über seine Wirkung als Kabarettist und thematisiert das nicht nur in Interviews und Kommentaren, sondern auch in den Liedern selbst; das bekannteste Beispiel ist wohl „Zu leise für mich“:
Ich sitz schon lang im Kabarett und singe Lieder,
wie eine mutige, doch alternde Soubrett’.
Und diese Lieder hören die Leute immer wieder, und der Flieder
blüht im nächsten Mai genauso violett.
Ich singe lächelnd, denn ich denke an die Pause.
Die Leute lächeln, denn sie wollen mich gern verstehn. Dann ist die Vorstellung vorüber, und ich sause, und zu Hause
fällt mir ein: Es ist schon wieder nichts geschehn.83
Humor, allgemein Lachen als Mittel, eine unerträgliche Wirklichkeit erträglich zu machen, ist ebenfalls eine lange jüdische Tradition, wie man etwa an den in Salcia Landmanns Jiddisch-Buch zusammengestellten Witzen und Anekdoten84 oder auch in einigen Szenen und Geschichten Woody Allens zeigen kann – so in folgender Passage aus seiner Kurzgeschichte „Mr. Big“, in der ein Privatdetektiv in film noir - Tradition beauftragt wird, Gott zu suchen. Seine Befragung des Rabbi endet folgendermaßen:
„Wie kommt’s, daß Sie so viel wissen?“
„Weil wir das auserwählte Volk sind. Am meisten von allen Seinen Kindern sorgt er sich um uns, was ich auch irgendwann gern mit Ihm diskutieren würde.“
„Was zahlen Sie dafür, auserwählt zu sein?“
„Fragen Sie nicht.“85
In Interviews spricht Kreisler auch ausführlich über seine eigenen Erfahrungen mit Antisemitismus86, ohne die viele seiner jüdischen Chansons undenkbar wären, gerade die eindringlichsten wie zum Beispiel „Mein kleines Mädele“.
2.4.2 Analyse: Ich fühl mich nicht zu Hause
Wohl kaum ein Lied spürt der spezifisch jüdischen emotionalen Situation eines ewigen Exilanten deutlicher nach als „Ich fühl mich nicht zu Hause“, das diese Lage schon im Titel und Refrain programmatisch voranstellt.
In fünf Strophen werden das Leid und die Suche des Protagonisten aufgerollt, beginnend in Berlin. In den ersten drei Strophen bietet je ein Familienmitglied in jeweils einem anderen Teil der Welt (Berlin, New York, Buenos Aires) dem Erzähler eine verlockende Zukunft im entsprechenden Land, die dieser immer mit derselben im Refrain formulierten Begründung ablehnen muß.
Daß ein Jude in der ganzen Welt Verwandte hat, ist durchaus nicht ungewöhnlich und hat mit dem Problem zu tun, um das sich das Lied dreht. Im Verlauf der jüdischen Geschichte kam es immer wieder zu Pogromen, Vertreibungen, Unterdrückung und Schuldzuweisung – von dem Vorwurf, die Pest verursacht zu haben, bis hin zum Holocaust.
Diese bewegte Historie brachte vielerlei Migration mit sich, die oft Familien zerriß – und die zu der Frage führt, wo ein Mensch zu Hause ist, der aus seinem Zuhause mit Gewalt vertrieben wurde oder es aus anderen guten Gründen verlassen hat.
In Kreislers Chanson ist es die enge, von Mißtrauen geprägte Dorfatmosphäre des Schtetl, vor der geflohen werden muß. In diesen vornehmlich osteuropäischen ländlichen Gemeinden pflegte man noch lange eine Traditionalität, die den intellektuellen urbanen Juden Mitteleuropas wie auch den aufgeklärt-liberalen US- amerikanischen Juden rückständig und kleinkrämerisch vorkam. Kurt Tucholsky greift dieses Klischee in seiner letzten „Wendriner“-Geschichte auf, wo Herr Wendriner – die Karikatur eines Kapitalisten, dessen Judentum ursprünglich nur am Rande eine Rolle spielte – sich angesichts drohenden NS-Terrors explizit entsolidarisiert: „Nu sehn Sie sich mal diesen schwarzen Kerl da unten an! Wahrscheinlich Ostjude…wissen Sie, denen gegenüber ist der Antisemitismus wirklich berechtigt. Wenn man das so sieht!“87 Andere jüdische Künstler beschäftigten sich wiederum kritisch mit dem Konservatismus des Schtetl, etwa Barbra Streisand in ihrer filmischen Adaption eines Romans von Isaac Bashevis Singer, „Yentl“.
Vor diesem Hintergrund versteht man die ambivalenten Gefühle, mit denen es Kreislers Helden wieder zurücktreibt:
So kam ich voller Unglück und voll Glück in mein geliebtes Schtetl hier zurück.
Daß diese Ambivalenz, dieses Oszillieren zwischen Trauer und Trotz, zwischen Melancholie und Freude, sich in der jüdischen Kultur, in der Musik, im Humor beinahe überall finden läßt, wurde in Kapitel 2.4.1 bereits dargelegt. Auch hier ist die Zerrissenheit angesichts der halbfreiwilligen Rückkehr lediglich die Zuspitzung einer Scherenentwicklung, die sich durch das ganze Lied zieht. In jeder Strophe wird das potentielle neue Leben zuerst einmal gelobt, manchmal sogar begeistert geschildert:
Und Señoritas gibt es schöne hier, ich hab mit vielen gleich frohlockt.
Und wenn sich der namenlose Ich-Erzähler stets wieder verabschiedet, ist das keineswegs ein selbstbewußter Entschluß, das Glück andernorts zu suchen, sondern es schwingt auch hier wieder die Trauer mit:
Doch als mein Schwager sagte: Bleib bei mir,
da hab ich traurig ihm gesagt:88
Ich fühl mich nicht zu Hause, zu Hause, zu Hause, […]
Israel, der Staat, der auf Kosten des palästinensischen Volkes gegründet wurde, um den Juden eine Heimat zu sein, stellt in dieser ewigen Suche einen Sonderfall dar. Kreisler selbst, der im Interview sehr deutlich die autobiographischen Bezüge des Liedes zu verstehen gibt, antwortet auf die Frage nach seiner Heimat vieldeutig:
Ich habe wahrscheinlich keine, aber ich fühle mich im großen und ganzen drei Ländern verpflichtet, irgendwie hingezogen. Eines davon ist sicherlich Österreich, aber eigentlich nur deshalb, weil ich hier geboren bin, in Wien geboren bin und meine ersten sechzehn Jahre in Wien zugebracht habe […]. Meine zweite Heimat, wenn Sie so wollen, […] ist Amerika. […] Ich fühle mich sehr als Amerikaner, ich bin noch immer amerikanischer Staatsbürger. […] Meine dritte Heimat – und die ist also wirklich keine Heimat – ist Israel, und zwar einfach deshalb, weil ich Jude bin und weil Juden nach wie vor weltweit verfolgt werden und man da einen gewissen Trotz entwickelt, ein Zugehörigkeitsgefühl. Ich möchte nicht in Israel leben müssen, […] aber irgendwo fühle ich da eine Verbundenheit.89
Auch Israel, so sehr es ein ideelles Zuhause sein mag, zeigt sich dem Erzähler des Liedes in der Praxis als ein fremdes Land unter vielen fremden Ländern:
Hier gibt mir niemand an Kredit.
Und was versteh denn ich von Ackerbau? Und alle reden nur Iwritt.
Israel scheint das einzige Land zu sein, in dem der Erzähler keine Verwandten oder Bekannten hat. Daß es unter diesen Umständen schwierig ist, heimisch zu werden, liegt auf der Hand.
Auch die landwirtschaftliche Ausrichtung und die Organisation in Kibbuzim muß einem mitteleuropäischen Stadtbewohner fremd vorkommen, sei er nun Jude oder nicht.
Iwritt – Hebräisch – beherrschen zumindest religiöse Juden zwar als heilige Sprache, es bleibt jedoch einem mit Deutsch oder Jiddisch Aufgewachsenen als Alltagssprache fremd90 – zumal gerade die jiddisch sprechenden osteuropäischen Juden sich scheuten, profane Dinge in der sakralen Sprache überhaupt auszudrücken91.
[...]
1 Kreisler, Georg: Die alten, bösen Lieder. Beiheft zur CD, Dinslaken 1997, o.S.
2 Budzinski, Klaus: Die Muse mit der scharfen Zunge, München 1961, S.303
3 Rothlauf, Eva: Theorie und satirische Praxis im westdeutschen Kabarett (1945-1989), Erlangen 1995, S.9
4 Greul, Heinz: Bretter, die die Zeit bedeuten. Die Kulturgeschichte des Kabaretts, Köln/Berlin 1967
5 Henningsen, Jürgen: Theorie des Kabaretts, Düsseldorf-Benrath 1967
6 vgl. zum Beispiel ebd., S.9,24,29,36,50,57,66
7 ebd., S.9
8 ebd., S.25
9 ebd., S.25f (Hervorhebungen im Original)
10 Budzinski, Klaus: Das Kabarett. 100 Jahre literarische Zeitkritik – gesprochen – gesungen – gespielt, Düsseldorf 1985, S.55
11 ebd., S.50
12 ebd.
13 ebd., S.55
14 Hölzle, Peter: Chanson, in: Schweikle, Günther u. Irmgard (Hg.): Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen, 2., überarbeitete Aufl., Stuttgart 1990, S.76
15 vgl. Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur, 7. Aufl., Stuttgart 1989, S.139-141
16 Fritz Martini stellt dort die gewagte und im weiteren Verlauf dieser Arbeit wohl hinreichend falsifizierte These auf, das deutschsprachige Chanson habe seit 1933 „wohl eine epigonale Fortsetzung, doch keine eingreifende Erneuerung gefunden“ (Martini, Fritz: Chanson, in: Kohlschmidt, Werner / Mohr, Wolfgang (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler, 2. Aufl., Bd.1, Berlin 1958, S.206).
17 Schick, Hartmut / Dadelsen, Georg von: Die Parodie in der Kunstmusik nach 1900, in: Finscher, Ludwig (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begründet von Friedrich Blume. Zweite, neu bearbeitete Ausgabe, Bd.7, S.1407
18 ebd.
19 Weidhase, Helmut: Parodie, in: Schweikle 1990, S.342
20 Mahal, Günther: Travestie, in: Schweikle 1990, S.472
21 Henningsen 1967, S.40
22 vgl. Kreisler, Georg: Brief an Stefan Balzter vom 6.5.2000 (siehe Kapitel 6.2.5)
23 vgl. Balzter, Stefan: Georg Kreisler. Der Grandseigneur des Kabaretts (Interview), in: Musik und Unterricht H.53 / November 1998, S.60
24 Kreisler, Georg: Ansage zu „Frühlingsmärchen“, in: Everblacks, Intercord LP 28 762-3 Z/1-2, 1971
25 Interessierten seien diesbezüglich die im Literaturverzeichnis genannten Fernseh- und Rundfunksendungen ans Herz gelegt, in denen Kreisler selbst ausgiebig über die Stationen seines Lebens berichtet.
26 vgl. Pointner, Hannes: Schlaglichter auf Georg Kreisler, Wien 1993, S.29
27 vgl. ebd., S.31. Erwähnenswert deswegen, weil das zentrale Motiv des Films der Blaubart- Legende entlehnt ist, also ein makabres Thema hat (siehe auch Kapitel 3.2.2). Einen direkten Einfluß auf Kreislers spätere Chansons zu unterstellen, bliebe aber spekulativ.
28 vgl. ebd.
29 Kreisler, Georg: Mein Leben in Worten ohne Lieder, in: Worte ohne Lieder. Satiren, Wien 1986, S.319
30 Begegnungen. Paul Burkhalter im Gespräch mit Georg Kreisler, 3sat, TV-Erstausstrahlung 5.5.1994
31 ebd.
32 Pointner 1993, S.32
33 Kreisler, Mein Leben in Worten ohne Lieder, in: Kreisler 1986, S.320
34 Kreisler 1997, o.S.
35 vgl. Begegnungen, 1994
36 Klinkowitz, Jerome: A Final Word for Black Humor, in: Contemporary Literature, Bd.15, S.273, zit.n. Hellenthal, Michael: Schwarzer Humor. Theorie und Definition, Essen 1989, S.21
37 vgl. Hellenthal 1989, S.15 und S.24
38 „Dreizehn Jahre lang waren zwei Fragen für mich lebensnotwendig gewesen, nämlich die Fragen ‚Warum lacht das Publikum?‘ und ‚Warum lacht das Publikum nicht?‘. Man muß wahrscheinlich Entertainer in Nachtlokalen gewesen sein, um nachfühlen zu können, wie peinigend diese Fragen sind. Bald denkt man an nichts anderes mehr.“ (Kreisler, Georg: Die alten bösen Lieder. Ein Erinnerungsbuch, Wien 1989, S.199)
39 Kreisler 1989, S.204
40 vgl. Unger, Karl: Wien, Köln 1995, S.183
41 Kreisler, Georg: Ansage zu „Der Tod, das muß ein Wiener sein“, in: Everblacks Zwei, Intercord LP 180.002, 1974
42 Als Beispiele mögen ausreichen: „Let’s Call The Whole Thing Off“ (George Gershwin), „I Get A Kick Out Of You“ (Cole Porter), „My Kind Of Town, Chicago“ (Sammy Cahn / Jimmy van Heusen); Letztgenanntes teilt mit Kreislers Chanson auch die Refraindominanz und die Abwesenheit regulärer Strophen.
43 Fraenger, Wilhelm: Formen des Komischen. Vorträge 1920-1921, Dresden 1995, S.22
44 Kreisler, Mein Leben in Worten ohne Lieder, in: Kreisler 1986, S.322
45 vgl. Pointner 1993, S.36f
46 Kreisler, Georg: Ansage zu „Mütterlein“, in: Everblacks, 1971
47 Eine Ausnahme und gleichzeitig einen Hinweis darauf, daß seine Lieder nicht ganz unzumutbar waren, bildet Kreislers Kommentar in der bereits zitierten Fernsehsendung „Begegnungen“ von 1994: „Das Wiener Publikum hat mich bereitwilligst und sehr freundlich aufgenommen.“
48 Weigel, Hans: Hinweis auf einen sehr bedeutenden Zeitgenossen, in: Kreisler, Georg: Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten. Mit zwei Lobeserklärungen von Hans Weigel, Zürich 1973, S.8
49 Kreisler, Georg: Ansage zu „Bidla Buh“, in: Everblacks, 1971
50 ders.: Ansage zu „Frühlingsmärchen“, in: Everblacks, 1971
51 Kreisler 1997, o.S.
52 Begegnungen, 1994
53 Kreisler 1989, S.31
54 zur Musik vgl. Kreisler, Georg: Tauben vergiften, in: Lieder von Georg Kreisler II, Basel o.J., S.37-42
55 Genaugenommen sind es drei Noten, die vertauscht werden und so einen dissonanten Gesamteindruck schaffen: zwei Achtelnoten im dritten Takt, die um einen Halbton bzw. eine kleine Terz nach oben verschoben werden, und die erste Note des fünften Taktes, die er ebenfalls einen Halbton nach oben rückt. In allen Fällen kommen natürlich Töne zum Vorschein, die nicht im geringsten zu Kreislers Grundtonart C-Dur passen, im fünften Takt sogar der diabolus in musica, der Tritonus fis.
56 Kreisler 1989, S.177
57 namentlich folgende: noch ein weiteres Zitat aus Bizets „Carmen“; eines aus Mozarts „Don Giovanni“, auf das im folgenden näher eingegangen wird; aus Mozarts Klaviersonate A-Dur KV 331 „Alla turca“; aus Beethovens Sinfonie Nr. 9, auf die ich ebenfalls noch zu sprechen kommen werde; sowie aus der 2. Ungarischen Rhapsodie von Franz Liszt.
58 Kreisler 1989, S.36f. Die Behauptung, das brillante Klavierspiel werde lediglich vorgetäuscht, ist jedoch angesichts des beachtlichen pianistischen Schwierigkeitsgrades dieser Art von Liedern (auch des „Opernboogie“ u.a.) nicht ganz haltbar.
59 Mozart, Wolfgang Amadeus: Don Giovanni. Dramma giocoso in zwei Akten. Deutsche Bearbeitung nach der Überlieferung und dem Urtext von Georg Schünemann, Berlin 1940, S.101
60 Beethoven, Ludwig van: Sinfonie Nr. 9 d-Moll, op.125, Mainz 1979, S.225-227
61 Kreisler, Georg: Ansage zu „Mütterlein“, in: Everblacks, 1971
62 vgl. Krentzlin, Richard: Der junge Pianist. Praktischer Lehrgang für den Anfangsunterricht unter besonderer Berücksichtigung des Volksliedes. Teil II: Der Fortschritt des jungen Pianisten, Berlin- Lichterfelde o.J., S.14
63 Kreisler 1973, S.47
64 ders.: Ist Wien überflüssig? Satiren über die einzige Stadt der Welt, in der ich geboren bin, Wien 1987
65 Begegnungen, 1994
66 ebd.
67 ders.: Ansage zu „Der Bluntschli“, in: Everblacks, 1971
68 Kreisler selbst behauptet zwar, diese Lieder seien „nicht eine Rückkehr zur makabren Grotesken [sic] der früheren Jahre“ (Ansage zu „Als der Zirkus in Flammen stand“, in: Everblacks, 1971), dennoch läßt sich sein oben beschriebenes Gestaltungsprinzip für makabre Chansons ohne weiteres darauf übertragen; der Unterschied ist eher quantitativer als qualitativer Natur: Die Übertreibung des Schreckens ist nicht so groß, daß er uneingeschränkt lustig wirkt, sondern gerade so, daß der Zuhörer verunsichert wird, ob er über so etwas überhaupt lachen darf und will. Einige Zeilen wirken heute noch so, etwa die Beschreibung der plattgetretenen Kinder in „Als der Zirkus in Flammen stand“.
69 vgl. etwa Haefs, Wilhelm: Surrealismus, in: Meid, Volker (Hg): Literaturlexikon. Begriffe, Realien, Methoden= Killy, Walther (Hg): Literaturlexikon, Bd.14, Gütersloh / München 1993, S. 414
70 Kreisler, Georg: Brief an Stefan Balzter vom 6.5.2000
71 ders.: Ansage zu „Der Bluntschli“, in: Everblacks, 1971
72 vgl. Meyers großes Taschenlexikon in 24 Bänden, 4. Aufl., Bd.3, Mannheim 1992, S. 264
73 Kreisler 1997, o.S.
74 Kreisler 1989, S.147
75 Kreisler 1997, o.S. – da die beiden Zitate einige Jahre auseinanderliegen und verschiedene Nuancen der Interpretation gemeint sind, muß man daraus nicht unbedingt schlußfolgern, daß Georg Kreisler das deutsche Volk für „an sich wertlos“ hält.
76 Kreisler 1989, S.148
77 ders.: Ansage zu „Onkel Joschi“, in: Everblacks Zwei, 1974
78 ders.: Ansage zu „Der General“, in: Everblacks, 1971
79 vgl. hierzu etwa Landmann, Salcia: Jiddisch. Das Abenteuer einer Sprache, 5.Aufl., Frankfurt am Main / Berlin 1994
80 Kreisler 1997, o.S.
81 Landmann 1994, S. 125
82 ebd., S.15
83 Kreisler, Georg: Zu leise für mich, in: Kreisler 1973, S.130
84 Landmann 1994, S.252-413
85 Allen, Woody: Mr. Big, in: Das Woody Allen Buch, 2.Aufl., Frankfurt 1995, S.163
86 Begegnungen, 1994
87 Tucholsky, Kurt: Herr Wendriner steht unter der Diktatur, in: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Herausgegeben von Marie Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Bd.8, Reinbek 1993, S.238
88 Im jüdischen Akzent ein tadelloser Reim auf „frohlockt“ (Anm.d.Verf.)
89 Ich über mich. Karl Löbl im Gespräch mit Georg Kreisler, ORF, Erstausstrahlung 19.7.1992
90 vgl. Landmann 1994, S.22f
91 vgl. ebd., S.57
- Arbeit zitieren
- Stefan Balzter (Autor:in), 2000, Die Chansons Georg Kreislers und ihre Stellung in der Entwicklung des deutschsprachigen musikalischen Kabaretts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14511
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