Viele Menschen kennen „Zar und Zimmermann“, aber wer ist der Komponist? Gustav Albert Lortzing wurde schon zu Lebzeiten verkannt und auch heute würdigt man ihn nicht genügend. Seien es falsche Daten an der Gedenktafel in Leipzig oder nicht beachtete Opern. Wer weiß schon, dass der Begründer der deutschen Volksoper auch die Kompositionen zu bekannten Volksliedern, wie „Ein Männlein steht im Walde“, „Alle Vöglein sind schon da“, „Winter ade“, „Morgen Kinder wird’s was geben“ und „Morgen kommt der Weihnachtsmann“, eingerichtet hat? Auch heute werden seine Opern als „biedermeierlich“ bzw. „trivial“ abgetan und überspitzt auf der Bühne dargestellt. Doch Lortzing schrieb seine Musik nicht zur puren Unterhaltung, sondern setzte bewusst und explizit sozialkritische Momente in Szene.
Lortzing nimmt im Sammelsurium der Künstler und Musiker des 19. Jahrhunderts eine Randstellung ein. Er ordnet sich nicht in die Reihe der Romantiker wie Mendelssohn, Schubert und Schumann, Weber oder Wagner ein. Seine Ambitionen und Beweggründe, die er in seinen Opern reflektiert, beziehen sich auf sein eigenes Erleben, auf seinen Alltag. Einfluss auf sein Schreiben hatten die familiäre Lage, der Theateralltag und das eigene Streben nach Höherem.
Ende des 18. Jahrhunderts setzte mit der Französischen Revolution eine Entwicklung ein, die neue Kräfte belebte und grundlegende Veränderungen in Europa zur Folge hatte. Lortzing lebte in einer Zeit des Umbruchs, der Neuerungen und der Zensur. Hatte sich im Rokoko das Musikleben in den Adelspalästen abgespielt, so begann im 19. Jahrhundert der Aufschwung des Bürgertums und dessen steigender Einflussbereich. Die Macht- und Gesellschaftsverhältnisse verschoben sich innerhalb der Stände und beeinflussten das Leben vieler Künstler. Ein Kulturleben entstand, wie es vorher nicht aufzufinden war. In dieser Zeit des Wandels eröffneten sich neue Perspektiven und Möglichkeiten, die auch Lortzing aufgegriffen hat.
Lortzings Leben begann auf der Bühne und endete auch mit ihr. Höhepunkte und Niederlagen lassen sich beispielhaft an den Wirkungsstätten seiner beruflichen Laufbahn festmachen. Er wurde durch den Alltag und das Leben am Theater geprägt und geleitet.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zur Literatur- und Quellenlage
3. Kinder- und Jugendjahre
3.1. Herkunft und Familie
3.2. Die Beziehung zu seinen Eltern und das soziale Umfeld
3.3. Bildung (allgemein und musikalisch)
3.4. Das politische Geschehen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts
3.5. Wanderjahre
3.6. Musikalische Entwicklung
4. Die Detmolder Zeit
4.1. Politisches und gesellschaftliches Umfeld in der kleinen Residenzstadt
4.2. Vom Sohn zum Familienvater
4.3. Schauspieler und Publikumsliebling
4.4. Musikalische Entwicklung – Lehrjahre
5. Leipziger Erfolgsjahre
5.1. Politisches Geschehen
5.2. Kulturelle und gesellschaftliche Metropole Leipzig
5.3. Gesellschaftliches Engagement
5.4. Berufliche Laufbahn am Theater
5.5. Die Rolle des Künstlers im 19. Jahrhundert
5.6. Die Rolle der Frau
5.7. Die berufliche Laufbahn – Das Eitel Sehnen
5.8. Musikalische Entwicklung – Meisterjahre
6. Wiener Zeit
6.1. Die politischen Ereignisse um
6.2. Lortzings Wirken am Theater an der Wien
6.3. Lortzing als Freiheitskämpfer
7. Die letzten Jahre
7.1. Rückkehr nach Leipzig und Berlin
7.2. „Die Opernprobe“ – Abrechnung mit der Opernwelt
7.3. Zurück in Berlin
8. Lortzings Opern
8.1. Zar und Zimmermann
8.1.1. Vorlage und Handlung
8.1.2. Peter Michaelow – Idealisierung eines Herrschers
8.1.3. Van Bett – Karikatur eines Spießbürgers
8.1.4. Peter Iwanov – Die positive Projektion Lortzings
8.1.5. Marie – Die Personifizierung von Lortzings Frauenbild
8.2. Hans Sachs – „ein Spiel um Lortzing“
8.2.1. Anlass und Vorlage
8.2.2. Hans Sachs
8.2.3. Obrigkeit und Vaterland
8.2.4. Künstlerische Anerkennung versus gesellschaftlicher Stand
8.3. Undine
8.3.1. Vorlage und Entstehung
8.3.2. Das Streben nach Höherem
8.3.3. Undine und die Seele
8.3.4. Undine und das Frauenbild
8.3.5. Das Elementarreich – Der sehnsuchtsvolle Zufluchtsort
8.3.6. Die Verbündeten
8.4. Regina – Eine Revolutionsoper ?
8.4.1. Hintergründe der Entstehung und Rezeption
8.4.2. Der 1. Akt
8.4.3. Der 2. Akt
8.4.4. Der 3. Akt
9. Zusammenfassung
10. Literatur- und Quellenverzeichnis
11. Anhang – Stammbaum.
1. Einleitung
Viele Menschen kennen „Zar und Zimmermann“, aber wer ist der Komponist? Gustav Albert Lortzing wurde schon zu Lebzeiten verkannt und auch heute würdigt man ihn nicht genügend. Seien es falsche Daten an der Gedenktafel in Leipzig1 oder nicht beachtete Opern. Wer weiß schon, dass der Begründer der deutschen Volksoper auch die Kompositionen zu bekannten Volksliedern, wie „Ein Männlein steht im Walde“, „Alle Vöglein sind schon da“, „Winter ade“, „Morgen Kinder wird’s was geben“ und „Morgen kommt der Weihnachtsmann“, eingerichtet hat?2 Auch heute werden seine Opern als „biedermeierlich“ bzw. „trivial“ abgetan und überspitzt auf der Bühne dargestellt. Doch Lortzing schrieb seine Musik nicht zur puren Unterhaltung, sondern setzte bewusst und explizit sozialkritische Momente in Szene.
Lortzing nimmt im Sammelsurium der Künstler und Musiker des 19. Jahrhunderts eine Randstellung ein. Er ordnet sich nicht in die Reihe der Romantiker wie Mendelssohn, Schubert und Schumann, Weber oder Wagner ein. Seine Ambitionen und Beweggründe, die er in seinen Opern reflektiert, beziehen sich auf sein eigenes Erleben, auf seinen Alltag. Einfluss auf sein Schreiben hatten die familiäre Lage, der Theateralltag und das eigene Streben nach Höherem.
Ende des 18. Jahrhunderts setzte mit der Französischen Revolution eine Entwicklung ein, die neue Kräfte belebte und grundlegende Veränderungen in Europa zur Folge hatte. Lortzing lebte in einer Zeit des Umbruchs, der Neuerungen und der Zensur. Hatte sich im Rokoko das Musikleben in den Adelspalästen abgespielt, so begann im 19. Jahrhundert der Aufschwung des Bürgertums und dessen steigender Einflussbereich. Die Macht- und Gesellschaftsverhältnisse verschoben sich innerhalb der Stände und beeinflussten das Leben vieler Künstler. Ein Kulturleben entstand, wie es vorher nicht aufzufinden war. In dieser Zeit des Wandels eröffneten sich neue Perspektiven und Möglichkeiten, die auch Lortzing aufgegriffen hat.
Lortzings Leben begann auf der Bühne und endete auch mit ihr. Höhepunkte und Niederlagen lassen sich beispielhaft an den Wirkungsstätten seiner beruflichen Laufbahn festmachen. Er wurde durch den Alltag und das Leben am Theater geprägt und geleitet.
Die musikalischen Bestrebungen reiften in den kommenden Jahren und formten seine Zukunftsträume. In Leipzig feierte Lortzing seine größten Erfolge und erreichte den Höhepunkt seiner Karriere. Hier schrieb er seine bekanntesten und beliebtesten Opern. In den kommenden Jahren in Wien und Berlin begann der massive Abstieg seiner Künstlerpersönlichkeit. Dieser Auf- und Abstieg in Lortzings Leben spiegelt sich beispielhaft in seinen Opern wider. Seine eigene Erlebniswelt und seine persönlichsten Konflikte ließ er in seine Opern einfließen.
In der folgenden Arbeit werden im ersten Teil Lortzings Persönlichkeit, seine Charakterzüge und die Geschehnisse aus seiner Umwelt beleuchtet. Es wird aufgezeigt, welche Ereignisse und Umstände in politischer wie auch gesellschaftlicher Hinsicht Lortzings Einstellungen geprägt und mitbestimmt haben. Von den unterschiedlichen Lebensabschnitten des Komponisten ausgehend, werden im zweiten Teil ausgewählte Opern näher analysiert und die direkten Bezüge zum Lebensumfeld und den momentanen Befindlichkeiten des Künstlers hergestellt. Exemplarisch wird die Oper „Zar und Zimmermann“ als seine bekannteste und noch heute meist gespielte komische Oper beleuchtet. In diesem Kapitel werden die einzelnen handelnden Personen und ihre Charaktere interpretiert. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie eine gerechte und ideale Obrigkeit auszusehen hat. Des weiteren soll die Oper „Hans Sachs“ Betrachtung finden, da der Komponist hier direkt seine Hoffnungen und seine persönliche Lebenssituation in Leipzig reflektiert. Die Rolle und die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft werden darin thematisiert. Mit der Oper „Undine“ schrieb er eine romantische Oper, betrat damit ein neues Terrain und das mit Glück. Lortzing reflektierte in diesem Werk seine intimsten Emotionen dieser Zeit, wie Einsamkeit und Sehnsucht.
Die letzte näher zu erläuternde Oper ist „Regina“, da sie eine Sonderstellung in Lortzings Schaffen einnimmt. Es ist das einzige große Werk, welches der Komponist in einer von Zensur freien Zeit geschrieben hatte. Hier reflektierte er seine eigenen Ansichten über die Ereignisse im Jahr 1848. Mit der Darstellung aktueller Ereignisse auf der Bühne tat Lortzing etwas zu seiner Zeit in der Musik völlig Untypisches, so dass dies als Neuerung gelten kann. Dennoch ist der aktuelle Bezug für Lortzing ein typisches Merkmal, das in all seinen Opern zu finden ist. Nicht zu letzt deshalb ist er der verkannte und ungewürdigte Komponist in einer Epoche, in der auf der Bühne mehr zensurbelastetes Heroentum als Kritik an aktuellen Situationen politische und gesellschaftliche Akzeptanz fand.
2. Zu r Literatur- und Quellenlage
Als Primärliteratur werden in dieser Arbeit in besonderem Maße Lortzings Briefe, zusammengefasst in einer kommentierten Ausgabe von Irmlind Capelle3, sowie seine Operntexte dienen. Lortzings Briefe sind voll von theaterpraktischen Neuigkeiten und familiären Belangen. Sollte man jedoch nach musikästhetischen Ausführungen, Diskussionen oder ausführlichen interpretatorischen Betrachtungen zu Lortzings Werken in den Briefen hoffen, so wird man enttäuscht werden. „Aber allgemein theoretisches Sinnieren scheint sowieso nicht seine Sache, ...“4 Auch seine politische Haltung lässt sich während seines Leipziger Engagements wie in den folgenden Jahren eher unterschwellig erkennen. Nach den März-Ereignissen 1848 in Wien, tat Lortzing seine Meinung nicht mehr offen kund.5 Er befürchtete die Überprüfung seiner Briefe von der Zensur und unterließ eine offene Kritik in seiner Korrespondenz. „ ... so viel ist gewiß, daß es schrecklich hier zu gieng und dass sich viel darüber sagen ließe, wenn man mit gutem Gewissen dem Papiere alles, was man denkt, anvertrauen könnte.“6 Lortzings Briefe sind erfüllt von dem täglichen Geschäft im Theater sowie kleinen Einzelheiten aus dem familiären Bereich. Die Umgangssprache, das Spiel mit Zitaten und der humorvolle Jargon machen Lortzings Briefe in besonderem Maße lesenswert.
Des Weiteren stützen sich die biographischen Ausführungen dieser Arbeit auf einschlägige Biographien des Komponisten unter denen die neueste von Jürgen Lodemann „Lortzing- Leben und Werk des dichtenden, komponierenden und singenden Publikumslieblings, Familienvaters und komisch tragischen Spielopernweltmeisters aus Berlin“, erschienen 2000 in Göttingen, besonders hervorgehoben werden soll. Lodemann schildert in seinen Ausführungen die Umstände und das Geschehen im Vormärz und liefert ein umfangreiches Bild von Lortzings Persönlichkeit. In gleichem Maße sind hier umfangreiche Interpretationen zu Lortzings Opern zu finden. Ebenfalls als fachlich ansprechend recherchiert und dargelegt wäre die Arbeit von Heinz Schirmag „Albert Lortzing-Glanz und Elend eines Künstlerlebens“ zu erwähnen, welche sich mehr auf die Fakten als auf die subjektive Interpretation des Autors bezieht. Um Lortzings Opernlibretti zu verstehen, ist die Dissertation von Petra Fischer „Vormärz und Zeitbürgertum. Gustav Albert Lortzings Operntexte“ erschienen in Stuttgart 1996 zu empfehlen, obwohl sie in ihren Betrachtungen teilweise doch sehr lückenhaft wird. Sie stellt jedoch eine gute Ergänzung zu der oben erwähnten Biographie Lodemanns dar.
Das sehr häufig zur Musikästhetik Lortzings herangezogene Interview von Johann Christian Lobe in seiner Veröffentlichung „Consonanzen und Dissonanzen“7 ist in seiner Authentizität anfechtbar. Petra Fischer belegt mit einleuchtenden Argumenten die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Gespräch so nie stattgefunden haben kann. Aus diesem Grund werden in meinen Untersuchungen zu dieser Thematik ausschließlich die Briefe Lortzings an Karl Gollmick herangezogen.
Die jüngste Forschung befasst sich hauptsächlich mit der Belebung von Lortzings Werken an den heutigen Bühnen sowie der Problematik einer Inszenierung dieser. Besonders die nicht beachteten Werke finden hierbei Berücksichtigung. Der umfangreichste Artikel hierzu stammt von Wolfgang Willascheck: „Biedermeier und Brandstifter“ in Opernwelt 1998. Eine Vielzahl von weiteren Aufsätzen runden aus unterschiedlichen Blickwinkeln, wie z.B. die Frage nach der Stellung des Bürgertums in seinen Opern, das Bild von Lortzings Schaffen ab.
3. Kinder- und Jugendjahre
3. 1. Herkunft und Familie
Die Erlebnisse und Erfahrungen in der Kindheit sowie die Beziehung zu den Eltern ist für jeden Menschen ausschlaggebend und prägend. So haben auch die Verhältnisse und die sozialen Strukturen, in die Lortzing hineingeboren wurde, seine Persönlichkeit, seine Einstellungen und Lebensansichten grundlegend mitbestimmt und geformt.
Lortzings Vorfahren lassen sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen, wobei die Namen in dieser Zeit unterschiedliche Schreibweisen hatten wie Lörtzing, Letzing oder Loerzig, je nach der umgangssprachlichen Artikulation (siehe Anhang Stammbaum).1 Sie hatten die Berufe des Abdeckers oder des Baders, Chirurgen und Henkers inne, was eine bestimmte soziale und gesellschaftliche Ausgrenzung mit sich zog. Schon zur damaligen Zeit versuchte die Familie wenigstens scheinbar, diese Tätigkeiten als ehrlich zu bescheinigen. Mehrfach findet man dieses Amt beurkundet als „ehrbarer Meister“.2 Da dieses Gewerbe meist an die Nachfahren weitervererbt wurde, konnte erst Lortzings Urgroßvater Johann Jakob dieses Geschäft aufgeben und wurde „Gräflich Hohenlohischer Kunstgärtner“ im Thüringer Raum. Er hinterließ 8 Kinder, von denen Albert Lortzings Großvater, Johann Heinrich, das jüngste war. Dieser verließ 1766 die Heimatstadt und ging nach Berlin, wo er sich selbständig machte und ein Lederwarengeschäft eröffnete. Somit gehörten die Lortzings nun erstmalig zum Stand des niederen Bürgertums als selbständige Handwerker und Kleinhändler. Nach vielen Generationen konnte man die Familie also als angesehen und „ehrlich“ bezeichnen. Johann Heinrich erwarb in Berlin ein Haus in der Breiten Straße Nummer 33. Dass die Familie später sogar in ein größeres Haus, Breite Straße Nummer 12, zog, lässt vermuten, dass das Lederwarengeschäft gute Einnahmen machte. Am 12. Mai 1775 wurde sein Sohn Johann Gottlob geboren. Am 6. April 1799 heiratete dieser die Berlinerin Sophie Charlotte Seidel, welche am 23. Oktober 1801 als zweites Kind Gustav Albert Lortzing zur Welt brachte. Die erstgeborene Tochter Bertha Elise, geboren am 18. April 1800, verstarb im Alter von 8 Jahren. Schon in jungen Jahren übernahm Johann Gottlob das Geschäft des Vaters und bewohnte das Haus in der Breiten Straße mit seiner Familie.
Seine Ahnen und seine Ursprünge werden Lortzing nie völlig loslassen. Traditionell war an den Beruf des Scharfrichters der Name Hans oder abgewandelt Johann gebunden. Der Stammbaum zeigt, wie dieser Name in der Familie weitergegeben wurde. Auch Lortzing nannte sein letztes Kind Hans. In seinen Opern kommt immer wieder ein „Meister Hans“ vor; im „Waffenschmied“, in der „Undine“ und natürlich im „Hans Sachs“. Bei diesen Personen handelt es sich jedoch nie um ausgeschlossene, diskriminierte Figuren, sondern um ehrliche, fleißige und redliche Handwerker und Bürger, wie auch Lortzing einer war.
Das Streben nach einem höheren und angeseheneren Stand sollte Lortzing sein Leben lang verfolgen. Von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitskomplexen getrieben, versuchte er, wie seine Vorfahren auch, in den Stand eines ehrbaren Bürgers aufzusteigen. Doch wird es ihm nie wirklich gelingen, den Gaukler und Komödianten abzustreifen und von den Künstlern höherer Musikerkreise akzeptiert zu werden.
Die künstlerische Begabung der Familie Lortzing zeigte sich auch in anderen Zweigen des Stammbaumes. Eigenschaften wie behände, beweglich, scherzhaft und musikalisch begabt finden gerade im Thüringischen Ahnenzweig immer wieder Erwähnung.3 Eine besonders enge Verbindung hatte Albert Lortzings Vater zu seinen Geschwistern Johann Friedrich, 1778 geboren, und der einzigen Schwester Johanna Sophie. Bei diesem Onkel Lortzings offenbarte sich zuerst der Theaterenthusiasmus. Er machte die Liebe zum Beruf und verließ 1805 Berlin, um ans Hoftheater nach Weimar zu gehen. Dort ehelichte er 1809 die ebenfalls am Theater tätige Demoiselle Elstermann. Das Ehepaar war vom Geheimrat Goethe als Schauspieler und Johann Friedrich auch als Porträtmaler gern gesehen und geschätzt. Ihre Adoptivtochter Caroline schlug ebenfalls die Laufbahn ihrer Eltern ein und wurde erstes Gretchen im „Faust“ am Weimarer Hoftheater.4 Zu diesem Verwandtschaftszweig hatte Lortzing eine sehr enge Beziehung. Mit seinem Onkel stand er auch in den späteren Jahren in regelmäßiger Korrespondenz. In diesen Briefen kommt auch zum Ausdruck, dass seine Cousine Caroline dem Komponisten besonders am Herzen lag. Er bedenkt sie stets mit lieben Grüßen und auch auf seine Opern wird die muntere Cousine nicht ohne Einfluss bleiben. Sie wird beschrieben als „eine jugendliche Gestalt, [die] ein sprechendes Antlitz, ein feuriges Auge, ein wohlklingendes Organ“5 besitzt. Auf Grund seiner Briefe ist zu vermuten, dass diese Zuneigung in einem Maße erfolgte, das seiner Frau Rosina nicht immer recht war. „Grüße und küße (da meine Frau mir nicht in den Brief schaut) meine kleine Cousine,... ,von mir und sey versichert, daß es mich herzlich freuen wird, Dich und Deine liebe Tochter zu besuchen.“6 Nicht nur als Mensch, sondern auch von ihrem schauspielerischen Talent muss Lortzing von Caroline sehr beeindruckt gewesen sein und sie sehr geschätzt haben. Als er sie in den Notizen zu den Biographien im „Allgemeinen Theaterlexikon“7 nicht findet, ist er sehr verwundert und lässt hoffen, dass die Ergänzung sicher noch nachträglich geschehen sei.8 Die Sorge um Caroline drückt sich in zwei Briefen von Lortzing besonders aus. Als Lortzing von Bekannten erfährt, dass sie 1834 von einem Wagen angefahren wurde, sendet er sofort einen anteilnehmenden Brief9 an seinen Onkel, um sich über dieses tragische Ereignis und die Folgen Gewissheit zu verschaffen. Im zweiten Brief schreibt Lortzing 1849 an seine Frau Rosine, dass es Caroline Röckel auf Grund der politischen Aktivitäten und der damit verbundenen Entlassung ihres Mannes sehr schlecht gehe. „Die Frau soll sehr unglücklich sein. Ich will sie heute früh besuchen.“10 1849 wird August Röckel verurteilt und kommt ins Zuchthaus. Er hinterlässt eine Frau mit 4 Kindern. Lortzing ist über diese Ereignisse sehr bestürzt und berichtet seiner Frau Rosine:
Von Röckels Familie hörte ich dieser Tage Folgendes: auf dem Halli’schen Bahnhofe saß eine Frau mit vier Kindern, beobachtet von den andern reisenden, denen die Traurigkeit und das Zerfallensein auffiel. Man bot der Frau theilnehmend Schutz und Hülfe an, sie lehnte alles dankend ab und auf das Befragen nach ihrem Namen, erwiederte sie, sie wage kaum ihn zu nennen, sie sei die Frau des unglücklichen Röckel und reise jetzt nach Weimar, auf die Hoffnnung hin, daß man sie dort aufnehmen werde. – Schrecklich! schrecklich!11
Sein viertes Kind nennt Lortzing Caroline, auch Linchen genannt, wobei der direkte Bezug zu seiner Cousine hier nicht belegt werden kann. Briefe von Lortzing an Caroline oder weitere aussagekräftige Unterlagen über die Verbindung der genannten Personen gibt es nicht.
Lortzings Beziehung zu anderen Verwandten blieb eher oberflächlich, aber achtungsvoll. Führten ihn Gastspiele nach Berlin, waren die Besuche bei seiner Tante Pflicht. Bei anstehender Krankheit oder sogar Todesfällen scheute er die Kosten der Fahrt nicht und stand den Betroffenen immer anteilnehmend bei.
3.2. Die Beziehung zu seinen Eltern und das soziale Umfeld
Lortzing wurde von seinen Eltern sehr fürsorglich sowie liebevoll aufgezogen und wuchs in einem intakten, harmonischen Familienleben auf, wie die Briefe ab 1826 beweisen.12 Ein Grund hierfür scheint in der Tatsache zu liegen, dass er das einzige Kind in dieser Ehe blieb. Dieser Umstand war zur damaligen Zeit, in der Familien meist sehr kinderreich waren, wie auch später bei Lortzing selbst, eher die Ausnahme. Die allgemein sehr hohe Kindersterblichkeit dieser Zeit steigerte die Fürsorge der Eltern umso mehr, da sie dieses Schicksal bei ihrer ersten Tochter bereits getroffen hatte.
Am 1. November 1826 begann für das junge Ehepaar Albert und Rosine Lortzing das Engagement am Hoftheater in der kleinen Residenzstadt Detmold. Lortzing ist erstmalig von seinen Eltern getrennt und schreibt: „Gott sei Dank, daß die Trennung überstanden ist, ich habe mich sehr davor gefürchtet, und daß wir mit unseren Kindern gesund angekommen sind. Ich küsse euch vielmals. Euer dankbarer Sohn Albert.“13. Die enge Beziehung zu seinen Eltern hatte ihm stets Halt als auch Zuversicht gegeben und seine angeborenen liebenswerten Charaktereigenschaften gestärkt. Sie förderten seine Begabungen und stärkten seine freundliche, offene und optimistische Lebenseinstellung.
Lortzings Mutter Sophie Charlotte Seidel entstammte einer Hugenottenfamilie de la Garde, die von Frankreich nach Preußen emigrierte. Sie wurde von der Kritik als sehr lebensfroh, temperamentvoll, von „gebildeten aufgeweckten Geistes“14, „voll Frische und Lebendigkeit“ und „charmant sanguinisch“15 beschrieben. Sie „spielte im Fache der Soubretten, Französinnen, muntere Rollen im Schauspiel, Lustspiel und Oper und erhielt darin um so mehr Beifall, als ein sehr anziehendes Äußeres sie unterstützte und eine unverwüstliche Munterkeit und Laune ihr inne wohnte, die auf ihre Rollen zurückwirkte.“16 Diese Charakterdarstellung hätte auch ebenso ihren Sohn Albert beschreiben können. Das zeigt, wie ähnlich sich diese beiden Menschen waren. Lortzing äußerte sich 1829 spöttisch über sie: „Deine Moral, liebe Mutter, hinsichtlich des Kontraktbrechens kannst Du mir mündlich noch einmal wiederholen, bey Deiner Zungengeläufigkeit muß sie sehr gewinnen, und wird vielleicht einen tief[en] Eindruck auf mich machen.“17
Lortzings Verhältnis zu seiner Mutter war sehr eng und vertraut. Die Verbundenheit dieser beiden dynamischen, temperamentvollen Charaktere entstand wohl durch eine gleiche Lebenseinstellung und den angeborenen Optimismus. Lortzing tauschte sich nach der Trennung von seinen Eltern in Detmold viel mit ihr über den Theateralltag und seine Sorgen aus. Sie stand ihm immer mit ihrem Rat zur Seite. Lortzing bezeichnete sie als „seine beste alte Freundin“ mit einer „rosafarbenen Laune“18. Als Johann Gottlob verstarb, wurde sie ein ständiges Mitglied Lortzings Familie und half ihnen über schwere Zeiten mit ihrer lebensbejahenden und zuversichtlichen Einstellung hinweg. Als Lortzing 1845 durch seinen Freund Robert Blum von seiner bevorstehenden Entlassung erfährt, reagiert seine Mutter sehr optimistisch. Lortzing berichtet in einem Brief an Philipp Reger in Frankfurt:
„Apropos: meine Mama habe ich neulich über meine zu erwartenden Schicksale aufgeklärt; sie schien weit weniger frappiert als ich erwartete und meynte, man könne nicht wissen, wozu es gut sei.“19
Obwohl Lortzing oft als der Begründer der deutschen Volksoper20 deklariert wird, bleiben seine Wurzeln doch zu einem Teil französisch. Hierin liegt wohl ein Grund, warum Lortzing sieben seiner Opernvorlagen aus dem Französischen bezog. Trotz seines starken nationalen Freiheitsbewusstseins und der Begeisterung für die Befreiung von der napoleonischen Besatzung, wird man in all seinen Briefen nie eine antifranzösische oder fremdenfeindliche Haltung spüren.
Lortzings Vater Johann Gottlob war dagegen eher der bedachte, ruhige Typ. Die Kritik bezeichnete ihn als einen „rechtschaffenden gutmütigen Mann, ganz ruhigen Temperamentes, voll Redlichkeit und Herzensgüte“.21 Sein Ordnungssinn und seine Korrektheit brachten ihm, als er später wegen seines Alters nicht mehr auf der Bühne tätig sein konnte, bei Direktor Ringelhardt die verantwortungsvolle Stelle des Kassenwartes und Buchhalters ein. Lortzings Vater muss über eine gewisse musikalische Begabung verfügt haben, da er viele Jahre Mitglied der Berliner Singakademie und der Berliner Liedertafel war.
Das Ehepaar Lortzing erzog den Sohn Albert stets liebevoll, aber auch mit Disziplin und Anstand. Es sind kaum Dokumente erhalten, außer ein Gedicht, welches der Sohn für seine Eltern zum Neujahrstag verfasste. Dieses kleine Gedicht zeigt schon in Anfängen
Lortzings Begabung zum „Verse schmieden“22. Mit seinen 9 Jahren trat er den Eltern sehr höflich und sittsam gegenüber. Selbst hier zeigte er sich schon besorgt um das Glück und Wohl seiner Eltern, „Ein Leben voll beglückter Tage / sey immer, Theuerste, Ihr Theil / und unbekannt mit Sorg und Klage / folg jedem ihrer schritte Heil!“23, wie er es auch später immer tat „ [...], denn der Gedanke es könne meinen guten Eltern nur im geringsten etwas mangeln, könnte mir dreißigjähr[ig]em Kerle Thränen auspressen.“24 Ein bestimmtes Maß an Sittlichkeit und die Erziehung der Tugenden war im Hause Lortzing Pflicht. Der Anstand wurde gewahrt und auf die Zugehörigkeit zu einer gebildeten sozialen Klasse wurde größten Wert gelegt:
Düringer berichtet von Vater Lortzing, dass die Familie in den ersten Wanderjahren „nicht selten um die Mittagsstunde spazieren ging, ihr Stück Brot im Freien zu verzehren, damit die Hausgenossen glauben sollten, sie seien zum Essen eingeladen oder gingen in eine Restauration ...“.25 Sie waren also streng darauf bedacht, eine bestimmte Klientel darzustellen und nicht als ärmlich zu gelten. Dieses Zur-Schau-Stellen findet man auch später bei Lortzing. In einem schicken neuen Anzug flanierte er auf der Promenade auf und ab, um zu zeigen, wer er ist. Die Realität wurde verdeckt und verheimlicht, man gab sich keine Blöße.
Auch als das unstete Wanderleben der kleinen Familie begann, sah die Realität nicht immer sorgenfrei aus. Der Sohn blieb jedoch von diesen Problemen unberührt. Die trotz der bescheidenen Lebensumstände vorherrschende optimistische Grundhaltung und Lebenseinstellung seiner Eltern machte sich auch der erwachsene Lortzing zu eigen. Er erfuhr eine unbeschwerte und sorglose Kindheit. Die Sehnsucht nach diesem unbekümmerten Dasein verarbeitete Lortzing später in seinen Opern „Zar und Zimmermann“ und „Undine“. Selbst in der eigenen großen Familie ist ihm diese Harmonie wichtig gewesen.
Das gesellschaftliche und soziale Umfeld der Eltern war für Lortzings Entwicklung nicht unwichtig. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts versuchte man, den einengenden Realitäten zu entfliehen und traf sich in Clubs und Vereinigungen zum Austausch. Lortzings Eltern sowie der Onkel Johann Friedrich engagierten sich ebenfalls und traten einem 1790 gegründeten Bildungs- und Lesezirkel bei, in dem man in verteilten Rollen Bühnenstücke las und über aktuelle politische Ereignisse diskutierte. Beliebte Literaten wie Schiller, Lessing, Goethe, Iffland und Kotzebue wurden rezitiert. Im August 1792 organisierte dieser Verein seine erste öffentliche Aufführung mit dem Stück „Menschenhaß und Reue“ von Kotzebue. Diese Vorstellung fand so viel Anklang beim Publikum, dass man sich entschloss, eine Laienbühne zu gründen – die Urania. Zu dem anfänglich gebildeten Lesezirkel gehörten hauptsächlich junge Leute aus dem Mittelstand mit fortschrittlicher Gesinnung. Der Urania schlossen sich immer mehr Mitglieder an, theatralische Begabung war Vorraussetzung, so dass eine Klientel entstand, bestehend aus kleinen Handwerkern und Ladenbesitzern – „bildungshungrige Leute der verschiedensten Bevölkerungsschichten und Berufe“26. Lortzings Eltern engagierten sich zunehmend für das Theatergeschäft, um so ihren politischen Interessen Ausdruck zu verleihen. Hier konnten sie mit Gleichgesinnten ungehindert ihren patriotischen, nationalen Freiheitsgedanken Ausdruck geben. Dieses freiheitliche Gedankengut und die aufklärerischen Ideen von Lortzings Eltern und ihren Freunden prägten auch seine Einstellungen. Immerhin diente ihm ein Schauspiel des beliebten Kotzebue später als Opernvorlage - der „Wildschütz“ .
Die Urania-Verbindung spielte hauptsächlich Possen und Lustspiele, da sie die einzige Möglichkeit boten, unter dem Schutzmantel der Komik und des Spottes Kritik zu üben, ohne der Zensur zu unterliegen. Geprägt durch diese Aufführungen, das Milieu der gesellschaftlichen Schicht in der Urania und die Anschauungen seiner Eltern entstanden Lortzings Hoffnungen auf eine aufgeklärte Obrigkeit, die gerecht, verständnisvoll und dem Volke zum Wohl regiert, wie er es in der Oper „Zar und Zimmermann“ proklamiert.
In der Urania lernten sich auch die Eltern Lortzings kennen. Im ersten gemeinsamen Lustspiel „Liebhaber und Nebenbuhler in einer Person“ von Friedrich Wilhelm Ziegler spielte Johann Gottlob den Grafen Liebenau, Sophie Charlotte Seidel spielte Marie und Johann Friedrich den Knappen Georg. Heute ist dieses Stück bekannter durch die Verarbeitung zu einer Oper von Albert Lortzing mit dem Titel „Der Waffenschmied“. Wie sehr die Familie im Leben und auf der Bühne harmonierte, beweist die Tatsache, dass Stücke, in denen alle drei und später, mit Rosina Regina, vier Personen mitwirkten, besonders beliebt beim Publikum waren. Beispielhaft wäre hierfür das Vier-Personen- Stück „Die Komödie aus dem Stegreif“, das Lortzing in seinen letzten Lebensjahren vertonte („Die Opernprobe oder Die vornehmen Dilletanten“).
3.3. Bildung (allgemein und musikalisch)
Über Lortzings Bildung liegen keine aussagekräftigen Dokumente oder Belege vor, die genau darüber Aufschluss geben, ob er eine Lehranstalt besucht hat. Bis zu seinem 11. Lebensjahr lebten die Lortzings in Berlin. Danach befanden sie sich stets auf Wanderschaft und zogen von Ort zu Ort. Sie hatten daher nicht die Möglichkeit, ihrem Sohn eine regelmäßige schulische Erziehung in einer Institution zu ermöglichen.
Johann Gottlob und Sophie Charlotte waren stets um eine gute Ausbildung ihres Sohnes bemüht. Trotz ihres geringen Einkommens erkannten sie als gesellschaftlich und politisch interessierte sowie fortschrittlich denkende Menschen die Wichtigkeit eines soliden Bildungsstandes und den nur damit möglichen gesellschaftlichen Aufstieg. Sie waren bestrebt, Albert Lortzing die nötigen Voraussetzungen zu geben, die ihm ein erfüllteres und finanziell unbeschwerteres Leben ermöglichen sollten, als sie es selbst führten.
Wie der Unterricht in den allgemeinen Wissenschaften erfolgte, ist nicht nachzuvollziehen. Belegt ist, dass Lortzing in späteren Jahren mehrere Sprachen konnte: Französisch, Italienisch und Latein.27 Erstere hatte mit den Ursprüngen und Wurzeln seiner Mutter zu tun. Auch in den Wanderjahren scheuten die Eltern keine Kosten und Mühen, ihrem einzigen Sohn Albert trotz der schwierigen Bedingungen eine Ausbildung zu bieten. Dies war bei wandernden Schauspielern meist nicht möglich.28 Kruse schreibt in seiner Lortzing Biographie über dessen Ehrgeiz: „Auch in den Wanderjahren unterließen die Eltern nicht, des Sohnes weitere Bildung zu vervollkommnen, und dieser selbst war mit Fleiß und Eifer daran bemüht“.29 Ein Nachweis für das Bemühen der Eltern um eine Förderung des musikalischen Talentes sowie um Unterricht in den allgemeinen Wissenschaften wird in einem erhaltenen Brief des Vaters an den Karlsruher Großherzog von Baden 1815 deutlich:
Ew. Exzellenz gütiges Wohlwollen gegen meinen Knaben durch Gewährung der ihm zugestandenen Gastrollen, macht es mir zur Pflicht, mich bei Ew. Exzellenz zu bedanken ... Es wäre allerdings mein sehnlichster Wunsch, ein Engagement bei dem Gros=Herzogl=Hof=Theater zu erhalten, um für meinen Knaben, zur Ausbildung seines Talents sowohl in Theatralischer Hinsicht, als für die Wissenschaft mehr zu wirken30
Die musikalische Begabung des jungen Lortzing trat sehr bald zutage und die Eltern strebten danach, diese zu fördern. Bis 1811 in Berlin erhielt Lortzing regelmäßig Unterricht in musikalischen Fächern. Bei Johann Heinrich Griebel erhielt er Klavierunterricht und bei einem Freund des Vaters, Karl Friedrich Rungenhagen, späterer Leiter der Berliner Singakademie, Unterricht in Musiktheorie und Komposition. In Lortzings Nachlass fand man eine Ausgabe von Johann Georg Albrechtsberger „Die Methode des Generalbasses“, welche Lortzing studiert hatte. Des Weiteren beherrschte Lortzing das Spiel des Pianos, der Violine und des Cellos. Aus Coburg ist bekannt, dass er auch das eine oder andere mal im Orchester aushalf. Das Cello lag ihm besonders am Herzen. Den warmen Klang dieses Instrumentes setzte Lortzing in seinen Opern in rührenden, emotionalen und ausschlaggebenden Momenten ein.
Während der Wanderjahre verdiente Lortzing ein kleines Zubrot durch das Kopieren von Noten. Hierbei konnte er Kenntnisse in Orchestrierung, Phrasierungen und Instrumentierung erwerben. Das meiste Wissen hat sich Lortzing selbst beigebracht und erarbeitet. Er studierte aus eigenem Drang und ohne Lehrer besonders Werke seiner Vorbilder Haydn, Mozart und Beethoven. Sein ganzes Leben sammelte er mit enormer Begeisterung Noten-Konvolute, die er eingehend studierte. Als er von seinen Eltern solche zum Geburtstag geschenkt bekam, war seine Freude über alle Maßen. In seinem Dankesbrief heißt es: „Wie soll ich mich ausquetschen, um den Dank auszudrücken, den das diesmalige Geburtstagspräsent erheischt; meine Freude darüber war grenzenlos, und die schönsten Stoffe wären mir nicht so viel Werth gewesen, wie dieses höchst edle Geschenk;“31
Von ganz besonderer Wichtigkeit ist jedoch das Lernen an der Quelle, in der Praxis. Die Erfahrungen, die Lortzing schon in der Urania sammeln konnte, waren für sein Wirken immer von ausschlaggebender Relevanz. „Die Schule ist der Theaterbetrieb“.32 Er schrieb für das Publikum und zur Unterhaltung. Er wollte mit seinen Werken erfreuen und die Möglichkeit einer Aufführung so praktikabel wie möglich gestalten. Das Handwerkszeug hierfür erlernte er auf der Bühne. Da man zur damaligen Zeit als Schauspieler ebenfalls in Opern tätig war, konnte Lortzing hier auch sein Repertoire im Fach der Oper erweitern.
„Am Ende hat er fast zweihundert Opernrollen im Kopf, ist er in mehr als vierhundert Schauspielrollen aufgetreten.“33
Demzufolge kann man zusammenfassend feststellen, dass Albert Lortzing ein Großteil seines Könnens in eigener Arbeit erworben hat. Er ist durch und durch Autodidakt. Auch wenn dieser Umstand in der Retrospektive bewundernswert erscheint, so wurde er Lortzing selbst zum Verhängnis. „Als Komiker, als Autodidakt, als vermeintlich Ungebildeter“34 wird er lebenslang verkannt und nicht genügend gewürdigt.
3.4. Das politische Geschehen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Lortzing wurde zu einer Zeit geboren, in der Napoleon seine Eroberungszüge durchführte und Europa eine neue Konstellation erfuhr. Um 1800 bestand das Heilige Römische Reich Deutscher Nation aus 250 Fürstentümern, von denen das österreichische Haus Habsburg und Preußen die größten und einflussreichsten darstellten. Um das politische Umfeld Lortzings zu skizzieren, muss historisch etwas genauer betrachtet werden. Von 1740 bis 1786 regierte in Preußen Friedrich II., welcher auf der Basis seines Vaters in vielen kriegerischen Auseinandersetzungen Preußen territorial erweiterte und zu einer europäischen Großmacht ausbaute. Friedrich II. förderte die Kunst und die Wissenschaften und regierte im Sinne der Aufklärung, d.h., er sah sich als „den ersten ‚Diener’ des Staates“35. Im merkantilistischen Sinne organisierte er ein modernes Wirtschaftssystem und eine strenge Steuerpolitik. Zur Finanzierung des Adels und des starken Heeres wurden besonders die Bauern und Bürger steuerlich belastet. Dem bürgerlichen Stand wurde zwar die Möglichkeit der Selbstbestimmung im Arbeitsbereich eingeräumt, er erhielt jedoch keinerlei politischen Einfluss.
Im Zuge der Aufklärung und des sozialen Wandels begann sich eine neue bürgerliche Kultur herauszubilden. Das Bildungsbürgertum erstarkte neben dem Besitzbürgertum und setzte sich mit den rationalistischen Ideen auseinander. Besonders Kaufleute und Bürger informierten sich über Zeitschriften und engagierten sich in Vereinen und Clubs, so dass eine Gesellschaft entstand, die sehr öffentlichkeitsbezogen war. Das aufklärerische Gedankengut von Kant wurde über Zeitschriften verbreitet. Das Wissen wurde in Lexika und Enzyklopädien organisiert. Es entwickelten sich eine deutsche Nationalliteratur und Bibliotheken, deutsche National- und Musiktheater wurden gegründet.36 Die Ideen der französischen Revolution wurden von den bürgerlichen Intellektuellen, wie Schiller, Wieland, Klopstock, Fichte, Hegel und Kant, begeistert aufgenommen.
Lortzing wurde in eine Zeit geboren, die erfüllt war von Enthusiasmus, Umbruch, bürgerlichen Aufschwung und Aufklärung. Die Selbstbestimmung des Individuums und seine eigene Mündigkeit standen im Mittelpunkt der geistigen Diskussionen. Das Bürgertum entwickelte ein neues Bewusstsein in geistiger aber auch in politischer Hinsicht. Zu dieser aufgeklärten Schicht gehörten auch seine Eltern in der Urania- Vereinigung, so dass der Einfluss auf Lortzings spätere Lebensanschauungen und Ideale für ein so aufgewecktes und lebhaftes Kind ausschlaggebend sein musste.
1804 ernannte Napoleon sich zum Kaiser und eroberte Europa. 1806 annektierte er das linke Rheinufer, wo sich die Fürsten unter dem Protektorat Napoleons zum Rheinbund zusammenschlossen. Damit fasste er die Vielzahl von Fürstentümern erstmalig zu einem überschaubaren Maß zusammen und beendete die Existenz des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.
1806 unterlag das preußische Heer in der Schlacht bei Jena und Auerstedt Napoleon und 1807 folgte der „Friede von Tilsit“. Napoleon annektierte Teile Deutschlands und zog in Preußen ein. Diese wirtschaftliche und politische Katastrophe machte die Instabilität des absolutistischen Staates deutlich.
Die Euphorie des Bürgertums wich bald der Enttäuschung. Die Besatzung Napoleons war mit erheblichen wirtschaftlichen Belastungen, besonders für die kleinen Leute verbunden und weckte in den Menschen ein starkes Nationalbewusstsein und einen freiheitlich- oppositionellen Geist. Diese neuen Regungen waren mit dem Ruf nach Selbstbestimmung und Volkssouveränität verbunden. Die erhofften Freiheiten und Neuerungen, die man sich durch Napoleon versprach, traten nicht ein. Es kam zu Erhebungen und Kämpfen gegen die französischen Eroberer, welche auch in den Kreisen der Familie Lortzing und der fortschrittlichen Urania nicht unreflektiert blieben. Der patriotische Geist Lortzings hat hier seine Wurzeln. Wie sehr er von diesem Nationalbewusstsein und den Freiheitsbewegungen begeistert war, zeigen seine ersten Opern „Ali Pascha“ und „Andreas Hofer“.
Da die Ideale der Aufklärung und der französischen Revolution jedoch nicht in der politischen Ordnung, sondern nur auf der gesellschaftlichen und kulturellen Ebene umgesetzt wurden und sich nationale oppositionelle Bewegungen stark machten, musste die Obrigkeit reagieren, um revolutionäre Auswirkungen ähnlich wie in Frankreich zu vermeiden. Hinzu kam die Tatsache, dass Preußen die Kriegsentschädigungen und Belastungen nicht aufbringen konnte.
Diese Aspekte machten Reformen von oben notwendig, welche von Karl Reichsherr vom und zum Stein und Karl August von Hardenberg eingeleitet und durchgeführt wurden. Hierzu gehörten die Abschaffung der Leibeigenschaft im Oktober-Edikt, Verwaltungsreformen und eine Heeresreform. Wilhelm von Humboldt gestaltete das Bildungssystem grundlegend neu, indem er das Abitur und das Staatsexamen für Gymnasiallehrer einführte. Er gründete die Berliner Universität und förderte die humanistischen Gymnasien. Diese Bildungsreform war an die Ideen der Aufklärung und besonders an den Theologen und Philosophen Schleiermacher angelehnt. Sie zielte auf eine freie Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen.37 Dieser hohe Stellenwert der Bildung ist auch in Lortzings Erziehung durch seine Eltern zu spüren.
Vom 16. bis 19. Oktober 1813 wurde Napoleon endgültig von Russland und Preußen in der Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen. Um die alten politischen Verhältnisse wieder herzustellen, wurde unter dem österreichischen Fürsten Metternich im September 1814 der Wiener Kongress eröffnet, an dem ca. 200 Abgeordnete aller europäischen Mächte teilnahmen. Es entstand die „Heilige Allianz“, ein Bündnis der feudalen Mächte Russland, Österreich und Preußen. Nach diesem Kongress musste Preußen zahlreiche westliche Gebiete abtreten und es entstand der Deutsche Bund aus 39 selbständigen Einzelstaaten. Die Heilige Allianz hatte als Ziel, restaurativ zu wirken und sämtliche aufgekommenen nationalen und demokratischen Gedanken im Keim zu ersticken.
In diesem Konglomerat aus Freiheitsbewusstsein, Patriotismus und Nationalismus gründeten sich 1815 unter den Studenten die sogenannten „Burschenschaften“, die eine radikalere Variante dieser Ideen darstellten. 1817 kam es in Eisenach zum „Wartburgfest“, einer Bücherverbrennung. Neben dem „Code Civil“ wurde auch die „Geschichte des deutschen Reiches“ von Kotzebue verbrannt, welcher an der radikalen und antisemitischen Haltung der studentischen Bewegungen häufig Kritik geübt hatte. Durch mordlustige Parolen wie „Das Freiheitsmesser gezückt! Hurra! Den Dolch durch die Kehle gedrückt!“38 angestachelt, ermordete im März 1819 der Theologiestudent Karl Ludwig Sand den beliebtesten Dichter dieser Zeit: August von Kotzebue. Diese Tat gab den Fürsten einen Anlass, die auferlegten Zwänge und die Überwachung schriftlich zu fixieren und endgültig das Zeitalter der Demagogenverfolgung einzuleiten. Im August 1819 initiierte Metternich die Karlsbader Beschlüsse. Sämtliche Reformen wurden gestoppt, die Pressefreiheit wurde abgeschafft, die Theater der Zensur unterworfen. Verdächtige konnten bespitzelt und Bürger mit patriotischer Haltung verhaftet werden. So sollten alle möglichen Erhebungen und das fortschrittliche Gedankengut in ihren Wurzeln aufgespürt und vernichtet werden.
Hier wurde nun der Grundstock für die folgenden Jahre der Zensur und Bespitzelung gelegt, die Lortzing zeitlebens beeinflussen und behindern werden. Die nun kommende Zeit bis 1848 wird bestimmt durch die Kunst und speziell die Komödie als Deckmantel für
Proteste sowie den Rückzug in die heimische Idylle und Harmonie. Die Theater wurden zunehmend Podien politischer Kritik, Aspekte, die Lortzings Biographie an fast allen Zeitpunkten durchziehen. Später wird dieser Abschnitt des Vormärz, gemeint ist die Zeit zwischen Wiener Kongress und Revolution von 1848, als Biedermeier zusammengefasst.
3.5. Wanderjahre
Im Jahre 1811 gingen unter der Kontinentalsperre Napoleons immer mehr Geschäfte bankrott. Auch das Lederwarengeschäft des Vaters Johann Gottlob Lortzing musste aufgegeben werden. Da die Eltern das Geschäft wohl nur halbherzig führten, nutzten sie nun diesen Umstand, um sich einen Lebenstraum zu erfüllen. Sie wurden Berufsschauspieler. Von nun an begann ein unstetes Wanderleben, da ein Engagement in der Preußenstadt Berlin für unbekannte Schauspieler unmöglich war. Die erste Station sollte Breslau sein. Hier gab Johann Gottlob im Januar 1812 seine Debutvorstellung in dem Lustspiel von Kotzebue „Der häusliche Zwist“. Schon im Juli 1812 reisten die Lortzings nach Coburg ins heutige Bayern. Aus dieser Zeit sind die ersten Kinderrollen, in denen Lortzing auftrat, überliefert.39 Er lernte hier seinen langjährigen Freund Philipp Düringer kennen. 1813 ging die Familie nach Bamberg und wurde von Carl August von Lichtenstein unter Vertrag genommen. Sie folgten ihm im Sommer 1814 nach Straßburg. Dort entstand dessen Oper „Frauenwerth oder Der Kaiser als Zimmermann“. Durch die enge Beziehung zwischen der Familie Lortzing und von Lichtenstein ist anzunehmen, dass Lortzing hier den ersten Kontakt mit dem Stoff um Peter I hatte. Er sollte die bis heute berühmteste
Vertonung dieser überlieferten Geschichte 1837 schreiben, seine Oper „Zar und Zimmermann“. 1814 zog die Familie zur nächsten Truppe nach Freiburg im Breisgau. Sie lebten in ärmlichen Verhältnissen, doch man wahrte den Anstand und das Ansehen. Aus dieser Zeit ist bekannt, dass Lortzing in den Zwischenakten Gedichte von Gellert und Pfeffel vortrug, um ein Minimum zum Lebensunterhalt beizusteuern.
1815 wurden die Lortzings beim ABC-Theater in Aachen, Barmen, Köln und Eberfeld als Schauspieler und Sänger von Joseph Derossi engagiert. Unter Derossi fand Lortzing einen Theaterleiter, der ihm in vielerlei Hinsicht entgegen kam. Derossi war ein begeisterter Opern-Liebhaber, im Besonderen für Mozart und Haydn und brachte Werke derselben mit seiner Theatertruppe zur Aufführung. Damit bot er Albert Lortzing eine gute Gelegenheit, diese Opern auf der Bühne zu erleben. Des Weiteren stammte Derossi aus dem Südtirol und hatte dort mit Andreas Hofer gegen die französische Besatzung gekämpft. Dieser
Umstand musste auf Lortzings Enthusiasmus, sein Temperament und dem damit verbundenen Nationalpatriotismus beflügelnd gewirkt haben, wie die gleichnamige Oper „Andreas Hofer“ beweist. In Aachen lernte Lortzing zwei wichtige Persönlichkeiten kennen, Friedrich Sebald Ringelhardt, unter dessen Direktion Lortzing viele Jahre tätig war, und Philipp Reger, mit dem ihn eine sehr enge Freundschaft verband.
Ab seinem 17. Lebensjahr wurde Lortzing ein aktives Mitglied der Theatergesellschaft. Er spielte in Erwachsenenrollen als jungendlicher Bonviviant, Naturbursche und Tenor-Buffo. Die erste Rolle, die ihm Derossi gab, war die des Stüssi im „Wilhelm Tell“, die in manchen Aspekten seinen eigenen Charakterzügen entsprach. Dieser Flurschütz ist naiv, plappernd, frohen Mutes und von freundlichem Wesen.40 In den kommenden Jahren avancierte der junge Schauspieler Lortzing zum Publikumsliebling. Rheinische Rezensenten bezeichneten ihn als „einen Zierbengel, Liebling der Damen“41. Förderlich und ausschlaggebend für seine Erfolge war neben seinem freundlichen, lebendigen, humorvollen und charmanten Auftreten auch sein hübsches Äußeres. Die erhaltenen Bilder zeigen eine schlanke Figur, große braune Augen und volles lockiges Haar. Lortzing musste damit den Damen im Publikum auffallen und gefallen. Düringer schreibt über diese Aspekte: „ ... seine hübschen dunklen Augen waren von gutmütigem, schelmischen Ausdruck, heiter lebendig; seine ganze Erscheinung, sein ganzes Wesen voll Frohsinn und Laune, gewandt und gefällig, so auf der Bühne wie im Leben.“42 Ein Musiklehrer berichtete von seiner Großmutter, der Tochter Philipp Regers, eine recht umfangreiche Beschreibung des Schauspielers:
Schon seine Großmutter hätte ihm als alte Frau gestanden, wie in ihrem Frankfurter Elternhaus alle Mädchen für einen Publikumsliebling geschwärmt hätten, für einen Theater-Akrobaten, für einen eleganten Kerl mit dunklen Locken, dunklen Augen und magischen Augenbrauenbögen, dieser Schöne, so hätte die Großmutter erzählt, habe sich ulkig bewegt und gesungen, in fast allen Stimmlagen, auch jodeln und trompeten hätte er können, elefantös trompeten, so hätte er das genannt, hätte grotesk getanzt und plötzlich mit dem Baß des gestrengen Vaters geredet, dann mit der Piepsstimme der gottesfürchterlichen Großtante oder wie ein kollernder Truthahn und, wenn die Mädchen zu wild lachten, mit feierlichem Priesterlatein.43
Mit diesem Zuspruch aus dem Publikum und dem Erfolg wurde in Lortzing auch eine gewisse Lust geweckt, ein Zwang nach Beliebtheit. Er strebte sein Leben lang, erst als Schauspieler sowie später als Komponist und Musiker, nach Anerkennung und Beifall. Die Resonanz aus der Masse stärkten sein Selbstbewusstsein und seine Schaffenskraft. Immer wieder wurde er so zu neuen Kompositionen angeregt und schrieb unermüdlich ein
Opus nach dem anderen. Wie sehr er der Akklamation aus seiner Umwelt bedurfte, beweisen seine Lebensjahre und sein Schaffen in Wien.
1818 lernte Lortzing in der Theatertruppe Derossis seine zukünftige Lebensgefährtin Rosina Regina Ahles kennen. Am 30. Januar 1824 schlossen sie den Bund der Ehe. Rosine war mittellos und wuchs in der Nähe von Stuttgart als Waise auf. Ihr Vater war als Gärtner und Totengräber tätig und verstarb, als seine Tochter gerade erst 4 Jahre alt war. Es verbanden sich in dieser Beziehung also die Nachkommen von Totengräber und Scharfrichter, zwei wenig anerkannte Berufe. Rosine lebte ein Leben lang an Lortzings Seite und unterstützte ihn in all seinen Vorhaben. In den Briefen fällt nie ein kritisches Wort oder eine Äußerung über Streitigkeiten in der Ehe. Diese Verbindung schien immer harmonisch und liebevoll zu sein. Regina war als Schauspielerin beim Publikum beliebt und wurde in den Rezensionen als eine sanfte Erscheinung gelobt, die „die Herzen der zahlreichen Zuschauer bewegt“44. Sie trat in den Rollen der Emilia Galotti von Lessing und in Kleists „Käthchen von Heilbronn“ auf. Erst in Leipzig gab sie wegen der wachsenden Familie ihren Beruf auf.
1823-26 wurde die Familie Lortzing von Ringelhardt in Köln engagiert. Rosina Regina blieb vorerst bei Derossis Truppe. Ringelhardt war ein sehr fortschrittlicher und zudem noch sehr ökonomisch denkender Direktor. Albert Lortzing und später auch seine Eltern spielten in Leipzig viele Jahre unter seiner Leitung. Das von Ringelhardt zusammengestellte Repertoire war politisch aktuell, kalkuliert und sprach die Bedürfnisse des Publikums an. Damit sorgte er immer für ein volles Haus und hatte gute Einnahmen. Nachdem er 1844 in Leipzig entlassen wurde, hatte er genügend Geld beiseite gelegt, um finanziell unabhängig und abgesichert zu sein. Er wurde ein wichtiger Förderer Lortzings.
Die Strapazen des Wanderlebens, die Lortzing schon in diesen Jugendjahren kennen gelernt hatte, wurden ihm im Laufe seines Lebens finanziell wie auch emotional mehr und mehr zur Belastung. Deshalb bemühte er sich in zahlreichen Anschreiben und Bewerbungen um ein festes und sicheres Engagement.
3.6. Musikalische Entwicklung
Aus Lortzings autobiographischer Skizze ist bekannt, dass er in den ersten Jahren, in denen er musikalischen Unterricht erhielt, einige kleine Stücke komponierte. „Schon als Knabe hatte ich viel Liebe zur Musik und komponierte [...] Sonaten, Tänze, Märsche etc.“45 Des
Weiteren erwähnte Lortzing in dieser Skizze seine erste öffentliche Aufführung mit einem Chor und Tanz zu Kotzbues „Schutzgeist“ (LoWV3)46, im Werkeverzeichnis datiert auf 1816/1817. LoWV 2 ist eine Vertonung der „Bürgschaft“ von Schiller, die er als Knabe geschrieben hatte. Die Tatsache, dass er einen Text Schillers vertonte, welcher als Dichter sehr beliebt war, zeigt den Einfluss, den das Umfeld und die sozialen Kontakte der Urania auf den jungen Lortzing hatten. Die erwähnten Kompositionen sind jedoch nicht erhalten und gelten als verschollen.
In der Zeit, als Lortzing Rosina Regina Ahles zum ersten Mal begegnete, schrieb er sein längstes Orchesterwerk: Thema mit Variationen für Horn und Orchester (LoWV 4), komponiert am 9. Oktober 1820. Lortzing entspricht hier einer Modeerscheinung, denn das Klappenhorn war auf Grund seines warmen Klanges als Soloinstrument sehr beliebt.47 In diesem Orchesterstück beweist Lortzing schon in frühen Jahren typische Merkmale seines musikalischen Könnens. Auffällig ist der Einfluss seiner Persönlichkeit auf seine kompositorischen Arbeiten. Diese stellt sich vorrangig als Summe aktuell politischer Ereignisse und tiefgehender Emotionen dar. Zu dieser Zeit war es das Gefühl der jugendlichen Liebe. Dies wirkt sich nicht nur auf sein momentanes Schaffen aus, sondern auch richtungsweisend auf alle seine späteren Opern.
Durch die neuen Gefühle und die Zuneigung zu Rosina Regina wurde er zu diesen Variationen inspiriert und motiviert. Der emotionale Mensch Lortzing schrieb ein gefühlvolles und sentimentales Orchesterstück mit schwärmerischen, sehnsuchtsvollen Wendungen.48 Nach der Einleitung ertönt das Posthorn, ein Signal, welches aus Lortzings persönlichstem Umfeld stammte und ihm durch das ständige Reisen mit der Postkutsche wohl vertraut war.49 In der 2. Variation offenbart sich sein scherzhafter und lebenslustiger Charakter, voll Enthusiasmus und Lebhaftigkeit im Allegro.
Kompositorisch folgten einige kleinere Stücke, Lieder, Neuvertonungen und eine Hymne, bis sich Lortzing 1823 an seine erste Oper wagte: „Ali Pascha non Janina“ (LoWV 9). Diese Rettungsoper ist Lortzings Erstling. In der Sekundärliteratur wird nicht mit Kritik gespart. Auch wenn diese Oper künstlerisch und musikalisch nicht zu den ausgefeilten und gehaltvollen zählt, so weist sie doch wichtige Merkmale des musikalischen Stils Lortzings auf. Der Befreiungskampf der Griechen von den türkischen Eroberern hatte Lortzing sehr bewegt und ihm Anlass zu „Ali Pascha“ geboten. Lortzing reflektierte schon in diesem frühen Werk seine nationale patriotische Gesinnung, die kennzeichnend für sein gesamtes Wirken ist. Charakteristische Merkmale, die man auch in seinen späteren Opern findet, sind die Darstellung in musikalischen Situationen, Parlandostellen sowie die Verwendung von Alltagsvokabeln. Das Libretto schrieb er selbst. Lortzing beweist seine große Begabung als Melodiker. Besonders in der Partie des Ali demonstriert er, dass er die Arienstilmittel der großen Opern schon als 20-Jähriger beherrschte und ließ den brillanten Musikdramatiker, der in ihm steckte, in Ansätzen durchblicken. Ähnlichkeiten zu Mozarts
„Entführung aus dem Serail“ sind schon allein in den handelnden Personen unverkennbar und beweisen die Bewunderung gegenüber seinem großen Vorbild. Heutzutage mag einem diese offensichtliche Parallele kopierend vorkommen, zur damaligen Zeit war das Parodieverfahren jedoch Gang und Gebe und bezeugte eine gewisse Hochachtung und Ehrung. Die Oper „Ali Pascha von Janina“ wurde von Direktor Ringelhardt nicht gespielt, was durch die drohende Zensur zu erklären ist. Erst 1828 wird diese Oper in Münster an der Detmolder Hoftheatergesellschaft zur Uraufführung gebracht.50
4. Die Detmolder Zeit
Aus der Detmolder Zeit stammen die ersten Briefe Lortzings, die größtenteils an seine Eltern gerichtet sind. Oft schreibt er an seine Mutter und lässt den Vater lieb grüßen. Die Inhalte berichten hauptsächlich über Belange der Familie, unterhaltsame Neuigkeiten aus dem Theateralltag oder über die Wirkung und Intention von Geburtstagsgeschenken. Es werden Ereignisse aus Lortzings engsten kleinbürgerlichen Umkreis beschrieben. Diese Zeugnisse bieten einen eindrucksvollen Beitrag zur „Genügsamkeit in der bürgerlichen
Kultur des Biedermeier“.1 Auffällig sind die Umgangssprache und die Alltagsfloskeln, welche auch für Lortzings Libretti typisch sind.
4. 1. Politisches und gesellschaftliches Umfeld in der kleinen Residenzstadt
Das Fürstentum Detmold zählte zum Rheinbund, welcher zum hegemonialen System gehörte, mit dem Napoleon seine Herrschaft in Europa etablierte.2 Die Rheinbundstaaten werden in drei Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe waren die Modellstaaten, die von Verwandten Napoleons regiert wurden, die zweite Gruppe waren die süddeutschen Mittelstaaten, welche zu den Verbündeten Napoleons gehörten und von diesem unterstützt wurden. Lippe-Detmold zählte zur dritten Gruppe, die sich 1806 durch so genannte Akzessionsverträge dem Bund anschlossen. In diesen Staaten blieb das alte System der Stände weitestgehend erhalten.3
Fürst Leopold II. zur Lippe regierte in Detmold von 1820-1851. Er war den Künsten sehr zugewandt und unterstützte diese finanziell. 1825 ließ er ein Fürstliches Schauspielhaus in Detmold neu errichten, welches von Direktor Pichler geleitet wurde. Neben dem Theater unterhielt der Fürst eine Hofkapelle, der später Johannes Brahms vorstand. Pichler engagierte 1826 für die fürstliche Theatergesellschaft das junge Lortzingehepaar. Rosine schrieb am 26.11.1826 an ihre Schwester: „Der Fürst von Detmold und seine Gemahlin sind außerordentlich fürs Theater eingenommen u. es wird mit der Zeit wohl hier ein Hoftheater werden, obwohl jetzt schon der Fürst alle Ausgaben bestreitet …“4. Bei dem Bau des Theaters hatte der Fürst nicht gespart, so dass Lortzing und seine Frau in ihren Erwartungen nicht enttäuscht wurden. Sie äußerten sich sehr positiv über die neuen
Begebenheiten ihres Engagements. Das neue Haus war ausgestattet mit viel „Maschinerie“ und einer „Menge Versenkungen“5. In dem oben zitierten Brief erwähnte Rosina weiterhin, dass für das neue Theater ein Theatermeister lebenslang engagiert wurde.
Da das Theater von dem Fürsten finanziell getragen wurde, richtete sich auch das Repertoire nach dessen Wünschen. Als z.B. ein Kind des Fürsten erkrankte, wurden nur noch Trauerspiele gegeben. Lortzing schrieb darüber:
Für den Augenblick geben wir ein Trauerspiel hinter dem andern. Die jüngste Durchlaucht, ein Kind von sieben Monaten, ist nämlich etwas bedenklich krank, weshalb der Hof das Theater während dieser Zeit nicht besucht und uns deshalb erlaubt ist, Trauerspiele zu geben, ...6
Der Fürst selbst zeigte sich eher selten und auch Lortzing kannte ihn nicht persönlich. Er schrieb in seinem ersten Brief aus Detmold an die Eltern: „Se: Durchlaucht ist mir vor der Stadt begegnet ein hübscher Mann aber sehr menschenscheu.“7 Lortzing wusste den Vorteil eines adligen Mäzens zu schätzen und äußerte in keinem der Briefe Kritik oder Missbilligung. Ganz im Gegenteil wurde der Fürst immer wohlwollend erwähnt: „… wenn der Fürst nicht wäre, dem Alles sehr gefällt und für den wir auch eigentlich nur spielen,…“8. Im Dezember 1830 wurde „Die Jagd“ von Hiller von Lortzing bearbeitet, neu instrumentiert und in Detmold aufgeführt. Lortzing hatte für diesen Anlass die Rolle des Königs in die eines Fürsten umgewandelt. Er huldigte in diesem Stück den durchlauchtigsten Fürsten über alle Maßen. Auch das Detmolder Publikum und die Bürger der Stadt waren der Lippischen Durchlaucht sehr wohlgesonnen.
Das Leben in Detmold war aus finanzieller Sicht für die Familie sehr angenehm und allen Mitgliedern ging es gut. Existenzsorgen belasteten sie nicht. Das Einkommen war durch den Fürsten abgesichert, der durch seine Liebe zur Kunst die Künstler besser besoldete als die Hofbeamten.9 „Ich habe jezt eine passable Portion …“10 Durch Gastspiele wurde der Haushaltsetat regelmäßig aufgebessert. Als die Kinderschar wuchs, konnte Lortzing auch eine größere Wohnung bezahlen. Erst in Leipzig erkannte er, welche Vorteile sich mit dem Fürstenpaar verbanden: „ ... , jetzt fühle ich erst wie Werth sie mir sind, deshalb prangen sie unter Glas und Rahmen überm Kanapee in meinem visiten-Zimmer.“11.
In Deutschland kam es 1830, durch die Unruhen in Frankreich angeregt, zur Julirevolution. Es machten sich nationale Bestrebungen und liberale Gesinnungen breit. Auch in anderen europäischen Ländern kam es zu Aufständen. Unter anderem entstand in Deutschland eine starke Völkerverbundenheit mit dem besiegten polnischen Volk. Große Völkerströme der Polen mussten nach Westen flüchten und wurden dort mit offenen Armen empfangen. Die Obrigkeiten unter Metternich sahen kritisch auf diese revolutionären Aktivitäten der unteren bürgerlichen Schichten und das auflodernde Nationalbewusstsein. Lortzing selbst wurde in Detmold zwar nicht mit diesen Problemen konfrontiert, doch gingen sie nicht spurlos an ihm vorbei. Er verarbeitete seine Sichtweise in den Vaudevilles dieser Zeit.
4.2. Vom Sohn zum Familienvater
Lortzing war nun zum ersten Mal von seinen Eltern über längere Zeit getrennt und hatte eine eigene Familie zu versorgen. Diese wurde mit der Zeit immer größer. Auf die Reise wurde die zweitgeborene Tochter Charlotte Albertina Rosina mitgenommen. Am 9. März 1827 wurde Tochter Caroline Rosalie geboren. In den folgenden Jahren in der Residenzstadt Detmold brachte Rosina Lortzing zehn Kinder zur Welt (davon zweimal Zwillinge), von denen fünf zu Lebzeiten des Komponisten schon verstarben. Diese große Familie musste versorgt werden und stellte einen wichtigen, wenn nicht sogar den wichtigsten Teil in Lortzings Leben dar.
Nach der beschwerlichen Fahrt von drei Tagen in der Postkutsche lebten sich Lortzing und seine Frau bald in der Residenzstadt ein und gewannen viele Freunde und neue Bekannte. Unter ihnen wäre z.B. der Direktor des Theaters, Anton Pichler, zu nennen.
Ein großer Teil seiner Briefe aus der Detmolder Zeit waren an die Eltern in Köln gerichtet und beschreiben Situationen und Ereignisse in seiner Familie. Sie wurden in seinen Briefen immer schmerzlich vermisst, gegrüßt und geküsst. Lortzing liebte die kleine Idylle und Harmonie seiner Familie. „Wie Mendelssohn, wie zahlreiche Persönlichkeiten des Biedermeier war auch Lortzing ein rechter Kindernarr.“12 Kleinigkeiten waren ihm wichtig und erfreuten sein Herz. Ausführlich wurden Neuigkeiten der Kinder den Eltern mitgeteilt und Ereignisse geschildert. Lortzing war es wichtig, dass das Mimpelchen auf der Fahrt nicht eine einzige Windel „verkackt“ hatte und immer aufs Töpfchen ging13, dass das „Linchen Backen hat wie ein Posaunenengel, meine Frau hat sie jetzt abgesetzt; sie hat drei Zähne, das Linchen nämlich“14 und dass Linchen gegen die Pocken geimpft wurden15. Das sind die Dinge, die ihn bewegten und die wichtig in seinem Leben waren. Wie Lortzing selbst sich für die Familie engagierte, ist sehr bezeichnend. In seiner freien Zeit bastelte er Weihnachtsgeschenke, auch unter dem Aspekt Geld zu sparen, oder kaufte zur Unterhaltung der Kinder einen Hund16. „Zu Berthas Geburtstage waren siebzehn Kinder versammelt, es war ein recht artiges Gesäusle.“17
Wie sehr Lortzing seine Familie liebte macht ein Brief deutlich, in dem er den Eltern vom Tod seiner Tochter Julie Eleonore berichtete. Obwohl es zur damaligen Zeit nicht ungewöhnlich war, dass viele Kinder verstarben, ist der Kummer Lortzings und sein großer Schmerz deutlich zu spüren. Es zeigt sich hier der sentimentale, gefühlvolle Mensch, der auch ernsthaft und voll Trauer sein konnte:
Was muß der Mensch alles erleiden und wie viel kann er ertragen! Ich habe früher oft geäußert,
„wenn mir das Kind stürbe, ich wüsste nicht was ich anfienge“ weil (ich gestehe meine Schwachheit) seine zunehmende Liebenswürdigkeit und Anhänglichkeit mich unwiderstehlich anzog. Jetzt ist der fürchterliche Schlag geschehen; ich hätte in den ersten Augenblicken der Verzweiflung mögen mit dem Kopf wider die Wand rennen und muß wieder an mein Geschäft gehen muß mich zwingen den Schmerz zu ertragen und – kann es auch, wenn gleich schwer. Dieses ist nun das vierte Kind, das wir verlieren und welch ein Kind! Meine Seele ging auf, wenn ich es nur von fern erblickte. Was habe ich wohl in meinem Leben begangen, das eine solche Bestrafung verdiente?18
In den weiteren Zeilen beschreibt Lortzing ausführlich den Verlauf der Krankheit und den folgenden Tod seiner Tochter.
Die Lortzings waren generell sehr sozial eingestellt. Sie nahmen trotz der finanziellen Belastung die Nichte Rosinas Christine Kupfer auf. Uneigennützig kümmerte sich diese um die Kinder, wenn das Ehepaar im Theater bei Proben oder Aufführungen beschäftigt war. Später wurde für die reiche Kinderschar ein Kindermädchen eingestellt.
Neben den Belangen in der Familie beinhalten die Briefe Lortzings häufig Danksagungen zu Geschenken seiner Eltern. Auffällig ist hierbei seine Hingabe für die neueste Mode. Der neue Oberrock wird ausführlich mit allen Raffinessen beschrieben und sogleich auf allen öffentlichen Plätzen der Stadt präsentiert. Wichtig war es Lortzing, hervorzuheben, dass dieser Oberrock bei einem Schneider in Braunschweig gemacht wurde, „wo auch der Herzog arbeiten lässt“19. Die Mutter erhielt zum Geburtstag einen grau seidenen Stoff geschenkt für ein Kleid, „welches hier sehr in Mode ist“20, und dem Vater wird ausführlich über mehrere Seiten die Benutzung des neuen Pfeifenkopfes beschrieben21. Es kam Albert Lortzing sehr auf Äußerlichkeiten an. Der Schein und das Ansehen mussten gewahrt werden, wie es auch bei seinen Eltern schon beschrieben wurde. Die Stellung in der Gesellschaft und die Wertschätzung durch diese waren ihm in sehr großem Maße wichtig.
4. 3. Schauspieler und Publikumsliebling
Nachdem Lorzing mit seiner Familie in Detmold eingetroffen war, begann der Alltag des Theaters. In den Wintermonaten spielte die Gesellschaft in Detmold und in den restlichen Monaten in Münster, Pyrmont und Osnabrück. Das ständige Reisen hatte also trotz des festen Engagements kein Ende.
Vom Publikum wurde das Schauspielerehepaar sehr wohlwollend aufgenommen. Rosine schrieb hierzu an ihre Schwester: „Es gefällt uns hier sehr u. das Publikum ist außerordentlich zufrieden mit mir und meinem Manne, wir erfreuen uns hier eines ungetheilten Beyfalles.“22
In den Allgemeinen Unterhaltungsblättern zur Verehrung des Schönen, Guten und Nützlichen in Münster war im Mai 1827 zu lesen:
Hrn. Lortzing nebst seiner Gattin (…) sahen wir diesen Winter zum ersten Mal. Er ist jung, hübsch, schlank, bewegt sich leicht und frei, und da er mit diesen empfehlenden Eigenschaften viel Routine verbindet, so ist er im Lustspiel an seiner Stelle. Für das Tragische und überhaupt für das ernste Schauspiel scheint er weniger geeignet, schon wegen des Tons seiner Sprache, der nicht männlich, kräftig genug, der vielmehr zu dünn, man möchte sagen zu krähend ist: dazu kommt das Fehlerhafte seiner Declamation, sobald die Sprache pathetisch wird. In gewissen Rollen, die in seinem Bereiche liegen, gefällt er ungemein, unter anderem als Carl Ruf in der Schachmaschine: Ref. Zweifelt nicht, daß er in dieser Rolle auf den ersten Bühnen Deutschlands Glück machen würde.23
Der Autor dieser Besprechung sollte Recht behalten und reihte sich in die Aussage vieler Rezensionen ein. Lortzing selbst zog sich bald von den tragischen Rollen zurück und bemerkte selbst, dass ihm diese nicht liegen. Sie entsprachen nicht seinem Charakter und gelangen ihm dementsprechend auch nicht. Wie auf der Bühne, so auch in seinen Opern ist der Bezug zu seiner eigenen Persönlichkeit sehr prägend. Was ihn selbst ausmachte und was ihn berührte, verarbeitete er in seinen Kompositionen. Was jedoch nicht seinem Charakter entsprach, misslang. Die Partie des Carl Ruf in der „Schachmaschine“ wurde eine Paraderolle Lortzings, mit der er viele Erfolge feierte und mit der er vom Publikum identifiziert wurde. In dieser Detmolder Zeit festigte sich das Klischee des lustigen und humorvollen Gauklers Lortzing, welches ihm später unter anderem den Weg zu einem angesehenen Komponistenruf versperrte.
Neben der Verkörperung komischer Charaktere begeisterte Lortzing das Publikum durch seine beliebten Extempories. In nicht vorhersehbaren Situationen fügte er aktuell kritische oder situationskomische Passagen schlagfertig und spontan in seine Partie ein.
Auffällig ist in seinen Briefen der rege Austausch über Theaterneuigkeiten und Gerüchte. Jeder neu engagierte Schauspieler und jede neu engagierte Schauspielerin wurden von Lortzing kritisch betrachtet und beurteilt. Dabei wurde auch stets eine Einschätzung des äußeren Erscheinungsbildes und der musikalischen und stimmlichen Fähigkeiten desjenigen gegeben. Ein Beispiel macht dies deutlich:
Unser Tenorist Grapow ist arrivirt […] Hübsche Figur und für einen Sänger gewandtes Spiel und eine wunderschöne metallreiche ächte Tenorstimme, nur Schade daß er nicht ausgebildet, oder vielmehr daß seine Stimme verbildet ist. Er singt etwas durch die Zähne und ist außerdem nicht fest musikalisch.24
Anzumerken wäre hierbei, dass Lortzing an andere Schauspieler immer die gleichen Anforderungen und Maßstäbe setzte, wie an sich selbst.
Seine eigene Anerkennung als Schauspieler war ihm sehr wichtig. Als eine Demoiselle Spitzeder mit ihrem Bräutigam engagiert wurde, konnte Lortzing sich eine spöttische Bemerkung nicht verkneifen. Obwohl er zugab, dass es sich bei diesem Neuankömmling um einen soliden, artigen Mann handelte, der ein guter Musiker war, wurde hinzugesetzt:
„Er ist gleichsam ein [e] Knochenzugabe beym Fleischeinkauf mit engagiert und spielt eigentlich mein Fach.“25 An dem neuen Schauspieler war eigentlich nichts auszusetzen, nur spielte er Rollen, die Lortzing vorbehalten waren. Hiermit bestand also die Möglichkeit, dass dieser Herr vielleicht besser spielte als Lortzing und stellte damit eine Konkurrenz dar.
Die Strapazen des Bühnenlebens gingen auch an Lortzing nicht vorbei. Bei dem geringen Publikum blieb es nicht aus, eine große Fülle an immer neuen Stücken anzubieten. Die unermüdlichen Proben und Aufführungen ließen wenig Zeit. Lortzing wurde zum „immerwährenden Lastthier“26. „ … die Zeit, welche ich in Detmold verschlafe ungleich angenehmer ist, als die welche ich wachend zubringe.“27
Die kleine Residenzstadt war, nach zeitgenössischen Berichten zu urteilen, eine „Stadt des sozialen Kastenwesens, des Philisterklatsches und der abgeschiedenen Idylle“28. Und somit auch des gesellschaftlichen und politischen Stillstands. Hier herrschte eine Gesellschaft des Krähwinkels29, die Lortzing in seinen späteren Opern so häufig karikierte. Immer häufiger wurde im Laufe der Zeit Lortzings Unmut über das dortige Publikum und die Theaterverhältnisse deutlich.
Das Verhältniß bei unserem Theater wie es jetzt ist, macht mir eine Veränderung nur wünschenswerth, indem wahrlich für den tüchtigen Schauspieler wenig Ehre zu erwerben ist, weil bei uns seit kurzem nichts als tatenlose Anfänger figuriren und zwar in Hauptfächern.30
Hinzu kam die Unzufriedenheit über das ständige Reisen. Weiter in den Brief heißt es:
„Nur Ruhe! Ruhe! Das ist: nicht mehr Reisen.“ Umso hoffnungsvoller begann Lortzing Kontraktverhandlungen mit dem in Leipzig tätigen Ringelhardt.
4. 4. Musikalische Entwicklung – Lehrjahre
In den Jahren 1830 bis 32 schrieb Lortzing kleine Einakter und Vaudvilles, die nicht ohne Wirkung blieben. Bei einem Vaudville handelt es sich um ein Schauspiel mit Liedeinlagen, für dessen Musik bekannte und beliebte Melodien verwendet und verarbeitet wurden. Mit diesen Potpourris beweist Lortzing seine ständige Nähe zum Publikum.
Die Julirevolution und die Polenfreundschaft blieben auf Lortzing nicht ohne Einfluss. Schon in seinen ersten Opern spielte seine liberale und nationale Gesinnung sowie seine Sympathie für unterdrückte Völker und die Begeisterung für den Befreiungskampf eine große Rolle. 1823 schrieb Lortzing seinen ersten Opernversuch „Ali Pascha von Janina“ (LoVW 9), welche die Gefangennahme einer Frau von den brutalen Griechen zum Inhalt hat. In einer seiner letzten Opern, „Regina“ 1848 geschrieben, die sich ebenfalls mit dem Raub einer Frau beschäftigte, verwendete Lortzing Passagen aus diesem Opernerstling.
Seine ersten großen Erfolge feierte Lortzing mit seinem Vaudville „Der Pole und sein Kind“ oder „Der Feldwebel vom IV. Regiment“ (LoWV 25). Lortzing verband schon in diesem frühen Vaudville sein eigenes persönliches Erleben und seine politischen Anschauungen. Es handelt sich um ein Schauspiel, bei dem unter dem Deckmantel einer tragischen Familiengeschichte, damit also in einer ihm sehr vertrauten Materie, politische Kritik geübt wurde. Dieses Prinzip wurde hier von ihm erprobt und in den späteren Opern zu einem typischen Librettostilmittel Lortzings. „Der Pole und sein Kind“ wurde wegen seiner Anspielungen von der Zensur gestrichen. Lortzing schrieb an seine Mutter: „Wie Du phrophezeyht, liebe Mutter, so ist es gekommen, mein Pole ist hier verboten worden.
Schade drum, denn es hätte horrende Einnahmen gemacht, da es schon überall bekannt war.“31
[...]
1 Auf einer Gedenktafel in Leipzig in der Lortzingstraße steht als dessen Geburtsjahr 1803 vermerkt. Vgl. Magnusson, Kristof: Sänger und Orchester im Komplott gegen mich. Lortzing in Leipzig. Eine kurze Erfolgsgeschichte, der eine lange Geschichte der Geringschätzung und des Vergessens folgte. Veröffentlicht im Gewandhausmagazin, Dezember 2000.
2 Lodemann, Jürgen: Lortzing - Leben und Werk des dichtenden, komponierenden und singenden Publikumslieblings, Familienvaters und komisch tragischen Spielopernweltmeisters aus Berlin. Göttingen 2000, S.110.
3 Capelle, Irmlind (Hrsg.): Albert Lortzing. Sämtliche Briefe. Historisch - kritische Ausgabe. Detmold- Paderborner Beiträge zur Musikwissenschaft. Herausgegeben von Arno Forchert. Band 4. Kassel 1995. Diese Quelle wird in den folgenden Anmerkungen mit SB abgekürzt. Zu den einzelnen Briefen wird die Verzeichnisnummer (VN) sowie das Datum angegeben.
4 Lodemann, a.a.O., S. 47.
5 Capelle, Irmlind: Albert Lortzing und das bürgerliche Musiktheater. Unpublizierter Vortrag.
6 SB, VN 358: 26. November 1848.
7 Lobe, Johann Christian: Consonanzen und Dissonanzen. Gesammelte Schriften aus älterer und neuerer Zeit. Leipzig 1869.
1 Der Stammbaum wurde entworfen nach den Ausführungen von Schirmag, Heinz: Albert Lortzing. Glanz und Elend eines Künstlerlebens. Berlin 1995, S.8ff. und Lodemann, Jürgen: Lortzing. Leben und Werk des dichtenden, komponierenden und singenden Publikumslieblings, Familienvaters und komisch tragischen Spielopernweltmeisters aus Berlin. Göttingen 2000, S. 21ff.
2 Lodemann, a.a. O., S. 21.
3 Vgl. Lotzing, Ewald: Albert Lortzing, ein bester Sohn und Familienvater und andere sippenkundliche Bilder. Vortrag gehalten 1957 in Kiel, S.5 ff.
4 Lodemann, a.a.O., S. 24.
5 Lotzing, a.a.O., S. 7.
6 SB, VN 50: 12.Februar 1834.
7 Allgemeines Theaterlexikon oder Encyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilletanten und Theaterfreunde in 6 Bänden. Hrsg. R. Blum, K. Herloßsohn, H. Markgraf Bd. 7. Altenburg 1836 – 1841.
8 Friedrich Lortzing schickte im Oktober 1841 seinem Neffen einen Brief (SB, VN 142) mit Notizen für das Allgemeine Theaterlexikon.
9 SB, VN 190: 14.November 1843.
10 SB, VN 365: 9.April 1849.
11 SB, VN 377: 22. Mai 1849.
12 Erst ab der Detmolder Zeit, als Lortzing erstmalig seine Eltern verließ, sind Briefe erhalten, die Auskunft über ihn und die Ereignisse geben. Daher sind alle Geschehnisse der vorhergehenden Jahre nur schwer nachzuvollziehen und durch Quellen zu belegen.
13 SB, VN 5: 5. November 1826.
14 Düringer, Philipp: Albert Lortzing. Sein Leben und Wirken. Leipzig 1851, S. 6.
15 Zit. nach Lodemann, a.a.O., S. 26.
16 Lotzing, a.a.O., S.9.
17 SB, VN 15: 21. April 1829.
18 SB, VN 238: 19. November 1844.
19 SB, VN 256: 11. April 1845.
20 Z.B. in Max Hoffmann. Albert Lortzing – Meister der deutschen Volksoper. Leipzig 1956.
21 Lodemann, a.a.O., S. 27.
22 eine von Lortzing selbst häufig benutzte Redewendung.
23 SB, VN 1: 1. Januar 1810.
24 SB, VN 26: 4. April 1832.
25 Düringer, a.a.O., S. 7.
26 Schirmag, , S.13.
27 Lodemann, a.a.O., S. 28.
28 Düringer, a.a.O., S. 6.
29 Kruse, Georg Richard: Albert Lortzing. Leipzig 1914, S.10.
30 Capelle, Irmlind: Albert Lortzing-Komponist, Kapellmeister, Sänger, Dichter und Schauspieler. Unveröffentlichter Vortrag. 1991 in Münster gehalten. Sowie Fischer, a.a.O., S. 36. und Lodemann, a.a.O., S. 41 u.a.
31 SB, VN 28: 13. November 1832.
32 Lodemann, a.a.O., S.28.
33 Lodemann, a.a.O., S.49.
34 Lodemann, a.a.O., S.30.
35 Geschichte Politik und Gesellschaft Bd.1 Von der Französischen Revolution bis zum Ende des 2.Weltkrieges. Hrsg. Mickel, Wolfgang W. Hirschgraben 1988, S. 59.
36 Vgl. Geschichte, Politik und Gesellschaft, a.a.O., S. 60.
37 Vgl. Geschichte, Politik und Gesellschaft, a.a.O., S.63.
38 Verse von Karl Follen, zit. nach Schirmag, a.a.O., S. 38.
39 Lodemann, a.a.O., S.38.
40 Lodemann, a.a.O., S. 44.
41 Lodemann, a.a.O., S. 49.
42 Düringer, a.a.O., S. 8.
43 Lodemann, a.a.O., S. 9. Hierbei handelt es sich um den Musiklehrer des Autors.
44 Lodemann, a.a.O., S. 44.
45 Kruse, Georg Richard: Albert Lortzing. Gesammelte Briefe. Neue, um 82 Briefe vermehrte Ausgabe. Deutsche Musikbücherei. Band 6. Regensburg 1913, S. XI.
46 Chronologisch-Thematisches Verzeichnis der Werke von Gustav Albert Lortzing. Bearbeitet von Capelle, Irmlind. Köln 1994.
47 Lodemann, a.a.O., S. 46.
48 Zit. nach Lodemann, a.a.O., S. 46.
49 Lodemann weist darauf hin, dass die Lortzings nicht wie immer behauptet in einem Thespiskarren, dem Wohnwagen der Gaukler, umherzogen, sondern in einer ordentlichen Kutsche. Lodemann, a.a.O., S.35.
50 Im weitern Verlauf der Arbeit erscheinen die Verzeichnisnummern automatisch hinter den Werken. Angaben siehe Chronologisch-Thematisches Verzeichnis der Werke von Gustav Albert Lortzing. Bearbeitet von Capelle, Irmlind. Köln 1994.
1 Peters, Hans Georg: Vom Hoftheater zum Landestheater-Detmold 1972, S. 68. Zit. nach Dietrichkeit, Walter: Gustav Albert Lortzing. Schauspieler, Sänger, Komponist, Kapellmeister. Eine Biographie. Bad Pyrmont 2000, S. 36.
2 Siemann, Wolfram: Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806-1871. München 1995, S. 23.
3 Siemann, a.a.O., S. 24.
4 SB, Fußnote zum Brief VN5: 5. November 1826. Z. 34.
5 SB, VN 5: 5. November 1826.
6 SB, VN 18: 11. Januar 1830.
7 SB VN 5: 5. November 1826.
8 SB, VN 13: 20. Dezember 1828.
9 Schramm, Willi: Albert Lortzing während seiner Zugehörigkeit zu Detmolder Hoftheatergesellschaft. Detmold 1951, S.17.
10 SB, VN 23: 1. April 1827.
11 SB, VN 52: 5. April 1834.
12 Worbs, Hans Christoph: Albert Lortzing in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 31.
13 SB, VN 5: 5. November 1826.
14 SB, VN13: 20. Dezember 1828.
15 SB, VN 10: 2. Juni 1828.
16 SB, VN 8: 10. April 1827.
17 SB, VN 33: März 1833.
18 SB, VN 34: 30. März 1833.
19 SB, VN 11: 28. Oktober 1828.
20 SB, VN 7: 3. April 1827.
21 SB, VN 9: 9. Mai 1828.
22 SB, Fußnote zum Brief VN 5: 5. November 1826 Z. 40.
23 SB, Fußnote zum Brief VN 11: 28. Oktober 1828 Z. 30.
24 SB, VN 11: 28. Oktober 1828.
25 SB, VN 12: 8. November 1828.
26 SB, VN 27: 20. August 1832.
27 SB, VN 31:31. Januar 1833.
28 Worbs, a.a.O., S. 19.
29 Eine im Vormärz typische Bezeichnung für die Engstirnigkeit und den kleinen Blickwinkel des Spießbürgers und Philisters, geprägt durch die Posse „Die Freiheit in Krähwinkel“ von Nestroy.
30 SB, VN 37: 27. Mai 1833.
31 SB, VN 28: 13. November 1832.
- Citar trabajo
- Ulrike Engler (Autor), 2002, Untersuchungen zu ästhetischen Reflexionen der Lebensverhältnisse, Schaffensumstände und subjektiven Befindlichkeiten des Komponisten Albert Lortzing in seinen Opern, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14490
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