Unser Fernsehprogramm, vor allem das nachmittägliche, ist heute voll von alltäglichen Geschichten der „ganz normalen“ Leute. Auf Pro7 bei „U20“ konfrontieren Teenager ihre Eltern mit dem Wunsch nach größeren Brüsten mittels OP oder berichten über Ängste und Probleme bezüglich ihrer Homosexualität. Schaltet man um auf RTL, sucht bei „Mitten im Leben“ ein 30jähriger Arbeitsloser, der noch bei seiner Mutter wohnt, die große Liebe übers Internet und fällt dabei auf Betrüger rein. In der darauffolgenden Sendung „Familien im Brennpunkt“ wirft ein alkoholisierter Bauarbeiter seiner Partnerin vor, sein Sohn sei nicht von ihm. Auf Sat.1 bei „Britt“ talken die Gäste über ungewöhnliche Sexpraktiken und ihre Erlebnisse im Internet, denn das Thema der Sendung lautet: „Britt deckt auf: Hochbrisante Sexgeheimnisse“.
Einst waren es die Talkshows, die schockiert und für Aufsehen gesorgt haben, heute sind es die Doku Soaps, welche diese Funktion erfüllen und das Fernsehprogramm füllen. Warum sind diese Sendeformate auf fast allen Sendern zu sehen und so beliebt? Sind es vielleicht soziale und gesellschaftliche Entwicklungen, die den Boom des Reality-Fernsehens begünstigen oder gar hervorrufen?
Die Beantwortung dieser Fragen ist Kernthema meiner Arbeit. Zunächst werde ich die sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert mit Hilfe von Ulrich Beck, Richard Sennett und Anthony Giddens kurz beschreiben. Im folgenden Abschnitt werde ich genauer auf die Entwicklung der Talkshow in Deutschland eingehen und versuchen, Gründe für den enormen Erfolg dieses Sendeformats zu finden. Da die große Zeit der Daily Talkshows heute vorbei ist und man im Nachmittagsfernsehen überwiegend Doku Soaps findet, möchte ich mir auch dieses Genre etwas näher betrachten. Der Fokus liegt allerdings auf den Daily Talkshows, da die Doku Soaps im gewissen Sinne als eine Erweiterung der Talkshows angesehen werden können und ich daher auf eine ausführliche Betrachtung der Gründe ihres Erfolgs verzichte. Nachdem die beiden Genres des Reality-Fernsehens vorgestellt wurden, werde ich versuchen, die Entwicklung des Fernsehangebots mit den gesellschaftlichen Entwicklungen in Verbindung zu bringen. Abschließend werden die wichtigsten Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst und ein Fazit gezogen.
Gliederung
1. Einleitung
2. Soziale und gesellschaftliche Veränderungen
2.1. Ulrich Becks „reflexive Moderne“
2.2. Richard Sennett und Anthony Giddens
3. Entwicklung der Talkshow in Deutschland
3.1. Gründe für den Boom der späten 90er Jahre
3.1.1. Erhöhter Selbstdarstellungsdrang
3.1.2. Nutzungsmotive der Zuschauer
3.1.3. Technische und ökonomische Faktoren
3.2. Gründe für die Krise
4. Die Situation heute
4.1. „Britt – der Talk um eins“
4.2. Boom der Doku Soaps
5. Zusammenhang mit sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen
6. Schluss
7. Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Unser Fernsehprogramm, vor allem das nachmittägliche, ist heute voll von alltäglichen Geschichten der „ganz normalen“ Leute. Auf Pro7 bei „U20“ konfrontieren Teenager ihre Eltern mit dem Wunsch nach größeren Brüsten mittels OP oder berichten über Ängste und Probleme bezüglich ihrer Homosexualität. Schaltet man um auf RTL, sucht bei „Mitten im Leben“ ein 30jähriger Arbeitsloser, der noch bei seiner Mutter wohnt, die große Liebe übers Internet und fällt dabei auf Betrüger rein. In der darauffolgenden Sendung „Familien im Brennpunkt“ wirft ein alkoholisierter Bauarbeiter seiner Partnerin vor, sein Sohn sei nicht von ihm. Auf Sat.1 bei „Britt“ talken die Gäste über ungewöhnliche Sexpraktiken und ihre Erlebnisse im Internet, denn das Thema der Sendung lautet: „Britt deckt auf: Hochbrisante Sexgeheimnisse“.
Einst waren es die Talkshows, die schockiert und für Aufsehen gesorgt haben, heute sind es die Doku Soaps, welche diese Funktion erfüllen und das Fernsehprogramm füllen. Warum sind diese Sendeformate auf fast allen Sendern zu sehen und so beliebt? Sind es vielleicht soziale und gesellschaftliche Entwicklungen, die den Boom des Reality-Fernsehens begünstigen oder gar hervorrufen?
Die Beantwortung dieser Fragen ist Kernthema meiner Arbeit. Zunächst werde ich die sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert mit Hilfe von Ulrich Beck, Richard Sennett und Anthony Giddens kurz beschreiben. Im folgenden Abschnitt werde ich genauer auf die Entwicklung der Talkshow in Deutschland eingehen und versuchen, Gründe für den enormen Erfolg dieses Sendeformats zu finden. Da die große Zeit der Daily Talkshows heute vorbei ist und man im Nachmittagsfernsehen überwiegend Doku Soaps findet, möchte ich mir auch dieses Genre etwas näher betrachten. Der Fokus liegt allerdings auf den Daily Talkshows, da die Doku Soaps im gewissen Sinne als eine Erweiterung der Talkshows angesehen werden können und ich daher auf eine ausführliche Betrachtung der Gründe ihres Erfolgs verzichte. Nachdem die beiden Genres des Reality-Fernsehens vorgestellt wurden, werde ich versuchen, die Entwicklung des Fernsehangebots mit den gesellschaftlichen Entwicklungen in Verbindung zu bringen. Abschließend werden die wichtigsten Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst und ein Fazit gezogen.
2. Soziale und gesellschaftliche Veränderungen
Um die sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen unserer Zeit kurz zu beleuchten, möchte ich auf die Theorien von Ulrich Beck, Richard Sennett und Anthony Giddens eingehen, da diese sich am besten mit dem Erfolg der Daily Talkshows sowie der Doku Soaps in Verbindung bringen lassen.
2.1. Ulrich Becks „reflexive Moderne“
Ein populärer und oft verwendeter Begriff zur Beschreibung der gesellschaftlichen Veränderungen ist Ulrich Becks „reflexive Modernisierung“. Dieser Wandel ist durch verschiedene Aspekte gekennzeichnet, die nicht als isoliert von einander zu betrachten sind, sondern als auf vielfältige Weise miteinander verknüpft.
Beck konstatiert eine Veränderung des Verhältnisses von Privatheit beziehungsweise Intimität und Öffentlichkeit, die sich als Verwischung der Grenzen zwischen beiden Bereichen äußert.[1] Öffentlichkeit und Privatsphäre lassen sich nicht mehr klar voneinander unterscheiden.
Weiterhin beschreibt er eine Tendenz zur Individualisierung, welche Grund für die Pluralisierung von Lebensstilen und Lebenswelten ist, die gesellschaftliche Ausdifferenzierung nimmt zu.[2] Durch den Individualisierungsprozess kommt es laut Beck auch zur „Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und –bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge“[3], welche zum Verlust traditioneller Sicherheiten bezogen auf Glauben, Handlungswissen, Rollenmuster, Identitätskonzepte und Lebensentwürfe sowie allgemein verbindlicher Normen und Werte. Eine vorgegebene, für alle Gesellschaftsmitglieder allgemein gültige Moral gibt es also nicht mehr, sondern nur noch kontextgebundene Moralen, die durch Kommunikation sowohl im Alltag als auch in den Medien immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Dieser Verlust der allgemeingültigen Moral ist laut Beck aber auch auf die Verrechtlichung und zunehmende normative Regulierung der Gesellschaft durch den Staat zurückzuführen.[4]
In einer sozial ausdifferenzierten, pluralistischen Gesellschaft, wie sie heute besteht, ist vor allem das allgemein verfügbare Fernsehen als gesellschaftliches Leitmedium Ort der kommunikativen Aushandlung von Normen und Werten. In den Medien verständigt sich die Gesellschaft über sich selbst, was sowohl zur sozialen Integration als auch zur weiteren Ausdifferenzierung und Desintegration führen kann.
2.2. Richard Sennett und Anthony Giddens
Immer wieder konfrontiert uns das TV-Programm mit Tabubrüchen und intimen Einblicken ins Privatleben anderer Menschen. Die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatleben sind bereits überschritten und laut Sennett auch nicht wieder herstellbar. Sennett behauptet, dass die öffentliche Sphäre als Resultat eines langen Prozesses seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerstört ist. Ein Gleichgewicht zwischen öffentlichen und privaten Bereich gibt es heute nicht, weshalb sich beide in einer Krise befinden, so Sennett. Das Private ist zum Selbstzweck geworden. Blickt man auf die Gesellschaft, dann blickt man immer auch auf sich selbst. „Das eigene Selbst ist die Brille, durch die die Außenwelt nicht nur wahrgenommen, sondern auch beurteilt wird.“[5] Die Privatheit saugt heute das Öffentliche auf und nimmt ihm seine Autonomie. Der Mensch ist Sklave einer endlosen und enttäuschenden Suche nach seinem Selbst, was sowohl die Medien als auch die Werbe- und Konsumindustrie für ihre Zwecke nutzen.[6]
Auch die Sexualität hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert, sie wurde vom Verbotenen zum Gebotenen. Giddens und Sennett sind sich einig, dass die vom 19. zum 20. Jahrhundert stattgefundenen Veränderungen der Geschlechterverhältnisse als Wandel von der Erotik zur Sexualität beschrieben werden können. Es herrscht nicht mehr der Glaube an emotionale Zustände, sondern lediglich die Gier nach emotionalen Zuständen. Laut Sennett ist dies die Ursache für verkümmerte Sozialität (Beziehungen werden instrumentalisiert und gründen auf Tauschbeziehungen) und für das Urteilen im politischen Bereich nicht nach politischer Kompetenz, sondern nach dem Bild, was man von der Person des Politikers hat. Die Dominanz des Intimen und Privaten in den Medien ist demnach Ausdruck des Wandels von der Erotik zur Sexualität.[7]
Sowohl Sennett als auch Giddens sehen das Selbst heute als äußerst problematisches Unternehmen an. Sennett betont allerdings die permanente und vergebliche Suche des Selbst auf Kosten des sozialen Handels, während Giddens das Selbst als reflexives Projekt ansieht. Das heißt, die Identität ist nichts Stabiles und muss immer wieder neu ausgehandelt werden. Das ist sowohl eine Chance als auch eine Gefahr, denn das kann schnell zur Selbstüberforderung führen, welche durch mehrere Abhängigkeiten kompensiert wird.[8]
Geht man von Giddens Konzept des Selbst aus, dann führt die Art und Weise, wie soziales Leben beschrieben wird, zu Veränderungen dieses Lebens. Das betrifft insbesondere den Bereich von Privatheit, Sexualität und Intimität. Durch die ständige Thematisierung und Inszenierung von Sexualität in den Medien werden die gewöhnlichen, alltäglichen sexuellen Praktiken einer ständigen Reflexion unterzogen. Dort, wo die Freiheit, über Sexualität zu reden und unterschiedliche Formen der Sexualität zu praktizieren, besteht, kann sie auch schnell zur Tyrannei der Intimität werden, indem man seine Identität ausschließlich über Sexualität definiert und somit von Zwängen beherrscht wird und nicht mehr frei als reflexives Projekt entscheiden kann.[9]
Ursachen für die Dominanz des Intimen und Privaten sind laut Sennett Verschiebungen, die durch den Kapitalismus, das Verständnis von Säkularität und Stadtentwicklungen ausgelöst worden sind. Das Selbst hat zunehmend den Platz der Öffentlichkeit eingenommen, seit Ende des 20. Jahrhunderts gibt es kein öffentliches Leben mehr und die Sexualität hat in dieser Entwicklung ihre soziale Dimension verloren, da sind sich sowohl Sennett als auch Giddens einig.[10]
Im Folgenden möchte ich einen Blick auf die Entwicklung der Talkshows in Deutschland werfen und versuchen, Gründe für den Boom dieses TV-Formats in den 90er Jahren und für die derzeitige Krise zu finden.
3. Entwicklung der Talkshow in Deutschland
Daily Talkshows sind ein Trend aus den USA, der es wie viele andere bis nach Deutschland geschafft und auch hier viel Zuspruch erfahren hat. Deutsche Talkshows sind allerdings nicht lediglich ein Abbild der amerikanischen, sondern besitzen eigene Züge und unterliegen anderen Rahmenbedingungen. Deshalb folgende Definition von Mikos: „Tägliche Talkshows sind Sendungen, in denen ein Moderator oder eine Moderatorin [1] mit Gästen redet und sie zur Darstellung ihrer 'Geschichten' animiert [2], sie sind monothematisch [3], und sie werden täglich tagsüber ausgestrahlt [4]. Die Gäste sind keine Prominenten, sondern hauptsächlich normale Menschen [5]. In der Regel vervollständigen Experten den Gästereigen [6]. Oft sind die Sendungen eine Mischung aus 'confessional talk' und 'confro talk' [7] (…) Im Mittelpunkt steht nicht die Diskussion des Themas an sich, sondern die persönliche Betroffenheit der anwesenden Gäste, die von den Moderatoren zur Selbstdarstellung und Meinungsäußerung animiert werden [8]. Außerdem zielen sie auf ein anderes Publikum als die abendlichen Talkshows, denn mediale Inszenierungen für ein Studiopublikum und für das Publikum vor den Bildschirmen. Sie folgen einer bestimmten Dramaturgie [10] und die Moderatoren und Moderatorinnen fungieren als eine Art Zeremoniemeister. Die Sitzordnung der Gäste ist so, dass sie nebeneinander dem Publikum frontal gegenübersitzen, aber nicht einander zugewandt sind. [11]“[11]
[...]
[1] Vgl. Mikos: „Wertekonservatismus und moralische Diskussion in Daily Talks“. In: Gerhards, Möhrmann (Hrsg.): „Daily Talkshows. Untersuchungen zu einem umstrittenen TV-Format“. Frankfurt am Main: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2002. S. 64
[2] Vgl. ebd.
[3] Beck: „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, S. 206
[4] Vgl. Mikos: „Wertekonservatismus und moralische Diskussionen in Daily Talks“, In: Gerhards, Möhrmann (Hrsg.): „Daily Talkshows. Untersuchungen zu einem umstrittenen TV-Format“. Frankfurt am Main: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2002. S. 64
[5] Schneider: „Theorien des Intimen und Privaten. Überlegungen im Anschluss an Richard Sennett und Anthony Giddens“, In: Herrmann, Lünenborg (Hrsg.): „Tabubruch als Programm. Privates und Intimes in den Medien“. Opladen: Leske + Budrich, 2001. S. 38
[6] Vgl. ebd. S. 38 f
[7] Vgl. ebd. S. 39 f
[8] Vgl. ebd. S. 43
[9] Vgl. ebd. S. 43 f
[10] Vgl. ebd. S. 46
[11] Vgl. Semeria: „Talk als Show – Show als Talk. Deutsche und US-amerikanische Daytime Talkshows im Vergleich“. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1999. S. 31 (zitiert aus Mikos 1998c: 3)
- Citation du texte
- Katrin Schrimpf (Auteur), 2009, Daily Talkshows und Doku Soaps im deutschen Fernsehen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/144583
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