Die spannende Argonautensage schildert die abenteuerliche Fahrt des Iason (Jason) und weiterer griechischer Helden nach Kolchis im Kaukasus. Dort machten sich die Abenteurer auf die Suche nach dem Goldenen Vlies (Fell) des Widders Chrysomallos, auf dessen Rücken einst die Zwillinge Phrixos und Helle vor ihrer Stiefmutter Ino geflohen waren. Die tapferen Reisegefährten von Iason – darunter der legendäre Halbgott Herakles (Herkules) – wurden nach ihrem ungewöhnlich schnellen Schiff „Argo“, das 50 Ruderern Platz bot, als Argonauten bezeichnet. Der Raub des Goldenen Vlieses aus dem Ares-Hain auf Kolchis gelang Iason mit Hilfe der Königstochter Medea, die sich in ihn verliebt hatte und seine Gattin wurde. Die Argonautensage ist ein Teil des berühmten Werkes „Sagen des klassischen Alterstums“ von Gustav Schwab (1782-1850).
Inhalt
Iason und Pelias
Anlaß und Beginn des Argonautenzugs Die Argonauten zu Lennos
Die Argonauten im Lande der Dolionen Herakles zurückgelassen
Pollux und der Bebrykenkönig Phineus und Harpylen
Die Simplegaden Weitere Abenteuer
Iason im Palaste des Aietes Medes und Aietes
Der Rat des Argos
Medea verspricht den Argonauten Hilfe Iason und Medea
Iason erfüllt des Aietes Begehr Medea raubt das Goldne Vlies
Die Argonauten, verfolgt, entkommen mit Medea Weitere Heimfahrt der Argonauten
Neue Verfolgung der Kolcher
Letzte Abenteuer der Helden Iasons Ende
Der Autor Gustav Schwab
Iason und Pelias
on Aison, dem Sohne des Kretheus, stammte Iason ab. Sein Großvater hatte in einer Bucht des Landes Thessalien die Stadt und das Königreich Iolkos gegründet und dasselbe seinem Sohne Aison hinterlassen. Aber der jüngere Sohn, Pelias, bemächtigte sich des Thrones; Aison starb, und Iason, sein Kind, war zu Chiron dem Zentauren, dem Erzieher vieler großer Helden, geflüchtet worden, wo er in guter Heldenzucht aufwuchs. Als Pelias schon alt war, wurde er durch einen dunkeln Orakelspruch geängstigt, welcher ihn warnte, er solle sich vor dem Einschuhigen hüten. Pelias grübelte vergeblich über dem Sinne dieses Worts, als Iason, der jetzt zwanzig Jahre den Unterricht und die Erziehung des Chiron genossen hatte, sich heimlich aufmachte, nach Iolkos in seine Heimat zu wandern und das Thronrecht seines Geschlechtes gegen Pelias zu behaupten. Nach Art der alten Helden war er mit zwei Speeren, dem einen zum Werfen, dem andern zum Stoßen, ausgerüstet; er trug ein Reisekleid und darüber die Haut von einem Panther, den er erwürgt hatte; sein unbeschorenes Haar hing lang über die Schultern herab. Unterwegs kam er an einen breiten Fluß, an dem er eine alte Frau stehen sah, die ihn flehentlich bat, ihr über den Strom zu helfen. Es war die Göttermutter Hera, die Feindin des Königes Pelias. Iason erkannte sie in ihrer Verwandlung nicht, er nahm sie mitleidig auf die Arme
Auf diesem Wege blieb ihm der eine Schuh im Schlamme stecken. Dennoch wanderte er weiter und kam zu Iolkos an, als sein Oheim Pelias gerade mitten unter dem Volke auf dem Marktplatze der Stadt dem Meeresgotte Poseidon ein feierliches Opfer brachte. Alles Volk verwunderte sich über seine Schönheit und seinen majestätischen Wuchs. Sie meinten, Apollo oder Ares sei plötzlich in ihre Mitte getreten. Jetzt fielen auch die Blicke des opfernden Königes auf den Fremdling, und mit Entsetzen bemerkte er, daß nur der eine Fuß desselben beschuhet sei. Als die heilige Handlung vorüber war, trat er dem Ankömmling entgegen und fragte ihn mit verheimlichter Bestürzung nach seinem Namen und seiner Heimat. Iason antwortete mutig, doch sanft: er sei Aisons Sohn, sei in Chirons Höhle erzogen worden und komme jetzt, das Haus seines Vaters zu schauen. Der kluge Pelias empfing ihn auf diese Mitteilung freundlich und ohne seinen Schrecken merken zu lassen. Er ließ ihn überall im Palaste herumführen, und Iason weidete seine Augen mit Sehnsucht an dieser ersten Wohnstätte seiner Jugend. Fünf Tage lang feierte er hierauf das Wiedersehen mit seinen Vettern und Verwandten in fröhlichen Festen. Am sechsten Tage verließen sie die Zelte, die für die Gäste aufgeschlagen waren, und traten miteinander vor den König Pelias. Sanft und bescheiden sprach Iason zu seinem Oheim: »Du weißt, o König, daß ich der Sohn des rechtmäßigen Königes bin und alles , was du besitzest, mein Eigentum ist. Dennoch lasse ich dir die Schaf- und Rinderherden und alles Feld, das du meinen Eltern entrissen hast; ich verlange nichts von dir zurück als den Königzepter und den Thron, auf welchem einst mein Vater saß.« Pelias war in seinem Geiste schnell besonnen. Er erwiderte freundlich: »Ich bin willig, deine Forderung zu erfüllen, dafür sollst aber auch du mir eine Bitte gewähren und eine Tat für mich ausrichten, die deiner Jugend wohl ansteht und derenmein Greisenalter nicht mehr fähig ist. Denn mir erscheintseit lange in nächtlichen Träumen der Schatten des Phrixosund verlangt von mir, ich solle seine Seele zufriedenstellen,nach Kolchis zum Könige Aietes reisen und von da seineGebeine und das Vlies des goldenen Widders zurückholen.Den Ruhm dieser Unternehmung habe ich dir zugedacht.Wenn du mit der herrlichen Beute zurückkehrst, sollst du Reichund Zepter in Besitz nehmen.«
Anlaß und Beginn des Argonautenzuges
Mit dem Goldenen Vliese aber verhielt es sich also: Phrixos, ein Sohn des böotischen Königs Athamas, hatte viel von der Nebengattin seines Vaters, seiner bösen Stiefmutter Ino, zu dulden. Um ihn vor ihrenNachstellungen zu bewahren, raubte ihn, mit Hilfe seinerSchwester Helle, die eigene Mutter Nephele. Sie setzte dieKinder auf einen geflügelten Widder, dessen Vlies oder Fellvon gediegenem Golde war und welchen sie von dem GotteHermes zum Geschenk erhalten hatte. Auf diesemWundertiere ritten Bruder und Schwester durch die Luft überLand und Meere hin. Unterwegs wurde das Mägdlein vonSchwindel überwältigt. Sie fiel in die Tiefe und fand ihren Todin dem Meere, das von ihr den Namen Helles Meer oderHellespontos erhielt. Phrixos kam glücklich in das Land derKolchier an der Küste des Schwarzen Meeres. Hier wurde ervon dem Könige Aietes gastfreundlich aufgenommen, der ihmeine seiner Töchter zur Gattin gab. Den Widder opfertePhrixos dem Zeus, dem Beförderer der Flucht; sein Vlies gaber dem Könige Aietes zum Geschenk. Dieser weihte dasselbedem Ares und befestigte es mit Nägeln im einem Haine, derdiesem Gott geheiligt war. Zur Bewachung des GoldenenVlieses bestellte Aietes einen ungeheuren Drachen; denn einSchicksalsspruch hatte sein Leben vom Besitze diesesWidderfelles abhängig gemacht. Das Vlies wurde in der ganzenWelt als ein großer Schatz betrachtet, und lange trug man sich auch in Griechenland mit der Nachricht von demselben.Manchen Helden und Fürsten gelüstete es darnach; so hattePelias nicht falsch gerechnet, wenn er hoffte, seinen NeffenIason durch die Aussicht auf eine so herrliche Beute zu reizen.Iason ließ sich auch bereitwillig finden; er durchschaute nichtdie Absicht seines Oheims, ihn in den Gefahren dieses Zugesuntergehen zu lassen, und verpflichtete sich feierlich, dasAbenteuer zu bestehen. Die berühmtesten HeldenGriechenlands wurden zu dem kühnen Unternehmenaufgefordert. Am Fuße des Berges Pelion, aus einer Holzart,die im Meere nicht fault, wurde unter Athenes Leitung vondem geschicktesten Baumeister Griechenlands ein herrlichesSchiff mit fünfzig Rudern erbaut und nach seinem ErbauerArgos, dem Sohne des Arestor, Argo genannt. Es war daserste lange Schiff, auf welchem sich Griechen in die offeneSee wagten. Die Göttin Athene hatte dazu das weissagendeBrett von einer redenden Eiche des Orakels zu Dodonagestiftet, das eine Stelle in dem Tafelwerke fand. Das Schiffwar auswendig mit vielen geschnitzten Arbeiten geziert undgleichwohl so leicht, daß es die Helden zwölf Tagesreisen weitauf der Achsel tragen konnten. Als das Fahrzeug fertig unddie Helden versammelt waren, wurden die Plätze derArgoschiffer (Argonauten) verlost. Iason war Befehlshaber desganzen Zuges; Tiphys war der Steuermann; Lynkeus, derScharfblickende, machte den Lotsen des Schiffs. Im Vorderteiledes Schiffs saß der herrliche Held Herakles, im HinterteilPeleus, der Vater des Achilles, und Telamon, der Vater desAjax. Im innern Raume befanden sich unter andern Kastorund Pollux, die Zeussöhne, Neleus, der Vater Nestors,Admetos, der Gemahl der frommen Alkestis, Meleager, derBesieger des kalydonischen Ebers, Orpheus, der wundervolleSänger, Menötios, der Vater des Patroklos, Theseus, nachher König von Athen, und sein Freund Peirithoos, Hylas, der jungeGefährte des Herakles, Poseidons Sohn Euphemos und Oïleus,der Vater des kleineren Ajax. Iason hatte seinen Schild demPoseidon gewidmet, und vor der Abfahrt wurde ihm und allenMeeresgöttern ein feierliches Opfer mit Gebeten dargebracht.Als alle im Schiffe Platz genommen, wurden die Ankergelichtet; die fünfzig Ruderer begannen ihren regelmäßigenTaktschlag; ein günstiger Wind schwellte die Segel, und baldhatte das Schiff den Hafen von Iolkos hinter sich. Orpheusmit lieblichen Harfentönen und begeisterndem Gesang belebteden Mut der Argoschiffer; lustig fuhren sie an Vorgebirgenund Inseln vorbei; erst am zweiten Tage erhob sich ein Sturmund trieb sie in den Hafen der Insel Lemnos.
Die Argonauten zu Lemnos
Auf dieser Insel hatten das Jahr zuvor die Weiber alle ihre Männer, ja das ganze männliche Geschlecht, vom Zorn Aphroditens verfolgt und von Eifersucht getrieben, weil jene sich Nebenweiber aus Thrakien geholthatten, ausgerottet. Nur Hypsipyle hatte ihren Vater, den KönigThoas, verschont und in einer Kiste dem Meere zur Rettungübergeben. Seitdem fürchteten sie unaufhörlich einen Angriffvon seiten der Thrakier, der Verwandten ihrerNebenbuhlerinnen, und blickten oft mit ängstlichen Augennach der hohen See hinaus. Auch jetzt, wo sie das Schiff Argoheranrudern sahen, stürzten sie alle miteinander aufgeschrecktaus den Toren und strömten, mit Waffen angetan, wieAmazonen ans Ufer. Die Helden verwunderten sich höchlich,als sie das ganze Gestade voll von bewaffneten Weibern undkeinen Mann erblickten. Sie fertigten in einem Nachen einenHerold mit dem Friedensstabe an die seltsame Versammlungab, der von den Frauen vor die unvermählte Königin Hypsipylegebracht wurde und in bescheidenen Worten die Bitte derArgoschiffer um gastliche Rast vorbrachte. Die Königinversammelte ihr Frauenvolk auf dem Marktplatze der Stadt;sie selbst setzte sich auf den steinernen Thron ihres Vaters;ihr zunächst lagerte sich, auf einen Stab gestützt, die greiseAmme; dieser zur Rechten und zur Linken saßen je zwei blondhaarige, zarte Jungfrauen. Nachdem sie der Versammlung das friedliche Ansinnen der Argonauten vorgelegt, sprach sie aufgerichtet: »Liebe Schwestern, wir haben eine große Freveltat begangen und in der Torheit uns männerlos gemacht; wir sollten gute Freunde, wenn sie sich uns darbieten, nicht zurückstoßen. Aber wir müssen auch dafür sorgen, daß sie nichts von unserer Untat erfahren. Darum ist mein Rat, den Fremden Speise, Wein und alle Notdurft in ihr Schiff tragen zu lassen und durch solche Bereitwilligkeit sie ferne von unsern Mauer zu halten.«
Die Königin hatte sich wieder niedergesetzt und dagegen diealte Amme sich erhoben. Mit Mühe richtete sie ihren Kopfaus den Schultern auf und sprach: »Sendet immerhin denFremdlingen Geschenke: dies ist wohlgetan. Denket aber auchdaran, was euch bevorsteht, wenn die Thrakier kommen. Undwenn ein gnädiger Gott diese fernehält, seid ihr darum vorallem Übel sicher? Zwar die alten Weiber, wie ich, könnenruhig sein; wir werden sterben, ehe die Not dringend wird,ehe alle unsere Vorräte zu Ende sind. Ihr Jüngeren aber, wiewollet ihr alsdann leben? Werden sich die Ochsen für euchvon selbst ins Joch spannen und den Pflug durchs Ackerfeldziehen? Werden sie an eurer Statt, wenn das Jahr herum ist,die reifen Ähren abschneiden? Denn ihr selbst werdet dieseund andere harte Arbeiten nicht verrichten wollen. Ich rateeuch, weiset den erwünschen Schutz nicht ab, der sich euchdarbietet; vertrauet Gut und Habe den edelgeborenenFremdlingen an und laßt sie eure schöne Stadt verwalten!«Dieser Rat gefiel allen Weibern von Lemnos wohl. Die Königinschickte eine der beisitzenden Jungfrauen mit dem Herold aufdas Schiff, um den Argonauten den günstigen Beschluß derFrauenversammlung kundzutun. Die Helden waren über dieNachricht hocherfreut, sie glaubten nicht anders, als Hypsipyle sei ihrem Vater nach dessen Tode in friedlicher Übernahmeder Herrschaft gefolgt. Iason warf den purpurnen Mantel, einGeschenk der Athene, über seine Schultern und wandelte derStadt zu, einem schimmernden Sterne ähnlich. Als er in dieTore einzog, strömten ihm die Frauen mit lautem Gruße nachund erfreuten sich des Gastes. Er aber heftete mit sittsamerScheu die Augen auf den Boden und eilte dem Palaste derKönigin zu. Dienende Mägde taten die hohen Pforten weitvor ihm auf, die Jungfrau führte ihn in das Gemach ihrerHerrin. Hier nahm er dieser gegenüber auf einem prachtvollenStuhle Platz. Hypsipyle schlug die Augen nieder, und ihrejungfräulichen Wangen röteten sich. Verschämt wandte sie sichan ihn mit den schmeichelnden Worten: »Fremdling, warumweilet ihr so scheu außerhalb unserer Tore? Diese Stadt wirdja nicht von Männern bewohnt, daß ihr euch zu fürchten hättet.Unsere Gatten sind uns treulos geworden; sie sind mitthrakischen Weibern, die sie im Kriege erbeutet, in das Landihrer Nebenweiber gezogen und haben ihre Söhne undmännlichen Diener mit sich genommen; wir aber sind hilfloszurückgeblieben. Darum, wenn es euch gefällt, kehret hier,bei unsrem Volke, ein, und magst du, sollst du an meines VatersThoas Statt die Deinigen und uns beherrschen. Du wirst dasLand nicht tadeln, es ist bei weitem die fruchtbarste Insel indiesem Meere. Geh daher, guter Führer, melde deinenGenossen unsern Vorschlag und bleibet nicht länger außerhalbder Stadt.« So sprach sie und verhehlte nur die Ermordungder Männer. Ihr erwiderte Iason: »Königin, die Hilfe, die duuns Hilfsbedürftigen anbietest, nehmen wir mit dankbaremHerzen an; wenn ich meinen Genossen die Nachrichtzurückgebracht habe, will ich in eure Stadt zurückkehren, aberden Zepter und die Insel behalte du selbst! Nicht als ob ich sieverachte; aber mich erwarten schwere Kämpfe im fernen Lande.« Iason reichte der königlichen Jungfrau die Hand zum Abschiedsgruße, dann eilte er zurück ans Ufer. Bald kamen auch die Frauen auf schnellen Wagen nach, mit vielen Gastgeschenken. Ohne Mühe überredeten sie die Helden, die ihres Führers Botschaft schon vernommen hatten, die Stadt zu betreten und in ihren Häusern einzukehren. Iason nahm seine Wohnung in der Königsburg selbst, die andern da und dort; nur Herakles, der Feind weibischen Lebens, blieb mit wenigen auserlesenen Genossen zurück auf dem Schiffe. Jetzt füllten fröhliche Mahlzeiten und Tänze die Stadt; duftiger Opferdampf stieg zum Himmel; Einwohnerinnen und Gäste ehrten den Schutzgott der Insel, Hephaistos, und Aphrodite, seine Gemahlin. Von Tag zu Tag wurde die Abfahrt verschoben; und noch lange hätten die Helden bei den freundlichen Wirtinnen verweilt, wenn nicht Herakles vom Schiffe herbeigekommen wäre und die Genossen, ohne der Weiber Wissen, um sich versammelt hätte. »Ihr Elenden«, schalt er, »hattet ihr nicht genug Frauen im eigenen Lande? Seid ihr der Hochzeit bedürftig hierhergekommen? Wollt ihr als Bauern zu Lemnos das Feld pflügen? Freilich! ein Gott wird für uns das Vlies holen und es uns zu Füßen legen! Lieber lasset uns jeden in seine Heimat zurückkehren; jener mag sich mit Hypsipyle vermählen, die Insel Lemnos mit seinen Söhnen bevölkern und von fremden Heldentaten hören!«
Keiner wagte gegen den Helden, der so sprach die Augenaufzuheben oder ihm zu widersprechen. Von der Versammlungweg rüsteten sie sich zur Abfahrt. Aber die Lemnierinnen,ihre Absicht erratend, umschwärmten sie wie summendeBienen mit Klagen und Bitten. Doch ergaben sie sich zuletztin den Entschluß der Helden. Hypsipyle trat mit tränendenAugen aus der Schar hervor, nahm Iason bei der Hand undsprach: »Geh, und mögen dir die Götter samt deinen Genossen, wie du es wünschest, das Goldene Vlies verleihen!Wenn du je zu uns zurückkehren willst, so erwartet dich dieseInsel und das Zepter meines Vaters. Aber ich weiß es wohl, duhast diese Absicht nicht. So gedenke denn wenigstens meinerin der Ferne!« Iason schied mit Bewunderung von der edlenKönigin und bestieg zuerst das Schiff, nach ihm die andernHelden alle. Sie lösten die Taue, mit welchen das Fahrzeug ansLand gebunden war, die Ruderer setzten sich in Bewegung,und in kurzer Zeit hatten sie den Hellespont hinter sich.
Die Argonauten im Lande der Dolionen
Thrakische Winde trieben hier das Schiff in die Nähe der phrygischen Küste, wo auf dem Eilande Kyzikos die erdgeborenen Riesen in ungezähmter Wildheit und die friedlichen Dolionen nebeneinander wohnten. Jenen hingensechs Arme vom Leibe herunter, zwei an den mächtigenSchultern und vier an den beiden Seiten. Die Dolionenstammten vom Meeresgotte ab, der sie auch gegen jeneUngeheuer schirmte. Ihr König war der fromme Kyzikos.Dieser und sein ganzes Volk, als sie von der Ankunft desSchiffes und dem Geschlechte der Männer gehört, gingen denArgonauten liebreich entgegen, empfingen sie gastfreundlichund überredeten sie, noch weiter zu rudern und das Schiff imHafen der Stadt vor Anker zu legen. Der König hatte längsteinen Orakelspruch erhalten: Wenn die göttliche Schar derHeroen käme, so sollte er sie liebreich aufnehmen und ja nichtbekriegen. Er versah sie deswegen reichlich mit Wein undSchlachtvieh. Er selbst war noch ganz jung, und kaum erstwar ihm der Bart gewachsen. Im Königshause wartete seindie junge Gattin, die er eben erst aus ihres Vaters Hauseheimgeführt hatte; dennoch verließ er sie, um, demGötterspruche folgsam, das Mahl mit den Fremden zu teilen.Hier erzählten sie ihm von dem Ziel und Zweck ihrer Fahrt,und er unterrichtete sie über den Weg, den sie zu nehmen hätten. Am andern Morgen bestiegen sie einen hohen Berg,um selbst die Lage der Insel und das Meer zu überschauen.Inzwischen waren von der andern Seite des Eilands die Riesenhervorgebrochen und hatten den Hafen mit Felsblöckengesperrt. In diesem lag das Schiff Argo, von Herakles, derauch diesmal nicht an das Land gestiegen war, bewacht. Alsdieser die Ungeheuer das boshafte Werk unternehmen sah,schoß er ihrer viele mit seinen Pfeilen zu Tode. Zu gleicherZeit kamen auch die übrigen Helden zurück und richtetenmit Pfeilen und Speeren unter den Riesen eine furchtbareNiederlage an, so daß sie in dem engen Hafen wie einumgehauener Wald dalagen, die einen mit Kopf und Brust imWasser, mit den Füßen auf dem Ufersande, die andern mitden Füßen im Meere, mit Kopf und Brust am Ufer; beideFischen und Vögeln zur Beute bestimmt. Nachdem die Heldendiesen glücklichen Kampf bestanden hatten, lösten sie untergünstigem Winde die Ankertaue und segelten hinaus in dieoffene See. Aber in der Nacht legte sich der Wind; bald erhobsich ein Sturm von der entgegengesetzten Seite, und so wurdensie genötigt, noch einmal am gastlichen Lande der Dolionenvor Anker zu gehen, ohne daß sie es wußten; denn sie glaubtensich an der phrygischen Küste. Ebensowenig erkannten dieDolionen, die bei dem Geräusche der Landung sich aus ihrernächtlichen Ruhe erhoben hatten, die Freunde wieder, mitdenen sie gestern so fröhlich gezecht hatten. Sie griffen zuden Waffen, und eine unglückselige Schlacht entspann sichzwischen Gastfreunden. Iason selbst stieß dem gütigen KönigeKyzikos den Speer mitten in die Brust, ohne ihn zu kennenund von ihm gekannt zu sein. Die Dolionen wurden endlichin die Flucht geschlagen und schlossen sich in die Mauernihrer Stadt ein. Am andern Morgen wurde beiden der Irrtumoffenbar.
Bitterer Schmerz ergriff den Argonautenführer Iason mit allenseinen Helden, als sie den guten Dolionenkönig in seinem Bluteliegen sahen. Drei Tage lang trauerten in friedlicherVermischung die Helden und die Dolionen, rauften sich dieHaare und stellten den Gebliebenen zu Ehren gemeinschaftlichTrauerkampfspiele an; dann schifften die fremden Heldenweiter, Klite aber, die Gemahlin des gefallenenDolionenköniges, erdrosselte sich mit dem Stricke; sie hatteden Tod ihres Gatten nicht überleben wollen.
Herakles zur ü ckgelassen
Nach einer stürmevollen Fahrt landeten die Helden in einem Meerbusen Bithyniens bei der Stadt Kios. Die Mysier, die hier wohnten, empfingen sie gar freundlich, türmten dürres Holz zum wärmenden Feuer auf,machten den Ankömmlingen aus grünem Laub eine weicheStreu und setzten ihnen noch in der Abenddämmerung Weinund Speise zur Genüge vor. Herakles, der alle Bequemlichkeitender Reise verschmähte, ließ seine Genossen beim Mahle sitzenund machte einen Streifzug in den Wald, um sich aus einemTannenbaum ein besseres Ruder für den kommenden Morgenzu schnitzen. Bald fand er eine Tanne, die ihm gerecht war,nicht zu sehr mit Ästen beladen, in der Größe und im Umfangwie der Ast einer schlanken Pappel. Sogleich legte er Köcherund Bogen auf die Erde, warf sein Löwenfell ab, seine eherneKeule daneben und zog den Stamm, den er mit beiden Händengefaßt, mitsamt den Wurzeln und der daranhängenden Erdeheraus, so daß die Tanne dalag, nicht anders denn, als hätte sieein Sturm entwurzelt. Inzwischen hatte sich sein jungerGefährte Hylas auch vom Tische der Genossen verloren. Erwar mit dem ehernen Kruge aufgestanden, um Wasser fürseinen Herrn und Freund zum Mahle zu schöpfen und auchalles andere ihm für seine Rückkehr vorzubereiten. Herakleshatte auf seinem Zuge gegen die Dryopen seinen Vater imWortwechsel erschlagen, den Knaben aber aus dem Hausedes Vaters mit sich genommen und sich zum Diener und Freunde erzogen. Als dieser schöne Jüngling an dem Quelle Wasser schöpfte, leuchtete der Vollmond. Wie er sich nun eben mit dem Kruge nach dem Wasserspiegel neigte, erblickte ihn die Nymphe des Quelles. Von seiner Schönheit betört, schlang sie den linken Arm um ihn, mit der Rechten ergriff sie seinen Ellenbogen und zog ihn so hinunter in die Tiefe. Einer der Helden, Polyphemos mit Namen, der die Rückkehr des Herakles nicht ferne von jenem Quell erwartete, hörte den Hilfeschrei des Knaben. Aber er fand ihn nicht mehr, dagegen begegnete er dem Herakles, der aus dem Walde zurückkam. »Unglücklicher«, rief er ihm entgegen, »muß ich der erste sein, der dir die Trauerbotschaft melde? Dein Hylas ist zum Quelle gegangen und nicht wieder zurückgekehrt; Räuber fahren ihn gefangen davon oder wilde Tiere zerreißen ihn; ich selbst habe seinen Angstruf gehört.« Dem Herakles floß der Schweiß vom Haupte, als er es hörte, und das Blut wallte ihm gegen die Brust. Zornig warf er die Tanne auf den Boden und rannte, wie ein von der Bremse gestochener Stier Hirten und Herde verläßt, mit durchdringendem Rufe durch das Dickicht der Quelle zu.
Jetzt stand der Morgenstern über dem Bergesgipfel; günstigerWind erhub sich. Der Steuermann ermahnte die Helden, ihnzu benützen und das Schiff zu besteigen. Schon fuhren sie imMorgenlichte fröhlich dahin, als ihnen zu spät einfiel, daß zweiihrer Genossen, Polyphemos und Herakles, von ihnen am Uferzurückgelassen worden. Ein stürmischer Streit erhob sich unterden Helden, ob sie ohne die tapfersten Begleiter weitersegelnsollten. Iason sprach kein Wort, stille saß er, und der Kummerfraß ihm am Herzen; den Telamon aber übermannte der Zorn:»Wie kannst du so ruhig sitzen?« rief er dem Führer zu; »gewißfürchtetest du, Herakles möchte deinen Ruhm verdunkeln!Doch was helfen da Worte? Und wenn alle Genossen mit dir einverstanden wären, so will ich allein zu dem verlassenenHelden umkehren.« Mit diesen Worten faßte er denSteuermann Tiphys an der Brust, seine Augen funkelten wieFeuerflammen, und gewiß hätte er sie gezwungen, nach demGestade der Mysier zurückzukehren, wenn nicht die beidenSöhne des Boreas, Kalais und Zetes, ihm in den Arm gefallenwären und mit scheltenden Worten zurückgehalten hätten.Zugleich stieg aus der schäumenden Flut Glaukos, derMeergott, hervor, faßte mit starker Hand das Ende des Schiffesund rief den Eilenden zu: »Ihr Helden, was streitet ihr euch?Was begehret ihr, wider den Willen des Zeus den mutigenHerakles mit euch in das Land des Aietes zu führen? Ihm sindganz andere Arbeiten zu verrichten vom Schicksale bestimmt.Den Hylas hat eine liebende Nymphe geraubt, und ausSehnsucht nach ihm ist er zurückgeblieben.« Nachdem er ihnensolches geoffenbart, tauchte Glaukos wieder in die Tiefe nieder,und das dunkle Wasser schäumte in Wirbeln um ihn. Telamonwar beschämt, er ging auf Iason zu, legte seine Hand in desHelden Hand und sprach: »Zürne mir nicht, Iason! DerSchmerz hat mich verführt, unvernünftige Worte zu reden!Übergib meinen Fehler den Winden, und laß uns Wohlwollenüben wie früher!« Iason gab der Versöhnung gerne Gehör,und so fuhren sie bei starkem und günstigem Winde dahin.Polyphemos fand sich bei den Mysiern zurecht und baute ihneneine Stadt. Herakles aber ging weiter, wohin ihn dieBestimmung des Zeus rief.
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- Gustav Schwab (Author), 2010, Die Argonautensage, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/144575
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