Geschichte wird heutzutage hauptsächlich als zur Kultur, zur Unterhaltung und zum Bildungsgut gehörig gesehen, seltener aber als ein für unser Leben, Handeln und die Wissenschaft Verbindliches und Wirksames. Auch der Fortschrittsoptimismus in der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts wurde durch Verfallsgeschichte und Untergangsvisionen von der Idee vom Ende der Geschichte abgelöst. Eine gehaltvolle Deutung und philosophische Theorie des geschichtlichen Verlaufs hat in der Moderne stark an Glaubwürdigkeit verloren. Dennoch scheint es heute einen großes Interessen und einen Bedarf an Geschichte zu geben, betrachtet man den Zulauf zu Museen und historischen Ausstellungen, die wachsende Zahl von Publikationen über Alltagsgeschichte, sowie die neuen nationale und ethischen Bewegungen, welche sich auf historische Zugehörigkeit berufen. Walter Benjamins Begriff der Geschichte stellt nun eine aktuelle Alternative zu der ausgedienten universalistischen Geschichtsphilosophie und dem zum Relativismus neigenden Historismus dar. Sie wendet sich ab von einer chronologischen, die Geschehnisse aufzählenden Geschichtsschreibung, indem sie versucht, die Objektivität zu durchbrechen und die Erfahrungen des einzelnen Individuums in den Mittelpunkt des geschichtlichen Verständnisses zu stellen.
Gliederung
Einleitung: Überblick
I Erläuterung der Thesen über den Begriff der Geschichte
1 These I: Historischer Materialismus und Theologie
2 These II: Gegenwartsverwiesenheit von Erlösung und Glück
3 These III: Verbindung von konkreter Gegenwart und Vergangenheit im Zitat
4 These IV: Der Kampf um die feinen und spirituellen Dinge
5 Thesen V, VI, VII: Aktualisierung des Gewesenen
6 These VIII: Der Ausnahmezustand als Normalfall
7 These IX: Der Engel der Geschichte
8 Thesen X-XIII: Kritik am Fortschrittsbegriff
9 Thesen XIV-XV: Konstruktion durch Destruktion
10 Thesen XVI-XVIII, Anhang A und B: messianische Stilllegung des Geschehens
II persönliche Stellungnahme zu Walter Benjamins Thesen
Schluss: Appell an die Gegenwart
Literatur:
Einleitung: Überblick
Geschichte wird heutzutage hauptsächlich als zur Kultur, zur Unterhaltung und zum Bildungsgut gehörig gesehen, seltener aber als ein für unser Leben, Handeln und die Wissenschaft Verbindliches und Wirksames. Auch der Fortschrittsoptimismus in der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts wurde durch Verfallsgeschichte und Untergangs-visionen von der Idee vom Ende der Geschichte abgelöst. Eine gehaltvolle Deutung und philosophische Theorie des geschichtlichen Verlaufs hat in der Moderne stark an Glaubwürdigkeit verloren. Dennoch scheint es heute einen großes Interessen und einen Bedarf an Geschichte zu geben, betrachtet man den Zulauf zu Museen und historischen Ausstellungen, die wachsende Zahl von Publikationen über Alltagsgeschichte, sowie die neuen nationale und ethischen Bewegungen, welche sich auf historische Zugehörigkeit berufen. Walter Benjamins Begriff der Geschichte stellt nun eine aktuelle Alternative zu der ausgedienten universalistischen Geschichtsphilosophie und dem zum Relativismus neigenden Historismus dar. Sie wendet sich ab von einer chronologischen, die Geschehnisse aufzählenden Geschichtsschreibung, indem sie versucht, die Objektivität zu durchbrechen und die Erfahrungen des einzelnen Individuums in den Mittelpunkt des geschichtlichen Verständnisses zu stellen.
I Erläuterung der Thesen über den Begriff der Geschichte
1 These I: Historischer Materialismus und Theologie
Benjamin beginnt mit der Schilderung eines Schachroboters, der im Jahre 1769 von dem österreichisch-ungarischen Hofbeamten und Mechaniker Wolfgang von Kempelen konstruiert und gebaut wurde. Dieser Automat gewann gegen alle möglichen Schachspieler, die ihn zu einer Partie herausforderten. „Eine Puppe in türkischer Tracht […] saß vor dem Brett […] Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte.“ (TBG, 665[1] ) Augenscheinlich gewinnt die Puppe jede Partie, obwohl dies natürlich ohne die Hilfe des Zwerges nicht möglich wäre. Die Puppe setzt Benjamin allegorisch für den Historischen Materialismus, welcher gemeinsam mit der Theologie in Gestalt des Zwerges versucht, zu gewinnen. Gegen wen oder was gekämpft wird, verrät die I. These nicht. Die Betrachtung der übrigen Geschichtsthesen lässt darauf schließen, dass damit ein Klassenkampf gegen ungerechte ökonomische Verhältnisse beziehungsweise ein politischer Kampf gegen den Faschismus gemeint ist. „Gewinnen soll immer die Puppe, die man »historischen Materialismus« nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen“ (TBG, 665). Das heißt, am Ende zählen allein die Qualitäten des Zwerges, sprich der Theologie. Um wieder etwas voraus zu greifen: bei der Theologie handelt es sich um eine messianische Kraft, die verborgene Sinninhalte aus der Vergangenheit zum Vorschein bringt und den Menschen somit von einer unreflektierten Vergangenheit erlösen soll. Dem Historischen Materialismus ist dies allein nicht möglich. Ohne die Theologie würde er wie eine Puppe in einem leeren illusionistischen Mechanismus aussehen. Der spielerische Charakter dieses Bildes ironisiert zum einen die Theologie als kleinen und hässlichen Zwerg, zum anderen zielt Benjamin mit seiner Darstellung des historischen Materialismus als Puppe in türkischer Tracht mit einer Wasserpfeife im Mund auf die erstarrte Version des Marxismus in Form der stalinistischen Orthodoxie. Die beiden grotesken Gestalten versuchen mit vereinten Kräften, ihren Kampf zu gewinnen. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass sie nach der Beendigung des Spiels verschwinden und einer anderen Realität weichen, da ein Festhalten an ihrer jetzigen Erscheinungsform hieße, ihre Historizität zu vergessen und sich auf die dogmatische Position des Materialismus beziehungsweise der Theologie zu versteifen.
2 These II: Gegenwartsverwiesenheit von Erlösung und Glück
Benjamins Geschichtsbegriff, in dessen Zentrum die Gegenwart steht, konkurriert mit einem Geschichtsverständnis, welches das Glück nicht im Hier und Jetzt erwartet, sondern in der Zukunft. Der Theologe und Philosoph Hermann Lotze beanstandet daran die Ungerechtigkeit, dass diejenigen, welche in der Gegenwart einen zukünftigen Glückszustand vorbereiten helfen, nicht an diesem teilhaben können, da dieser aufgrund der begrenzten menschlichen Lebenszeit in einer unerreichbaren Zukunft liegt. „Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten geben können.“ (TBG, 665) Eine Sinnerfülltheit und Zielstrebigkeit des Geschichtsprozesses gibt es nicht. Von der Zukunft haben wir kein Bild, sie ist ungewiss und offen; wir wissen nur, dass sie das im Vergleich zu dem uns heute Gegebene ganz andere ist. Die Gegenwartsverwiesenheit wird zum entscheidenden Moment von Benjamins Geschichtsphilosophie.
Ebenso wie jede andere Auseinandersetzung wird der Kampf gegen ungerechte ökonomische und politische Verhältnisse in der Aussicht auf ein glückliches und vorteilhaftes Ende begonnen. Benjamins Bild vom Glück beruht nicht auf einem auf die Zukunft ausgerichteten Streben, sondern auf einem unerfüllbaren Streben – wie es hätte sein können – welches von der Vergangenheit her auf uns trifft und an unsere Gegenwart um Erlösung appelliert. „Es schwingt, mit anderen Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit.“ (TBG, 665)
Aus der Kraft der spannungsvollen Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart entsteht unsere Vorstellung von Glück, die uns zum Handeln bewegt. Diese These zeigt, dass Benjamin Geschichte nicht als eine bloße chronologische Anreihung von Fakten versteht, sondern vielmehr als ein gegenwärtiges Suchen nach dem Glück. Unserer Gegenwart wird, da unser Bild des Glücks in einem unerlösten Streben der Vergangenheit besteht, eine Verantwortung gegenüber der Vergangenheit zugesprochen. Das heißt, der Lauf der Geschichte und unsere Tätigkeit bedeuten nicht so sehr ein auf die Zukunft ausgerichtetes Überwinden der Vergangenheit, sondern vielmehr ein erlösendes Hineinholen des Vergangenen in die Gegenwart. Die II. These von „einem heimlichen Index“ oder von einer „geheimen Verabredung“, welche die Zeitpunkte miteinander verbinden. Es ist die Aufgabe des historischen Materialisten, als Träger der messianischen Kraft, vergangene Inhalte herauszubilden, von der unser Glück abhängt und die letztlich auf eine ethisch-politische Dimension der Geschichte hinweist.
3 These III: Verbindung von konkreter Gegenwart und Vergangenheit im Zitat
Aus der messianischen Perspektive behält jedes vergangene Ereignis einen Appell an die Gegenwart, sich der Vergangenheit anzunehmen. Anders der Chronist mit seinem blinden Archivierungseifer, der sich von keinem der von ihm gesammelten Ereignisse getroffen fühlt. Im Gegensatz dazu wird der historische Materialist durch das Zitat dazu gezwungen, alles von Grund auf in Frage zu stellen und sich auf das Zitierte einzulassen, indem er sich von seinen Vorstellungen und Meinungen, die er zu einem bestimmten Sachverhalt hat, löst. Im Zitat wird die konkrete Gegenwart des einzelnen mit einem bestimmten Punkt der Vergangenheit verbunden, Eigenes und Fremdes tritt ununterscheidbar zusammen; in der Aktualisierung wird das Erinnerte „herbeizitiert“ und die Differenzen zwischen den Zeiten beseitigt; Konventionen der Alltagswelt werden zerstört und mit neuem Sinn versehen. Die mittels des Zitierens geschaffene plötzliche Konstellation eröffnet eine neue Perspektive, die aus der Überwindung der zeitlichen Entfernungen hervorgeht. „Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden.“ (TBG, 666) Somit wird die Geschichte erst am Tag des Jüngsten Gerichts vollständig. Solange die Menschheit nicht erlöst ist, bleibt die geschichtliche Konstellation zwischen Vergangenheit und Gegenwart unabgeschlossen, so dass man nur in einem messianischen Zusammenhang von einer universalen Geschichte sprechen kann.
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[1] Thesen Über den Begriff der Geschichte, in: Walter Benjamin – Ein Lesebuch, Opitz, M. (Hrsg.), Suhrkamp Verlag, 1996, Seite 665
- Arbeit zitieren
- Katharina Baessler (Autor:in), 2009, Walter Benjamins Thesen über den Begriff der Geschichte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/144135
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