Mit der Renaissance, der "Wiedergeburt der Menschheit durch Wiedergeburt des Menschen der Antike,"1 endet das christliche Mittelalter, das seine Existenz der Abwendung von der heidnischen Antike verdankte, und beginnt die sogenannte Neuzeit. Spätestens seit der Einführung einer "quantitativ orientierten" Naturbetrachtung durch Kepler und Galilei wurde jedoch deutlich, daß die antike Naturwissenschaft, die "die Natur aus qualitativ verschiedenen Kräften zu erklären"2 versuchte, für die moderne als Vorbild nicht geeignet war. Unklar blieb, ob dasselbe für die Kunst galt; in der Querelle des Anciens et des Modernes kam es darüber zu einer Auseinandersetzung zwischen Fürsprechern der antiken Kunst, die diese als vollkommen und somit als Vorbild für die moderne Kunst ansahen, den Anciens, und Verfechtern der Fortschrittsidee, den Modernes.
Ihren Höhepunkt fand die Querelle in Perraults Vortrag seines Le Siècle de Louis le Grand während einer Sitzung der Académie française, der Boileau-Despréaux als Vertreter der Anciens dazu veranlasste, entrüstet den Saal zu verlassen. In dieser Huldigungsadresse verwirft Perrault entschieden die Vorstellung einer Vorbildlichkeit der Antike und setzt ihr eine Fortschrittstheorie entgegen, die Kunst und Wissenschaft gleichermaßen umfaßt. Nach einem Ausgleich mit Boileau relativiert Perrault allerdings seine Ansichten am Schluß des vierten und letzten Bandes seiner Parallèle des Anciens et des Modernes, indem er einräumt, daß die Modernen den Alten in Rede- und Dichtkunst weniger weit überlegen seien als in den übrigen Bereichen. Ergebnisse der Querelle waren schließlich die "[h]istorische Betrachtung der Antike, Distanznahme zur eigenen Modernität und die Einsicht in die absolute Verschiedenartigkeit alter und neuer Kunst"3 und somit auch die endgültige Trennung von Kunst und Wissenschaft.
Für Winckelmann steht diese Trennung von vornherein außer Frage; er sieht Kunst zunächst generell als Nachahmung der schönen Natur. Wie in seinen Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst ersichtlich wird, geht er jedoch davon aus, daß in der Antike, besonders im antiken Griechenland, weitaus mehr Möglichkeiten zur Nachbildung der Schönheiten der Natur bestanden als zu seiner Zeit, weswegen er die Nachahmung antiker Kunstwerke modernen Künstlern als effektivere Alternative empfiehlt.
Inhalt
Einleitung
I. Perraults Fortschrittstheorie
1. Perraults Antikenbild in Le Siècle de Louis le Grand
1.1 Zusammenfassung
1.2 Kritik
2. Fazit
II. Winckelmanns Klassizismus
1. Winckelmanns Antikenbild in seinen Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst
1.1 Zusammenfassung
1.2 Kritik
2. Fazit
III. Perrault und Winckelmann: Eine Gegenüberstellung
IV. Byrons Romantik
1. Byrons Antikenbild in Childe Harold’s Pilgrimage
1.1 Griechenland
1.2 Rom
2. Der griechische Freiheitskampf
V. Byron im Vergleich mit Perrault und Winckelmann: Ähnliche Erkenntnisse, unterschiedliche Interpretationen
VI. Schlußbemerkung
Literaturverzeichnis
Einleitung
Mit der Renaissance, der „Wiedergeburt der Menschheit durch Wiedergeburt des Menschen der Antike,“[1] endet das christliche Mittelalter, das seine Existenz der Abwendung von der heidnischen Antike verdankte, und beginnt die sogenannte Neuzeit. Spätestens seit der Einführung einer „quantitativ orientierten“ Naturbetrachtung durch Kepler und Galilei wurde jedoch deutlich, daß die antike Naturwissenschaft, die „die Natur aus qualitativ verschiedenen Kräften zu erklären“[2] versuchte, für die moderne als Vorbild nicht geeignet war. Unklar blieb, ob dasselbe für die Kunst galt; in der Querelle des Anciens et des Modernes kam es darüber zu einer Auseinandersetzung zwischen Fürsprechern der antiken Kunst, die diese als vollkommen und somit als Vorbild für die moderne Kunst ansahen, den Anciens, und Verfechtern der Fortschrittsidee, den Modernes.
Ihren Höhepunkt fand die Querelle in Perraults Vortrag seines Le Siècle de Louis le Grand während einer Sitzung der Académie française, der Boileau-Despréaux als Vertreter der Anciens dazu veranlasste, entrüstet den Saal zu verlassen. In dieser Huldigungsadresse verwirft Perrault entschieden die Vorstellung einer Vorbildlichkeit der Antike und setzt ihr eine Fortschrittstheorie entgegen, die Kunst und Wissenschaft gleichermaßen umfaßt. Nach einem Ausgleich mit Boileau relativiert Perrault allerdings seine Ansichten am Schluß des vierten und letzten Bandes seiner Parallèle des Anciens et des Modernes, indem er einräumt, daß die Modernen den Alten in Rede- und Dichtkunst weniger weit überlegen seien als in den übrigen Bereichen. Ergebnisse der Querelle waren schließlich die „[h]istorische Betrachtung der Antike, Distanznahme zur eigenen Modernität und die Einsicht in die absolute Verschiedenartigkeit alter und neuer Kunst“[3] und somit auch die endgültige Trennung von Kunst und Wissenschaft.
Für Winckelmann steht diese Trennung von vornherein außer Frage; er sieht Kunst zunächst generell als Nachahmung der schönen Natur. Wie in seinen Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst ersichtlich wird, geht er jedoch davon aus, daß in der Antike, besonders im antiken Griechenland, weitaus mehr Möglichkeiten zur Nachbildung der Schönheiten der Natur bestanden als zu seiner Zeit, weswegen er die Nachahmung antiker Kunstwerke modernen Künstlern als effektivere Alternative empfiehlt. Er schafft auf diese Weise, unterstützt (und kritisiert) von Lessing, zumindest in Deutschland die theoretische Grundlage für den Klassizismus, der sich im ausgehenden 18. Jahrhundert zur vorherrschenden Stilrichtung entwickelte.
Nach dem Scheitern der französischen Revolution fand der Klassizismus in der Romantik allmählich eine Gegenbewegung. Als einem der herausragenden Vertreter dieser Kunstrichtung in England und Mitinitiator der griechischen Unabhängigkeitsbewegung mißfällt Lord Byron insbesondere die kühle, berechnende Art, mit der die Klassizisten ihr antikes Vorbild behandeln; bezeichnenderweise offenbart er seine Ansichten nicht, wie Winckelmann, in einem theoretischen Text, sondern in einem epischen Gedicht: Childe Harold’s Pilgrimage. Die Antike ist für Byron nicht zuletzt der Beweis für die Vergänglichkeit jeder Existenz. Bei ihm steht das Gefühl im Mittelpunkt; Kunstwerke sollen keinen unmittelbaren Zweck erfüllen (etwa als Vorlage), sondern Empfindungen hervorrufen.
Im folgenden sollen die Antikenbilder Perraults, Winckelmanns und Byrons, aber auch deren Vorbedingungen und Konsequenzen, ausführlicher analysiert und miteinander verglichen werden. Die Einschätzung der Bedeutung der Antike steht dabei gegenüber historischer Kenntnis im Vordergrund.
I. Perraults Fortschrittstheorie
Perrault legt seine Sicht der Antike zwar in der Parallèle des Anciens et des Modernes leicht abgewandelt dar, sein ursprüngliches Antikenbild, wie es aus dem Gedicht Le Siècle de Louis le Grand, das er am 27. Januar 1687 in der Académie française vortrug, hervorgeht, verdeutlicht jedoch eher die Position der Modernes. Darin vergleicht er die Errungenschaften des Altertums mit denen seiner Zeit und kommt zu dem Schluß, daß „le Siècle de Louis“ dem „beau Siècle d'Auguste“[4] in allen Bereichen überlegen ist.
1. Perraults Antikenbild in Le Siècle de Louis le Grand
1.1 Zusammenfassung
Zunächst rechtfertigt Perrault die Legitimität seines Vergleichs mit der Begründung, die Alten seien zwar „grands“, aber „hommes comme nous“ (SdL, 1). Würde man die Voreingenommenheit aufgeben und davon ablassen, grobe Fehler gutzuheißen, so müsse man sehr tollkühn sein, um die gesamte Antike zu verehren. Vielmehr könne man der Antike durchaus den Preis der Wissenschaft streitig machen.
So sei der seinerzeit göttliche Platon inzwischen zum Langweiler geworden; niemand lese mehr — trotz guter Übersetzung — einen ganzen seiner Dialoge. Aristoteles' Physik sei noch unzuverlässiger als Herodots Geschichtsschreibung, was angesichts des obskuren Zeitalters, in dem selbst der Gelehrteste die Geheimnisse der Natur nur schemenhaft erkennen konnte, nicht weiter verwundern könne. Aristoteles' dubioses System habe nur funktioniert, bis diesem gemäß etwas aus dem Nichts hervorgegangen sei. Kometen wären aus dichtem Dampf entstanden, die Gestirne an einem soliden Firmament befestigt gewesen. Seit der Erfindung des Fernglases und des Mikroskopes und der Entdeckung neuer Welten und Sonnen aber habe sich das menschliche Wissen so sehr erweitert, daß inzwischen die Geheimnisse der Natur enthüllt seien. Aristoteles, „l'homme de mille erreurs“ (SdL, 4), habe zudem trotz seiner Gelehrsamkeit den Blutkreislauf genausowenig gekannt wie die inneren Organe und die Zusammensetzung des Körpers. Die Antike sei somit über die verschiedenen Wunderwerke des Universums nicht in gleichem Maße aufgeklärt gewesen wie Perraults Gegenwart.
Weiter rühme sich die Antike ihrer großartigen Redner wie Cicero oder Demosthenes. Doch auch diese hätten, selbst wenn sie mit den modernen Gewohnheiten vertraut wären, keine Aussicht auf Erfolg. Statt die Menge zu begeistern, würde ihre aufbrausende Art ernüchternd oder gar einschläfernd wirken.
Homer sei zwar ein mächtiges und unnachahmliches Genie gewesen, dessen Dichtungen zu Recht alle Nationen zu allen Zeiten entzückt hätten; wäre er aber zu Perraults Zeit in Frankreich geboren, so würden Homers vorzügliche Schriften weit weniger Fehler vorweisen. Beschreibungen von streitenden Kriegern würden nicht durch langweilige Schilderungen der Heldentaten ihrer Vorfahren unterbrochen, tapfere Halbgötter nicht so brutal, grausam und launenhaft sein. Der Schild des Achill wäre fachkundiger und künstlerisch geschickter geschmiedet, „plus correct“ (SdL, 7) und nicht so überladen gewesen; Homer hätte weit weniger Digressionen eingeschoben und viele Träumereien gestrichen.
Was die Dramatik anginge, so seien Menander, Vergil und Ovid hervorragende Autoren. Doch während sie inzwischen verehrt würden, so sei das zu ihren Zeiten vollkommen anders gewesen. Erst mit der Zeit seien ihre Namen immer mehr geschätzt worden, bis sie schließlich dermaßen berühmt geworden seien, wie sie es selbst nie erwartet hätten. Doch wenn schon diese Dramatiker inzwischen so gerühmt würden, sei kaum vorstellbar, welchen Rang erst die modernen französischen Dramendichter — allen voran Corneille, der es so gut verstanden habe, große Ereignisse mit der heroischen Schönheit nobler Gefühle zu verbinden — bei künftigen Generationen einnehmen würden.
Die antiken Maler müsse man (aus Mangel an konkreten Beweisen ihrer Kunstfertigkeit) an den seltenen Wunderwerken, von deren Vollbringung ihre Bewunderer erzählten, messen. Aber es sei nicht sonderlich schwierig, einen Vogel mit einem bemalten Vorhang zu täuschen oder einen dünnen Federstrich mit einem noch dünneren zu spalten. Vielmehr würden inzwischen Schüler der Malerei schon an der Stelle mit ihren Übungen beginnen, bis zu der die antiken Maler es zuletzt gebracht hätten. Diese hätten es nicht verstanden, das Licht in ihren Gemälden richtig einzusetzen; zudem hätten sie Vorder- wie Hintergrund gleichermaßen deutlich gezeichnet und seien somit Malern wie Raffael oder le Brun weit unterlegen.
Äußerst gewagt sei es für Perrault, seine Überzeugung von der Überlegenheit der Moderne im Hinblick auf die Bildhauerkunst beizubehalten. Allerdings unterscheide sich beispielsweise die Größe des Laokoon allzu sehr von der seiner Söhne, so daß diese wie Zwerge wirkten, und Herkules sei an einigen Stellen ein wenig zu muskulös geraten; und selbst wenn alle Gelehrten des Altertums diese Fehler zu großen Schönheiten erklärten, so könnten sie doch nicht verhindern, daß man die neuen Meisterwerke in Versailles zumindest ebenso schön finde. Auch in künftigen Jahrhunderten werde man sagen, an diesen Werken sei alles großartig, selbst wenn sie nicht mehr vollkommen unbeschädigt sein sollten. Überhaupt habe das gesamte Altertum dem Prunk und der Mannigfaltigkeit Versailles nichts entgegenzusetzen.
In bezug auf den Gartenbau ist Perrault der Ansicht, daß selbst der von Homer — der für seine Hirngespinste bekannt sei — beschriebene sagenhafte Garten des Alkinoos allenfalls mit den alten Gärten der Weinbauern in der näheren Umgebung vergleichbar sei. Die Musik wiederum, wie sie in den Sagen geschildert werde, habe in der Antike bestenfalls die Leidenschaften geweckt. Die moderne Musik hingegen spreche mit ihren klug zusammengestellten Partien, deren Harmonie mit der himmlischen vergleichbar sei, sogar die Vernunft an. Folglich sei die griechische Musik ohne Polyphonie eine unvollkommene Kunst gewesen.
Jede Kunst bestehe aus „secrets divers“ (SdL, 20), die von neugierigen Menschen beim Gebrauch entdeckt worden seien; Tag für Tag kämen neue nützliche Erfindungen hinzu oder würden bestehende verfeinert. Wie die junge Eiche sich nicht mit der alten, die einen großen Schatten werfe und deren Astwerk an den Himmel reiche, vergleichen könne, so habe sich auch in der Architektur der Frühzeit nichts gefunden, was mit der ewigen Struktur der modernen Paläste vergleichbar sei. Die Natur indessen sei, entgegen anderer Ansicht, unwandelbar und habe zu allen Zeiten vergleichbare Körper und Geister hervorgebracht. Untereinander seien die Jahrhunderte verschieden; es gebe aufgeklärte wie unwissende. Dem Jahrhundert Ludwigs XIV. sei jedoch kein anderes vorzuziehen.
1.2 Kritik
Perraults Darstellung der Antike ist geprägt von seiner Theorie der Überlegenheit des „Siècle de Louis le Grand“ über alles bisher dagewesene. Während er jedoch eingangs erklärt, man könne die Gegenwart mit dem Zeitalter des Augustus „sans craindre d’estre injuste“ (SdL, 1) vergleichen, scheint er im Verlauf des Gedichts seine Meinung zu ändern. So stellt er gegen Ende der Dichtung in einer Parabel fest, daß die junge Eiche (die Antike) „ne peut se comparer“ (SdL, 21) mit der alten (der Moderne). Die anfängliche Hypothese von der Vergleichbarkeit der Zeitalter kann somit nur als Vorwand für eine Lobrede auf die Gegenwart und Ludwig XIV. angesehen werden.
Abgesehen von diesem Mangel ist Perraults Argumentation allerdings recht gut durchdacht. Zweiflern an seiner Geschichtsphilosophie, die als Gegenbeweis zu einer sich immer weiter fortentwickelnden Menschheit das Mittelalter anführen könnten, hält er entgegen, daß auch ein „regne heureux d’un excellent Monarque“ (SdL, 22) nötig sei, um die theoretischen Fortschritte in die Praxis umzusetzen. Daher komme es zu aufgeklärten und unwissenden Zeitaltern, wobei Perrault die Antike wie seine Gegenwart offensichtlich zu den aufgeklärten Zeitaltern zählt. Die Antike ist nach Perrault also der Moderne unterlegen, weil zu diesem frühen Zeitpunkt der Geschichte die Menge an angesammeltem Wissen weitaus geringer war als im 17. Jahrhundert, während beide Zeitalter aufgeklärt waren und die Natur ohnehin die gleichen Voraussetzungen bot.
Auch wenn Perraults Theorie plausibel erscheint, sind die Beispiele, die er zu ihrem Beweis anbringt, mitunter weniger überzeugend. Nicht ohne Grund nimmt die Verteidigung des Vorrangs der modernen Kunst weit mehr Raum in Anspruch als die der modernen Wissenschaft. Dieser ist wenig entgegenzusetzen, und Perraults vom Fortschrittsdenken geprägte Geschichtsphilosophie scheint somit für die Wissenschaft zutreffend zu sein.
Anders als die Wissenschaft, in der man die Inkorrektheit antiker Ansichten eindeutig belegen kann, ist Kunst jedoch immer eine Frage des Geschmacks. Perrault räumt dies indirekt selbst ein, wenn er zum Beweis der Vorrangigkeit der modernen Kunst die Rezeption durch seine Zeitgenossen anführt. Dadurch, daß Perrault die antike Kunst nach modernen Maßstäben beurteilt, etwa wenn er behauptet, Homer langweile seine Leser ebenso wie Demosthenes im französischen 17. Jahrhundert seine Zuhörer langweilen würde,[5] ergibt sich jedoch ein Problem der Selbstreflexivität. Perraults Modell funktioniert nur unter der Voraussetzung, daß die modernen Maßstäbe tatsächlich die überlegenen sind. Ist dies nicht der Fall, ist also Perraults Fortschrittstheorie nicht ohne weiteres von der Wissenschaft auf die Kunst übertragbar, so könnten ebenso — unabhängig davon, ob Homer tatsächlich alle modernen Leser langweilt oder nicht — die antiken Normen die besseren sein, und es würde nur irrtümlich angenommen, daß etwa moderne Dramen den antiken überlegen seien. Die Hypothese ist somit direkt abhängig von ihrem Beweis.
Doch nicht nur dieses Paradoxon stört Perraults Argumentation. Indem er immer wieder auf die Kritik durch künftige Generationen verweist, die zum Beispiel der Ansicht sein würden, an den Statuen in Versailles sei alles großartig, widerspricht er sich selbst. Denn selbst wenn, wie er behauptet, Ludwig XIV. „des grands Rois le plus parfait modele“ (SdL, 22) ist, so wird es doch seiner Meinung nach immer wieder aufgeklärte Jahrhunderte geben, in denen eine gemäß seiner Theorie fortentwickelte Menschheit über die Kunstwerke des 17. Jahrhunderts vermutlich ebenso urteilen wird wie Perrault über die der Antike. Nach zukünftigen Maßstäben würden Perraults moderne Kunstwerke demnach zwar weniger Mängel aufweisen als antike; fehlerfrei wären sie aber dennoch nicht.
Perraults Vergleich der Entwicklung der Menschheit mit einer Eiche könnte darauf hindeuten, daß irgendwann ein gewisser Grad an Perfektion erreicht sein würde, an dem kein weiterer Fortschritt mehr möglich wäre. Für diese Deutung spricht, daß die alte Eiche bereits „avoisine le Ciel“ (SdL, 21). Zum einen aber widerspräche das seiner kurz zuvor geäußerten These von der ständigen Fortentwicklung, und zum anderen könnte Perrault, selbst wenn er dieses Bild so gedeutet wissen wollte, nicht sicher sein, ob der Zeitpunkt, von dem an kein Fortschritt mehr möglich ist, schon erreicht ist oder noch nicht.
[...]
[1] Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt 1998; S.285
[2] Ibid., S. 282
[3] Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne, Stuttgart 1995; S. 97
[4] Charles Perrault, „Le Siècle de Louis le Grand“ in Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences: Dialogues; avec le poème du siècle de Louis le Grand et un épître en vers sur le génie, Nachdruck, Genf 1979; S. 1 (im Original); nachfolgend SdL bzw. Parallèle
[5] Lessing weist darauf hin, daß eine exakte französische Übersetzung nicht mit dem griechischen Original vergleichbar sei, da sie tatsächlich „den lebhaftesten Dichter zum langweiligsten Schwätzer“ (Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 1987; Kapitel XVIII) werden ließe. Dies kann zugleich als Anspielung auf Perraults mangelnde Griechischkenntnisse gewertet werden.
- Quote paper
- Thomas Bednarz (Author), 2000, Das Antikenbild bei Perrault, Winckelmann und Byron, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14399
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