Ich empfand schon bei meiner ersten Lektüre des Philoktet vor zwei Jahren den Text als eine Herausforderung, die Situation jenseits eines einfachen Gut/Böse - Denkens zu verstehen. Im Dreieck Philoktet - Neoptolemos - Odysseus bietet Odysseus die größte Schwierigkeit, als Leser nicht einem Verhältnis von Sympathie und Antisympathie zu verfallen. In dem Moment aber, wo man anfängt zu hinterfragen, gerät man immer tiefer in ein scheinbar auswegloses System aus Lüge, Wahrheit, Moral, Ideal, Identität, Entgrenzung, Leid... und Tragik. Mich auf die Person des Odysseus begrenzend, möchte ich versuchen, einige Verbindungslinien zwischen den eben gefallenen Begriffen zu ziehen - Gedankenwege, die ich beim Hinterfragen und Durchdenken der Situation gegangen bin, aufzuzeichnen. Die Wege führen mich zu einem tragischen Verständnis der Odysseusfigur. Dieses Verständnis möchte ich im Folgenden vermitteln.
Inhalt
Vorgedanken/Wegspuren
Ansatz
Das Ziel
Moralische Gesetze
Schicksal
Identität
Folgen
Leid
Das Tragische
Nachgedanken
Vorgedanken/Wegspuren
Ich empfand schon bei meiner ersten Lektüre des Philoktet vor zwei Jahren den Text als eine Herausforderung, die Situation jenseits eines einfachen Gut/Böse - Denkens zu verstehen. Im Dreieck Philoktet - Neoptolemos - Odysseus bietet Odysseus die größte Schwierigkeit, als Leser nicht einem Verhältnis von Sympathie und Antisympathie zu verfallen. In dem Moment aber, wo man anfängt zu hinterfragen, gerät man immer tiefer in ein scheinbar auswegloses System aus Lüge, Wahrheit, Moral, Ideal, Identität, Entgrenzung, Leid... und Tragik.
Mich auf die Person des Odysseus begrenzend, möchte ich versuchen, einige Verbindungslinien zwischen den eben gefallenen Begriffen zu ziehen - Gedankenwege, die ich beim Hinterfragen und Durchdenken der Situation gegangen bin, aufzuzeichnen. Die Wege führen mich zu einem tragischen Verständnis der Odysseusfigur. Dieses Verständnis möchte ich im Folgenden vermitteln.
Die von mir eingesehenen Deutungen reduzieren die Person des Odysseus stets auf den politischen Aspekt; er wird Stellvertreter für politische Personen oder Handlungen.
In der frühen Deutung Schievelbuschs ist er Anwalt, Agent der Notwendigkeit[1], Metapher
für ein Modell gesellschaftlicher Praxis[2] und letztendlich politisch handelnde Person der kommunistischen Geschichte und sozialistischen Gegenwart. Eine zuvor erschienene erste Deutung erwähnt die Hintergründe des Odysseus gar nicht.[3] Frühe Westinszenierungen Stellen die Figur ausschließlich als den Schurken, den Stalinisten dar.[4] Spätere Interpretationen bemühen sich die Parabelhaftigkeit[5] des Stückes in den Vordergrund zu stellen, die Person des Odysseus wird relativiert und bietet eine stärkere Assoziationsplattform. In der ersten DDR - Aufführung im Jahre1978 am Deutschen Theater ist er, kostümiert als Geheimagent, der Rationalist:
Christian Grashof stattet seinen Odysseus vor allem mit kühler Rationalität aus, aber vermeidet hämische Bösartigkeit; er führt - auch in Erkenntnis persönlichen Risikos- seinen Auftrag durch, Rationalität im Denken ist auch im gleichsam <rationalem> Gestus ausgedrückt: knappe Bewegungen, rasche Schritte, Augen überall.[6]
Obwohl der Autor selber in späten Äußerungen Odysseus als „die wichtigste, die tragische Person in dem Stück“[7] bezeichnet, hängelt sich die neuste, im Jahre 1999 erschienene (kurze) Interpretation Norbert Otto Eke`s[8] ganz an der Person Philoktets entlang. Charakteristiken des Odysseus tauchen meist in Nebensätzen auf: „Odysseus, dem der Zweck die Mittel heiligt“[9] ; „Odysseus, der Agent einer moralischen force majeure“[10] ; der „<vernünftig> handelnde Realpolitiker Odysseus“[11] - diese Sätze zeigen durch Stellung und Aussage den psychologisch nicht komplizierten Pragmatiker, den charakterlosen Funktionär. „Philoktet“ ist nach Eke in einer Phase entstanden, in der Müllers Denken in den Kategorien der marxistischen Dialektik verlief.[12] Das Augenmerk liegt auf Odysseus als Sinnbild für das Staatsinteresse, Odysseus als das „politische Subjekt“[13].
In der Untersuchung einer alten griechischen Tragödie wie Sophokles` Vorlage Philoktetes mag es legitim sein, Person und Funktion als eine Einheit zu betrachten. Doch hat sich das Weltbild von der Polis zu den Demokratien des 20. Jahrhunderts geändert. Auch wenn bei der Person Heiner Müller Politisches und Persönliches stets miteinander verfließen (z.B. denke ich an Argumentationsstukturen seiner Autobiographie), ist es bei der Interpretation seines Werkes nicht legitim, aus Funktion Charakter zu schaffen. Die politischen Äußerungen des Odysseus im „Philoktet“ verleiten dazu, das Unpolitische, das Persönliche zu ignorieren. Doch wird Politik aus Person geschafft, und vorerst nicht anders herum. Die charakterlichen Eigenschaften des Odysseus qualifizieren ihn für seine Funktion, doch die Funktion ist nicht Charakter allein. Ich denke es gibt Ansätze im Text, die uns genau dieses zeigen wollen.
Müller fordert uns auf, sein Stück nicht eindeutig, sondern vieldeutig zu begreifen. Seine Charakterisierung „Parabelstück“[14] ist keine Chiffre vor der DDD-Zensur, da gerade Äußerungen nach der Wende diese Bezeichnung noch unterstützen. Auch kann man eine Deutung nur schwer an seinen Äußerungen zum Stück festmachen, da diese oft widersprüchlich sind. So weist er 1978 in einem Rundfunkinterview darauf hin, daß der Schreibprozess „auch eine Auseinandersetzung mit Problemen und mit Fehlentwicklungen, die z.B. mit der Person Stalins zusammenhängen“[15] war. In seiner Biographie erwähnt er dann folgenden Vorfall:
Eine Germanistin kam zu mir, sie hatte entdeckt, daß das Stück den Stalinismus behandelt. Das war mir nicht aufgefallen, sonst hätte ich das Stück vielleicht nicht schreiben können.[16]
Müllers Äußerungen sind in ihrem Kontext zu sehen. Sind sie vor der Wende von der DDR- Zensur beschränkt, beeinflußt sie nach der Wende ein Zynismus über die jetzige Gesellschaft. In einem Brief an Mitko Gotscheff, den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet am dramatischen Theater Sofia preist er die Interpretationsfreiheit des Theaters: „Die Aufführung behauptet ihn“ (...den Ort des Theaters im Zeitraum zwischen Stoff und Darstellung...) „gegen den Kannibalismus der Einfühlung, gegen den Terror des Begriffs, den Tod der Erfahrung.“[17]
In diesem Sinne sollte man, denke ich, seine Stücke verstehen. Der Philoktet ist ein Modell, in dem viele Ansätze und Formen enthalten sind. Diese sind aber bewußt nicht eindeutig konzipiert, sondern lassen sich in vielen Strukturen, politischen, gesellschaftlichen und auch individuell psychologischen entdecken. Voraussetzung ist also für mich, Odysseus nicht in Bezug auf ein System oder geschichtlichen Prozesß, sondern unabhängig davon als einen psychologischen Charakter zu begreifen.
Ansatz
Während der Philoktet als Opfer zu bezeichnen wäre, ist Odysseus Täter. Er führt die Mission Lemnos aus und brachte auch zehn Jahre zuvor Philoktet auf die Insel. Er entlarvte die Tarnung Achills und zwang ihn in den Krieg... Er führt Taten aus, die für Individuen fatale Folgen haben, ist in dem vorliegendem Täter - Opfer Verhältnis als Täter zu klassifizieren. Auch er selbst ist einst Opfer gewesen, wurde in den Krieg gezwungen. Es scheint aber, daß er ab dem Moment, wo er die Funktion als Krieger, als Feldherr angenommen hat ganz einseitig in dieser Funktion handelt, primär ganz Täter ist. Odysseus ist Täter nicht nur unbedingt in der negativen Belegung dieses Wortes; - auch Täter im Sinn von Macher. Er ist gleichzeitig derjenige, der Pläne entwirft und ausführt. So hat er das komplizierte Netz „Neoptolemos“ geflochten, um mit ihm, dem eigenen Feind, den Feind ins Netz zu locken.[18]
Wie überliefert ist Odysseus der Listige, derjenige der die Situationen mit Verstand löst. Dieses offenbart sich zum Beispiel durch seine dialektische Redekunst, der Neoptolemos und Philoktet nicht das Wasser reichen können. Als Exempel ist beiden zu Beginn ihres Zusammentreffens mit Odysseus ein dialektischer Kurzdialog gegeben:
N: Aus faulem Grund wächst wohl ein Gutes nicht.
O: Eins ist der Grund, ein andres ist der Baum.
N: Den Baum nach seinen Wurzeln fragt der Sturm.
O: Den Wald nicht fragt er.
N: Den Das Feuer frißt.
O: Oder den Grund umgrabend ganz die Flut.
Am dritten stirbt das andre, was kommt geht
Und weitres reden wir auf Trojas Trümmern
N: Hätt ich kein Ohr für dich und keine Sprache.[19]
___
P: Odysseus war ein Lügner. Wen du der bist
Und nennst mich Philoktet, bin ichs wohl nicht.
O: Kann sein, Odysseus ist so sehr ein Lügner
Daß er sich glauben macht, er wär Odysseus
Und lügt in dem auch, und ist nicht er selber
In Wahrheit auch kein Lügner also und
Wenn er dich Philoktet nennt, bist du der.
Kein langes Reden mehr, steh auf und komm.[20]
Odysseus bleibt Sieger der Rededuelle. Odysseus` Werkzeug und seine Waffe ist der Verstand. Diese Eigenschaft, verbunden mit der Handlungsfähigkeit, qualifiziert ihn zur Führerperson.
[...]
[1] Schievelbusch, Wolfgang: Sozialistisches Drama nach Brecht. Darmstadt: 1974. S. 137
[2] Ebd. S. 140
Schievelbusch erkennt hier das Odysseusmodell aus Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung wieder welches in der Person des Odysseus das Sinnbild für den Grundherren sieht. (Dialektik der Aufklärung 1969, S. 40)
[3] Werner Mittenzwei: Eine alte Fabel neu erzählt. In: Sinn und Form 17 (1965) S. 955f.
[4] Das behauptet in jedem Fall Müller in: Heiner Müller: „Krieg ohne Schlacht“, (Köln 1992), S.189
[5] Heiner Müller nennt das Stück ein Parabelstück: Heiner Müller: Texte 6, (Berlin 1978), S. 72
[6] Martin Linzer in Theater der Zeit, 2/78, S 53f.
[7] Krieg ohne Schlacht, S. 62
[8] Norbert Otto Eke: Heiner Müller, Reclam (Stuttgart 1999)
[9] Ebd. S. 109
[10] Ebd. S. 109
[11] Ebd. S. 111
[12] Ebd. S. 8 u. 27
[13] Ebd. S. 107
[14] Gespräch mit Heiner Müller. In: Sinn und Form 18 (1966) S. 46
[15] Zitiert nach: Ulrich Profitlich: Über den Umgang mit Heiner Müllers Philoktet, Basis Bd. 10, Hg. Reinhold Grimm (Suhrkamp 1980)
In dem Aufsatz wird auf ein Rundfunkinterview verwiesen, welches am 22.3.78 im Berliner Rundfunk gesendet wurde.
[16] Krieg ohne Schlacht, S. 190
[17] Heiner Müller: Brief an den Regisseur... Texte 7 Rotbuch (Berlin 1983) S.106
[18] Heiner Müller: Philoktet, in Texte 6, Rotbuch (Berlin 1978) S. 7 - 42
[19] Philoktet S. 11
[20] Philoktet S. 29
- Citar trabajo
- Magister Heiko Michels (Autor), 2001, Die Tragik der Lüge - Tragische Strukturen in der Figur des Odysseus in Heiner Müllers 'Philoktet', Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14293
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