Gewöhnlich spielen skulptierte Konsolsteine unter Kirchendächern eine Nebenrolle innerhalb der Forschungsliteratur, wenn sie sich mit der Ikonographie von mittelalterlichen Fassadenprogrammen auseinandersetzt. Die von fantasievollen Steinmetzen gestalteten Kragsteine treten zwar lediglich in einer kunsthistorisch gesehenen kurzen Zeitspanne auf, sind allerdings zahlreich in mehreren Ländern zu finden. Anhand ihrer Komposition und Themen, ihrer Ausdrucksmittel und Affinität zum volkstümlich-zeitgenössischen Gedankengut ermöglichen es die aus der Mauer hervortretenden, bebilderten Tragsteine auf die vorherrschenden, mittelalterlichen Glaubensvorstellungen zu schließen und ihre eigene Bedeutung zu beleuchten.
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
2. DIE THEMEN
2.1. Tiere
2.2. Fabelwesen und Teufel
2.3. Sonderform: Gargoyle
2.4. Spielleute und Artisten
2.5. Natürliche und künstliche Narren
2.6. Exhibitionisten
2.7. Emotionen wie Schmerz, Angst und Verzweiflung
2.8. Die körperlich Liebenden
2.9. Selbstporträts der Steinmetzen
3. ALS TEIL DES HEILSPLANS
3.1. Die Spiegeltheorie
3.2. Ex negativo
3.3. Das Zwei-Staaten-Modell des Augustinus
3.4. Die Fastnacht als Gegenfest
4. EXKURS ÜBER KOMIK UND DAS LACHEN
5. HÄSSLICHKEIT ALS AUSDRUCKSMITTEL
6. DIE AUTORENFRAGE
7. ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS
8. ABBILDUNGSVERZEICHNIS
9. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
Gewöhnlich spielen skulptierte Konsolsteine unter Kirchendächern eine Nebenrolle innerhalb der Forschungsliteratur, wenn sie sich mit der Ikonographie von mittelalterlichen Fassadenprogrammen auseinandersetzt. Die von fantasievollen Steinmetzen gestalteten Kragsteine treten zwar lediglich in einer kunsthistorisch gesehenen kurzen Zeitspanne auf, sind allerdings zahlreich in mehreren Ländern zu finden. Anhand ihrer Komposition und Themen, ihrer Ausdrucksmittel und Affinität zum volkstümlich-zeitgenössischen Gedankengut ermöglichen es die aus der Mauer hervortretenden, bebilderten Tragsteine auf die vorherrschenden, mittelalterlichen Glaubensvorstellungen zu schließen und ihre eigene Bedeutung zu beleuchten.
Nurith Kenaan-Kedar definiert „Marginal Sculptures“ als Stützen für höher gelegene Architekturelemente oder als Wasserspeier.1 Diese Außenskulpturen treten dem Betrachter an Dachvorsprüngen in einem unzertrennlichen Band gegenüber (s. Abb. 1 und 2). Die einzelnen Skulpturen sind in einem festen Abstand zueinander mit der Rückseite an der Mauer angebracht. Die Zwischenräume, die sich zwischen den Figuren bilden, besetzen teilweise mit Ornamenten verzierte Metopen oder bleiben freie, nicht bearbeitete Steinflächen (s. Abb. 3). Die kleinsten Serien setzen sich aus zehn bis fünfzehn Werken zusammen, die größeren erreichen eine Anzahl von über 60. Die umfangreichsten Konsolfolgen bestehen aus der Fülle von bis zu 300 Steinen, zum Beispiel St. Sernin in Toulouse. Die Konsolfiguren sind 40 bis 60 cm hoch und 20 bis 40 cm breit. Sie zeigen lebendig erscheinende Köpfe oder Büsten, weniger häufig Miniaturen. Figuren in der Gesamtansicht ihres Körpers gibt es hauptsächlich unter den Wasserspeiern. Ihr Themenrepertoire reicht von Tier- und Teufelsdarstellungen über groteske Monster und Mischwesen bis hin zu verrenkten und entblößten, menschlichen Geschöpfen, die bunt gemischt nebeneinander existieren (s. Abb. 4).
Die Konsolfiguren treten in Frankreich hauptsächlich zwischen 1080 und 1250 auf. Geringfügig später erscheinen sie auf den Britischen Inseln.2 Dieses Phänomen findet der aufmerksame Betrachter auch in Spanien und den Skandinavischen Ländern. Im 13. Jahrhundert verändert sich die Verortung dieser außergewöhnlichen Steinmetzarbeiten ausschlaggebend. Einerseits befinden sich die gotischen „Marginal Sculptures“ vor allem im Kirchengebäude als fortlaufende Friese, die die untere Arkadenzone von der darüberliegenden Empore entlang der Wand trennen (s. Abb. 5).3 Die zweite Variante verkörpern die sogenannten Gargoyles auf dem Dach der Kirche, die dann die Funktion übernehmen, Endstücke der mittelalterlichen Regenablaufrinnen zu sein. Dadurch dass die „Marginal Sculptures“ in beiden Epochen zwar vorkommen, strukturell jedoch nicht die gleiche Aufgabe erfüllen, entstehen berechtigte Zweifel daran, dass ihre Bedeutung das gesamte Mittelalter hindurch die gleiche bleibt. In Kürze ist diese Frage nicht zufriedenstellend klärbar, deshalb richtet sich das Hauptaugenmerk in meiner Magisterarbeit auf die romanischen Konsolfiguren, die sich am äußeren Kirchenbau befinden.
Die Höhe ihrer Anbringung erschwert zum Teil das genaue Erkennen der bildlichen Details. Oft sind die Kragsteine nur schemenhaft auszumachen, einige verschwinden sogar ganz aus dem Sichtfeld des Betrachter, was die Steinmetzen allerdings nicht davon abhielt, ihr Können beeindruckend unter Beweis zu stellen. Rupprecht nimmt an, dass die Sichtbarkeit dieser Architekturelemente „unterstützt und verstärkt [wurde] durch eine in entschiedener Farbigkeit gehaltene Bemalung, die wohl den meisten monumentalen Bildhauerwerken aufgetragen wurde.“4 Allerdings bleibt festzuhalten, dass es durchaus Kirchendächer gibt, die in einer Höhe von über 20m über dem Erdboden liegen5. Trotz der vermuteten Hervorhebung der einzelnen Skulpturen mithilfe von Farbe gegenüber der grauen Steinmauer bleiben wohl diese selbst durch ein Fernglas lediglich verschwommene Konturen, ohne dass Einzelheiten zu sehen sind.6 Daher liegt der eigentliche Grund für das Vorhandensein der zu Figuren behauenen Konsolsteine nicht in ihrer funktionalen Einbindung, jedoch kann von einer zusätzlichen Legitimation ausgegangen werden.7
Im Allgemeinen gelten Bilder in der ganzen Epoche des Mittelalters als die Schrift der Analphabeten:pictura est laicorum literatura. Nicht nur Gregor der Große und Augustinus gehen davon aus, dass Szenen der christlichen Glaubenslehre und Heilsgeschichte, so wie sie in der Heiligen Schrift zu lesen sind, eine besondere kommunikative Funktion erhalten, wenn sie in Bilder übersetzt werden. Die steinerne Bilderwelt in und an einem sakralen Bau entspricht, was ebenfalls für die Wandmalerei gilt, religiöser „Literatur“ für den ungebildeten Kirchenbesucher.8 Schließlich soll jeder heilsuchende Pilger christliche Glaubensinhalte und Regeln für eine fromme Lebensführung vermittelt bekommen. Damit ergibt sich für die grotesken Figuren aus Stein die Schlussfolgerung: „Es müssten sich für die monstra jenseits einer gelehrten, zumeist allegorisch-symbolischen Auslegungstradition auch einfache, standardisierte Bedeutungen ausmachen lassen, die im Weltbild der Laien, in ihrem Wissen von der Welt verankert sind; erst dann würden die Bilder ihrer Rolle im kommunikativen Prozeß der christlichen Laienunterweisung vollständig gerecht.“9 Einen ganz anderen Standpunkt vertritt Hamann-Mac Lean. Er stempelt die „Marginal Sculptures“ als verschwenderische, künstlerische Betätigung ab, die er mit dem Argument erklärt, „dass dem begabten Anfänger unter den Bildhauern Gelegenheit gegeben werden sollte und musste, nicht nur seine Geschicklichkeit zu erproben, sondern auch seine Erfindungsgabe unter Beweis zu stellen.“10 Für ihn stellen die Konsolfiguren lediglich Übungsfelder dar, an denen die Steinmetzen ihre Bewährungsproben bestehen wollten. Auch Émile Mâle spricht den steinernen Grotesken jeglichen inhaltlichen Sinn ab. Den einzigen Grund für ihre Existenz sieht er in der Anstrengung, Motive beliebiger Form auf harmonische Art und Weise auf den Steinflächen, deren Maße durch das Zusammenspiel verschiedener Architekturelemente von vornherein festgelegt sind, unterzubringen: „Daher jene Bastardungeheuer, deren geschmeidige Glieder sich leicht nach jeder Richtung hin verteilen ließen, so dass es keine Schwierigkeiten machte, das gegebene Feld auszufüllen. Es ist leicht zu erkennen, dass das Bemühen nur dahin ging, eine reine Kunstfrage in befriedigender Weise zu lösen.“11 Rigoros stellt Mâle klar, dass solche bildnerischen Äußerungen nichts mit Ikonographie zu tun hätten und ihnen damit keine größere geschweige denn wichtige Bedeutung zukäme: „Alle Erklärungsversuche sind von Anfang an zu verurteilen.“12 Natürlich kann man nicht davon ausgehen, dass all das, was auf den ersten Blick nicht zum klerikalen Darstellungsraum passt, bedeutungslos und nichtssagend ist. Jedes Bildwerk besitzt sowohl Form als auch einen gehaltvollen Inhalt. Selbst wenn „Marginal Sculptures“ auf belanglose Ornamentik reduziert werden würden, bleibt die Frage, warum sich schmückendes Dekor zu derartigen Ausuferungen grotesker Vorstellungskraft entwickelt hat, so dass unter Dachvorsprüngen eine sich am After leckende Katze (s. Abb. 6) oder ein menschenähnliches Wesen mit Klauen und zungenherausstreckenden Bestienkopf zwischen den Beinen (s. Abb. 7) zu finden ist: „Nichts wäre verfehlter, als die Fremdheit dieser mit Ornament vermengten Welt vorwiegend als Dekoration aufzufassen und damit zu verharmlosen.“13
Die grundsätzliche Bestätigung der Tatsache, dass die kuriosen Steinbilder der Randzone eine hervorhebungswürdige Bedeutung besitzen, eröffnet die Suche nach dem Inhalt und dem Hintergrund jener Ikonographie. Es gibt keine wissenschaftliche Abhandlung, die sich allein mit dem figuralen Konsolband eines bestimmten Kirchengebäudes auseinandersetzt, obgleich der Baustil und das sonstige Fassadenprogramm der französischen Gotteshäuser durchaus untersucht worden ist. Weiterhin tauchen kunsthistorische Aufsätze und Monographien auf, die lediglich eine Bestandsaufnahme der verschiedenen Motive durchführen, ohne Lösungen zu benennen, die die Gesamtbedeutung erklären. Am häufigsten entdeckt der Leser Erwähnungen der steinernen Kuriositäten im Zusammenhang mit anderen Themen wie den liturgischen Feierlichkeiten, Sozialpsychologischem oder der mittelalterlichen Literatur. Einige wenige Autoren beschäftigen sich konzentriert mit dem Thema.
In der jüngsten, ausführlichen Forschungsarbeit über marginale Skulpturen im mittelalterlichen Frankreich präsentiert Kenaan-Kedar die anstößigen Grotesken als Antimodelle, die in ihrer physischen und mentalen Deformation den Regeln der christlich- frommen Ordnung widersprechen. Den Großteil der thematischen Katalogisierung unterstreicht sie mit Konsolfiguren der Kirchen in Rétaud, Cahors und Civray. Ihre Argumentation läuft darauf hinaus, dass die bebilderten Kragsteine eine zu bestrafende, von der Kirche verdammte Ansammlung anonymer Sünder verkörpern, die gefangen durch ihre eigenen fleischlichen Leidenschaften und Laster den Kirchenbesucher belehren und warnen sollen.14
Katrin Kröll entdeckt in ihrem Aufsatz anhand dänischer Wandmalereien zwischen 1300 und 1535, dass ungefähr ein Drittel der Kirchenausschmückungen sogenannte Drôlerien einschließen (s. Abb. 8).15 Dabei geht sie grundsätzlich wie Kenaan-Kedar davon aus, dass die spöttisch-obszönen, sinnenfreudigen Randbemerkungen antithetisch gegenüber den vorbildlichenthaltsamen, heilsgeschichtlichen Illustrationen der zentralen Orte des Kirchenraumes stehen.16
Michael Camille versteht das Kirchengebäude als einen Körper, der mit einer sicheren Haut aus behauenem Stein umschlossen sei und dessen Öffnungen wie die Augen und der Mund besonders geschützt werden müssten.17 Deshalb komme den ungeheuerlichen Bildformeln an den Eingängen und Fenstern der Kathedrale von Aulnay die apotropäische Funktion zu, heftige Angriffe des Bösen abzuwehren, erläutert er in seiner Monographie. Dass jenes abnorme Chaos sich am Rand des Himmlischen Jerusalems ausbreite, könne schließlich mit keiner Textstelle aus der Bibel begründet werden.18
Die angeblich oberflächliche Erklärung ablehnend, dass Wasserspeier und groteske Konsolfiguren Dämonen aus der Hölle darstellen, übertragen Ronald Sheridan und Anne Ross frühe, heidnische Glaubensinhalte auf die mittelalterlichen Randskulpturen.19 Der heidnische Kult sei so wichtig für das Volk gewesen, dass die Kirche sich außerstande sah, diese Mythen und Gottheiten auszulöschen und deshalb ihre Anwesenheit Seite an Seite mit Objekten der christlichen Orthodoxie gestattet hätte.
Anthony Weir und James Jerman stimmen der Überlegung zu, dass volkstümliche Vorstellungen schwer zu bekämpfen seien, so dass beispielsweise der Aberglaube an magische Kräfte aus archaischen Zeiten fortlebe.20 Andererseits sehen sie in den „Marginal Sculptures“, die wohl vor allem Kirchen an Pilgerstraßen besetzen, eine weitverbreitete, christlich-moralische Didaktik verwirklicht, die die Furcht vor der Sünde und Versuchung schüren und vor einer Welt des puren Vergnügens mahnen will.21
Die Auswahl der Themen und Motive, deren Kombination und Ausdrucksformen, gewonnen aus dem Repertoire der scheinbar unerschöpflichen Erfindungsgabe der Bildhauer, variiert von Kirche zu Kirche. Jedoch erfüllt jeder Konsolstein die gleiche Funktion: das Stützen des über ihm liegenden Bauteils. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Bedeutung an allen Kirchen und in allen Ländern ebenfalls die gleiche ist. Man kann also annehmen, dass es eine bestimmte Auffassung von dem Genre „mittelalterliche Konsolfigur“ gab, die alle Werkstätten und Steinmetzen miteinander teilten.22 In den folgenden Kapiteln wird der Versuch unternommen, die Frage nach der Bedeutung der „Marginal Sculptures” zu beantworten.
2. DIE THEMEN
Allen „Marginal Sculptures“ ist gemeinsam, dass ihre Vertreter am Rand der christlichen Welt zu finden sind. Allerdings ist es keinem Geisteswissenschaftler gelungen, der sich bis jetzt mit dem Thema auseinandergesetzt hat, eine lesbare, erzählerische Reihenfolge innerhalb der Konsolbänder auszumachen. Teilweise kann eine thematische Beziehung zwischen zwei benachbarten Konsolfiguren erkannt werden, jedoch lässt sich dadurch auf keine signifikant szenische Handlung schließen, in denen die Figuren als Akteure auftreten.23
Die Sprache der marginalen Skulpturen, ob es sich nun um den individuellen Stein oder die Betrachtung der gesamten Serie handelt, äußert sich in sowohl realistisch als auch metaphorisch zu verstehenden Gesten, Emotionen und Ausdrucksweisen. Ihr Themenrepertoire besteht aus Tieren, Teufeln und Fabelwesen, der Sonderform des Gargoyle, Spielleuten und Artisten, natürlichen und künstlichen Narren, Exhibitionisten, menschlichen Köpfen, die Emotionen wie Wut, Angst und Verzweiflung ausdrücken, körperlich Liebende und Selbstporträts der Steinmetzen: „der unfromme Körper gerät zum Lernmittel innerhalb einer illiteraten Gesellschaft.“24 Natürlich gibt die Einteilung in Motivgruppen keine Garantie für Vollständigkeit, schon alleine weil sich dies aus der Sache selbst ergibt: Eingrenzungen grenzen auch stets etwas aus, was dann nicht berücksichtigt werden kann. Außerdem sind Mischungen der einzelnen Motive in jeglicher Variation und Fülle zahlreich vorhanden, so dass Menschen, Tiere oder Teufel nicht eindeutig voneinander zu unterscheiden sind. Schließlich wechseln sich Mischkreaturen wie menschlich agierende Fabelwesen und Tiere mit tierisch gebärdenden oder mit dem Körper kommunizierenden Menschen ab: „Man könnte daher die Welt der grotesk-komischen Bilder als eine Zwischenwelt bezeichnen, in der sich Menschliches mit Tierischem und Teuflischem trifft und in der die (vertrauten) ‚Abgründe des menschlichen Universums’ mittels verfremdend- bildhafter Darstellung aus dem Alltag herausgehoben werden.“25 Trotzdem verfolgt diese Gliederung in unterscheidbare Themenbereiche einen bestimmten Zweck, nämlich das differenzierte Betrachten von gesonderten Teilaspekten, von dessen Summe aus auf die Bedeutung der bebilderten Kragsteine zu schließen sein wird.
Die Konsolfiguren stützen mit ihren Händen, Köpfen oder Körpern das über ihnen liegende Dach. Deshalb scheint die Annahme plausibel, dass diese Geschöpfe für die gebildeten Geistlichen und auch für die ungebildeten Laien eine Galerie von Sündern darstellen, die durch das schmerzhafte, anstrengende Tragen der schweren Last bestraft werden. Kenaan-Kedar zieht einen Vergleich zwischen den mittelalterlichen „Marginal Sculptures“ und den antiken Atlanten bzw. Karyatiden, in denen sie den Ursprung skulptierter Tragelemente vermutet. Beide halten steinerne Bürden in Form von Gebäudeteilen über sich und verkörpern im Allgemeinen metaphorisch gepeinigte Sünder.26 Im Besonderen stünde beispielsweise der Artist für jemanden, der die Welt auf den Kopf stellt so wie seinen eigenen Körper. Blindheit, versinnbildlicht durch geschlossene oder verbundene Augen, deute dann auf diejenigen, die die Wahrheit weder sehen noch begreifen können. Weibliche Gestalten, die durch offenes Haar und eindeutige Gebärden als Prostituierte gekennzeichnet sind, würden auf den Mangel an Frömmigkeit und das Unvermögen der geschlechtlichen Versuchung zu widerstehen verweisen. In jedem Falle lässt sich beobachten, dass die verrenkten, grotesken und gottlosen Gestalten stets eine spezielle Sünde repräsentieren. Dem verwerflichen Fehlverhalten folgt sofort die Bestrafung. Die auferlegte Bürde, auf ewig eingeklemmt und gefangen zu sein zwischen Kirchenmauer und lastendem Dachvorsprung, bleibt immer gegenwärtig.
Während Kenaan-Kedar Architekturteile mit gleicher Funktion allerdings vollkommen unterschiedlicher Motivik an antiken Bauwerken findet, führt Camille das merkwürdige Darstellen einzelner Körperteile auf Konsolsteinen auf den keltischen Brauch zurück, abgeschlagene Köpfe zu verehren.27 Schließlich verkörpere das Äußere des Kirchenbaus im Gegenteil zum Inneren keinen heiligen Raum, sondern stelle die Verbindung zum weltlichen Geschehen dar. Dabei werde dem menschlichen Haupt eine apotropäische Funktion zugesprochen. Ähnlich wie die abergläubische Vorstellung vom sogenannten bösen Blick wäre der Gedanke, dass an Eingängen oder auf Torpfosten platzierte Köpfe von Verstorbenen Unheil und Dämonen abwehren, weit verbreitet in altertümlichen Kulturen. Der Leichnam, sowohl vom Leben als auch von der Sünde befreit, verwandele sich zu einer Art Barriere, die die bösen Geister nicht überwinden können. Das lateinische Tierepos „Ysengrimus“ soll laut Camille davon berichten, dass das Anbringen tierischer Köpfe über der Türöffnung ebenfalls Schutz vor Übel und bösen Geistern bietet.28 Nun vertritt der amerikanische Kunsthistoriker die Meinung, dass derartige Sicherheitsvorkehrungen an sakralen Gebäuden für Mönche, die ihr Leben und ihre Seele Gott versprochen haben, noch bedeutender wären als für den gewöhnlich-gläubigen Stadtbewohner. Weiterhin geht er sogar davon aus, dass die Überzeugung vom tatsächlichen Wirken solcher Schutzmaßnahmen Teil eines ganzen Komplexes von Glaubensinhalten heidnischen Ursprungs entspräche, die in der Laienandacht durch die Mönche selbst Anklang und Verbreitung fanden. Offensichtlich bleibt jedoch, dass sich nicht nur Köpfe sondern auch Ganzkörperfiguren auf den Kragsteinen erblicken lassen. Außerdem traten Spielleute, Jongleure oder im Geschlechtsverkehr vereinte Pärchen wohl selten im Kampf gegen die Kelten an. Natürlich können sie als Feinde des Christentums gewertet werden, trotzdem fehlt dann immer noch die theologisch fundierte Verbindung zu der Leiche als eine Art Glücksbringer. Letztendlich bleibt lediglich ein Zusammenhang in der Formfindung denkbar.
Kenaan-Kedar und Camille versuchen die Verwendung der „Marginal Sculptures“ aufgrund ihrer Verortung zu erklären, indem sie ihnen Architekturelemente aus anderen Kulturen gegenüberstellen, die eine ähnliche Form und Funktion aufweisen. Kröll hingegen sucht inhaltlich für jedes einzelne Thema nach der passenden Herkunft und wählt dabei beliebig zwischen Vorlagen aus der antiken Kunst und Literatur und aus der mittelalterlichen Tradition sowohl elitärer Bild- und Schriftkultur als auch volkstümlicher Mythen und Bräuche.29 Den Tierdarstellungen ordnet sie beispielsweise die bildhafte Umsetzung der Tierfabeln des Äsop zu. Die steinernen Fabelwesen gehen ihrer Ansicht nach auf die hybriden Fabelvölker zurück, die Plinius beschreibt. Auch Motive aus der profanen Kleinkunst, wie sie auf Elfenbeinkästchen und Brettspielen zu finden sind, begegnen dem Betrachter unter den Kirchendächern wieder. Wenn auf den Kragsteinen Spielleute und Narren dargestellt werden, kommt die Anregung dafür laut Kröll aus der zeitgenössischen Unterhaltung, weil sie deren Protagonisten verkörpern. Bildhaft-sprichwörtliche Redensarten liegen vielleicht den exhibitionistischen Gebärden der Zungen-Rausstrecker und Genital-Entblößer zugrunde.
Offensichtlich könnte man eine lange Liste von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der auftretenden Themen und Motive in verschiedenen Kulturen, Ländern und Zeiten aufstellen. Allerdings bringt das nicht das gewünschte Licht ins Dunkel der Ikonographie, sondern beschränkt sich auf die Lösung von Einzelproblemen, ohne dass dadurch die Möglichkeit eröffnet wird, auf den Bedeutungskern aller Konsolfiguren zu schließen. Die folgende Diskussion, die jedoch genau das zum Ziel hat, wird sich weitestgehend innerhalb des mittelalterlichen Kontextes bewegen.
2.1. Tiere
Die zahlenmäßig umfangreichste Themengruppe beinhalten realistische, groteske und bizarre Tierdarstellungen. Miteinander kämpfende Hunde zeigen sich neben Ochsen, Affen und Eseln (s. Abb. 9-13). Sich am After säubernde Katzen, Füchse mit Beute im Maul und vogelartige Kreaturen mit spitzem Schnabel und starrenden Augen treten dem Betrachter entgegen. Die Aufzählung ließe sich nach Belieben fortführen. Camille findet keinen Hinweis darauf, dass diese Fülle an Tiermotiven eindeutig zu benennende Erzählungen wie bestimmte antike Fabeln oder mittelalterliche Märchen illustriert. Deshalb versucht er die Erklärung in der Tradition der mündlichen Überlieferung zu finden, die die natürlichen Eigenschaften der Tiere mit einer allegorisch-symbolischen Bedeutung kombiniert.30 Dafür existieren leider wenige fundierte Quellen. Eine davon ist die Abhandlung des Leviticus XI., in dem er empfiehlt, alle Arten von Kriechtieren wie Maulwürfe, Frettchen, Chamäleons, Schlangen und Mäuse zu meiden, da sie unrein seien und jede Berührung von ihnen den menschlichen Körper beschmutze.31
Die wohl über Jahrhunderte hinweg wirkungsvollste Quelle bezeichnet eine Art subliterarisches Tierbuch, den sogenannten „Physiologus“. Das ungefähr um 200 n.Chr. datierte, von einem griechischem Anonymus zusammengestellte Werk will antike Naturkunde mit christlicher Auslegung und Umdeutung verbinden. Daraus entwickelten sich im Spätmittelalter Bestarien und Naturenzyklopädien, die ebenfalls die naturwissenschaftlichen Beobachtungen über Tiere und Fabelwesen, Pflanzen und Steine mit biblischen Lehrsätzen in Einklang bringen, um über lasterhaftes Fehlverhalten und gewünschtes tugendreiches Handeln zu belehren.32 Die kuriose Bilderwelt der Konsoltiere könnte also genauso dafür benutzt werden, Dogmen aus der Heiligen Schrift zu versinnbildlichen. Natürlich darf nicht jeder Steinmetz pauschal zum Physiologus-Leser erklärt werden, trotzdem kann von einem volkstümlichen Bewusstsein für solche legendenhaften Tiergleichnisse ausgegangen werden. In diesem aufgezeigten tiersymbolischen Rahmen gelten beispielsweise Affen und Füchse oder Wiesel und Hyänen, auch Nattern und Frösche sowie Krähen und Spechte als böse Tiere, die sündenvolle Charakteristika besitzen.33 So sei der Fuchs arglistig und hinterhältig, weil er sich tot stelle, um seine Beute von hinten zu überrumpeln. Wieselfleisch gilt als verdorben, weil das Weibchen ihre Junge durch die Öffnung der Ohren zur Welt bringe und auf diese Weise nur Übel lebendig werde. Der Specht wird sogar mit dem Teufel gleichgesetzt, da der bunte Vogel in hohlen Bäumen nistet, so wie der Dämon in herzlose Mensche eindringe und in ihnen sein verwerfliches Gedankengut ausbrüte.
Weiterhin wandelt Moser die steinernen Tierbilder zu Personifikationsallegorien einzelner Laster um.34 Dabei würde zum Beispiel dem Esel die Todsünde derAcediazukommen, die sowohl für die Apathie in guten Taten als auch für die Trägheit im Gottesdienst stünde. Der Hund bezeichne dieInvidia, weil er mit seinen Artgenossen um jeden Knochen kämpft. Das Schwein verkörpere dieGulaund die Kröte dieAvaritia. Leider übersteigen die zur Auswahl stehenden Tierarten die Anzahl der Todsünden um ein Vielfaches.
Kenaan-Kedar beschäftigt sich eingehend mit dem wiederkehrenden Motiv des Esels. Ihrer Ansicht nach verweist das Tier auf ein bekanntes Volksfest des mittelalterlichen Frankreichs, nämlich auf dasFesta Asinaria, auch genannt das Fest der Narren, das in der Oktave von Christi Geburt begangen wird.35 Dabei feiert die gläubige Gemeinde die Flucht nach Ägypten, bei der der Esel als Reit- und Lastentier für die Heilige Familie eine zentrale Rolle gespielt hat. Auch Gross verweist im Zusammenhang mit dem Symbolgehalt des Esels auf einen Festtag. Sie benennt jedoch den Tag der Epiphanie, an dem Christus als Stern Bethlehems vor den Heiden erscheint und sie dadurch zum christlichen Glauben bekehrt.36 Hier versinnbildliche der Esel das heidnische Volk, auf dessen Rücken Jesus auch nach Jerusalem einreitet und es dadurch in die Heilige Stadt führt.
Sheridan und Ross möchten einen weitere Erklärungsmöglichkeit für die Tiersymbolik unter den Dachvorsprüngen im heidnischen Glauben entdecken, denn darin werden den männlichen und weiblichen Gottheiten Tiere als Attribute zugeordnet.37 Teilweise nehmen jene Götter die Gestalt ihrer Kulttiere komplett an, teilweise erfolgt eine Zusammensetzung aus menschlichen und tierischen Körperteilen, oder sie treten lediglich in deren Begleitung auf. In Betracht dessen, dass die Argumentation die Ikonographie der Kragsteine an christlichen Kirchenfassaden des Mittelalters behandelt und nicht nur deren eventuellen Ursprung, erscheint die angeführte Hypothese höchst zweifelhaft.
Ähnliche Phänomene tierischer Metaphern lassen sich in der Buchmalerei entdecken. Randall hat beobachtet, dass die größte Themengruppe der marginalen Bilder aus Parodien menschlicher Schwächen und Torheiten besteht.38 Die führende Position nehme dabei der Affe ein, der die typisch menschliche Mimik und Gestik nachahme und demzufolge das menschliche Handeln ins Lächerliche überführe (s. Abb. 14-16). Der Fuchs besetze auch in der Buchmalerei die Rolle des gerissenen Schwindlers, der die Naivität anderer böswillig ausnutzt. Der Hase stünde für Feigheit, während Bär und Wolf generell als Sündenböcke zu verstehen seien. Auch in diesem Fall könnte die Aufzählung ohne nahendes Ende fortgesetzt werden. Die Schlussfolgerung ergibt, dass sowohl im Medium des Steins wie auch des Papiers menschliche Laster und fehlerhaftes Verhalten auf das Wesen der Tiere projiziert wird. Sämtliche Tiere werden dadurch zu personifizierten Sünden erklärt.
2.2. Fabelwesen und Teufel
Fabelwesen und Wundervölker sind keine Fiktion oder Auswüchse lebhafter Fantasie, sondern sie existieren in der mittelalterlichen Vorstellungswelt tatsächlich. Berichte über Riesen, Zwerge, Meerjungfrauen und wilde Leute gehören zum seriösen Sachwissen.39 Der Physiologus beschreibt Sirenen und Kentauren zwar als todbringende und ketzerische Kreaturen, allerdings werden sie für real gehalten.40 Die Heimat der homines monstruosi bestimmen mittelalterliche Weltkarten an den Rand des christlich besiedelten Gebietes, dort wo man Landstriche wie den Orient oder Afrika vermutete (s. Abb. 17). Sie leben somit in größter Entfernung zu Jerusalem, das in der Mitte der Erdenscheibe liegt. Dieser Abstand ist auch symbolisch zu verstehen, denn ob jene Exoten zur Schöpfung Gottes gehören, gilt seit Augustinus und Isidor von Sevilla das ganze Mittelalter hindurch als Streitpunkt.41 Schließlich stehen sie durch ihre der Natur verschriebene, ungezähmte Lebensweise und den fremdartigen Körperbau an der Grenze der Zivilisation, so dass in den enzyklopädischen Werken und Weltbeschreibungen fortwährend von Ungeheuern die Rede ist.42
Das Darstellen der homines monstruosi in der sakralen Bildwelt interpretiert Kästner als Warnung vor dem triebhaften und vernunftlosen Ausleben der Begierden und Instinkte (s. Abb. 18- 23).43 Der Mensch falle ansonsten in die Wildheit der Barbarei zurück und verlöre seine Aussicht auf göttliche Gnade. Damit lässt sich die Darstellung der Fabelvölker wie die der Tiere unter den „Marginal Sculptures“ in die symbolische Reihung menschlicher Schwächen einfügen. Zuweilen vermischen sich sogar beide Themengruppen, indem die Tiermotive als Attribute für die verschiedenen Weltgegenden fungieren. Der Elefant steht dabei für Indien, der Greif versinnbildlicht Asien und der Vogel Strauß und das Kamel bedeuten Afrika.44 Wasserfrauen, deren Gestalt sich aus einem menschlichen Oberkörper und einem schuppigen Fischschwanz zusammensetzt, symbolisieren das Meer. Im Übrigen tragen die menschenähnlichen Monster zur Vergegenwärtigung des Anderen und Fremden bei, von dem sich der gläubige Christ demonstrativ absetzen kann.45 Anhänger anderer Glaubensgemeinschaften oder Kulturen werden absolut negativ bewertet, zu Gegnern erklärt und letztendlich in die Gesellschaft der Sünder eingeordnet.
Dem Volk der Sirenen zum Beispiel wird nachgesagt, dass sie betörende Stimmen besitzen, mit denen sie passierende Seefahrer in den Tod stürzen.46 Diese Frauen aus dem Meer, die statt Flossen auch einen vogelartigen Unterleib haben können, gelten als unmoralische Verführerinnen und verkörpern damit Kreaturen des Teufels.47 Auf den Konsolsteinen halten sie meistens die zwei Enden ihres Schwanzes auf jeder Seite ihres Körpers nach oben, so dass die Sicht auf die Stelle ihres Genitales freigegeben wird. Jene Nähe zum Exhibitionismus verstärkt die Auffassung, sie als ein weiteres Motiv derLuxuriazu begreifen.48
Der Kentaur, der ebenfalls zu den unbeherrschten und lüsternen Fabelvölkern gerechnet wird, drückt wie die Sirene eine Dichotomie aus.49 Kopf, Schultern und Brust bilden den menschlichen Teil, während ihn vom Bauchnabel an abwärts ein Pferdekörper trägt. Die tierische, untere Hälfte bestimmt den Weg für den hilflosen, menschlichen Oberkörper und scheint ihm dadurch überlegen. Diese Zweischichtigkeit veranschaulicht das Böse, das das Gute überwältigt hat und nun auf all seinen Wegen der Unbeständigkeit huldigt.
Auch Riesen gehören zu den berüchtigten Rassen, die in den Marginalen des Diesseits hausen. Namentliche Persönlichkeiten wie Nimrod und Goliath vertreten die Giganten innerhalb des christlichen Weltbildes. Der selbstsüchtige und machtbesessene Nimrod gründet die Stadt Babylon und initiiert den Turmbau zu Babel.50 Der sich selbst überschätzende Goliath scheitert im Kampf gegen David.51 Vermutlich offenbart sich die Superbia in den Steinbildern der Kolosse.
Die eindeutigste Verkörperung des Bösen stellen natürlich die Teufel dar (s. Abb. 24 und 25). Sie bewohnen das Höllenreich und verlassen es lediglich, um mithilfe ihrer dunklen Kräfte das Tun und Lassen der Menschen zu beeinflussen.52 Mit Hörnern, Bart, vorquellenden Augen und spitzen Ohren schüchtern sie die Vorbeigehenden ein, die ihre Blicke vor der Kirche gen Himmel richten. Gross bringt die steinernen Dämonen mit Besessenendarstellungen in Zusammenhang, auf denen der auszutreibende Geist durch eine tierähnliche, geflügelte Kreatur ausgedrückt wird.53 Meist fehlt auf diesen Bildern eine Illustration der begangenen Sünde, die den Zustand des Wahnsinns begründet. Teufel müssen also nicht zusätzlich durch lasterhafte Gestik gekennzeichnet werden, weil jedem Betrachter sofort klar ist, dass die gefallenen Engel dem Reich Gottes zutiefst feindlich gesinnt sind, so dass sie jede Chance auf Vergebung durch Gott verloren haben.
2.3. Sonderform: Gargoyle
Eine Bande von äußerst finsteren, unheimlich anmutenden Monstern hocken auf der Kante des Kirchendaches, als wollten sie sogleich herunter springen und die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzen (s. Abb. 26). Dennoch finden sich nicht nur tierähnliche Geschöpfe unter ihnen sondern auch menschliche Wesen wie Narren, verzweifelte Frauen, Trinker oder Akrobaten (s. Abb. 27- 30). Höchstwahrscheinlich kommt den sogenannten Gargoyles eine ähnliche Deutung zu wie den Konsolfiguren, der Unterschied liegt in der Funktion als Wasserspeier. Dabei läuft das Regenwasser, das sich zuvor in einer Steinrinne gesammelt hatte, durch den Körper des Ungeheuers und wird aus seinem Maul heraus weitmöglichst vom Kirchengebäude weggeleitet. Außerdem treten die wasserspuckenden Grotesken erst in der Zeit um 1220 auf. Die vermutlich ältesten Exempel begegnen an der Kathedrale von Laon (s. Abb. 31).
Vielleicht übernimmt das Regenwasser die gleiche Aufgabe wie das Weihwasser, das bei Taufzeremonien benutzt wird, nämlich die rituelle Reinigung des Dämons, der theoretisch die Einwohnung des Heiligen Geistes folgen könnte.54 Gargoyles haben sich allerdings der teuflischen Seite verschrieben, sodass sie auf ewig in Stein gefangen sind und jede Reinigung im Endeffekt nutzlos erscheinen muss. Camille bekräftigt den Aspekt, dass die Monster als Kreaturen ohne Seele und folglich als pure Projektion des Übels verstanden werden. Auf diese Weise bilden sie das Gegenteil zu den Engeln, deren Wesen er als schwere- und öffnungslos charakterisiert.55 Weiterhin versucht er zu beweisen, dass Gargoyles Teufel repräsentieren, die von der Kirche gefangen worden sind, um niedere Arbeiten zu verrichten.56 Das Gute hätte dementsprechend das Böse überwältigt und es zu seiner Dienerschaft umgewandelt.
Für Sheridan und Ross symbolisieren die Wasserspeier jene rohe und dunkle Gewalt, die andauernd und mit aller Kraft gegen den christlichen Glauben um den Besitz der menschlichen Seelen kämpfen.57 Sie würden demzufolge als Warnung vor teuflischen Versuchungen zu lasterhaftem Verhalten wie Völlerei, Wollust oder Faulheit dienen. Zusätzlich vergleichen sie die gehörnten Gestalten mit dem keltischen Gott Cernunnos, den sie als Antichrist identifizieren.58 Cernunnos sei in ganz Kontinentaleuropa und den Britischen Inseln bekannt. Wenn Sheridan und Ross schon mal dabei sind, in der keltischen Mythenkiste zu kramen, stoßen sie sogleich auf das heidnische Thema des Kampfes zwischen dem Donnergott Taranis und der Schlange.59 Dabei trampelt er das Reptilienmonster siegreich unter den Hufen seines Rosses zu Tode. Die Grotesken, die auf dem Dach der Kirche kauern, versinnbildlichen also die Bedrohung des Bösen, die von guten Gotteskriegern besiegt wurden. Logischer erscheint doch aber gleich, die religiösen Schriften als Quelle zu befragen und die Kämpfe des Heiligen Georgs oder des Heiligen Michaels gegen den Drachen heranzuziehen.60
Beide bezwingen den Satan, der ihnen in Form eines geflügelten Reptils entgegentritt, das durchaus einem Gargoyle ähnelt.
2.4. Spielleute und Artisten
Musikanten, Jongleure, Akrobaten und Tänzer sind an allen Kirchen innerhalb der Konsolbänder mindestens einmal, oftmals jedoch zahlreicher, vertreten. Die Spielleute sitzen oder stehen, während sie auf den verschiedensten Instrumenten wie Horn, Tamburin oder Laute entfesselnde Tanzmusik spielen, anstatt das Wort Gottes zu verkünden (s. Abb. 32-35). Als soziale Außenseiter am Rande der mittelalterlichen Gesellschaft „stehen sie außerhalb des zivilen Rechts; theologisch gelten sie ihres ‚unzüchtigen’ Berufs wegen als heillos.“61 Da sie als Fahrende ohne festen Wohnsitz und geregelte Familienverhältnisse leben, setzen sie sich selbst dem Vorwurf der Unbeständigkeit in Bezug auf den Glauben und ihre Lebensgrundsätze aus. Kein Kleriker traut ihnen deshalb tiefe, religiöse Einsichten zu. Daher haben sie keinen Anspruch auf den Erhalt der Sakramente durch die Kirche.
Die Artisten verrenken in nahezu unmöglichen, akrobatischen Übungen und Stellungen ihre Körper: sie vollführen Kopf- und Handstände, biegen ihre Beine über die Schultern, so dass sie dem Betrachter ihr Hinterteil entgegenstrecken, sie tanzen, knien, springen und verdrehen ihre Gliedmaßen (s. Abb. 36 und 37). Camille behauptet, dass Mobilität schon allein für sich genommen bloßes Laster assoziiert.62 Vor allem Handstand und Überschlag, wenn der Kopf nach unten und die Beine nach oben zeigen, ähneln der „Bildsemiotik des Höllensturzes“.63
Im Gegensatz zu den zähnefletschenden Tieren und erschreckenden Monstern, die sich neben den Spielleuten und Artisten auf den Kragsteinen tummeln, muten die volkstümlichen Helden der Städte und Marktplätze auf den ersten Blick eher amüsant und unterhaltsam an.
[...]
1 Vgl. Kenaan-Kedar, Nurith: Marginal Sculpture in Medieval France. Towards the deciphering of an enigmatic pictorial language. Aldershot: Scolar Press, 1995. S. 4.
2 Vgl. Weir, Anthony und James Jerman: Images of Lust. Sexual Carvings on Medieval Churches. London: B.T. Batsford Ltd, 1986. S. 21.
3 Vgl. Kenaan-Kedar, Nurith: Marginal Sculpture in Medieval France. S. 3.
4 Rupprecht, Bernhard: Romanische Skulptur in Frankreich. München: Hirmer Verlag, 1984. S. 7.
5 Beispielsweise beträgt die Höhe des Mittelschiffes von St. Sernin in Toulouse 21,10m.
6 Vgl. Kenaan-Kedar, Nurith: Marginal Sculpture in Medieval France. S. 1.
7 Vgl. auch Kröll, Katrin: Die Komik des grotesken Körpers in der christlichen Bildkunst des Mittelalters. In: Katrin Kröll und Hugo Steger: Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Freiberg im Breisgau: Rombach, 1994. S. 40.
8 Vgl. u.a. Rupprecht, Bernhard: Romanische Skulptur in Frankreich. S. 30.
9 Kästner, Hannes: Kosmographisches Weltbild und sakrale Bildwelt. Meerwunder und Wundervölker im mittelalterlichen Kirchenraum. In: Katrin Kröll und Hugo Steger: Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Freiberg im Breisgau: Rombach, 1994. S. 218.
10 Hamann-Mac Lean, Richard: Künstlerlaunen im Mittelalter. In: Friedrich Möbius und Ernst Schubert: Skulptur des Mittelalters. Funktion und Gestalt. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1987. S. 452.
11 Mâle, Émile: Die Gotik. Die französische Kathedrale als Gesamtkunstwerk. Stuttgart, Zürich: Belser Verlag, 1994². S. 78.
12 Mâle, Émile: Die Gotik. S. 78.
13 Rupprecht, Bernhard: Romanische Skulptur in Frankreich. S. 17. und vgl. Camille, Michael: Play, Piety and Perversity in Medieval Marginal Manuscript Illumination. In: Katrin Kröll und Hugo Steger: Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Freiberg im Breisgau: Rombach, 1994. S. 172.
14 Vgl. Kenaan-Kedar, Nurith: Marginal Sculpture in Medieval France. S. 73.
15 Vgl. Kröll, Katrin: Die Komik des grotesken Körpers. S. 17.
16 Vgl. Kröll, Katrin: Die Komik des grotesken Körpers. S. 91.
17 Vgl. Camille, Michael: Image on the Edge. The Margins of Medieval Art. Cambridge: Harvard University Press, 1992. S. 74.
18 Vgl. Camille, Michael: Image on the Edge. S. 84-85.
19 Vgl. Sheridan, Ronald und Anne Ross: Gargoyles and Grotesques: Paganism in the Medieval Church. London: London Editions, 1975. S. 7-8.
20 Vgl. Weir, Anthony und James Jerman: Images of Lust. S. 29.
21 Vgl. Weir, Anthony und James Jerman: Images of Lust. S. 142.
22 Vgl. Kenaan-Kedar, Nurith: Marginal Sculpture in Medieval France. S. 9.
23 Vgl. Kenaan-Kedar, Nurith: Marginal Sculpture in Medieval France. S. 36.
24 Daxelmüller, Christoph: Das Fromme und das Unfromme. Der Körper als Lernmittel und Lernbild in der spätmittelalterlichen ‚Volks’frömmigkeit. In: Katrin Kröll und Hugo Steger: Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Freiberg im Breisgau: Rombach, 1994. S. 109.
25 Kröll, Katrin: Die Komik des grotesken Körpers. S. 57.
26 Vgl. Kenaan-Kedar, Nurith: Marginal Sculpture in Medieval France. S. 72.
27 Vgl. Camille, Michael: Image on the Edge. S. 72.
28 Vgl. Camille, Michael: Image on the Edge. S. 72.
29 Vgl. Kröll, Katrin: Die Komik des grotesken Körpers. S. 50.
30 Vgl. Camille, Michael: Image on the Edge. S. 69.
31 Vgl. Weir, Anthony und James Jerman: Images of Lust. S. 61.
32 Vgl. Kröll, Katrin: Die Komik des grotesken Körpers. S. 54, Fußnote 67. und Moser, Dietz-Rüdiger: Das Fest der „Verkehrten Welt“. S. 150.
33 Vgl. Seel, Otto (Hg.): Der Physiologus. Zürich und München: Artemis, 1960. S. 11, 16, 20, 22, 24, 26, 43 und 46.
34 Vgl. Moser, Dietz-Rüdiger: Fastnacht - Fasching - Karneval. Das Fest der „Verkehrten Welt“. Wien: Kaleidoskop, 1986. S. 145-146.
35 Vgl. Kenaan-Kedar, Nurith: Marginal Sculpture in Medieval France. S. 30.
36 Vgl. Gross, Angelika: La Folie. Wahnsinn und Narrheit im spätmittelalterlichen Text und Bild. Heidelberg: Carl Winter, 1990. S. 113-114.
37 Vgl. Sheridan, Ronald und Anne Ross: Paganism in the Medieval Church. S. 16.
38 Vgl. Randall, Lilian M. C.: Images in the Margins of Gothic Manuscripts. University of California Press: Berkeley, 1966. S. 18.
39 Vgl. Kästner, Hannes: Kosmographisches Weltbild und sakrale Bildwelt. S. 219.
40 Vgl. Seel, Otto (Hg.): Der Physiologus. S. 14-15.
41 Vgl. Kröll, Katrin: Die Komik des grotesken Körpers. S. 53. und Kästner, Hannes: Kosmographisches Weltbild und sakrale Bildwelt. S. 219.
42 Vgl. u.a. Honorius von Autun: Imago Mundi. Gervasius von Tilbury: Otia Imperialia. Vinzenz von Beauvais: Speculum naturale. In: Émile Mâle: Die Gotik. S. 77.
43 Vgl. Kästner, Hannes: Kosmographisches Weltbild und sakrale Bildwelt. S. 230.
44 Vgl. Mâle, Émile: Die Gotik. S. 76-77. Die Interpretation bezieht sich im Besonderen auf die Medaillons an der Fassade der Kirche von Sens.
45 Vgl. Moser, Dietz-Rüdiger: Das Fest der „Verkehrten Welt“. S. 251.
46 Vgl. u.a. Seel, Otto (Hg.): Der Physiologus. S. 14. und Weir, Anthony und James Jerman: Images of Lust. S. 49.
47 Vgl. Jes. 13, 21 und 22. Die Zerstörung Babels und das Gericht über alle Nationen wird angekündigt.
48 Vgl. Weir, Anthony und James Jerman: Images of Lust. S. 48.
49 Vgl. Weir, Anthony und James Jerman: Images of Lust. S. 57.
50 Vgl. Genesis 10, 8-10.
51 Vgl. 1. Buch Samuel, 17.
52 Vgl. Kröll, Katrin: Die Komik des grotesken Körpers. S. 54.
53 Vgl. Gross, Angelika: Wahnsinn und Narrheit. S. 20-21.
54 Vgl. Angenendt, Arnold: Der Taufexorzismus und seine Kritik in der Theologie des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Albert Zimmermann: Die Mächte des Guten und Bösen. Vorstellungen im XII. und XIII. Jahrhundert über ihr Wirken in der Heilsgeschichte. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1977. S. 401.
55 Vgl. Camille, Michael: Image on the Edge. S. 78.
56 Vgl. Camille, Michael: Image on the Edge. S. 79.
57 Vgl. Sheridan, Ronald und Anne Ross: Paganism in the Medieval Church. S. 44.
58 Vgl. Sheridan, Ronald und Anne Ross: Paganism in the Medieval Church. S. 59.
59 Vgl. Sheridan, Ronald und Anne Ross: Paganism in the Medieval Church. S. 89- 90.
60 Vgl. Offb. 12,7.
61 Kröll, Katrin: Die Komik des grotesken Körpers. S. 55.
62 Vgl. Camille, Michael: Image on the Edge. S. 136-137.
63Steger, Hugo: Der unheilige Tanz der Salome. Eine bildsemiotische Studie zum mehrfachen Schriftsinn im Hochmittelalter. In: Katrin Kröll und Hugo Steger: Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Freiberg im Breisgau: Rombach, 1994. S. 157.
- Citation du texte
- M.A. Corinna Schultz (Auteur), 2009, Die "Marginal Sculptures" an mittelalterlichen Kirchenfassaden in Frankreich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/142833
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