Eine wichtige staatliche Funktion ist die Wahrung des innergesellschaftlichen Friedens. D. h., daß politische Machtinstanzen regelmäßig in die Streitigkeiten zwischen einzelnen Personen oder Gruppen intervenieren. Die Herausbildung eines staatlichen Richteramtes setzt allerdings voraus, daß die in nicht-staatlichen Gesellschaften übliche Selbsthilfe in allen Konfliktfällen zugunsten des Gerichtszwanges aufgegeben bzw. staatlich legitimiert wird. Außerdem ist es unerläßlich, daß die Richtersprüche auch vollstreckt, d. h. mit Gewalt durchgesetzt werden können .
Daraus ergibt sich, zusammenfassend gesagt, die Suche nach der Gerichtsverfassung, die in Athen erstmals mit dem drakontischen Blutrecht greifbar und durch Solon weiterentwickelt wurde. Der Grund dafür ist, daß die Gerichtsverfassung alle (oder wenigstens sehr viele) gesellschaftlichen Probleme, die den inneren Frieden eines Gemeinwesens nachhaltig stören können, mittels Institutionalisierung zu bewältigen sucht:
D. h., die Gerichtsverfassung regelt mehr oder weniger genau, wie vorzugehen ist (d.h. welche Prozeduren anzuwenden sind), wenn Streitigkeiten zwischen einzelnen Personen oder Gruppen auftauchen, die den innergesellschaftlichen Frieden bedrohen können.
Inhalt
1.Einleitung: Die Frage nach der Gerichtsverfassung
2. Die Quellen
3) Die drakontische Blutrechtsinschrift
a) Die Polis Athen und die Voraussetzungen für die schriftliche Fixierung des Rechts
b) Gesellschaftliche Entwicklungen und die Rechtsprechung
c) Der Beginn einer staatlichen Gerichtsverfassung: Epheten, Phratrie Mitglieder und Basileus
d) Die Konsequenzen für die Entwicklung von Staatlichkeit in Athen
4. Die solonische Reform
a) Der Hintergrund der Reform
b) Die Gerichtsverfassung
5. Fazit
Literatur
Primär
Sekundär
1.Einleitung: Die Frage nach der Gerichtsverfassung
Im Wintersemester 2002/2003 fand an der TU-Darmstadt, unter Leitung von Prof. Dr. Michael Stahl vom Institut für Alte Geschichte, eine Lehrveranstaltung unter dem Titel „Faszination des Ursprungs – Die Erfindung des Bürgerstaates im archaischen Griechenland“ statt. Wie der Titel der Veranstaltung erkennen läßt, war die Leitfrage der Veranstaltung der Übergang der griechischen Gemeinwesen (der sogenannten Poleis) von der Nicht-Staatlichkeit zur Staatlichkeit. Im Einzelnen wurde danach gefragt, wo diese Verstaatlichung ansetzte und welchen Stand sie dann am Ende der archaischen Epoche erreicht hatte.
Der behandelte Zeitrahmen umfaßte die gesamte archaische Epoche Griechenlands (776-501 v. Chr.[1]). Beginnend mit der nicht-staatlichen Ordnung der Basileis (wie sie in den homerischen Epen erkennbar wird), weiter mit der Herausbildung politischer Institutionen unter den athenischen Gesetzgebern Drakon (621/620) und Solon (594/593) und schließlich bis zur Einrichtung der endgültigen institutionellen Form durch Kleisthenes (508-501), wurde der Übergang der Poleis von der Nicht-Staatlichkeit zur Staatlichkeit nachgezeichnet. Dabei lag das Augenmerk nicht nur auf Athen - wie der obige Überblick durch die Erwähnung dreier historischer Schlüsselpersönlichkeiten der Zeit (Drakon, Solon und Kleisthenes) vermuten läßt -, sondern der Blick schweifte über die gesamte griechische Welt der archaischen Epoche.
Im folgenden werde ich mich der Tätigkeit von zwei der oben genannten Persönlichkeiten, Drakon und Solon, widmen, die im Zeitraum von 621 bis 593 den Athenern als Gesetzgeber dienten. Ihre Arbeit gilt in der neueren historischen Literatur als ein Schlüsselelement beim Übergang Athens von der Nicht-Staatlichkeit zur Staatlichkeit[2].
Bevor ich mich dieser Frage widmen werde, ist eine allgemeine Definition des Begriffes Staat abzuliefern, mit der im folgenden zu arbeiten ist. Allgemein soll diese Definition deshalb sein, weil wir so in der Lage sind, die von Drakon und Solon überlieferten Fragmente der Gesetzgebung auf ihre Bedeutung für die Staatsentwicklung im archaischen Athen hin zu untersuchen.
In seinem Band „Aristokraten und Tyrannen im archaischen Athen“ definiert Stahl drei zentrale Probleme, der sich jede menschliche Gesellschaft ausgesetzt sieht und die aus der Erhaltung der sozialen Ordnung im Innern der Gemeinschaft und deren Überleben in der Abgrenzung nach außen oder in der Abwehr äußerer Feinde resultieren:
1. In jeder Gesellschaft müssen allgemein verbindliche Normen für das Zusammenleben sowie von allen anerkannte und durch Sanktionen durchsetzbare Wege zur Beilegung von Streitfällen zwischen Gesellschaftsmitgliedern existieren (Rechtsordnung).
2. Das Vorhandensein von allen anerkannten und allen zugänglichen Medien zur Integration der Gesellschaftsmitglieder, die zur Herstellung von sozialem Konsens (Wir-Gefühl) dienen (eine durch Kultur und Religion vermittelte soziale Ethik).
3. Die Existenz von Vorkehrungen, die dazu dienen Ereignisse und Schwierigkeiten, welche die gesamte Gesellschaft betreffen oder bedrohen und für die keine konventionellen Verhaltensweisen existieren, durch gemeinschaftliches Handeln zu begegnen (kasuelles Enscheidungshandeln , vor allem im Hinblick auf die Außenbeziehungen)[3].
Gesellschaften unterscheiden sich dadurch, wie diese Aufgaben bewältigt werden. In Nicht-Staatlichen Gesellschaften reichte es aus, die zu erfüllenden Aufgaben fallweise von einzelnen Gesellschaftsmitgliedern aufgrund ihres sozialen Status bewältigen zu lassen. In kleinen und einfach strukturierten Gesellschaften sorgt die Strenge der, ohne große Formalitäten auskommenden, persönlichen Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder untereinander dafür, daß die Individuen die von ihnen erwarteten Funktionen erfüllen.
So kommt beispielsweise den „Älteren“ oder „Ältesten“ die Aufgabe zu, durch entsprechende Einwirkung auf die Jugend für deren soziale Integration zu sorgen und insbesondere die in dieser Gesellschaft gültigen allgemeinen Verhaltensregeln weiterzugeben[4].
Die historische Entwicklung der unterschiedlichen Gesellschaften führte demgegenüber zur Herausbildung einer alternativen Form der Bewältigung der sozialen Probleme: Die Herausbildung von Staatlichkeit. Dies geschah mittels Institutionalisierung gesellschaftlicher Funktionen. Die gemeinschaftlichen, nun „politisch“ genannten Aufgaben, werden jetzt durch die Etablierung anonymer politischer Rollen bewältigt. Diese stehen kontinuierlich bereit und sind mit so viel Machtbefugnissen ausgestattet, daß sie zu ihrer Wirksamkeit größtenteils nicht mehr auf die Bindung an die persönliche Leistungsfähigkeit einzelner Individuen angewiesen sind. Die Bildung staatlicher Ämter und Einrichtungen, die Träger dieser Rollen sind, vollzieht sich in den entscheidenden politischen Bereichen der Gesellschaft und bezweckt, den dort auftauchenden Erfordernissen auf eine repressive oder autoritative, in jedem Fall verbindlich geregelte und unpersönliche Art gerecht zu werden[5].
Eine wichtige staatliche Funktion ist die Wahrung des innergesellschaftlichen Friedens. D. h., daß politische Machtinstanzen regelmäßig in die Streitigkeiten zwischen einzelnen Personen oder Gruppen intervenieren. Die Herausbildung eines staatlichen Richteramtes setzt allerdings voraus, daß die in nicht-staatlichen Gesellschaften übliche Selbsthilfe in allen Konfliktfällen zugunsten des Gerichtszwanges aufgegeben bzw. staatlich legitimiert wird. Außerdem ist es unerläßlich, daß die Richtersprüche auch vollstreckt, d. h. mit Gewalt durchgesetzt werden können[6].
Daraus ergibt sich, zusammenfassend gesagt, die Suche nach der Gerichtsverfassung, die in Athen erstmals mit dem drakontischen Blutrecht greifbar und durch Solon weiterentwickelt wurde.
Der Grund dafür ist, daß die Gerichtsverfassung alle (oder wenigstens sehr viele) gesellschaftlichen Probleme, die den inneren Frieden eines Gemeinwesens nachhaltig stören können, mittels Institutionalisierung zu bewältigen sucht: D. h., die Gerichtsverfassung regelt mehr oder weniger genau, wie vorzugehen ist (d.h. welche Prozeduren anzuwenden sind), wenn Streitigkeiten zwischen einzelnen Personen oder Gruppen auftauchen, die den innergesellschaftlichen Frieden bedrohen können.
Die Suche nach der Gerichtsverfassung resultiert wiederum in mehreren Einzelfragen:
1. Welche Grundvoraussetzungen mußten erfüllt bzw. welche Umstände mußten eingetreten sein, damit das archaische Athen überhaupt einen Bedarf an staatlicher Rechtsprechung entwickeln konnte?
2. Im Hinblick auf die Wahrung des innergesellschaftlichen Friedens stellt sich die Frage, welche Personen, bzw. welche Institutionen, die „Bewahrer“ des Friedens waren bzw. zu solchen wurden.
3. Wie wurde die Rechtsprechung, vor und nach der Herausbildung staatlicher Institutionen, ausgeübt, d. h. welcher Rechtsgedanke verbarg sich dahinter? Welche Konsequenzen ergaben sich, bedingt durch die Entwicklung staatlicher Rechtsprechung, für Athen?
Im nächsten Kapitel werde ich zunächst kurz auf die Quellenlage eingehen. In den darauf folgenden Kapiteln wird dann klären sein welche Umstände zur Herausbildung eines Bedarfs an staatlicher Rechtsprechung im archaischen Athen führten. Genauer gesagt: Welche gesellschaftlichen Umstände bargen das größte Potential, den innergesellschaftlichen Frieden nachhaltig zu stören? Und direkt daran anknüpfend werde ich nach den Antworten auf die Fragen Zwei und Drei suchen: Nach den „Bewahrern“ des innergesellschaftlichen Friedens, dem Rechtsgedanken, sowie die Konsequenzen für Athen.
2. Die Quellen
Aufgrund der Quellenlage für die archaische Epoche ist es schwierig, ein scharfes Bild dieser Zeit zu entwerfen. Die wenigen vorliegenden schriftlichen Quellen, aus dem für uns interessanten Zeitraum (etwa von 800 bis 600), erlauben nur eine blitzlichtartige, kurze Beleuchtung der Entwicklungen, die zur Gesetzgebung Drakons und Solons führten, was im Hinblick auf die Thematik zur Folge haben wird, daß die Ausführungen sehr oft allgemeiner Natur sein und sich nicht explizit auf Athen beziehen werden. Zwar versorgt uns die Archäologie mit zahlreichen Indizien und Beweisen, die Aussagen zu Veränderungen in der Bevölkerungsdichte, zur geographischen Verteilung von Siedlungen, Ernährung und Handel, sozialer Differenzierung und vielem mehr. Die Frage nach der Gerichtsverfassung im archaischen Athen beinhaltet jedoch mehr: Es geht hier um die Frage nach den Beziehungen von Menschen zu ihrem Gemeinwesen. Um dies verstehen zu können, benötigen wir die Hilfe schriftlicher Quellen, denn nur diese sind in der Lage, uns Rückschlüsse über die Denkweise der Menschen jener Zeit zu ermöglichen[7].
Die Quelle, die das erste Zeugnis der athenischen Rechtsgeschichte darstellt und die im Hinblick auf Drakon von Interesse sein wird, ist das Fragment der sogenannten Blutrechtsinschrift (in der dt. Übersetzung von Stahl[8]) in der Neuaufzeichnung aus dem Jahre 409/408. Von Drakons Tätigkeit als Gesetzgeber ist uns nur dieses Zeugnis erhalten. Zwar erwähnen Autoren späterer Jahrhunderte, daß Drakon weit mehr Gesetze erließ als nur das zum Blutrecht[9], doch wissen wir darüber nichts genaueres. Es muß auch gesagt werden, daß das überlieferte athenische Recht des 7. und 6. Jahrhunderts ausschließlich auf Rekonstruktionen des ausgehenden 5. bzw. des 4. Jahrhunderts beruht[10].
D. h., die Kommentare verschiedener Autoren (der wichtigste Quelle ist Aristoteles und sein Werk „Der Staat der Athener“) zum Thema, sind mit Vorsicht zur Kenntnis zu nehmen, da sie in sehr großem Maße die Vorstellungen des jeweiligen Autors über die Zeit wiedergeben. Dies gilt noch stärker im Hinblick auf die solonische Gesetzgebung, die uns nur durch Autoren überliefert ist, die durch große zeitliche Abstände von Solon getrennt sind.
Ruschenbusch trug in großer Anstrengung sämtliche erhaltenen literarischen Fragmente der solonischen Gesetzgebung (dt. Übersetzung von Stahl, siehe Fußnote 9), wie sie von verschiedenen antiken Autoren überliefert wurden, zusammen und veröffentlichte diese, gemeinsam mit einer Text- und Überlieferungsgeschichte[11]. Auf diese Zusammenstellung und deren dt. Übersetzung wird sich meine Betrachtung der solonischen Gesetzgebung stützen. Im folgenden werde ich den erhaltenen Teil der drakontischen Blutrechtsinschrift in deutscher Übersetzung wiedergeben und im Hinblick auf die Fragestellung untersuchen.
[...]
[1] Zeitliche Eingrenzung der Epoche nach Lotze 1999: S. 115.
[2] Vgl. z. B. Dahlheim 1995: s. 155ff.; Meier 1993: S. 69ff. Stahl 1987: S. 138ff. Ruschenbusch 1960: S. 153ff.
[3] Vgl. Stahl 1987: S. 140.
[4] Ders. a. a. O.: S. 140f. Den Übergang von der nicht-staatlichen zur staatlichen Gesellschaftsform behandelt ein umfangreiches Literaturangebot. Vgl. z. B. Wimmer 1996: S. 163ff. Außerdem Service 1977: S. 106ff.
[5] Ders. a. a. O.: S. 141.
[6] Ders. a. a. O.: S. 141f.
[7] Vgl. Raaflaub 1993: S. 43.
[8] Vgl. Stahl 2003: S. 228f.
[9] Siehe ÜFSG nach Stahl. Im Fragment F 1b erzählt Plutarch: „Zuerst hob er (Solon, d. Verf.) nun alle Gesetze Drakons auf – außer denen über Mord und Totschlag – wegen ihrer Härte und der Strenge der Strafen. Denn beinahe auf alle Verfehlungen war nur eine Strafe gesetzt: der Tod.“
[10] Vgl. Ruschenbusch 1960: S. 128. Mit der Frage der Überlieferung der drakontischen und solonischen Gesetzgebung beschäftigt sich im Detail Stroud 1979: Kap. II (S. 3ff.)
[11] Siehe Ruschenbusch 1966.
- Citation du texte
- Ralf Bunte (Auteur), 2003, Die Herausbildung von Staatlichkeit im archaischen Athen anhand der Entwicklung der Gerichtsverfassung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14242
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