Die vorliegende Arbeit analysiert die Frage, ob Afrika, als vergleichsweise unbedeutender Akteur des internationalen Systems signifikant Einfluss auf den Gestaltungsprozess der Vereinten Nationen nehmen kann. Dazu wird in einem ersten Schritt der bisherige Verlauf der Reformgeschichte der Vereinten Nationen nachvollzogen und hinsichtlich des Untersuchungsgegenstands ausgewertet. Den analytischen Schwerpunkt der Arbeit bilden zwei Fallanalysen, in denen die Debatte um die Reform der Menschenrechtskommission und des Weltsicherheitsrates im Verlauf der 60. Generalversammlung im Jahre 2005 betrachtet und hinsichtlich der zentralen Fragestellung untersucht werden wird. Dabei wird in Rückgriff idealistischer, konstruktivistischer und vor allem realistischer Theorien der internationalen Beziehungen nachgewiesen werden, dass Afrika zwar einen signifikanten Einfluss auf den Reformverlauf nehmen konnte, seine Interessen aber nur zu einem vergleichsweise geringen Teil durchsetzen konnte.
Inhalt
1 Einleitung
2 Theoretische Betrachtungen
2.1 IB-Theorien über schwache Akteure des internationalen Systems
2.1.1 Idealismus
2.1.1.1 Idealistische Einschätzungen über die Einflussmöglichkeiten schwacher Akteure des internationalen Systems
2.1.1.2 Alexander Graf Lambsdorff zur VN-Reformdebatte
2.1.2 Realismus
2.1.2.1 Realistische Einschätzungen die Einflussmöglichkeiten schwacher Akteure des internationalen Systems
2.1.2.2 Die Heritage-Foundation zur Reform des WSR
2.1.3 Konstruktivismus
2.1.3.1 Konstruktivistische Einschätzungen die Einflussmöglichkeiten schwacher Akteure des internationalen Systems
2.1.3.3 Bernd Mützelburg zur Reform des WSR
2.2 Ebenen der VN-Reformen
2.2.1 Ebenenmodell nach Dicke
2.2.2 Ebenenmodell nach Unser
2.2.3 Kritik und Entwurf eines eigenständigen Modells
3 Die Rolle Afrikas im historischen Reformprozess
3.1 Afrika im allgemeinen VN-Reformprozess
3.2 Afrika im Reformprozess des Weltsicherheitsrates
3.2.1 Konfliktlinien im Bereich der internationalen Sicherheit
3.2.2 Die kontinuierliche Blockade des Weltsicherheitsrats
3.3 Afrika im Reformprozess der Menschenrechtskommission
3.3.1 Konfliktlinien im Bereich universal gültiger Menschenrechte
3.3.2 Die zunehmende Politisierung VN-Menschenrechtskommission
3.4 Bewertung der Rolle Afrikas
3.4.1 Afrikanische Interessen und Akteure
3.4.2 Phasen afrikanischen Einfluss
4 Fallanalyse
4.1 Die WSR-Reformdebatte auf dem Gipfel 2005
4.1.1 Generelle Entwicklung
4.1.2 Panafrikanische Positionen
4.1.3 Nationalstaatliche Positionen
4.2 Die Reform der MRK auf dem Gipfel 2005
4.2.1 Generelle Entwicklung
4.2.2 Panafrikanische Positionen
4.2.3 Nationalstaatliche Positionen
4.3 Bewertung der Rolle Afrikas
4.3.1 Afrikanische Interessen und Akteure
4.3.2 Afrikanischer Einfluss auf die VN-Reformen
5 Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Am 20 Juni 2007 veröffentlichte das Joint Coordinating Committee (JCC), das sich aus der Gruppe der 77 und China (G77), sowie der Bewegung der Blockfreien Staaten (NOM)[1] zusammensetzt, eine Stellungnahme, in der es seine Unzufriedenheit über die jüngsten Reformvorhaben der Vereinten Nationen (VN) zum Ausdruck brachte. Kernpunkt dieser Kritik an dem VN-Reformpapier Einheit in Aktion[2] ist die Vernachlässigung ihrer und Überrepräsentation westlicher Positionen bei gegenwärtigen VN-Reformschritten. Dies äußere sich beispielsweise in der Empfehlung zur „Einbeziehung der Menschenrechte in alle Aspekte der Arbeit der Vereinten Nationen“ (Hochrangige Gruppe 2006: Ziffer 51), die nach Ansicht der JCC vornehmlich dazu führen werde, „to introduce new conditionalities on international development assistance“ (JCC 2007: 3).
Dieses aktuelle Beispiel gibt einen ersten Eindruck von den unterschiedlichen Vorstellungen der Mitgliedsstaaten über die Reform der VN. Des Weiteren zeigt es den Ärger afrikanischer Länder über eine vermeintliche Benachteiligung bei der Durchsetzung ihrer Interessen innerhalb des Reformprozesses der Organisation, dessen Rhetorik typische Elemente des anhaltenden Nord-Süd-Konflikts[3] aufweist, für den die Vereinten Nationen seit jeher eine gern genutzte Plattform gewesen sind.
Die vorliegende Arbeit widmet sich zentral der Frage, inwieweit Afrika als verhältnismäßig „peripheral player in the global system“ (Wright 1999:1) seine Interessen im VN-Reformprozess durchsetzen kann und wie dies die Reform(un)fähigkeit der Organisation beeinflusst. Anders formuliert: Hat Afrika als randständige Region (Grimm 2003) Einfluss auf den Gestaltungsprozess der VN und trägt dieser zur Konsensfindung zwischen den oft kontroversen Interessen der Mitgliedsstaaten bei? Oder verstärkt es eine Blockadesituation, die schlussendlich zur Folge haben könnte, dass „die Vereinten Nationen nicht mehr für die „Bedürfnisse und Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts“ (Annan 2005: Ziffer 153) gerüstet sind? Um diese zentrale Fragestellung adäquat zu bearbeiten muss in einem ersten Schritt geklärt werden, worin diese exklusiven afrikanischen Positionen und Interessen[4] bestehen, welche Akteure afrikanische Interessen in den VN vertreten und welche (Miss-)Erfolge sich für afrikanische Staaten bei der Durchsetzung ihrer Interessen bilanzieren lassen.
Diese Fragen werden schwerpunktmäßig anhand der Ergebnisse der 60. VN-Generalversammlung, dem so genannten Reformgipfel, aus dem Jahre 2005 beantwortet. Exemplarisch werden dabei die Reformentwicklungen im Bereich des Weltsicherheitsrates (WSR), sowie der Menschenrechtskommission (MRK), die im Jahre 2006 durch den Menschenrechtsrat (MRR) ersetzt worden ist, herausgegriffen. Der Untersuchungszeitraum beginnt bei beiden Fallbeispielen im Dezember 2004, als der Reformbericht Eine sichere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung die konkrete Reformdebatte im Vorfeld des Reformgipfels anstieß. Im Falle des WSR endet der Untersuchungszeitraum mit dem erfolglosen Abschluss der Verhandlungen im September 2005, die Betrachtung der Reformentwicklung des MRR schließt nach dem erfolgreichen Abschluss der Reform im März 2006. Die Eingrenzung auf diese beiden Fallbeispiele bedeutet nicht, dass in weiteren Bereichen der Vereinten Nationen keine Reformbestrebungen und afrikanische Positionen dazu existieren würden. Die Begrenzung scheint deshalb geeignet, da die Fallbeispiele nach der Methode des Most Differentiated Outcome[5] sowohl ein erfolgreiches, als auch (bisher) erfolgloses VN-Reformprojekt porträtieren und somit das gesamte Spektrum der Reformfähigkeit der Organisation abdecken. Darüber hinaus sind die Fallbeispiele in Politikbereichen angesiedelt, die in besonderem Maße afrikanische Interessen berühren. Diesbezüglich sei exemplarisch auf die genozidähnlichen Vorgänge in der sudanesischen Provinz Darfur verwiesen, die sowohl im VN-Sicherheitsrat, als auch in der Menschenrechtskommission beziehungsweise im Menschenrechtsrat Gegenstand der Debatten gewesen sind (vgl. Bergholm 2007: 1-5; Bauer 2005)[6]. Zudem wird mit der Eingrenzung eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema gewährleistet, die den Umfang dieser Arbeit nicht überschreitet. Eine vollständige Behandlung afrikanischer Positionen zu allen Reformprojekten der Vereinten Nationen kann und wird im Rahmen dieser Ausarbeitung indes nicht erfolgen.
Die Arbeit beginnt mit einem theoretischen Grundlagenteil, der verschiedene Bewertungsparameter für die zentrale Fragestellung liefert, welchen Einfluss der vermeintlich schwache Akteur Afrika auf den VN-Reformprozess haben kann. Die extrem hohen Hürden (Gareis/Varwick 2006: 263) für eine VN-Reform[7] machen diese in einem ersten Überlegungsschritt maßgeblich von der Kooperationsfähigkeit der Nationalstaaten abhängig. Im zweiten Kapitel wird deshalb zunächst ein breites Spektrum an Theorien der Internationalen Beziehungen unter der Prämisse untersucht, wie (un-)wahrscheinlich Kooperation zwischen Staaten ist. Aus der Analyse der zwischenstaatlichen Kooperationswahrscheinlichkeit können anschließend die für die Bewertung des Untersuchungsgegenstands zentralen Überlegungen über die Durchsetzungsfähigkeit vergleichsweise schwacher Staaten im internationalen System abgeleitet werden. Das theoretische Spektrum beginnt mit idealistischen Theorieansätzen, die den Einfluss eines schwachen Akteurs auf intergouvernementale Verhandlungen tendenziell optimistisch bewerten, da das außenpolitische Handeln der Nationalstaaten zunehmend die Einsicht zu Grunde läge, dass kooperatives Problemlösungen effektivere Resultate erzielen würden. Davon könnten vor allem vergleichsweise schwache Akteure des internationalen Systems profitieren, so die idealistische Einschätzungen. Dagegen beurteilen realistische Theorien die Einflussmöglichkeit Afrikas auf den VN-Reformprozess grundsätzlich pessimistisch, da das internationale System durch mächtige Akteure dominiert werden würde und diese somit auch das Gestaltungsmonopol für internationale Organisationen innehätten. Der Konstruktivismus beurteilt den Untersuchungsgegenstand tendenziell optimistisch, macht eine echte Gestaltungsfunktion Afrikas jedoch von einer entsprechenden Perzeptionsänderung anderer Akteure abhängig. Diese könnten durch normenverändernde Kommunikationsprozesse, aber auch globalpolitische Ereignisse ausgelöst werden. Jede der Theorien wird anschließend durch einen themenrelevanten Beitrag praktisch veranschaulicht. Die idealistische Schule wird von einem Aufsatz des FDP Europaabgeordneten Alexander Graf Lambsdorffs, die realistische Schule von einer Untersuchung des US-amerikanischen Think Tanks Heritage-Foundation und die konstruktivistische Schule durch einen Artikel des ehemaligen sicherheitspolitischen Beraters des deutschen Bundeskanzlers Bernd Mützelburg repräsentiert. Den theoretischen Teil der Arbeit beschließt die Vorstellung eines Modells zur qualitativen Einordnung verschiedener Reformschritte im System der Vereinten Nationen. Auf der Basis zweier existierender Modelle wird ein eigenständiges Ordnungsraster entwickelt, das besonderes Erklärungspotential für den Untersuchungsgegenstand besitzt.
Obwohl der Schwerpunkt der Arbeit auf der Rolle Afrikas in der gegenwärtigen Reformdebatte liegt, erscheint zunächst eine historische Betrachtung derselben sinnvoll. Die titelgebende Reform der Vereinten Nationen suggeriert einen Eventcharakter, tatsächlich ist die Organisation seit ihrer Gründung im Jahre 1945 einem ständigen Erneuerungs- und vor allem Erweiterungsprozess unterworfen – die Reform der Vereinten Nationen stellt sich deshalb auf den zweiten Blick wie eine „unendliche Geschichte“ (Paschke 2005: 170) dar. In Kapitel drei werden auf Grund dessen eventuelle Verhaltensmuster und Regelmäßigkeiten sowie Akteure afrikanischer Außenpolitik im historischen VN-Reformprozess identifiziert, die für die Untersuchung der aktuellen Fallbeispiele Relevanz besitzen. Neben der allgemeinen Reformentwicklung wird in diesem Kapitel gesondert auf die historische Entwicklung des WSR und der MRK und deren größte Konfliktpotentiale eingegangen, die im vierten Teil der Arbeit Gegenstand der detaillierten Fallanalyse sein werden.
Dabei steht die 60. Generalsversammlung der Organisation im Jahre 2005 im Zentrum der Betrachtung. Sie weckte innerhalb der wissenschaftlichen Debatte, aber auch in der breiten Öffentlichkeit, nicht zuletzt aufgrund ihres Jubiläumscharakters und entsprechender Äußerungen des damaligen Generalsekretärs (Annan 2005a) international die Erwartung, dass zahlreiche institutionelle Reformprojekte endlich umgesetzt werden könnten. Die Analyse der Fallbeispiele wird zeigen, dass dieser Anspruch nur teilweise erfüllt werden konnte. Während die MRK, die in ihrer Geschichte zunehmendem politischen Missbrauch durch ihre Mitglieder unterworfen war, einer Generalüberholung unterzogen und in den MRR umgewandelt wurde (vgl. Generalversammlung 2005d: Ziffer 157-160), konnten sich die Mitgliedsstaaten bezüglich des WSR auf keinerlei Reformschritte verständigen und betonten lediglich ihr Bemühen „to continue our efforts to achieve a decision“ (Generalversammlung 2005d: Ziffer 153). Durch eine Auswertung entsprechender VN-Resolutionen, aber auch Beschlüsse und Stellungnahmen relevanter regionaler Organisationen und nationalstaatlicher Akteure aus Afrika werden schließlich die erkenntnisleitenden Fragen bearbeitet und im abschließenden Fazit beantwortet. Darüber hinaus wird anhand der Rolle Afrikas als Akteur des gegenwärtigen Reformprozess das Erklärungspotential der vorgestellten IB-Theorieansätze untersucht.
Die Arbeit schließt mit dem Fazit, dass afrikanische Positionen im Reformprozess der Vereinten Nationen immer noch vor dem Hintergrund des Nord-Süd-Konfliktes zu betrachten sind. Ihre Interessen innerhalb des Reformprozesses bestehen dabei primär in der Stabilisierung und Erhöhung ihres politischen Einflusses im VN-System. Im Bereich der Reform des MRK entstand auf diese Weise statt eines wirksamen Gremiums mit robustem Mandat ein Instrument, das zwar offiziell aufgewertet wurde, das jedoch bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt die gleichen negativen Symptome zeigt, wie vor der Reform (Nooke 2007: 31). Im Sicherheitsbereich konnte sich Afrika mit seiner Forderung nach zwei ständigen und zwei weiteren nichtständigen Sitzen für seinen Kontinent indes nicht durchsetzen. Während Afrika ansonsten vorzugsweise als stimmgewaltiger Gesamtblock auftritt, kristallisierten sich insbesondere im Verlauf der WSR-Reform einzelne Akteure heraus, die in ihrem Streben um einen ständigen Sitz im Gremium zunehmend unterschiedliche Interessen artikulierten. Die hohe Forderung Afrikas ist vor dem Hintergrund des Bedeutungsverlustes der GV, in dem Afrika rund ein Viertel aller Stimmen besitzt, nach Ende des Ost-West-Konfliktes zu betrachten und kann als ein Grund für das Scheitern der WSR-Reform gewertet werden. Bilanzieren kann man insofern, dass Afrika die Reform der VN in Bezug auf das erste Fallbeispiel verwässert und in Bezug auf das zweite Fallbeispiel mit ausgebremst hat. Im Vergleich zu dem Agieren Afrikas im historischen Reformprozess kann man einige Kontinuitäten aber auch Unterschiede festhalten. So war und ist es das übergeordnete Interesse Afrikas, im Rahmen des VN-Reformprozess seinen Einfluss zu erhöhen beziehungsweise zu konsolidieren. Im Unterschied zu den Anfängen afrikanischer VN-Reformpolitik artikulierte der Akteur diese Forderungen aber immer seltener im Rahmen großer Zusammenschlüsse wie der NAM oder G77, sondern zunehmend durch die Afrikanische Union (AU). Dieser Trend zu einem multilateraler Unilateralismus konnte vor allem bei der Untersuchung der Fallbeispiele nachgewiesen werden. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird detailliert ausgeführt, dass angesichts dieser Ergebnisse realistische Erklärungsvariablen den höchsten Aussagegehalt besitzen.
So breit das Angebot an wissenschaftlicher Literatur hinsichtlich der Untersuchung des VN-Reformprozess ist, so rar sind Beiträge, die die Rolle Afrikas in ihm zum Gegenstand haben[8]. Eine wissenschaftliche Betrachtung zum Untersuchungsgegenstand existiert nach dem Kenntnisstand des Autors nicht. Wertvolle Erkenntnisse für die Bearbeitung des Themas liefern Publikationen, die die Rolle Afrikas in den Vereinten Nationen oder im internationalen System beleuchten.
Die Hochphase der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Einfluss Afrikas auf die Vereinten Nationen lässt sich zwischen 1962 und 1976 verorten. Anfänglich wurde ein erheblicher Bedeutungszuwachs des Kontinents im VN-System sowie ein positiver Einfluss der Vereinten Nationen auf den Entwicklungsfortschritt Afrikas prognostiziert. Den Startschuss für diese allzu euphorische Einschätzung tätigte Sir Andrew Cohen Zeitschriftenaufsatz The New Africa and the United Nations aus dem Jahre 1962. Eine andere, für die vorliegende Arbeit weitaus gehaltvollere Forschungsrichtung entfernte sich von dieser streng normativ geprägten Argumentationsweise und verlagerte den Schwerpunkt auf empirisch-analytische Arbeit, indem sie das Abstimmungsverhalten afrikanischer Staaten in den VN-Organen auswertete. Autoren, wie beispielsweise Thomas Hovet, Will Maslow und Vernom Kay wiesen auf diese Weise die ausgeprägte und oftmals themenunabhängige Blocktreue beim afrikanischen Abstimmungsverhalten nach (vgl. Wilkins 1981: 5)[9]. Ab Mitte der 1970er-Jahre analysierte Moses Akpan in African Goals and diplomatic strategies in the United Nations den Einfluss Afrikas auf das VN-System. 1974 schrieb Hovet in seinem Aufsatz Effects of the African Group on the Behaviour of the United Nations Afrika den Wandel der Organisation vom reinen Instrument für globale Sicherheitspolitik zur Durchführorganisation für ökonomische und soziale Entwicklung zu. Im Verlauf der 1970er-Jahre rückte zunehmend die Betrachtung panafrikanischer Akteure ins Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema. James Jonahs Beitrag The U.N. and the O.A.U. aus dem Jahre 1974 und die Regionalstudien des Ausbildungs- und Forschungsinstitutes der Vereinten Nationen (UNITAR) mit dem Titel The OAU and the UN 1976 sind unter diesem Gesichtpunkt zu betrachten. Die angesprochenen Publikationen entstanden auf dem Höhepunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema. Der allmähliche internationale Bedeutungsverlust des Kontinents ab Mitte der 1970er Jahre schlug sich innerhalb der Politikwissenschaft in einem einschneidenden Rückgang der Veröffentlichungen zum Thema nieder. Anfang der 1980er-Jahre relativierte Gregory L. Wilkins in seinem Werk African influence in the United Nations, 1967-1975 das oft beschworene hohe Maß an Kohärenz des afrikanischen Abstimmungsverhaltens in den VN. Geradezu euphorisch widersprach dem 1985 Wellington W. Nyangoni in seiner bekanntesten Veröffentlichung Africa in the United Nations System, in der er die damalig 51 afrikanischen Mitgliedsstaaten als „extremly active in popularizing African issues in the General Assembly“ (Nyangoni 1985: 254) charakterisierte. Der Großteil der wissenschaftlichen Veröffentlichungen der 1980er-, 1990er-Jahre und auch des neuen Millenniums stellt Afrika zunehmend als Betätigungsfeld der Vereinten Nationen dar, statt umgekehrt, oder wählten dagegen einen breiteren Betrachtungsrahmen. Der einzige deutsche Beitrag, der explizit die die Rolle Afrikas in den VN thematisiert ist Franz Ansprengers Aufsatz Afrika in der UNO, der in dem Sammelband Praxis-Handbuch UNO 2002 erschienen ist.
Nach dieser kurzen Übersicht sowie der bisherigen wissenschaftlichen Auseinadersetzung mit dem Thema beginnt nun der Hauptteil der Arbeit.
2 Theoretische Betrachtungen
„The marginalization of Africa by western policy makers has a correlation in the continent’s marginalization by the dominant (Western-produced) IR theories. [...] Simply put, Africa has ong been absent in theorizing about world politics” (Dunn 2001: 2)
In diesem Kapitel werden theoretische Erklärungsparameter der Internationalen Beziehungen für die Strukturierung und Bewertung der späteren Ergebnisse geschaffen. Einleitend sei hierzu auf ein Modell von Wolfgang Kötter verwiesen, der für die wissenschaftliche Betrachtung des VN-Reformprozess drei analytische Ebenen unterschied, die „nicht selten aneinander vorbei gehen“ (Kötter 1995: 42f).
1. In der ersten Ebene wird die VN-Reform als bloßes Mittel zur Effizienzsteigerung der Organisation verstanden.
2. Auf der zweiten Ebene wird die Reform als Mittel zur Auf- oder Abwertung der Organisation als weltpolitische Ordnungsmacht betrachtet.
3. Die dritte Ebene analysiert, inwiefern das Verhalten der Mitgliedsstaaten für das Gelingen oder das Scheitern von Reformen verantwortlich sind.
Um die zentrale Frage, nach dem Einfluss des schwachen Akteurs Afrikas auf den VN-Reformprozess beurteilen zu können, erfolgt die theoretische Annäherung dieser Arbeit in der Tradition der dritten Kategorie, die Kötter als den „Schlüssel für das Verständnis der erstgenannten Problemfelder“ (Kötter 1995 S.43) bezeichnet. In einem ersten Schritt werden dazu verschiedene Theorien der internationalen Beziehungen hinsichtlich der Kooperationsbereitschaft der Mitgliedsstaaten sowie der Durchsetzungsfähigkeit eines vergleichsweise schwachen Akteurs analysiert. Der Einfluss eines Akteurs kann nur dann angemessen beurteilt werden, wenn die von ihm ausgehenden Aktionen im Vergleich zur Gesamtbilanz anderer Aktionen betrachtet werden. In einem zweiten Schritt erfolgt daher die Einführung eines theoretischen Modells zur qualitativen Bewertung einzelner Reformprojekte hinsichtlich ihrer „Intensität und Komplexität“ (Dicke 1994: 156). Mit diesen theoretischen Erkenntnissen wird eine adäquate Grundlage für die abschließende Bewertung der Rolle Afrikas im gesamten VN-Reformprozess und seinem Einfluss auf das Scheitern und Gelingen von VN-Reformprojekte geschaffen.
2.1 IB-Theorien über schwache Akteure des internationalen Systems
Die VN sind intergouvernemental organisiert (vgl. Gareis/Varwick 2006: 263), Reformen sind daher vom Willen der einzelnen Akteure zur Kooperation abhängig. Afrika wird innerhalb dieser Akteursgruppe häufig als „at the bottom of any conventional order of global power" (Clapham 1998: 3) wahrgenommen. Folglich muss eine Einschätzung über die Bedeutung Afrikas im Reformprozess der VN zwangsläufig mit der Betrachtung der Strukturen des internationalen Systems verbunden sein. Diese Arbeit greift diesbezüglich auf drei theoretische Ordnungsmodelle zurück, die theoretisches Erklärungspotential für den Untersuchungsgegenstand besitzen. Darüber hinaus decken sie das Spektrum von optimistischen bis pessimistischen Einschätzungen über die Wahrscheinlichkeit internationaler Kooperation und damit auch die Rolle vergleichsweise schwacher Akteure im internationalen System (vgl. GU 2000) ab, indem sie zentrale Akteure, Prozesse und Strukturen jeweils unterschiedlich verorten.
Tendenziell optimistisch beurteilen idealistische IB-Theorieansätze die Gestaltungsmöglichkeiten von vergleichsweise schwachen Akteuren des internationalen Systems. Eine grundsätzlich pessimistische Einschätzung darüber bieten realistische Theorien. Zwischen diesem extremen Gegensatzpaar analysiert die konstruktivistische Schule die Einflusschancen dieser Akteure fallweise und macht für Scheitern und Gelingen individuelle soziale Konstruktionsprozesse verantwortlich.
Im Folgenden werden die drei theoretischen Ansätze dargestellt, hinsichtlich der jeweiligen Sichtweise auf die zentrale Fragestellung analysiert und mit einem entsprechenden literarischen Beitrag zum Reformgipfel 2005 veranschaulicht. Diese literarischen Beiträge sind der Thematik angenähert, behandeln jedoch nicht den Untersuchungsgegenstand. Mit ihnen soll in erster Linie die theoretischen Überlegungen an einem praktischen Beispiel nachgewiesen werden.
2.1.1 Idealismus
2.1.1.1 Idealistische Einschätzungen über die Einflussmöglichkeiten schwacher Akteure des internationalen Systems
Idealistische Erklärungsmuster des internationalen Systems erlangten für die Politik und der wissenschaftlichen Auseinadersetzung mit ihr nach dem Ersten Weltkrieg an Bedeutung. Ideengeschichtlich angelehnt an die Befunde der europäischen Aufklärung[10] argumentierte der frühe Idealismus oder Liberalismus[11], dass internationalen Krisen durch das Vertrauen auf die menschliche Vernunft und durch einen geschlossenen Appell der internationalen Staatengemeinschaft wirksam entgegengetreten werden kann. Der Aufklärung oder Bildung der potentiell lernwilligen Menschen wohne daher eine entscheidende weil friedensstiftende Wirkung inne. Weniger der Nationalstaat, sondern das Individuum und dessen Streben nach bürgerlicher Freiheit und Wohlstand stehen im Zentrum der idealistischen Betrachtung. Norman Angell gilt als einflussreicher Theoretiker dieser zunächst explizit normativen Theorierichtung. Als Lehre aus den verheerenden Folgen des Ersten Weltkrieges argumentierte er, dass Völker kein Interesse an gewaltsamen Auseinandersetzungen hätten, da Kriege auch den Siegreichen keinen materiellen Vorteil brächten, sondern in jeden Fall den Wohlstand gefährden (nach Krell 2004:183). Als begünstigender Faktor für die Vermehrung von Wohlstand wirke vielmehr die Intensivierung der wechselseitigen Wirtschaftbeziehungen. Darüber hinaus würden diese Interdependenzen friedensstiftend wirken, da sie die Hemmschwelle für eine kriegerische Auseinadersetzung bei den Staaten erhöhen[12].
Neben dem Wohlstand und der wirtschaftliche Verflechtung benannte ein anderer einflussreicher Liberalist, der ehemalige US-Präsident Woodrow Wilson, gemäß Immanuels Kants These des demokratischen Friedens, die Förderung von Demokratie als weiteres friedensstiftendes Element.
Institutionell Ausdruck fand dieses Politikverständnisses in der Gründung des Völkerbundes 1920, zu dessen Begründern unter anderem der oben genannte Angell zählt und der eine dauerhafte Friedenssicherung weltweit garantieren sollte. Dem Völkerbund lag die idealistische Auffassung zu Grunde, dass „Frieden durch institutionalisierte Kooperation und internationale Organisationen“ (Krell 2004: 186) zu erreichen wäre, eine Einstellung, die vor allem durch die Variante des regulativen Liberalismus propagiert wurde[13]. Das Scheitern des Völkerbundes offenbarte die Grenzen der Theorie und erschütterte den ungebremsten Fortschrittsglauben ihrer Anhänger. Fortan zeichneten realistische Theorien ein weitaus pessimistischeres Bild der internationalen Beziehungen (siehe Kapitel 2.1.2.1) und diskreditierten den Idealismus und deren normative Aufgeladenheit als utopisch und irrelevant (Schieder 2006: 176). Als Reaktion auf die kurzzeitige Entspannungspolitik zwischen Ost und West aber auch als Kritik an dem (Neo-)Realismus entstanden im Verlauf der 1970er-Jahre verschiedene neo-idealistische Theorieansätze. Neben der neuen liberalen Schule[14], die durch Ernst-Otto Czempiel geprägt wurde, erlangte vor allem der Institutionalismus[15] oder auch Regimetheorie (Hartmann 2006: 50) große Bedeutung. Ideengeschichtlich der Tradition des regulativen Liberalismus (Krell 2004: 186) verhaftet, erweitert der Institutionalismus diese um realistische Einschätzung des internationalen Staatensystems (Krell 2004: 240). So begreift er entgegen dem Verständnis des klassischen Idealismus das Eigeninteresse als wichtigsten Faktor staatlichen Handelns, hält aber gemäß der idealistischen Tradition internationale Kooperation durchaus für möglich und effektiv, da die gleiche Interessen unter den Akteuren nicht zufällig, sondern eher die Regel seien und die Akteure einen Nutzen aus ihr ziehen können. Robert Keohane gilt als „maßgeblicher Mitbegründer“ (Hartmann 2006: 53) dieser idealistischen Strömung. Er betrachtet die Staaten als Zentrum der Weltpolitik und sieht in der Aufrechterhaltung der Sicherheit ihr primäres Ziel. Im tagespolitischen Alltag seien jedoch die Themen Beschäftigung und Wohlstand die zentralen Betätigungsfelder. Sicherheitsaspekte spielen eine untergeordnete Rolle. Da sich die zunehmend interdependente Struktur des internationalen Systems negativ auf die Steuerungsfähigkeit einzelner Nationalstaaten auswirke, seien diese zur Kooperation untereinander geradezu gezwungen. Institutionen haben dabei eine regulierende und steuernde Funktion. Ihnen räumen Institutionalisten darüber hinaus bei einem entsprechenden Institutionalisierungsgrad „signifikante Auswirken auf das Verhalten von Regierungen“ (Varwick 2006: 26) ein.
Die Notwendigkeit zum kooperativen, multilateralen Handeln im internationalen System ist ein zentraler Befund sowohl klassischer als auch neuerer idealistischer Theorien. Wurde dies anfänglich überwiegend normativ begründet, dominiert heute die Vorstellungen, dass zwischenstaatliche Kooperationsformen ein Nutzenpotential besitzen, das „durch unilaterales Handeln nicht erzielt werden kann“ (Varwick 2006: 25). Eine internationale Organisation ist demnach ein logisches Produkt, das aber nicht nur als bloßes Instrument zur Nutzenoptimierung der Akteure des internationalen Systems, sondern auch als globaler Ordnungsrahmen (vgl. Dicke 1995: 317-333) verstanden wird.
Wird staatenübergreifend ein bestimmter Zustand als Problem identifiziert, so treten in der neoidealistischen Argumentation partikulare Interessen gegenüber der kooperativen Bearbeitung dieses Problems zurück ohne aber gänzlich zu verschwinden. Dies mag auf den ersten Blick lediglich die Position intergouvermentaler Organisationen gegenüber nationalstaatlichen Akteuren stärken, erhöht indirekt aber auch die Durchsetzungsfähigkeit schwacher gegenüber starke Akteure. Da Neoidealisten der Entwicklung des internationalen Systems grundsätzlich optimistisch gegenüberstehen und sie als notwendiges Resultat normativer Lernprozesse hin zu kooperativen Handeln betrachten, modifizieren -gemäß ihrer Argumentation- alle Akteure, sowohl starke, als auch schwache ihre partikulare Interessen, so dass diese der multilateralen Bearbeitung eines Problems nicht im Wege stehen ohne dabei gänzlich irrelevant zu werden. Auf diese Weise fließen auch die Interessen schwacher Akteure des internationalen Systems in ein Ergebnis mit ein, da die starken Akteure den Konsens, der die Chance für eine erfolgreiche kooperative Bearbeitung des Problems darstellt als übergeordnetes Ziel verstehen. Bezogen auf den Reformprozess der Vereinten Nationen muss dies bedeuten, dass zunächst einmal alle Akteure die Notwendigkeit einer Reform als übergeordnetes Interesse begreifen. Wenn Afrika in diesem Reformprozess seine partikularen Interessen entsprechend justiert, würden die Industrienationen einen Kompromiss, der zur Durchsetzung der Reform führen würde, nicht auf Grund andersgearteter Interessen gefährden. Vorstellbar ist darüber hinaus dass sich das nationalstaatliche Interesse eines vergleichsweise schwachen Akteurs mit einem übergeordneten globalen Interesse deckt[16]. In diesem Falle erhöht sich die Durchsetzungsfähigkeit afrikanischer Interessen noch.
2.1.1.2 Alexander Graf Lambsdorff zur VN-Reformdebatte
Vor dem wegweisenden VN-Bericht In größerer Freiheit im Mai 2005 erschien der Beitrag Nach dem „annus horribilis - Das Reformjahr 2005 muss die UN wieder zukunftsfest machen[17] von Alexander Graf Lambsdorff. Der Autor, der sich selbst als liberal beschreibt[18] hält eine Reform für sinnvoll, sieht als Bedingung allerdings eine Demokratisierung der VN und zeigt sich hinsichtlich der Umsetzbarkeit der Vorschläge des damaligen Generalsekretärs vorsichtig optimistisch.
Zunächst geht Lambsdorff auf die Ursachen des Reformbedarfs der Organisation ein. Neben dem im Titel angedeuteten Jahr 2004, das „die Handlungsunfähigkeit der Organisation schmerzhaft vor Augen führte“ (S. 114), sieht der Autor vor allem in dem VN-Papier In größerer Freiheit den Grund für den gestiegenen Reformdruck der Organisation. Dem verantwortlichem Generalsekretär Kofi Annan attestiert er, durch eine Verknüpfung der Sicherheitsinteressen des Nordens und der entwicklungspolitischen Forderungen des Südens bewirkt zu haben, „dass die Voraussetzung für eine ernsthafte Reform weltweit als gegeben angesehen wurden – das ist mehr als seine Vorgänger jemals geschafft haben“ (S 114). Der anschließenden Auflistung einzelner Reformbaustellen, wie dem WSR, bei dem er gegenwärtig ein „ Legitimationsproblem“ (S 115) sieht, der GV, die von „inhaltsleere[n]“ (S. 115) Grundsatzdebatten und einer „unflexible[n] Tagesordnung“ (S.115) geprägt sei, das unzureichend strukturiert und ausgestattete UNEP und dem weitestgehend bedeutungslosen ECOSOC, folgt eine detailliertere Betrachtung der Reform des WSR. Hierbei identifiziert er Deutschland als einen der „natürlichen Kandidaten“ (S. 116). Bei der anschließenden Beurteilung der Erfolgsaussichten eines ständigen deutschen Sitz im Zuge der WSR-Reform wägt er die Positionen einzelner einflussreicher Akteure, wie den USA der islamischen Welt sowie der Interessengemeinschaft Coffee Club (siehe Kapitel 4.1.1) gegeneinander ab und kommt zu dem Schluss, dass die „Thematisierung des Vetorechts durch die Bundesregierung“ (S. 116) ein gravierender taktischer Fehler in den diplomatischen Bemühungen gewesen sei, „denn an nichts haben die P5 [, die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates,] so wenig Interesse, wie an der Diskussion ihres eigenen Status“ (S.116).
Generell spricht sich der Autor für eine Stärkung der Vereinten Nationen (S 117) aus. Konkret regt er eine bessere Arbeitsteilung zwischen WSR und GV in bestimmten Fragen, die das friedliche Zusammenleben der Völker betreffen, an. Diese „Demokratisierung der UN“ (S. 118) könne allerdings nur vollzogen werden, wenn die GV ihren Grundsatz von der „Westfälischen Fiktion“ (S. 118), also der in seinen Augen blinden Gleichstellung aller souveränen Nationalstaaten, begrübe und dadurch ihre Effizienz erhöhe. Die daraus abgeleitete These Souveränität sei nicht zwangsläufig mit Legitimität gleichzusetzen belegt er mit Beispielen, in denen ein undemokratischer Mitgliedsstaat einer VN-Organisation vorstand, dessen Wertesystem im krassen Widerspruch zu deren Grundintention stand. Der Autor schlägt diesbezüglich vor, dass „die Demokratien innerhalb der Vereinten Nationen eine funktionierende Zusammenarbeit etablieren“ (S. 119) und sich zu einem „ Caucus of Democracies “ (S. 119 Hervorheb. dort) zusammenschließen sollen. Die Demokratisierung der VN schlösse darüber hinaus auch eine stärkere „Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Arbeitsweise der UN“ (S. 119) mit ein. Der Beitrag schließt mit einem vorsichtigem Optimismus hinsichtlich der Erfolgschancen einer umfassenden VN-Reform und einen ständigen deutschen Sitz im WSR. Bei seiner Einschätzung betont er, das „Utopische ist fundamental […] für jeden Reformversuch der Weltorganisation“ (S. 119), gibt aber gleichzeitig zu bedenken, dass „auch erste Überlegungen für den Fall des Scheitern […] anzustellen“ (S. 120) seien. Generell dürfe es bei der VN-Reform nicht um die Befriedigung spezifischer nationaler Ambitionen, sondern um die „dringend benötigte Modernisierung der einzigen Institution, die effektiven Multilateralismus […] verwirklichen kann“ (S. 120).
Der Beitrag von Alexander Graf Lambsdorff, gegenwärtig Vorsitzender der FDP-Gruppe im europäischen Parlament[19], steht in der Tradition liberaler Argumentationsmuster. Obwohl er den Akteuren der internationalen Politik gemäß modernen idealistischer Theorien eigene Interessen zugesteht, begründet er seine Thesen selbst jedoch vorwiegend normativ. So kritisiert Lambsdorff die gegenwärtige Zusammensetzung des WSR mit dem schon dem Legitimationsproblem der ständigen Ratsmitglieder und spricht von einem „natürlichen Anspruchs“ Deutschlands auf einen ständigen Sitz im Gremium. Den Nationalstaat deutet er entgegen realistischer Theorie nicht zwangsläufig nach dem westfälischen Modell (siehe Kapitel 2.1.2.1), sondern fordert eine demokratische Gesinnung als Voraussetzung für die gleichberechtigte Behandlung eines Nationalstaates im internationalen System. Mit seiner Forderung nach einer Demokratisierung der Organisation bedient er klassische idealistische Positionen die Woodrow Wilson innerhalb der Disziplin populär gemacht hatte. Als Akteure des internationalen Systems sieht er neben den demokratisch legitimierten Nationalstaaten auch die Zivilgesellschaft. Der abschließende Appell, nationalstaatliche Interessen hinter der Notwendigkeit zu multilateralen Kooperationsformen zurückzustellen ist dabei der deutlichste Verweis auf seine theoretische Grundhaltung. Multilateralismus und Demokratisierung begreift Lambsdorff als wirksamste Methode für die Effizienzsteigerung der Organisation.
2.1.2 Realismus
2.1.2.1 Realistische Einschätzungen der Einflussmöglichkeiten schwacher Akteure des internationalen Systems
Obgleich die ideengeschichtlichen Ursprünge des Realismus weit zurückgehen, erste Ansätze reichen bis ins alte Griechenland[20], erlangte die Theorie innerhalb der politikwissenschaftlichen Disziplin erst nach dem sich abzeichnenden Scheitern des Völkerbundes und dem Aufstieg faschistischer Staaten wie Deutschland und Italien Relevanz. Sie steht „am Anfang der Verselbstständigung der IB als akademische Disziplin“ (Hartmann 2006: 23) und als Ausdruck der Kritik an der idealistischen Einschätzung der internationalen Beziehungen, die nach Meinung der Realisten „die Unangemessenheit bloßen Wunschdenkens als Basis der internationalen Politikwissenschaft“ (Carr 1939, zitiert nach List/Behrens/Reichard/Simonis 1995: 37) offenbaren. Die idealistische Wertkonstante Moral sei demnach irrelevant für die internationalen Beziehungen, so Edward Hallett Carr. Die einzige wichtige Variable im internationalen System sei die militärische Macht eines Nationalstaates gegenüber einem anderen. Dabei unterscheidet Carr ein Spektrum an Machtpositionen, angefangen von der quasi-hegemonialen Dominanz bis zur weitgehenden Bedeutungslosigkeit eines Staates. Folglich beherrschen Vergrößerung beziehungsweise Absicherung nationalstaatlicher Macht die internationalen Beziehungen, was zwangsläufig Reibungspunkte zwischen den Staaten erzeugt. Je nachdem, wie realistisch die Akteure des internationalen Systems ihre Machtposition einzuschätzen vermögen, werden die unvermeidlichen internationalen Konflikte kriegerisch gelöst oder aufgeschoben[21] (vgl. Carr 1964:109ff.). Carrs Einschätzungen basierten auf Beobachtungen der Zwischenkriegszeit Europas 1919-1939, erhoben allerdings nicht den Anspruch, eine eigenständige Theorie zu sein. Gleichwohl wurde er von ihren Vertretern gerne als „Kronzeuge für die Realistische Schule“ (Hartmann 2006: 24) herangezogen. Der bedeutendste unter ihnen, Hans Morgenthau, griff Carrs Überlegungen auf und erhob den Nationalstaat nach westfälischem Muster[22] zum zentralen und mächtigsten Akteur im internationalen System. Darüber hinaus entwickelte er den Machtbegriff von Carr weiter, indem er das von Thomas Hobbes propagierte Menschenbild (siehe Fußnote 20) auf das Verhalten von Staaten übertrug und so das Streben nach Macht als höchstes nationales Interesse und damit rationalen Akt eines Nationalstaates (oder bei Morgenthau: eines Staatsmannes) definierte. Der Maßstab einer staatlichen Entscheidung ist also die Wahl jener Option, „die den größten Nutzen und den geringsten Schaden verspricht“ (List/Behrens/Reichard/Simonis 1995: 37). Oberstes Ziel der Wissenschaft müsse es sein die „ideologische Verbrämung zu durchschauen [und] die wirklichen politischen Kräfte und Erscheinungen, die dahinter liegen, zu erfassen“ (Morgenthau 1963: 233, zitiert nach Schieder/Spindler 2006:46). Politik müsse anhand realer Ergebnisse und nicht unverbindlicher Absichterklärungen analysiert werden.
Die Thesen Morgenthaus wurden im Laufe der Zeit modifiziert und ergänzt, so beispielsweise um den von John J. Herz eingeführten Begriff des Sicherheitsdilemmas. Er beschreibt das Fehlen einer ordnungspolitischen Instanz im internationalen System und deklariert es zur wichtigsten Kriegsursache. Im Gegensatz zu Morgenthau ist Krieg für John H. Herz demnach kein anthropologisches, sondern soziales Problem (Jacobs 2006: 56). Damit steht er in der Tradition neorealistischer Argumentationen, die Mitte der 1970er-Jahre zunehmend den klassischen Realismus verdrängten. Im Unterschied zu Realismus, der in erster Linie eine theoretische Fundierung der Außenpolitik eines Nationalstaates bieten soll, wollen neorealistische Ansätze die Struktur der internationalen Systems beschreiben. Das Fehlen einer zentralen Ordnungsmacht und die daraus resultierende Anarchie des internationalen Systems„zwinge Staaten ein auf Sicherheit und Macht konzentriertes Handeln geradezu auf“ (vgl. Schörnig 2006: 66), so die Schlussfolgerung der Neorealisten.
Der strikte Imperativ des nationalstaatlichen Interesses als Grundlage politischen Handelns muss demnach auch die Entscheidungen in Fragen von Allianzen oder Kooperation zwischen Staaten dominieren. Nicht das moralische Gebot zu einer internationalen Staatengemeinschaft oder Weltgesellschaft erzeugt Kooperationen zwischen Nationalstaaten, sondern die allgegenwärtige Kriegsgefahr, infolge des natürlichen Machtstrebens aller Staaten, macht sie vielmehr notwendig. Frieden kann nur aufrechterhalten werden, wenn Machtungleichwichte, die durch die Dominanz eines mächtigen Gegners entstehen können, ausbalanciert werden. Dieses Gegensteuern kann in Form von kurzlebigen bi- oder multilateralen Bündnissen zwischen Staaten erfolgen, aber keinesfalls in der Gründung einer dem Nationalstaat übergeordneten, supernationalen Instanz münden. Da die Schaffung einer solchen Instanz unweigerlich mit einem Machtverlust für den Nationalstaat verbunden wäre, ist dies undenkbar. Die Funktion einer internationalen Organisation erschöpft sich in dem, welche Aufgaben die Mitglieder ihr zugestehen.
Auch bezüglich der Gestaltungsmöglichkeiten einer solchen Organisation durch vergleichsweise schwache Akteure des internationalen Systems zeichnen realistische Theorien ein pessimistisches Bild. Da das internationale System vornehmlich durch Anarchie und Konfrontation geprägt sei, setzen nur jene Nationalstaaten ihre Interessen durch, die innerhalb dieses Systems am meisten Macht besitzen. Diese vergleichsweise starken Akteure, deren Macht nach realistischer Argumentationsweise aus so genannten harten Faktoren, wie wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und militärischer Stärke resultiert, diktieren auch die Entwicklung einer internationalen Organisation. Da die oberste Priorität aller Akteure darin bestehe, Macht zu vergrößern oder abzusichern, müssen auch Reformschritte diesem Ziel unterworfen sein. Reformschritte würden demzufolge nie bestehende Herrschaftsverhältnisse antasten. Bezogen auf den Reformprozess der Vereinten Nationen bedeutet dies, dass afrikanische Vorschläge in erster Linie darauf zielen, ihre Macht im VN-System zu vergrößern. Allerdings werde es niemals zu einer Durchsetzung dieser Interessen kommen, da der Kontinent im internationalen System, gemessen an den erwähnten Kriterien eine verschwindend geringe Rolle spielt und ungleich mächtigere Akteure, wie die Industrienationen, den Reformprozess nach Belieben diktieren. Die Industrienationen hingegen sind vornehmlich an der Absicherung ihrer Macht im VN-System bedacht, so dass substantielle Veränderungen, die bestehende Machtstrukturen antasten könnten, nicht denkbar sind. Reformen sind, wenn überhaupt, nur in geringem Ausmaß, beispielsweise im organisatorischen Bereich denkbar.
2.1.2.2 Die Heritage-Foundation zur Reform des WSR
Der Beitrag U.N. Security Council Expansion Is Not in the U.S. Interest[23] entstand einen Monat vor der 60.VN-Generalversammlung. Die Autoren Nile Gardiner und Brett Schaefer empfehlen der US-Administration, sich im Verlauf des Reformgipfels 2005 gegen die Erweiterung des WSR auszusprechen, da diese den globalpolitischen Interessen des Landes zuwiderlaufe. Die Autoren der US-amerikanischen Heritage-Foundation, die laut Selbstdarstellung[24] ein „think tank“ ist, „whose mission is to formulate and promote conservative public based on […] a strong national defense.” (Heritage Foundation 2007). ziehen diesen Schluss in erster Linie durch eine Analyse des Abstimmungsverhaltens der Bewerber für einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat. Dieses zeige, dass es durchgängig nur ein geringes Maß an Übereinstimmung mit amerikanischen Positionen gegeben habe.
Der Beitrag beginnt mit einer knappen Vorstellung der drei unterschiedlichen Modelle der WSR-Reform, die im Vorfeld des Gipfels 2005 die meiste Beachtung fanden (siehe Kapitel 3.3.2), deren Initiatoren, sowie den formalen Hürden einer Reform des Hauptorgans. Der zögerlichen bis ablehnenden Haltung der US-Administration (vgl. Volger 2005: 1292) zu diesem Thema setzen Gardiner und Schaefer die Empfehlung entgegen „to go further and […] to state clearly that the U.S. opposes any expansion of the Security Council“. Sie begründen ihre ablehnende Haltung zum einen mit der Annahme, dass „even a modest expansion […] would make the Council even more unwieldy [and] contribute to gridlock“. Der weitaus wichtigere Grund, bestünde jedoch darin, dass eine Erweiterung des WSR “dilute U.S. influence in the Council, and likely result in a Council less supportive of the United States on many key issues”. Wissenschaftlich grundiert wird diese Einschätzung mit Auswertung des Abstimmungsverhaltens der potentiellen Beitrittskandidaten Brasilien, Ägypten, Deutschland, Indien, Japan, Nigeria und Südafrika in der Generalversammlung von 1999 bis 2004. Die Auswertung ergäbe eine „surprisingly low“ Übereinstimmung der potentiellen Kandidaten mit dem amerikanischen Abstimmungsverhalten. Während Deutschland und Japan, mit von 55 und 50 % an der Spitze dieses Rankings stünden, ergäben sich für die restlichen Kandidaten Werte von unter 30 %. Darüber hinaus würden die Daten zeigen, dass die Übereinstimmung mit dem amerikanischen Abstimmungsverhalten innerhalb der Bewerberländer seit 1999 „dramatically in some case“ zurückgegangen sei. Eine zweite, ähnlich gelagerte Analyse misst das Abstimmungsverhalten der genannten Beitrittskandidaten in der Generalversammlung zwischen 1999-2004 bei Entscheidungen von einem „fundamental national interest“ für die USA[25]. Hier sei zu beobachten, dass die Übereinstimmung zwischen dem amerikanischen Abstimmungsverhalten und denjenigen Beitrittskandidaten, die aus dem Kreis der Entwicklungs- oder Schwellenländer kommen, sogar noch niedriger als die vorangegangenen Werte seien. Obwohl die Übereinstimmung mit den beiden übrigen Industrieländer Deutschland und Japan mit 64 und 66 % geringfügig höher sei, kommen die Autoren zu dem Schluss, dass „their voting coincidence can hardly be considered reliable“. Darüber hinaus sei die Übereinstimmung mit Kernpunkten amerikanischer Interessen in den letzten Jahren des Untersuchungszeitraums zurückgegangen. Die Erweiterung des Gremiums „with these nations as permanent members will likely be less supportive of U.S. policy priorities“.
Neben diesen empirischen Erkenntnissen verhindere die Tatsache, dass gegenwärtig keines der eingebrachten Reformmodelle die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit in der GV erhalten würde, generell die Erweiterung des Gremiums. Da die US-Administration „increase effectivness“ als ein Hauptziel der Reform des WSR formuliert habe, sei es in ihrem Interesse „to have a lean and effective Security Council“. Die Erweiterung des Gremiums hingegen würde eine gegenteilige Wirkung haben.
Auf Basis dieser Erkenntnisse empfehlen die Autoren, sämtliche eingebrachten Reformmodelle abzulehnen und die Aufrechthungerhaltung des Status Quo. Dieser sei zwar „by no means perfect as it currently stands“, aber „preferable to ill-considered expansion that will surely weaken its standing and ability to meet its mandate”.
Der Beitrag der Heritage Foundation steht in der Tradition einer neorealistischen Argumentationsweise. Die Empfehlung zur Kooperation, also zur Zustimmung für einen der im Beitrag angeführten Reformvorschläge, koppeln die Autoren in erster Linie an die den nationalstaatlichen Interessen ihres Landes. Die weitgehende Verengung der Diskussion auf die Wahrung nationalstaatlicher Interessen, sowie die Aussage, dass die Vergrößerung des Gremiums seine Entscheidungsfähigkeit zwangsläufig beschädige offenbart eine ablehnende Grundeinstellung zur Idee des Multilateralismus. Anarchie muss nach Meinung der Autoren folglich die bestimmende Konstante im internationalen System sein. Die Empfehlung, die Aufrechterhaltung eines suboptimalen Status Quo einer Reform vorzuziehen zeigt das realistische Verständnis, die hegemoniale Stellung des Landes nicht zu Lasten relativer Gewinnzuwächse anderer Staaten zu gefährden.
2.1.3 Konstruktivismus
2.1.3.1 Konstruktivistische Einschätzungen die Einflussmöglichkeiten schwacher Akteure des internationalen Systems
Der Konstruktivismus hat innerhalb der drei vorgestellten Theoriemodelle den kürzesten geschichtlichen Hintergrund und bietet eine kontextbezogene Analyse politischen Handelns (Hartmann 2006: 67). Ideengeschichtlich an wissenssoziologische Ansätze[26] angelehnt, entstand er aus der Auseinadersetzung und schließlich Abgrenzung zum Neorealismus. Alexander Wendt der als „Referenztheoretiker“ (Ulbert 2006: 413) dieser Theorieschule der internationalen Beziehungen betrachtet wird, identifiziert in seinem zentralen Werk, dem Aufsatz Agent Structure-Problem in International Relations Theory aus dem Jahre 1987, zwar analog zur neorealistischen Auffassung die Staaten als zentrale Akteure des internationalen Systems (vgl. Hartmann 2006: 65), sieht aber in Abgrenzung zum Neorealismus immaterielle Faktoren als Grundlage staatlichen Handelns (Ulbert 2006: 414). Statt dem Streben nach Macht und der Absicherung nationaler Interessen basiere staatliches Handeln primär auf Wahrnehmungsbildern, die temporär in der Gesellschaft verwurzelt sind. Auch politische Entscheidungsträger interpretieren gesellschaftliche Ereignisse und Meinungen, konstruieren so ein persönliches Weltbild und leiten daraus staatliches Handeln ab, so Wendt. Zentral sei darüber hinaus die Veränderbarkeit dieser Weltbilder. Der neorealistischen Auffassung, nachdem Anarchie das prägende Ordnungskriterium des internationalen Systems sei, hielt Wendt folglich „Anarchy is what states make of it“ (zitiert nach Ulbert 2006: 415) entgegen. Anarchie sei somit kein konstanter Urzustand des internationalen Systems, sondern von den politischen Akteuren selbst hervorgebracht und somit durch die Etablierung neuer Normen und Regeln auch veränderbar. Erst die Einsicht, dass ein individuell etabliertes Argumentationsmuster kein Erklärungspotential mehr besitzt führt zur Rekonstruktion desselben. Die Veränderbarkeit verweist indirekt auf eine Vielfalt nebeneinander existierender Normen, Traditionen und basiert auf der Überzeugung, die Konstruktion des Weltbildes eines Akteurs auch durch Argumentation beeinflussen zu können. Die entscheidende Variable für die Modifikation eines Weltbildes sei die so genannte Soft Power[27], immaterielle Größen wie Sprache, Religion, Kultur und Wissenschaft (Hartmann 2006: 69).
Das Ende der Blockkonfrontation wird als Musterbeispiel für den konstruktivistischen Ansatz in den Internationalen Beziehungen und dessen Geburtsstunde betrachtet. „Die Ereignisse nach 1989 beschleunigten diese Suche nach neuen theoretischen Erklärungsmustern, nachdem sich die Disziplin eingestehen musste, mit den bisherigen Analyse-Instrumenten das Ende des Ost-West-Konfliktes nicht vorhergesehen zu haben“ (Ulbert 2006: 412). Das Ende des Kalten Krieges ging mit Abkehr von der marxistisch-leninistischen Ideologie im heutigen Russland ein. Dies führte zu einer Rekonstruktion des etablierten Feind- beziehungsweise Weltbildes, in den westlichen Demokratien (aber auch im heutigen Russland), so die Auffassung des Konstruktivismus. Die aktuelle Verschlechterung der amerikanisch-russischen Beziehungen, die auf beiden Seiten auch mit dem Bemühen alter Feindbilder einhergeht, erklärt der Konstruktivismus mit dem Verweis auf die hohe Bedeutung der zeitlichen Dimension solcher Wandlungsprozesse.
Die konstruierte Wahrnehmungswirklichkeit muss in der Argumentation des Konstruktivismus auch die Entscheidung für oder gegen zwischenstaatliche Kooperationen dominieren. Der Staat fungiert dabei als „Bindeglied zwischen der Gesellschaft und der Weltpolitik“ (Hartmann 2006 68). Mit einer entsprechenden normativen Basis können aus solchen Kooperation institutionelle Verregelungsapparate, also internationale Organisationen entstehen. Trotz der Prognose, die Dominanz der Nationalstaaten im internationalen System werde in absehbarer Zeit nicht durch eine übergeordnete Instanzen gebrochen werden, betrachtet der Konstruktivismus intergouvernementale Organisationen, dessen Erfolg von der Kooperationsfähigkeit der Nationalstaaten miteinander abhängig ist, als autonome Akteure des internationalen Systems. Begründet wird diese Einschätzung mit der bürokratischen Struktur solcher Organisationen, durch die „sie sich nicht nur selbst als System etablieren, sondern gleichzeitig die soziale Welt konstruieren“ (Varwick 2006: 27).
Bezüglich der Gestaltungsmöglichkeiten einer solchen Organisation durch vergleichsweise schwache Akteure des internationalen Systems zeichnen konstruktivistische Theorien ein differenziertes aber tendenziell optimistisches Bild. Da das internationale System nicht ausschließlich durch die Variable der nationalstaatlichen Macht, sondern vornehmlich durch individuelle „Wahrnehmungen und Ideen“ (Hartmann 2006: 65) geprägt wird, können potentiell auch vermeintlich schwache Akteure normensetzend wirken und Entscheidungsprozesse beeinflussen. Dies kann aktiv aber auch passiv geschehen und ist maßgeblich abhängig von der oben erwähnten Soft Power eines Akteurs. Eine andere Schlussfolgerung aus der Theorie des Konstruktivismus kann gleichwohl lauten, dass eine entsprechende Bewertung durch die Akteure des internationalen Systems die Durchsetzung von Interessen vermeintlich schwacher Akteure blockieren kann, im Gegensatz zum Realismus wird die Möglichkeit aber nicht gänzlich negiert.
Bezogen auf den Reformprozess der Vereinten Nationen bedeutet dies, dass auch afrikanische Länder solche Perzeptionsänderungen innerhalb ihres Kontinents oder international bewirken und steuern können. Die Tatsache, dass nicht zwangsläufig harte Faktoren wie die wirtschaftliche Leistungskraft oder das militärische Potential solchen Änderungsprozesse auslösen, sondern auch durch die Vermittlung einer bestimmten Weltanschauung Normenveränderungen hervorgerufen werden können, versetzt Afrika potentiell in die Lage, den VN-Reformprozess aktiv mitzugestalten. Gleichwohl sei an dieser Stelle erwähnt, dass gegenwärtig der westliche Gesellschaftsentwurf die Staaten Afrikas dominiert und nicht umgekehrt (vgl. Hartmann 2006: 669f.). Denkbar wäre ebenfalls eine Perzeptionsänderung, an der Afrika passiv mitwirkt[28]. Selbst substantielle Einflussmöglichkeiten Afrikas auf den VN-Reformprozess sind unter den entsprechenden Voraussetzungen denkbar, aber nicht zwingend notwendig.
2.1.3.3 Bernd Mützelburg zur Reform des WSR
Der Beitrag Großmannssucht oder aufgeklärte Interessenpolitik – Deutschlands Rolle in den Vereinten Nationen[29] von Bernd Mützelburg erschien unmittelbar vor dem VN-Reformgipfel im September 2005. Darin legitimiert der damalige außen- und sicherheitspolitische Berater des Bundeskanzlers einen ständigen Sitz Deutschlands im WSR durch die gewandelten weltpolitischen Rahmenbedingungen und der damit verbundenen Wandel der deutschen Außenpolitik, der einen stärkere.
Ausgehend von der Überwindung des Ost-West-Konfliktes und der daraus folgenden Wiedervereinigung begründet Mützelburg einen grundlegenden Wandel der „Bedingungen für internationale Sicherheit“ (S. 34) insbesondere für Deutschland. Verbunden mit der Einsicht, dass sich „Integration […] als der Königswegs zur Sicherheit Europa“ erwiesen hätte und Deutschland „erstmals in seiner Geschichte, von Partnern und Freunden“(beide: S.34) umgeben sei, leitet er eine politische Emanzipation Deutschlands ab. Dem Ende des Ost-west-Konfliktes stellt er die Ereignisse des 11. September 2001 gegenüber, die dazu geführt hätten, dass dem „Sicherheitszuwachs […] jedoch auch ein Verlust an Sicherheit“ (S. 34) gegenüberstünde. Aus diesen historischen Befunden und der Tatsache, dass „Deutschland aufgrund seines Gewichtes, seiner geostrategischen Lage und nicht zuletzt seiner Geschichte […] mitverantwortlich für internationale Stabilität“ (S. 35) sei, schlussfolgert er eine Berechtigung, ja Verantwortung der Bundesrepublik „Sicherheit zu „exportieren““ (S. 35). Als ein zentrales Instrument sieht er die Vereinten Nationen, da nur sie einen „Multilateralismus, der effektiv ist“ hervorbrächten, der globale Akzeptanz fände und wirksam „Gefahren, die keine Rücksicht […] auf nationale Grenzen nehmen“ (beide: S. 35) entgegentreten könne. Die Reform der Organisation diene vornehmlich dem Zweck, den neu antizipierten Gefahren wirksamer entgegenzutreten, aber auch „das gesamte UN-System effizienter und transparenter zu machen“ (vgl. S. 36). Die Reform des Sicherheitsrates sei ein Schritt in diese Richtung, das die gegenwärtige Zusammensetzung den „Kräfteverhältnissen am Ende des Zweiten Weltkriegs“ entspräche nicht aber der aktuellen politischen Situation (S. 36). Neben der stärkeren Einbindung von Entwicklungsländern müsse die Reform auch Deutschland berücksichtigen, das „wesentliche Beiträge zur Wahrung des Weltfriedens“ (S. 37) leiste. „Die „Werte und Ziele […], die unsere Außen und Sicherheitspolitik charakterisieren“, sowie „Deutschlands Ruf als glaubwürdiger Multilateralist“ (S. 38) befähigen nach Ansicht des Autoren das Land zur größeren Mitsprache und lassen eine entsprechende Bewerbung um einen ständigen Sitz erfolgversprechend erscheinen. In Die Rufe nach einem gemeinsamen europäischen Sitz im Gremium bewertet er mit dem Hinweis auf den gescheiterten Verfassungsentwurf der EU als wenig hilfreich, da „die EU noch nicht „reif“ ist für einen europäischen Sitz“ (S. 40). Schlussendlich deklariert er den Reformgipfel 2005 überschwänglich zum “window of oppurtunity“, äußert sich aber vorsichtig optimistisch, ob „die Mitgliedsstaaten die Chance zur Stärkung der Vereinten Nationen ergreifen“ (S. 41).
Der Beitrag von Bernd Mützelburg steht in der Tradition einer konstruktivistischen Argumentationsweise, weist allerdings Elemente der liberalen Theorie auf. Der liberale Einschlag zeigt sich im Text am deutlichsten in seinen wiederholten Appellen zum Multilateralismus. So sieht er „die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit problematischer, wenn nicht obsolet“ (S. 35) und bekennt sich zur kooperativen Lösungen für globale Probleme, die aufgrund ihre Komplexität nicht mehr von den Nationalstaaten alleine gelöst werden können. Ähnlich der Argumentation von Graf Lambsdorffs Beitrag begründet er den Reformbedarf des Sicherheitsrates als normative Notwendigkeit und erst in zweiter Linie als Mittel zur Interessenwahrung Deutschlands.
Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die Veränderung des politischen Weltbildes infolge der Beendigung des Ost-West-Konfliktes. Damit bedient er gleich zu Beginn das Paradebeispiel konstruktivistischer Argumentationen. Auch die europäische Integration und die Terroranschläge des 11. Septembers hätten laut Mützelburg normative Lern- und Gestaltungsprozesse ausgelöst, die unter anderem in einem Streben der Bundesrepublik Deutschland nach einen ständigen Sitz im deutschen Sicherheitsrat mündete. Als potentiell normenbildendes Ereignis wertet Mützelburg auch den bevorstehenden Reformgipfel 2005. Den Nationalstaate begreift der Autor dabei nicht als eigenmächtigen Akteur, sondern vielmehr als Mittler oder Exporteur normativer Wertesysteme und damit auch als Scharnier zwischen seinen Individuen und einer multilateral agierenden Welt. Neben dem Umdenken innerhalb der deutschen Außenpolitik sieht er auch einen Wandel in der Außenwahrnehmung der Bundesrepublik. Die Tatsache, das Deutschland international mehr denn je „glaubwürdiger Multilateralist“ angesehen würde, könne seiner Meinung maßgeblich zu einem Erfolg der deutschen Bewerbung um einen ständigen Sitz beitragen.
2.2 Ebenen der VN-Reformen
Die schon angedeutete Prozesshaftigkeit der VN-Reform brachte im Laufe der Zeit eine Fülle verschiedener Änderungsmaßnahmen hervor, die die Organisation unterschiedlich stark prägten. Zur Strukturierung und Einordnung der Reformschritte entstanden innerhalb der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Modelle, die einzelne VN-Reformprojekte nach ihrer Komplexität und Wirkung auf die Struktur der Organisation kategorisieren. Das Spektrum dieser Analysemodelle beginnt in der Regel bei kleineren Korrekturen, und endet mit einer Totalrevision des Apparats. Im Folgenden werden zwei Ordnungsraster vorgestellt und hinsichtlich ihrer individuellen Stärken und Schwächen bezüglich der Anwendbarkeit auf den Problemgegenstand untersucht. Auf dieser Basis wird abschließend ein neues Modell entworfen, das im weiteren Verlauf der Arbeit Anwendung finden wird.
2.2.1 Ebenenmodell nach Dicke
Klaus Dicke unterscheidet in Effizienz und Effektivität internationaler Organisationen vier verschiedene Ebenen von VN-Reformen:
- In die erste Kategorie (a) fallen in seinem Modell „kleinere , meist organisatorische Korrekturen “ (Dicke 1995: 156, Hervorh. dort), die zu einer Effizienzerhöhung einzelner Organe führen. Dies könne eine Mitgliedererhöhung in Ausschüssen oder Organen, die Straffung von Verfahrensabläufen, Änderung von Geschäftsordnungen, Verbesserung der Kommunikation zwischen Gremien beinhalten.
- Die zweite Kategorie (b) umfasst nach Dicke institutionelle Neugründungen oder die thematische Neuausrichtung eines Organs innerhalb des VN-Systems. Durch solche Strukturmaßnahmen solle „die Leistungsfähigkeit der Organisation gesteigert bzw. neuen Anforderungen an das internationale System angepasst werden“ (Dicke 1995: 157). Darunter fielen beispielsweise die Neugründungen der UNCTAD, UNIDO, UNEP oder Neuorganisation der humanitären Hilfe ab 1991 (vgl. Generalversammlung 1991; Generalversammlung 1992).
- Kennzeichnend für die dritte Kategorie (c) ist laut Dicke, dass ein Reformschritt das VN-System gravierend strukturell verändert. Mit solchen Reformschritten solle den erhöhten Herausforderungen von außen und innen effektiver begegnet werden. Mit der äußeren Herausforderung ist in diesem Fall das internationale System gemeint, die innere Herausforderung meint einerseits die gestiegenen organisatorischen Ansprüche angesichts des stetig wachsenden VN-Systems und klammert dabei auch die Behebung institutioneller Fehlentwicklungen nicht aus (Dicke 1995 157). Beispielhaft werden die Kompetenzverschiebungen von WSR auf die GV im Bereich der Friedenssicherung angeführt (vgl. Generalversammlung 1950, ausführlich dazu: siehe Kapitel 3.1).
- Die radikalste Form einer VN-Reform ist gleichwohl stellt die vierte Kategorie (d) dar. Sie beinhaltet eine „Totalrevision“ (Dicke1995: 157) der Organisation, insofern erscheint der Begriff Reform in diesem Zusammenhang irreführend. Keine Modifikation, sondern ein grundlegend neuer Entwurf der Organisation oder der Charta sei Gegenstand dieser Reformebene. Beispielhaft führt Dicke den Bericht Some Reflections on Reform of the United Nations aus dem Jahre 1985 an, in dem Maurice Bertrand „die Reformfähigkeit der UN in ihrer derzeitigen Gestalt grundsätzlich bezweifelt“ (Dicke 1995: 157) und folglich eine vollständige Neukonzeption der Charta fordert.
2.2.2 Ebenenmodell nach Unser
Eine ähnliche Kategorisierung bietet Günther Unser in Die UNO – Aufgaben, Strukturen, Politik, unterscheidet aber nur drei Ebenen:
- Die erste Kategorie (a) beinhaltet Reformschritte, die „primär auf eine größere Leistungsfähigkeit und Wirkungsmöglichkeit in den zentralen Aufgabenbereichen der bestehenden Organisation abzielen“ (Unser 2003: 395). Ähnlich Dickes erster Ebene erhöhen solche Reformschritte lediglich die Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit bestehender Organe, tasten jedoch „durchweg nicht den Rahmen der gültigen UN-Charta […] und den gültigen Status Quo der Vereinten Nationen [an]“ (Unser 2003: 395). Beispielhaft führt Unser den Brahimi-Report aus dem Jahre 2000 an, der die Vorschläge zur Verbesserung der VN-Friedensmissionen machte.
- In die zweite Kategorie (b) fallen „Reformen, die strukturell-institutionelle Umgestaltungen der Vereinten Nationen zum Ziel haben“ (Unser 2003: 401). Hierzu zählen sowohl die strukturelle Umgestaltung bestehender Organe, als auch die Neugründung solcher. Diese Strukturmaßnahmen berühren den „politischen Kern der derzeitigen Organisation“ und setzen für ihre Umsetzung „ein langwieriges Charta-Änderungsverfahren voraus“ (Unser 2003: 401). Unser veranschaulicht dies an der stockenden Reform des WSR, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit Gegenstand der Betrachtung sein wird.
- Die letzte Kategorie (c) ist, vergleichbar mit Dicke Kategorie (d) und schließt Reformen ein, „die auf eine grundsätzliche Veränderung der Prinzipien und des Charakters der bestehenden Organisation gerichtet sind“ (Unser 2003: 403). Hierzu zählen insbesondere Ansätze, die die Schaffung einer supranationalen Organisation zum Ziel haben. Obwohl Unser betont, dass „eine baldige machtpolitische Aufwertung der Organisation wenig wahrscheinlich“ (Unser 2003: 406) sei, diagnostiziert er ein „ordnungspolitisches Vakuum“ (Unser 2003: 404), dass die Suche nach “stabilisierenden, globalen und regionalen Kooperations- und Integrationsmustern“ (Unser 2003: 404) auslöse.
2.2.3 Kritik und Entwurf eines eigenständigen Modells
Übereinstimmend definieren beide Autoren die erste Kategorie über Maßnahmen, die zu einer Effizienzerhöhung der Organisation führen, ohne deren Funktion oder Ausrichtung in Frage zu stellen. Die Kategorisierung erscheint sinnvoll, da das Maß an Komplexität solcher Maßnahmen vergleichsweise gering ist und sie eine deutliche Abgrenzung von den übrigen Kategorien bietet. Unser und Dicke operationalisieren die erste Kategorie darüber hinaus, indem er explizit darauf verweist, dass solche Reformen keiner Charta-Änderung bedürfen. Somit wird das Modell dieser Arbeit hinsichtlich der ersten Kategorie an dem Entwurf Unsers orientieren.
In den folgenden Punkten unterscheiden sich die beiden vorgestellten Modelle am deutlichsten. Die strukturelle Umgestaltung durch Reformschritte reduziert Unser in seinem Modell auf die Kategorie (b) und stellt darüber hinaus die Notwendigkeit einer Charta-Änderung als Bedingung für die Einordnung einer Maßnahme in diese Kategorie. Dicke unterteilt strukturelle Reformschritte hingegen etwas unscharf in (b) Strukturmaßnahmen, mit denen die Organisation neuen Anforderungen effektiver begegnen kann und (c) Reformen, durch die innere und äußeren Herausforderungen effektiver bewältigt werden können (vgl. Dicke 1995: 157). Beide Autoren verstehen darunter Neugründungen und Neuausrichtungen bestimmter Organe. Das Modell dieser Arbeit greift Ansätze beider Autoren auf ohne einen der Vorschläge zu kopieren. In Übereinstimmung mit Dicke werden strukturelle Reformschritte in zwei Kategorien unterteilt. Nach den Vorschlägen Unser werden die beiden folgenden Kategorien in erster Linie an die Notwendigkeit einer Charta-Änderung[30] gekoppelt. Der daraus resultierende Einwand, dass substantielle Reformschritte nicht notwendigerweise der Änderung der VN-Charta bedürfen und umgekehrt deren Änderung nicht zwangsläufig eine tiefgreifende Veränderung des VN-Systems nach sich zieht, hält im Reformalltag der VN einer genaueren Überprüfung nicht stand. Die Verknüpfung scheint sinnvoll, da sich die Notwendigkeit einer Charta-Änderung in der Vergangenheit als größte Hürde innerhalb der Reformdebatte e rwiesen hat[31]. Die immense Aufgabe, bei den Mitgliedsstaaten die erforderliche Bereitschaft für eine Änderung der VN-Charta zu generieren, erfordert ein Höchstmaß an politischen Einfluss und lässt insofern auch Rückschlüsse hinsichtlich der Komplexität eines entsprechenden Reformschrittes zu. Dem finalen Ordnungsmodell dieser Arbeit liegt deshalb die Annahme zugrunde, dass ein Reformschritt, der einer Änderung der Charta bedarf per se ein maximales Maß an Komplexität aufweist und somit in einer qualitativer Betrachtung am Ende einer Skala stehen muss.
Bezogen auf die letzte Kategorie weicht das Ordnungsmodell dieser Arbeit grundlegend von den vorgestellten Rastern ab. Diese mutet sowohl bei Dicke, als auch bei Unser in Bezug auf den Reformprozess der Vereinten Nationen wie eine künstliche Größe an, die scheinbar nur eingeführt wurde, um eine gewisse Vollständigkeit hinsichtlich des denkbaren Spektrums von VN-Reformschritten abzudecken. Eine Totalrevision, da stimmen beiden Autoren überein, sei zumindest in absehbarer Zeit keine realistische Option (vgl. Dicke 1995: 157f.; Unser 2003: 403) und müsste die Tragweite vergleichbar der Neugründung der Organisation 1945 besitzen. Folglich verwenden beide Autoren den Begriff Reform genau genommen unscharf, da dieser lediglich die „planvoll herbeigeführte im polit. Institutionensystem“ (Glotz/Schultze 2004: 804), aber nicht deren Abschaffung und Neugründung meint. Dies Möglichkeit einer Totalrevision erscheint als ein theoretisches, wissenschaftliches Konstrukt, das sich kaum auf den tatsächlichen Reformalltag der Organisation anwenden lässt. Auch wenn solche Extrempositionen auf den ersten Blick griffig und schnell verständlich erscheinen, so müssen theoretische Modelle letztendlich dem Anspruch genügen, empirische Befunde abbilden und erklären zu können. Das Ordnungsraster, das an dieser Stelle entworfen wird, verzichtet folglich auf diese letzte Kategorie.
Basierend auf den Vorschlägen Unsers und Dickes unterscheidet diese Arbeit im Folgenden drei Ebenen von VN-Reformen:
- In die erste Kategorie (a) fallen Reformmaßnahmen, die keiner Charta-Änderung bedürfen und die Prozessabläufe bestehender Organe des VN-Systems optimieren, ohne deren Existenz oder Ausrichtung in Frage zu stellen. Darunter können die Änderung etablierter Arbeitsweisen oder Geschäftordnungen bestehender Organe fallen.
- Die zweite Kategorie (b) beinhaltet Maßnahmen, die keiner Charta-Änderung bedürfen und die zu einer Verbesserung etablierter Arbeitsweisen, oder der Neuausrichtung der Organisation/einzelner Organe führen, um neu entstandene Herausforderungen des internationalen Systems zu bewältigen. Darunter können institutionelle Neugründungen oder die Neuorganisation bestehender Organe fallen.
- Die dritte Kategorie (c) umfasst Reformschritte, die einer Charta-Änderung bedürfen, und die zu einer Neuausrichtung oder grundlegenden Umgestaltung der Organisation oder einzelner Organe, um neu entstandenen Herausforderungen des internationalen Systems zu bewältigen. Darunter können institutionelle Neugründungen oder die Neuorganisation bestehender Organe fallen.
Als Implikation für den VN-Reformprozess wird an dieser Stelle die These aufgestellt, dass die erfolgreiche Durchführung einer Reform schwieriger ist, je höher dieser Reformschritt in dem aufgestellten Analyseraster angesiedelt ist. Nachdem im weiteren Verlauf der Arbeit zunächst auf die Rolle Afrikas im historischen und anschließend im gegenwärtigen VN-Reformprozess eingegangen wird, werden die vorgestellten theoretischen Erkenntnisse angewendet, um eine adäquate Bewertung der Ergebnisse zu gewährleisten.
[...]
[1] Mit einem Anteil von 41 (in der G77) und 45 % (im NOM) bilden afrikanische Staaten den größten kontinentalen Block in diesen beiden Organisationen. Es kann demnach davon ausgegangen werden, dass in der eingangs erwähnten Stellungnahme insbesondere afrikanische Interessen in besonderem Maße vertreten werden.
[2] Anlässlich der 61. Generalversammlung (GV) veröffentlichte die vom ehemaligen Generalsekretär Kofi Annan eingesetzte Hochrangige Gruppe am 9. November 2006 das Reformpapier „Einheit in Aktion“.
[3] Der Begriff wird im Folgenden gemäß der Definition Franz Nuschelers verwendet, der den Nord-Süd-Konflikt als „internationalen und innerstaatlichen Gegensatz zwischen Reichtum und Armut, Macht und Ohnmacht“ (Nuscheler 2005: 123) bezeichnete, der „erstens die Unvereinbarkeit von Interessen, zweitens die Konfliktfähigkeit und drittens die Konfliktbereitschaft der Kontrahenten“ (Nuscheler 2005: 123) voraussetzt.
[4] Das eingangs angeführte Beispiel mag ein Beleg dafür sein, dass sich die Interessen Afrikas größtenteils mit denen anderer Entwicklungsregionen decken. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird jedoch nachgewiesen, dass panafrikanische Akteure wie die Afrikanische Union (AU) und Regionalmächte wie Nigeria oder Südafrika partikulare Interessen artikulieren, die nicht zwangsläufig mit denen anderer Entwicklungsländer korrelieren müssen.
[5] Nach dieser Methode wird ein Problemgegenstand anhand von Fallbeispielen untersucht, die ein möglichst gegensätzliches Ergebnis aufweisen. Auf diese Weise soll eine möglichst unvoreingenommene Herangehensweise an das Thema gewährleistet werden.
[6] Am 31. August 2005 verlängerte Der WSR das Mandat der United Nation Mission in Sudan (UNMIS) zur Überwachung des Friedensabkommens zwischen der sudanesischen Regierung und der Sudan People’s Liberation Movement/Army. Weitere Betätigungsfelder von VN-Personal im Auftrag des WSR waren 2006 Burundi, Somalia, West-Afrika, Eritrea/Äthiopien, Elfenbeinküste, Liberia sowie die Demokratische Republik Kongo. Im Bereich des Menschenrechtsschutzes lagen die Schwerpunkte der VN 2006 neben dem Sudan in Chad und der Demokratischen Republik Kongo.
[7] Grundlegende Reformschritte, die zu einer Änderung der VN-Charta führen, müssen von mindestens zwei Dritteln aller Mitglieder der Generalversammlung (GV) beschlossen und von dem gleichen Quorum sowie allen fünf ständigen Mitgliedern des WSR ratifiziert werden (Vereinte Nationen 1965: Artikel 108).
[8] Obgleich an dieser Stelle keine tiefer gehende Ursachenforschung betrieben werden soll, scheint ein Grund für diese Ignoranz die Auffassung vieler westlicher IB-Wissenschaftler zu sein, „that Africa does not have meaningful politic, only humanitarian disasters“ (Dunn 2001: 1).
[9] Besonders Thomas Hovet tat sich innerhalb des Themas zunehmend als Spezialist hervor (vgl. Hovet 1960, 1964, 1974).
[10] Hierbei kam vor allem Immanuel Kants Menschenbild, nach dem Menschen zwar Egoismus, aber gleichzeitig auch die Fähigkeit zu moralischem Handeln unterstellt wird, eine zentrale Bedeutung zu (nach Krell 2004: 184). Weitere einflussreiche Denker waren Hugo Grotius, der in seinem Werk Grundlagen für internationales Recht legte und Jeremy Bentham, nach dessen moralischer Ethiklehre, das Streben nach dem größtmöglichen Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen im Mittelpunkt menschlichen Handelns liege müsse.
[11] Diese Begriffe werden im Folgenden bedeutungsgleich verwendet.
[12] Neben dem Wohlstand und der wirtschaftlichen Verflechtung benannte ein anderer einflussreicher Liberalist, der ehemalige US-Präsident Woodrow Wilson, gemäß Immanuel Kants Theorie des demokratischen die Demokratie als friedensstiftendes Element.
[13] Krell unterscheidet insgesamt vier Varianten liberaler Theorienbildung. Der republikanische Liberalismus stellt Demokratisierung als friedensstiftende Maßnahme in den Vordergrund, der Freihandelsliberalismus schreibt der ökonomischen Interdependenz diese Wirkung zu, der liberale Imperialismus sieht im Export gesellschaftlichen Fortschritt in nicht entwickelte Länder den wichtigsten Faktor. In Abgrenzung dazu schreibt der regulative Liberalismus internationalen Organisationen das größte friedensstiftende Potential zu.
[14] Die liberale Schule rückt die Gesellschaften eines Staates in den Mittelpunkt der Betrachtung, den Staat betrachtet sie deren bloßes Erfüllungsorgan und internationale Beziehungen als Resultat des Kontaktes einer oder mehrer Gesellschaften.
[15] Einige Politikwissenschaftler sehen im Institutionalismus einen weitgehend eigenständigen großtheoretischen Ansatz, in dieser Arbeit soll er indes als moderne Ausprägung des klassischen Idealismus verhandelt werden.
[16] Bezogen auf Afrika wäre beispielhaft die Dekolonisation des Kontinents anzuführen, die im Verlauf der 1950er-Jahre global zunehmend als Problem wahrgenommen und im Rahmen der Vereinten Nationen multilateral bearbeitet wurde (siehe Kapitel 3.1.).
[17] Sämtliche folgenden Zitate in diesem Unterkapitel beziehen sich auf diesen Text.
[18] Siehe : http://www.lambsdorffdirekt.de/ am 23. Oktober 2007.
[19] Bei der Bewertung des Textes muss berücksichtigt werden, dass es sich bei dem Autoren um einen Politiker handelt, denen gerne unterstellt wird, knallharte Machtinteressen durch humanistische Ideale zu tarnen. Ob dem so ist, kann und soll an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Fest steht allerdings, dass die Annäherung an den Problemgegenstand und die Argumentationsweise typische Merkmale der neo-idealistischen Theorie aufweisen.
[20] Thukydides (460-400 v. Chr.) verortete den Machtzuwachs Athens als auslösendes Moment für die kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den griechischen Stadtstaaten und erhob somit Macht erstmals zum regulierenden Element der Politik (Jacobs 2006: 40). Geläufigerweise werden jedoch Niccolò Macchiavelli (1469-1527 n. Chr.) und Thomas Hobbes (1588 – 1679 n. Chr.) als die entscheidenden Ideengeber realistischer Denkmuster erwähnt. Machiavelli Auffassung der Geschichte als Abfolge kausaler Zusammenhänge und seine Empfehlung, politische Entscheidungen nicht auf der Basis ideeller Wunschbildern, sondern der nüchternen Betrachtung tatsächlicher Umstände zu treffen, sowie Thomas Hobbes Beschreibung der Natur des Menschen als egoistisch und eigennützig, prägten realistische Denkstrukturen.
[21] Hierbei ist zu erwähnen, dass die realistische Sichtweise im Gegensatz zum Idealismus Krieg als Normalzustand begreift. Frieden könne nur durch militärischen Druck aufrechterhalten werden.
[22] Die Bezeichnung des westfälischen Staates begreift den Staat als gesellschaftlich und kulturell homogene Volkswirtschaft mit einer starken Fixierung auf Grenzen, Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft und versteht somit die Souveränität eines Staat als eines seiner wichtigsten Merkmale (vgl. Hartmann 2006: 24f.).
[23] Sämtliche folgenden Zitate in diesem Unterkapitel beziehen sich auf diesen Text, sofern nicht ein expliziter Vermerk auf eine andere Quelle verweist.
[24] Die liberale NRO People for the American Way nannte die Heritage Foundation „the best-known and most influential right wing think tank“ (People for the American Way 2007) in den USA.
[25] Die Auswahl der für die USA besonders wichtigen Abstimmungen basiere auf einer entsprechenden Festlegung durch das U.S. Department of State, so die Autoren.
[26] Das Werk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie von Peter Berger aus dem Jahr 1966 war diesbezüglich prägend.
[27] Der Begriff wurde zu Beginn der 1990er-Jahre durch Joseph Nye geprägt und meint sieht im Exportfähigkeit einer Kultur oder Weltanschauung die entscheidende Machtgröße (vgl. Hartmann 2006: 69f.).
[28] Beispielhaft sei hier die großen Hungerkatastrophe Mitte der 1980er-Jahre in Afrika erwähnt, die innerhalb der Staatengemeinschaft zu einem kurzfristigen Wahrnehmungswandel führte und unter anderem in einer Aufstockung der VN-Tätigkeiten in Afrika mündete (siehe Kapitel 3.1.).
[29] Sämtliche folgenden Zitate in diesem Unterkapitel beziehen sich auf diesen Text.
[30] Im Gegensatz zu Dicke hält Unser Reformen für komplexer, wenn die Durchführung eine Änderung der Charta bedarf. Dicke hingegen ordnet beispielsweise die Erhöhung der Mitgliederzahl WSR, die 1965 durchaus einer Änderung der Charta bedurfte, seiner zweiten (vgl. Dicke 1995: 157), andere Reformprojekte, die keinen Einfluss auf die Charta hatten, jedoch der dritten Kategorie zu.
[31] So konnten sich die Mitgliedsstaaten angesichts dieser Notwendigkeit bisher nicht einmal in prinzipiell unstrittigen Themen, wie beispielsweise der Aufhebungen der Feindstaatenklausel einigen. Die Feindstaatenklausel meint Artikel 53 der VN-Charta und ermächtigt die VN zur „Durchführung von Zwangsmaßnahmen unter seiner Autorität“ und ohne besondere Ermächtigung gegen Staaten, die „während des Zweiten Weltkriegs Feind eines Unterzeichners dieser Charta“ (UN 1965: Artikel 53) gewesen sind. Zwar wurde dieser Artikel im Rahmen der 50. Generalversammlung 1995 offiziell für obsolet erklärt (vgl. UN 1995: 1) aufgrund der hohen Reformhürden aber weiterhin in der Charta belassen. Zudem wurde von den Industrienationen die Befürchtung geäußert, dass eine entsprechende Reform an weitere Reformforderungen, etwa die Abschaffung des Vetorechts für die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, gekoppelt werden könnte (vgl. Gareis/Varwick 2003: 293).
- Quote paper
- Gerrit Rohde (Author), 2007, Die Rolle Afrikas im Reformprozess der Vereinten Nationen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/142307
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