"Der Krieg", schreibt Erich Ludendorff, Erster Generalquartiermeister bei der Obersten Heeresleitung, am 4. Juli 1917 in einem Brief an das Kaiserliche Kriegsministerium, "hat die überragende Macht des Bildes und des Films als Aufklärungs- und Beeinflussungsmittel gezeigt. Leider haben unsere Feinde den Vorsprung auf diesem Gebiet so gründlich ausgenutzt, dass schwerer Schaden für uns entstanden ist." Die ersten Sätze in der Denkschrift des Generals, die als "Gründungsdokument" der Universum Film AG (Ufa) gilt, lassen den engen Zusammenhang zwischen moderner Kriegführung und der Technik der Kinematographie erkennen. Die Feldherren des Ersten Weltkrieges sehen im Film, der zu diesem Zeitpunkt kaum älter als zwei Jahrzehnte ist, eine "wirkungsvolle Kriegswaffe", ein geeignetes Instrument zur massenwirksamen Verbreitung ihrer Propaganda.
In den expandierenden Städten der Jahrhundertwende, den Ballungsorten industrieller Produktion, Administration und Distribution, findet das Kino nicht nur sein erstes Publikum, indem es die Vergnügungs- und Zerstreuungsquartiere um ein neues Mittel der Illusionierung bereichert. Die Objektivationen der urbanen Lebenswelt, ihre immanenten Gegensätze von Tempo und Dynamik einerseits und naturnahen Enklaven andererseits, bieten dem Film die adäquate Motivik für seine künstlerischen Möglichkeiten. Mit dem Schwirren der Räder, den Takten ihrer Arbeit und den Illuminationen ihrer Nächte revolutioniert die moderne Großstadt die Erfahrungs- und Denkkategorien von Zeit und Raum. Kein anderes Medium scheint die diffizilen Wahrnehmungsangebote von Tempo, Rhythmus und Licht authentischer vermitteln zu können, als das der `laufenden´ Bilder. Mit dem Blick auf die Stadt und ihre Massen wandelt sich die Ästhetik des apparativen Sehens.
Wie und inwieweit das Massenmedium Film unter der Ägide des Nationalsozialismus eine Funktion als Mittel der `geistigen Kriegführung zu erfüllen vermochte, ist der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf die Rolle und Repräsentation von `Massen´ in dem NS-Spielfilm WUNSCHKONZERT aus dem Jahr 1940. In einer exemplarischen Analyse einiger ausgewählter Sequenzen aus dem Film werden Verknüpfungen zwischen den Massenornamenten der "Revuen" und des Militärs gezogen und auf die Funktion hin betrachtet, welche die Massenmedien Film und Rundfunk für die NS-Propaganda zur Herstellung einer "Volksgemeinschaft", einer `gleichgeschalteten´ Masse, erfüllten.
Inhalt
1. Einleitung
2. Massenkultur und Ideologie im nationalsozialistischen Spielfilm
3. Wunschkonzert (1940)
3.1. Rundfunk und Krieg
3.2. “Revue” zwischen Front und Heimat.
4. Schlussbetrachtung
5. Filmdaten
6. Literatur
1. Einleitung
“Der Krieg”, schreibt Erich Ludendorff, Erster Generalquartiermeister bei der Obersten Heeresleitung, am 4. Juli 1917 in einem Brief an das Kaiserliche Kriegsministerium, “hat die überragende Macht des Bildes und des Films als Aufklärungs- und Beeinflussungsmittel gezeigt. Leider haben unsere Feinde den Vorsprung auf diesem Gebiet so gründlich ausgenutzt, daß schwerer Schaden für uns entstanden ist.”[1]Die ersten Sätze in der Denkschrift des Generals, die als “Gründungsdokument” der Universum Film AG (Ufa) gilt, lassen den engen Zusammenhang zwischen moderner Kriegführung und der Technik der Kinematographie erkennen. Die Feldherren des Ersten Weltkrieges sehen im Film, der zu diesem Zeitpunkt kaum älter als zwei Jahrzehnte ist, eine “wirkungsvolle Kriegswaffe”[2], ein geeignetes Instrument zur massenwirksamen Verbreitung ihrer Propaganda.
In den expandierenden Städten der Jahrhundertwende, den Ballungsorten industrieller Produktion, Administration und Distribution, findet das Kino nicht nur sein erstes Publikum, indem es die Vergnügungs- und Zerstreuungsquartiere um ein neues Mittel der Illusionierung bereichert. Die Objektivationen der urbanen Lebenswelt, ihre immanenten Gegensätze von Tempo und Dynamik einerseits und naturnahen Enklaven andererseits, bieten dem Film die adäquate Motivik für seine künstlerischen Möglichkeiten. Mit dem Schwirren der Räder, den Takten ihrer Arbeit und den Illuminationen ihrer Nächte revolutioniert die moderne Großstadt die Erfahrungs- und Denkkategorien von Zeit und Raum. Kein anderes Medium scheint die diffizilen Wahrnehmungsangebote von Tempo, Rhythmus und Licht authentischer vermitteln zu können, als das der `laufenden´ Bilder. Mit dem Blick auf die Stadt und ihre Massen wandelt sich die Ästhetik des apparativen Sehens.
Wie und inwieweit das Massenmedium Film unter der Ägide des Nationalsozialismus eine Funktion als Mittel der `geistigen Kriegführung zu erfüllen vermochte, ist der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf die Rolle und Repräsentation von `Massen´ in dem NS-Spielfilm Wunschkonzert aus dem Jahr 1940. In einer exemplarischen Analyse einiger ausgewählter Sequenzen aus dem Film werden Verknüpfungen zwischen den Massenornamenten der “Revuen” und des Militärs gezogen und auf die Funktion hin betrachtet, welche die Massenmedien Film und Rundfunk für die NS-Propaganda zur Herstellung einer “Volksgemeinschaft”, einer `gleichgeschalteten´ Masse, erfüllten.
2. Massenkultur und Ideologie im nationalsozialistischen Spielfilm
Eine eingehende inhaltliche Analyse nationalsozialistischer Ideen kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Statt dessen sollen an dieser Stelle näher Form und Funktion einer Weltanschauung beleuchtet werden, deren Träger es von Beginn an um die Durchsetzung ihres realpolitschen Machtanspruchs auf Kosten der Kohärenz des von ihnen vermittelten Ideensystems gegangen ist. Schon in seiner Schrift “Mein Kampf” macht Hitler deutlich, dass der Nationalsozialismus weniger ein schlüssiges Welterklärungsmodell als vielmehr ein “Glaubensbekenntnis” ist, das sich einer rational-wissenschaftlichen Überprüfung entzieht mit dem Ziel, eine möglichst breite Massenwirkung zu erzielen:
“Die NSDAP übernimmt aus dem Grundgedankengang einer allgemeinen völkischen Weltvorstellung die wesentlichen Grundzüge, bildet aus denselben unter praktischer Berücksichtigung der Wirklichkeit, der Zeit und des vorhandenen Menschenmaterials sowie seiner Schwächen ein politisches Glaubensbekenntnis, das nun seinerseits in der so ermöglichten straffen organisatorischen Erfassung großer Massen als Voraussetzung für die siegreiche Durchsetzung seiner Weltanschauung selbst schafft.”[3]
In seiner Untersuchung zur Ideologie in nationalsozialistischen Spielfilmen unterscheidet Stephen Lowry “drei Grundformen der Kultur im Nationalsozialismus”: “Reste traditioneller Ideologie, faschistische Öffentlichkeit und moderne Massenkultur.”[4]Der Nationalsozialismus, so der Filmwissenschaftler weiter, habe sich aller drei Formen gleichermassen “um Transport nationalsozialistischer Inhalte” bedient. Mit dieser Grundthese distanziert sich Lowry von der Einschätzung, die überwiegende Zahl der zwischen 1933 und 1945 in Deutschland entstandenen Spielfilmen sei “reine Unterhaltung” und damit unpolitisch gewesen, wie von Filmschaffenden im “Dritten Reich” zur nachträglichen Rechtfertigung ihrer Arbeit immer wieder kolportiert worden ist.[5]
Lowrys These impliziert darüber hinaus eine entscheidende Aussage über die spezifische Charakteristik der nationalsozialistischen Weltanschauung. Indem der Nationalsozialismus einerseits auf Restbestände traditioneller Ideologie (“Blut und Boden”-, Rassenideologie, Glauben an Volk und Nation usw.) zurückgreift, andererseits aber auch Tendenzen der Modernisierung (Massengesellschaft, Massenmedien usw.) für sich vereinnahmt und politisch instrumentalisiert, lassen sich die Aussagen des Nationalsozialismus kaum als ein kohärentes ideologisches System beschreiben.
Jürgen Habermas unterscheidet den Nationalsozialismus deshalb von den hermetisch-universalistischen Weltentwürfen des 19. Jahrhunderts du ordnet ihn der Kategorie einer “zweiten Generation” von bürgerlichen Ideologien zu. Diese Ideologien, die als Reaktion auf die von Max Weber beschriebenen Tendenzen der Säkularisierung und Rationalisierung der Kultur und den damit einhergehenden Sinnverlust entstanden seien, hätten nur noch die Form “totalisierender Ordnungsvorstellungen”.[6]Inhaltlich liesse sich das nationalsozialistische Ideensystem demgegenüber nur beschreiben als ein Konglomerat von Restbeständen traditioneller Ideologien, deren zum Teil widersprüchliches Nebeneinander keine Totalität mehr bilde –und sich per se einer rationalistischen Erklärung entziehe.
Entgegen Habermas vertritt Lowry die These, dass die traditionellen Elemente der Naziideologie gerade durch die modernen Formen ihrer kulturellen Vermittlung, nämlich durch faschistische Öffentlichkeit und Massenkultur (Radio, Film sowie eine hochmoderne Parteiorganisation), eine neuartige Qualität erlangen. Seine These lautet, “daß diese neuen, fragmentarischen Formen der Ideologie eine sozial integrative und legitimatorische Kraft ausübt, indem sie die Artikulation von Bedürfnissen, Erfahrungen und Interessen blockieren oder sie auf relativ beliebige Objekte umlenken. [...] Um diese Funktion auszuüben, brauchen die nicht mehr eine zusammenhängende Welterklärung zu geben. Das Nebeneinander von reaktionären Ideologien und moderner Massenkultur, von politischen Parolen und Konsumkultur bezeichnet nicht nur das `gespaltene Bewußtsein´ im Nationalsozialismus, sondern auch seinen Charakter als spezifische Ausprägung der allgemeinen kulturellen Modernisierung. Die offensichtlich reaktionären Teile als spezifisch faschistisch aus diesem Grundzusammenhang zu lösen und den Rest zu vernachlässigen, gibt ein unvollständiges und daher falsches Bild der NS-Gesellschaft.”[7]
Die immanente Widersprüchlichkeit der NS-Weltanschauung hat bekanntlich nicht etwa die Skepsis gegenüber ihrem totalitären Führungsanspruch in der politischen Praxis genährt. Als “eine moderne Nachahmung der traditionellen Ideensysteme, eine Antwort auf deren reale Auflösung”[8], verdankt der Nationalsozialismus seine Attraktivität und Massenwirkung gerade in der Zusammenführung eigentlich nicht zu vereinbarender ideologischer Elemente.
Anders als z.B. der Marxismus, der sich auf der Grundlage eines globalen Welterklärungsmodells an eine spezifische soziale Schicht richtet, indem er die an materiellen Produktionsmittel besitzlosen Industriearbeiter zur revolutionären Praxis auffordert, apelliert die nationalsozialistische Weltanschauung an
“Schichten, Klassen und regionale Gruppen mit eigentlich unverträglichen Interessen. [...] Der Charakter der NS-Ideologie als künstlich zusammengestellte Mischung ist an sich schon ein Indikator für ihre nicht-totalisierende Qualität. Die Nazis nahmen die versprengten Reste alter Ideologien auf und kombinierten sie relativ willkürlich in verschiedenen Konstellationen, je nach Zielgruppe, um auf den `Hunger nach Sinn´ (Kluge) in verschiedenen Gesellschaftsschichten zu reagieren.”[9]
Schichten- und klassenübergreifend entwerten die Prozesse der Modernisierung[10]die traditionellen Ideensyteme und vermindert damit ihre Bindungskraft als geistig-soziale Identitätsstifter. Als Reaktion auf diese negative Folgeerscheinung der Modernisierung, die besonders im Deutschland der Zwischenkriegszeit als Sinnverlst empfunden werden, liefert der Nationalsozialismus das Glücksversprechen einer neuen kollektiven Lebensform und bietet den “geistig obdachlos”[11]Gewordenen eine neue ideologische Heimat.
Gerade durch die Verweigerung eines in sich schlüssigen Welterklärungsmodells erzielt der Nationalsozialismus seine totalisierende Wirkung, quantitativ im Sinne des Erreichens einer Massenbasis zur Durchsetzung seiner realen Machtpolitik:
“Von ein paar Kernpunkten wie dem Antisemitismus und der Eroberung eines neuen Lebensraums einmal abgesehen, die sich in fast allen NS-Publikationen dieser Jahre finden, ging es den Führern dieser Partei nicht um eine logisch-kohärente Weltanschauung, sondern in erster Linie um die Herausbildung einer emotional-effektiven Strategie. Und zu diesem Zweck war ihnen jedes Mittel recht. Joseph Goebbels [...] schreib daher schon auf den ersten Seiten seines BuchesWesen und Gestalt des Nationalsozialismus(1934), daß sich der deutsche Faschismus jeder platten Definition entziehe, weil es ich um eine Bewegung handele, die wie alles wirklich Lebendige ständig im `Werden´ sei. Es wäre daher kurzschlüssig, in den faschistischen oder faschisierten Ideologiekonglomeraten der Jahre 1933/34 ein genau geplantes durchstrukturiertes `System´ entdecken zu wollen. Ihr System war gerade das der Systemlosigkeit.”[12]
In den Spielfilmen des Nationalsozialismus ist dessen spezifische Ideologie nur selten unverschlüsselt enthalten: “Sie ist weder mit den Formen der faschistischen Öffentlichkeit noch mit dem Inhalten der Nazi-Ideologie identisch.”[13]Zur Dechiffrierung impliziter Nazi-Ideologeme in NS-Spielfilmen gilt es zunächst, kurz auf die Struktur und die Funktionsweise von Ideologie in der Massenkultur einzugehen.
In ihrer Theorie der “Kulturindustrie” beschreiben Adorno und Horkheimer die Entstehung der modernen Massenkultur als Resultat der fortschreitenden Rationalisierungsprozesse, in deren Folge die Formen traditioneller Ideologie abgelöst werden.[14]
Adorno und Horkheimer sehen in der Kulturindustrie eine neue Stufe der Verdinglichung erreicht. Indem die Kulturindustrie ihre Produkte ausschliesslich den Mechanismen des Marktes anpasse, werde Kultur zur Ware. “Uniformität” und “Schematismus” bestimmten die Massenproduktion von Kulturgütern, die dem Primat der kalkulierten Massenwirkung folge. Im System der allgemeinen Verdinglichung der Gesellschaft werde die Kultur selbst instrumentalisiert; ihre ideologische Funktion erschöpfe sich in der totalen Manipulation ihrer Konsumenten, in der Lenkung menschlicher Bedürfnisse auf das kulturindustrielle Angebot. Mit –der Verdinglichung der Kultur gehe die Verdinglichung des Subjekts einher; die Konsumenten würden zum “Teil des Systems”: “In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt.”[15]
Für Adorno und Horkheimer reduziert sich Kultur damit auf eine Form von Ideologie, die ihren traditionellen Dopelcharakter verliert. War Ideologie bisher sowohl Illusion als auch Protest, so verschwinde jetzt letztere Dimension. Kultur habe nunmehr einen “affirmativen Charakter”[16]. Ideologie wird damit inhaltsleer. So beschleunige die Kulturindustrie den substantiellen Verfall bürgerlicher Kultur.[17]
Für Stephen Lowry besteht die Leistung der Theorie der Kulturindustrie darin, “Ideologie funktional und strukturell, statt substantiell” bestimmt zu haben.[18]Adorno und Horkheimer hätten gezeigt, “wie die massenproduzierten Kulturwaren Verdinglichung und eine Entfremdung der Menschen von ihren eigenen kulturellen Äußerungen bewirken”. Lowry kritisiert das Modell jedoch gleichzeitig als “undialektisch und eindimensional”, wo die Autoren “ein ontologisches Bild der totalen Manipulation” entwerfen, ohne dass dialektische Beziehungsgeflechte zwischen den ästhetischen Objektivationen der Massenkultur und ihrer Rezeption adäquat zu beschreiben. Um die “Widersprüche und Ambivalenzen auch in der Kulturindustrie” zu fassen, möchte Lowry “Produktion und Rezeption der Kulturware als aktive, widersprüchliche, offene Prozesse” verstanden wissen.[19]Als Prozesse unbewusster, kollektiver Sinnproduktion wird Ideologie für Lowry zu einer Dimension jeglicher Kultur:
“Ideologie umfaßt die symbolischen Systeme oder Diskurssysteme, die das Verhältnis der Menschen zur Gesellschaft regeln. [...] Die ideologischen Diskursformationen vermitteln die kollektiven Identitätsdefinitionen von Klassen und anderen gesellschaftlichen Gruppen und bilden den Rahmen und Hintergrund für jede individuelle Identität. Sie stellen Normen und Verhaltensregeln auf, bestimmen Werte, modellieren Gefühle und Affekte, definieren Sinn und schaffen Konsens. Genauso wichtig ist auch ihre negative Funktion: zu verhindern, daß potentiell kritische Bedeutungen entstehen und artikuliert werden. Auf diese Weise ist Ideologie ein `Management´ von protopolitschen Impulsen (Gedanken, Wünschen, Gefühlen, die die bestehende Ordnung in Frage stellen könnten).”[20]
Die zumeist unbewussten kollektiven Regulationsprozesse diskursiver Ideologie können von einer inhaltlichen Ideologiekritik nicht erfasst werden, da sie an den kulturellen Objektivationen nur indirekt abzulesen sind.
Auf der Grundlage dieser theoretischen Perspektiven entwickelt Lowry ein erweitertes Modell ideologischer Manipulation in der Massenkultur. Die von Adorno und Horkheimer postulierte ideologische Lenkung der Konsumentenwünsche durch die Kulturidustrie bildet in diesem Modell nur noch einen Teilaspekt. Diskursive Ideologie “ist weder rein subjektiv noch rein objektiv zu bestimmen, sondern besteht sowohl in den strukturellen Bedingungen, Grenzen, Ausdrucksmitteln, kulturellen Mustern usw. als auch in der aktiven Tätigkeit, der Kreativität und den Lebensäußerungen der Subjekte. Die Diskursformationen haben eine gewisse Eigendynamik, die sich durch die Subjekte hindurch fortsetzt und ihre Äußerungsmöglichkeiten, ihr Denken und ihre Gefühle vorstrukturiert. Die Diskurse werden aber nur durch die ideologische du kulturelle Praxis der Subjekte konkret realisiert.”[21]
Die Definition diskursiver Ideologie beschränkt Lowry nicht auf die Phänomene der Massenkultur, doch gelte sie für diese in besonderem Masse, da die Produktionsbedingungen der Kulturindustrie (“Zentralisierung, Standardisierung, Konsum und Medien”[22]) zu einer weiteren Entfremdung der Diskursformationen von der primären Lebenserfahrung der Subjekte führte. Dennoch kann auch Massenkultur ihre ideologische Funktion, potentiell subversive Vorstellungen in die Grenzen des gesellschaftlich Opportunen umzulenken, nur dann wirksam erfüllen, wo sie zunächst reale Erfahrungen und Bedürfnisse einschliesslich utopischer Hoffnungen und Protest der Konsumenten (wenn auch nur fragmentarisch und verzerrt) in den kulturellen Objektivationen reaktiviert. Mit diesem Rückzug auf die kollektiven wie subjektiven Dispositionen primärer Erfahrung bleibt Massenkultur in der gesellschaftlichen Realität verankert. In diesem Sinne hält Lowry an der Marxschen “Bestimmung des Doppelcharakters von Ideologie” (als Illusion/”Falsches Bewusstsein” und zugleich Protest/Wahrheit) “auch für Ideologie in der Massenkultur” fest.[23]
Eine ideologische Untersuchung von NS-Spielfilmen kann sich diesen theoretischen Vorgaben zufolge nicht mehr nur auf die Bestimmung nazistischer Inhalte oder reproduzierter Formen faschistischer Öffentlichkeit beschränken. Es gilt vielmehr, die Filme des Nationalsozialismus als spezifische Ausdrucksform diskursiver Ideologie in der Massenkultur zu verstehen.
Für den nationalsozialistischen Spielfilm lässt sich die Doppelfunktion von Ideologie wie folgt beschreiben: Als Produkte der Massenkultur erfüllen sie einerseits die Ansprüche auf Unterhaltung; die Filme bieten Identifikationsmöglichkeiten an, indem subjektive Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse erfüllt werden, wie sie bereits in der gesellschaftlichen Realität und primären Erfahrungen der Zuschauer fundiert sind. Mit der Bezugnahme auf die realen Gefühlsdispositionen der Konsumenten lenken die fiktionalen Darstellungsformen andererseits ab von dem latenten Konflikt zwischen dem Machtanspruch des totalitären Staates und dem Streben des Einzelnen nach privater Glückserfüllung und autonomer Lebensgestaltung. Denn im ständigen Bemühen um einen Ausgleich zwischen diesen oppositären Sphären suggerieren die NS-Spielfilme eine Verwirklichung der Subjektidentität innerhalb und mittels des herrschenden Gesellschaftssystems. Die Filme greifen so zwar subjektiv Interessen auf, doch sind ihre Darstellungsmittel darauf ausgerichtet, ihr subversives Potential in einem andauernden Prozess der Umformung und Umwertung der Subjektdispositionen zu binden und damit eine Affirmation der bestehenden Machtordnung und ihrer Ideologie zu bewirken.
Die doppelte Zielsetzung dieses Ideologiekonzeptes, die Konflikte der gesellschaftlichen Realität zu entschärfen und zugleich das politische Herrschaftssystem zu bestätigen, gewinnt angesichts des Krieges zusätzlich an Bedeutung, die zwar besonders für das massenwirksame Medium des Spielfilms in seiner Funktion, durch Unterhaltung vom grauen Kriegsalltag abzulenken, um Optimismus zu fördern und “in finsterer Zeit heile Welt vorzutäuschen”.[24]
[...]
[1]Zit. n. Klaus Kreimeier: Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns. München, Wien: Hanser 1992. S.14.
[2]Ebd., S.34.
[3]Adolf Hitler: Mein Kampf (1925/27). München: Zentralverlag der NSDAP 1938. Zit. n. Gerd Albrecht: Filmpolititk im Dritten Reich. In: Manfred Dammeyer (Bearb.): Der Spielfilm im Dritten Reich. Arbeitsseminar der Westdeutschen Kurzfilmtage Oberhausen. Oberhausen 1966.
[4]Stephen Lowry: Pathos und Politik. Ideologie in Spielfilmen des Nationalsozialismus. Tübingen: Niemeyer 1991. S.32.
[5]Vgl. u.a. Arthur Maria Rabenalt: Film im Zwielicht. Über den unpolitischen Film des Dritten Reichs und die Begrenzungen des totalitären Anspruchs. Hildesheim, New York: Olms Press 1978.
[6]Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985. Bd. 2, S.519f. Zit. n. Stephen Lowry, a.a.O., S.33.
[7]Stephen Lowry: Pathos und Politik, a.a.O., S.35. Vgl. auch Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933-1945. Berlin, Frankfurt/M., Wien: Ullstein 1984.
[8]Ebd., S.34.
[9]Ebd.
[10]Ebd., S.36. Lowry referiert die Modernisierungsprozesse als “Säkularisierung, Bürokratisierung und Rationalisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens” mit den Folgeerscheinungen der Versachlichung, der Deindividualisierung und Vermassung.
[11]Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland (1930). Suhrkamp: Frankfurt/M. 1971. S.91. Kracauer modifiziert damit einie Diagnose Georg Lukács´, der die “Form des Romans” in der Moderne als “Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit” beschrieben hat. Vgl. Georg Lukács: Theorie des Romans (1920). Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1981, S.32.
[12]Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Frankfurt/M. 1988. S.214.
[13]Stephen Lowry: Pathos und Politik, a.a.O., S.45.
[14]Vgl. Max Horkheimer & Theodor W. Adornao: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug. In: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M.: Fischer 1991. S.128-176.
[15]Ebd., S.129.
[16]Vgl. Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur. In: ders.: Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967, S.56-101.
[17]Vgl. Stephen Lowry: Pathos und Politik, a.a.O., S.43.
[18]Ebd. S.44.
[19]Ebd. S.45.
[20]Ebd. S.46.
[21]Ebd., S.48f.
[22]Ebd., S.49.
[23]Ebd. S.47. Paradigmatisch hat Karl Marx den Doppelcharakter von Ideologie in seiner Religionskritik entwickelt. Marx zufolge hat die Religion als historisch-notwendiges Teilsystem der bürgerlichen Gesellschaft eine herrschaftsstabilisierende Funktion. In ihrem Moment der Unwahrheit erzeuge sie “ein verkehrtes Weltbewußtsein”, indem sie die illusionäre Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits näher und damit zugleich die Interessen der Herrschenden sichere, da sie die Gesellschaft vom Druck der auf Vernderung drängenden Kräfte entlaste., Gleichzeitig aber wohne der Religion ein Moment der Wahrheit inne, da das religiöse Ideal einer jenseitigen Erlösung den Mangel realer Humanität in der menschlichen Gesellschaft anzeige und damit implizit zugleich eine “Protestation gegen das wirkliche Elend” darstelle. Vgl. Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1843/44). In: ders.: Frühe Schriften. Erster Band. Hrsg. von Hans-Joachim Lieber u. Peter Furth. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, S.488f.
[24]Hilmar Hoffmann: “Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit” – Propaganda im NS-Film. Bd. 1. Frankfurt/M.: Fischer 1988, S.10.
- Quote paper
- Tillmann Allmer (Author), 1999, Masse, Ornament, Kriegsrevue - Propaganda im Nationalsozialismus unter dem Aspekt von Massen-Repräsentationen am Beispiel des NS-Spielfilms WUNSCHKONZERT (1940)., Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1420