Durkheim analysiert Statistiken verschiedener europäischer Länder, die direkt oder indirekt mit dem Selbstmord allgemein oder mit der sozialen Selbstmordrate zusammenhängen. Weiter untersucht Durkheim einzelne Gesellschaften in einem historischen Kontext auf grundsätzliche strukturelle Merkmale. Er betrachtet in illustrativen Fallbeispielen auch das Individuum und dessen Handlungsweisen.
Mit seiner Studie „Der Selbstmord“ hat Durkheim seine vorher entwickelten Methoden einer empirischen Sozialforschung umgesetzt und das Ergebnis war, meiner subjektiven Meinung nach, seiner Zeit weit voraus. Er trennt statistisches Datenmaterial konsequent, und für den Leser klar ersichtlich, von seinen Interpretationen. Das macht es ihm möglich, vom rein deskriptiven zu einer normativen Zukunftsskizze zu gelangen, die, wenn man die präsentierten Erkenntnisse kritisch hinterfragt, durchaus einen informativen Wert hat.
Inhaltsverzeichnis
1. Fragestellung
2. Gegenstand der Forschung
3. Hintergrund der Fragestellung
4. Theoretischer Hintergrund
4.1. Definitionen
4.2. Grundannahme
5. Methodisches Vorgehen
6. Ergebnisse
6.1. Aussergesellschaftliche Faktoren
6.2. Soziale Ursachen
6.3. Der Selbstmord als soziale Erscheinung
7. Kritik
1. Fragestellung
Durkheims (2008: 35) zentrale Fragestellung, die sich als Leitfaden durch seine soziologische Stu- die „Der Selbstmord“ zieht, lautet folgendermassen:
Welche Faktoren beeinflussen die Selbstmordrate einer Gesellschaft?
Daraus leiten sich folgende Teilfragen ab:
Hat die Selbstmordrate aussergesellschaftliche oder soziale Ursachen? Wie wirken soziale Fakto - ren auf die Selbstmordrate einer Gesellschaft und in welcher Beziehung stehen sie zu bestimmten Zuständen des Individuums (Durkheim, 2008: 37)?
2. Gegenstand der Forschung
Durkheim analysiert Statistiken verschiedener europäischer Länder, die direkt oder indirekt mit dem Selbstmord allgemein oder mit der sozialen Selbstmordrate zusammenhängen. Weiter unter- sucht Durkheim einzelne Gesellschaften in einem historischen Kontext auf grundsätzliche struktu- relle Merkmale.Er betrachtet in illustrativen Fallbeispielen auch das Individuum und dessen Handlungsweisen.
Doch der Fokus liegt auf der Gesellschaft: „Letzterer [der Soziologe] erforscht bie Ursachen, bie es ermöglichen, nicht arf ein einzelnes Inbivibrrm, sonbern vielmehr arf eine Vielzahl von Menschen einzrwirken. Deshalb beschäftigt er sich nrr mit jenen Selbstmorbfaktoren, bie einen sichtbaren Einflrss arf bie Gesamtgesellschaft haben. Die Selbstmorbrate ist bas Ergebnis jener Faktoren, baher rührt bas Interesse an ihnen“ (Drrkheim, 2008: 37). Seine Studie lässt sich also der Makro- soziologie zuordnen.
3. Hintergrund der Fragestellung
Im Vorwort von „Der Selbstmord“ nimmt Durkheim (2008: 18) auf sein 1895 erschienenes Werk „Die Regeln der soziologischen Methode“ Bezug. Er geht davon aus, dass „ber Soziologe genar rmschriebene Tatsachengrrppen zrm Gegenstanb seiner F orschrng machen“ muss, „statt sich in metaphysischen Mebitationen über soziale Tatsachen zr gefallen“ Durkheim plädiert hier für einen objektivistischen Forschungsansatz in der Soziologie. Ihm war es wichtig „Schlrssfolgerrngen rnb Interpretationen stets bertlich von ben interpretierten Sachverhalten zr trennen“ (2008: 19). Durk- heims soziologische Methode beruht auf dem Grundprinzip, soziologische Tatsachen als Sachen zu untersuchen. Diese stellen also eine Wirklichkeit dar, die ausserhalb des Individuums liegt (2008: 20).
In diesem Sinne wurde die Studie zum Selbstmord durchgeführt (Durkheim, 2008: 19). Durkheim hat den Selbstmord als Untersuchungsgegenstand gewählt, „weil es wenige [Gegenstände] gibt, bie leichter zr bestimmen sinb, rnb es rns baher ein besonbers geschicktes Beispiel zr sein scheint“ (2008: 19).
Das war aber nicht der einzige Grund, den Selbstmord zu untersuchen. Durkheim (2008: 19) war der Meinung, mit seiner objektiven Forschungsmethode mehr über die Beschaffenheit und Struktur von bestimmten sozialen Systemen aussagen zu können, als gewisse „Theorien der Moralisten“.
4. Theoretischer Hintergrund
4.1. Definitionen
Um die Fragestellung behandeln zu können, ist es notwendig, die gebrauchten Begriffe klar zu de- finieren. Selbstmorb bezeichnet „jeben Tobesfall, ber birekt ober inbirekt arf eine Hanblrng ober Unterlassrng zrrückzrführen ist, bie vom Opfer selbst begangen wrrbe, wobei es bas Ergebnis seines Verhaltens im Vorars kannte“ (Drrkheim, 2008: 27). Mit dieser Definition schliesst Durk- heim (2008: 28) die Existenz eines tierischen Selbstmords aus, da Tieren die Fähigkeit, den eige- nen Tod vorauszusehen, abgesprochen wird.
Die Selbstmorbrate einer Gesellschaft definiert Durkheim (2008: 32) als das Verhältnis ber absolr- ten Zahl ber Selbstmorbfälle zrr Gesamtbevölkerrng und berechnet sie pro Million oder pro Hun- derttausend Einwohner.
Mit dem Begriff der sozialen Selbstmordrate meint Durkheim (2008: 30) die Selbstmordrate einer bestimmten Gesellschaft in einem bestimmen Zeitabschnitt.
4.2. Grundannahme
Die Selbstmordrate weist eine höhere zeitliche Konstanz auf, als die Sterblichkeitsrate, d.h. die jährlichen Schwankungen sind weitaus weniger stark (Durkheim, 2008: 32). Je nach Gesellschaft variiert die Selbstmordrate aber bis um den Faktor zehn, während die Sterblichkeitsrate bei allen Gesellschaften der gleichen Zivilisationsstufe ungefähr gleich hoch ist. Sie kann folglich in einem stärkeren Masse einer bestimmten sozialen Gruppe zugeordnet werden, als die Sterblichkeitsrate und gilt somit als ein charakteristischer Index einer Gesellschaft. Daraus bestimmt sich die Selbst- mordrate als ein klar definiertes System von Merkmalen, die sich trotzt der unterschiedlichen Ver- hältnissen, die in den jeweiligen Gesellschaften herrschen, überall auf ähnliche Weise wechselsei - tig beeinflussen (Durkheim, 2008: 34-35).
Daraus folgt nach Durkheim (2008: 35): „Jebe [Gesellschaft] ist präbisponiert, eine bestimmte An- zahl von Selbstmörbern zr stellen.“
5. Methodisches Vorgehen
Durkheims Studie ist der empirischen Sozialforschung zuzuschreiben. Er analysiert und interpre- tiert bereits bestehende Statistiken über die Anzahl der Selbstmordfälle in verschiedenen europäi- schen Ländern und vergleicht diese mit Statistiken über unterschiedliche soziale Sachverhalte wie Ehe, Familie, Alter, Berufsstand, Konfession usw. Durkheim wendet also eine quantitative Methode der Sozialforschung an (http://de.wikipedia.org/wiki/Quantitative_Forschung, Zugriff 07.12.2008).
Durkheim leitet von den statistischen Daten Erklärungsmodelle ab, auf die er in seiner Argumenta- tion logisch aufbaut und die er dann auf generelle Prozesse in der Gesellschaft überträgt. Er folgt also hauptsächlich dem Prinzip der Induktion (http://de.wikipedia.org/wiki/Induktionslogik, Zugriff 07.12.2008).
6. Ergebnisse
Die vorliegende soziologische Studie über den Selbstmord ist zu umfangreich und zu ergiebig, als dass in diesem Essay alle Ergebnisse inklusive ihrer logischen Herleitung aufgeführt werden könn- ten, von den Statistiken, auf die sie sich berufen, ganz zu schweigen. Daher sollen hier nur die grundlegendsten Erkenntnisse dargelegt sowie einen Einblick in den Argumentationszusammen - hang gegeben werden.
6.1 Aussergesellschaftliche Faktoren
Als erstes geht Durkheim (2008: 41-42) auf gewisse aussergesellschaftliche Faktoren ein und versucht zu bestimmen, inwiefern sie einen Einfluss auf die soziale Selbstmordrate haben.
Dabei nimmt er auf die zur damaligen Zeit unter Psychiatern weit verbreitete Hypothese Bezug, dass die Ursache des Selbstmordes eine Geisteskrankheit der betreffenden Person sei. Das wi- derlegt Durkheim (2008: 52-54) unter anderem mit der Tatsache, das nicht alle Selbstmorde die psychopathologischen Merkmale aufweisen, die sie müssten, wenn sie einer Geisteskrankheit ent- springen würden. Auch zeigt er (2008: 63) auf, dass die Zahl der Fälle von Geisteskrankheiten in den untersuchten europäischen Ländern nicht mit deren Selbstmordrate korreliert. In gleichem Masse stimmt die Zahl der alkoholbedingten Psychosen selten mit der Selbstmordrate einer Ge- sellschaft überein (2008: 67-69). Durkheim kommt zum Schluss :
„So sehen wir also, bass nicht ein einziger psychopathischer Zrstanb mit bem Selbstmorb in ei- nem regelrechten rnb rnbestreitbaren Zrsammenhang steht. [...] Obwohl Degeneration in ihren verschiebenen Formen einen besonbers geeigneten Boben für ben Selbstmorb abgibt, ist sie nicht selbst eine ber Ursachen“ (Drrkheim, 2008: 71).
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- Quote paper
- Hannes von Wyl (Author), 2009, Essay zu Emil Durkheim - Der Selbstmord (Le Suicide), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/142063
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