In einer Zeit, die durch eine Individualisierung und Enttraditionalisierung der klassischen Lebensmuster geprägt ist, wird biographisches Lernen zur Schlüsselqualifikation für ein gelingendes Leben. Die Institution Schule eröffnet neue Chancen, wird aber gleichzeitig oft selbst zum Grund für biographische Brüche. Im Zentrum der Betrachtung steht das Handlungsfeld des Religionsunterrichts: Thematisiert werden die religionsdidaktischen Aspekte des biographischen Lernens, die biographische Entwicklung und Rolle von Religionslehrern und -lehrerinnen sowie das Potential, das sich für Schülerinnen und Schüler durch das Lernen an der eigenen bzw. fremden Biographie eröffnet.
Inhaltsverzeichnis
Einführung
1 Orientierung
1.1 Warum Biographien?
1.2 Was ist eine Biographie?
1.2.1 Von der »Normalbiographie«
1.2.2 zur Lebensaufgabe
2 Schule und Biographie
3 Biographisches Lernen in religionsdidaktischer Perspektive: Herausforderung und Potential
3.1 Die (neue) Rolle des Religionsunterrichts
3.2 Das Prinzip des biographischen Lernens in der Religionsdidaktik
3.3 Lernen - aber woran?
3.3.1 Vorbild oder Modell?
3.3.2 Eigene oder fremde Biographie?
3.4 Die Rolle der ReligionslehrerInnen
3.4.1 Religiöse Sozialisation in Kindheit, Jugend und Studium
3.4.2 »Be a hero, be a teacher!« - Lehrkräfe als Vorbilder
4 Fazit: Chancen, Grenzen und Konsequenzen
Literaturverzeichnis
Einführung
Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des Seminars »Biographien geben zu lernen - Erkundungen in Assisi um Franziskus und Klara« der Otto-Fried- rich-Universität Bamberg. Ihr Ziel ist es, grundlegende Aspekte des biographi- schen Lernens auf ihr religionsdidaktisches Potential im Kontext der Schule hin zu untersuchen. Die einzelnen Erkenntnisschritte sollen dabei so entwickelt werden, wie sich biographisches Lernen meist selbst vollzieht - von »außen« nach »innen«:
Der erste Teil widmet sich deshalb dem augenblicklichen »Boom« von Biogra- phien in der Medienlandschaf und versucht, die typischen Berührungspunkte zwischen den Interessen von Autoren und Publikum aufzudecken. Ein kurzer sozialwissenschaflicher Rekurs soll die gesellschaflichen Veränderungen darstel- len, die in den letzten Jahrzehnten einen grundlegenden Wandel von einem tra- ditionell-kollektiven zu einem neuzeitlich-individuellen Biographiebegriff be- dingt haben und die Implikationen dieses gewandelten Verständnisses für das biographische Lernen näher beleuchten.
Im zweiten Teil werden die angesprochenen Aspekte auf das Handlungsfeld der Schule konzentriert. Er untersucht die ambivalente Rolle schulischer Erfahrungen für den Verlauf der eigenen Biographie und formuliert daraus konkrete Forderungen an Schule und Unterricht.
Der dritte und umfassendste Teil greif gezielt die religionsdidaktischen Aspek- te des biographischen Lernens heraus: er wirf einen Blick auf die biographische Entwicklung und die Rolle von Religionslehrern und -lehrerinnen sowie auf die vielfältigen Herausforderungen, vor denen diese im Unterricht mit biographi- schen Inhalten stehen. Weitherhin skizziert er das Potential, das sich für Schüle- rinnen und Schüler durch das Lernen an der eigenen bzw. fremden Biographie eröffnet.
Chancen und Grenzen des biographischen Lernens im Religionsunterricht werden schließlich im vierten und letzten Teil zusammengefasst und diskutiert.
1 Orientierung
1.1 Warum Biographien?
Biographien entstehen aus verschiedensten Anlässen: sie erinnern an besondere Erfolgsmomente berühmter und bekannter Menschen, dienen der Selbstdarstel- lung vorübergehender Stars und häufen sich besonders zu Jubiläen und Todesta- gen. Autobiographen ziehen am (voraussichtlichen) Ende eines erfüllten Lebens Bilanz und geben wertvolle Ratschläge für die Nachwelt. So breit gefächert die Gründe für das Verfassen von Biographien sind, so unterschiedlich motiviert ist auch die Rezeption durch das Publikum: die Palette reicht auch hier von leich- tem Unterhaltungsbedarf, Zerstreuung und purer Sensationslust bis hin zu ernsthafer Information und ehrlichem Interesse an der dargestellten Person.
Auf diese Weise ist in den vergangenen Jahren ein völlig neuer Markt entstanden, auf dem die vielfältigen Interessen auf entsprechend unterschiedli- chem literarischem und kulturellem Niveau bedient werden. Was alle Biographi- en eint, ist die Weitergabe von Lebenswissen von Seiten der VerfasserInnen bzw. die Bereitschaf der LeserIinnen, sich mit diesem Lebenswissen auseinanderzu- setzen.
Dabei fällt auf, dass sich immer mehr AutorInnen auch genuin religiösen Themen und Figuren nähern und ihnen Bücher (»Ich bin dann mal weg«), Fil- me (»Gandhi«, »Luther«, »Johannes XXIII.«) und sogar Musicals (»Jesus Christ Superstar«, »Joseph«, »Thomas and the King«) widmen. Interessant ist hierbei der Aspekt, dass diese natürlich primär als Kassenschlager angelegt sind, es aber den- noch schaffen, durch die Kraf ihrer »Story« - und vermutlich ihrer Botschaf - auch ein weniger religiöses Publikum in ihren Bann zu ziehen. Es ist also anzu- nehmen, dass es so etwas wie eine allgemeine Offenheit, ein grundlegendes Potenti- al für biographisches Lernen an religiösen Themen und Personen gibt, das in jedem Menschen unabhängig von seiner religiösen Sozialisation ruht. Wodurch dieses Potential gekennzeichnet ist und wie es bei jungen Menschen sinvoll ge- fördert werden kann, darauf wird im Folgenden einzugehen sein.
1.2 Was ist eine Biographie?
Zunächst ist festzustellen, dass bereits der Begriff der Biographie selbst mehrdeu- tig ist: So bezeichnet »Biographie« im etymologischen Sinn (gr. ›Leben‹ und ›schreiben‹) eine Lebensbeschreibung, d. h. die mündliche oder schrifliche Präsentation des Lebenslaufs einer Person. In einem zweiten, erweiterten Sinn wird der Begriff »Biographie« jedoch über die bloße Aufzeichnung hinausgeho-ben und repräsentiert die - ungeschriebene, aber erlebte - Lebensgeschichte (» Sie haben eine interessante Biographie! «). Schließlich erscheint uns die Biographie als eine retrospektive Sinnkonstruktion, die immer dann in Erscheinung tritt, »wenn wir aus dem Fluss des Lebens bestimmte Etappen herausgreifen und ihnen eine Bedeutung zuschreiben.«[1]
So vielgestaltig der Begriff der Biographie selbst ist, so sehr haben sich auch die Vorstellungen davon, was eine Biographie ausmacht, im Laufe der Zeit ge- wandelt.
1.2.1 Von der »Normalbiographie« …
Nach traditionellem Verständnis verlief eine Biographie entlang nach standardi- sierten Formen und Lebensabschnitten, die sich anhand verschiedener Kategori- en wie Geschlecht oder sozialer Klasse voneinander unterschieden, innerhalb einer solchen Kategorie aber für alle Mitglieder gleichermaßen galten (Normalbi- ographie). Ein typisches normalbiographisches Raster für einen männlichen Ar- beiter war beispielsweise die Einteilung des Lebens in eine kurze Lernphase (Kindheit) und eine lange Arbeitsphase (mittlerer Lebensabschnitt), gefolgt von einer meist sehr kurzen Ruhephase (Alter).
Erst im Verlauf der gesellschaflichen Strömungen des 20. Jahrhunderts wurden die Klassenunterschiede und zu einem gewissen Teil auch die Geschlechterdifferenzen nivelliert. Standen den »geistig beengten Verhältnissen« der Nachkriegszeit anfangs noch ganze »generationsspezifische ›Wellen‹‹« der Skepsis (50er-Jahre), des Protestes (60er-Jahre) und schließlich der Revolte (»68er«) gegenüber, so hat sich diese Art der Auflehnung spätestens in der vielgestaltigen Jugendszene der 80er-Jahre verlaufen.[2]
1.2.2 … zur Lebensaufgabe
An die Stelle der oben genannten homogenen Bewegungen ist so allmählich ein Prozess der Individualisierung getreten, der das klassische Biographieverständnis grundlegend transformiert hat und der vor allem durch zwei Trends bedingt ist: Zum einen durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaf durch einen wachsenden Pluralismus an Ideen und Interessen, Trends und »Szenen«, zum zweiten durch die Enttraditionalisierung von Biographien durch veränderte Geschlechterrollen, neue Berufsbilder und -chancen.[3] Diese neuen gesellschaflichen Realitäten markieren das »Ende der ›Normalbiographie‹«[4]: Sie entbinden das Individuum von althergebrachten Konventionen und ermöglichen ein selbstbestimmtes Le- ben mit deutlich vergrößerten Gestaltungsspielräumen. Die Biographie wird so zur Lebensaufgabe:
»Sie zeigt sich als subjektive Konstruktionsleistung […] und ist immer abhängig von soziokulturellen Rahmenbedingungen. Biographische Versatzstücke anderer Personen erhalten dabei Bedeutung, sofern sie Orientierung bei der Erarbeitung des eigenen Lebenskonzepts bieten können. […] Ein Nachdenken über die eigene Biographie […] hat Auswirkungen auf die Sicht der persönlichen Zukunf, insofern aus dem Rückblick heraus Perspektiven und Ziele konstruiert werden.«[5]
Eine derartige Individualisierung birgt natürlich eine gewisse Brisanz: der Frei- heitszuwachs vervielfacht die Möglichkeiten und vergrößert gleichzeitig die »Fallhöhe«; das Individuum ist gleichzeitig freier und stärker gefordert als jemals zuvor und lebt in einer Welt, in der die eigene Biographizität zum Grund für gelingendes oder gescheitertes ]Leben werden kann. Dies kann, wie Studien im- mer wieder belegen, bereits mit dem Übertritt von der Grundschule auf eine der weiterführenden Schulen beginnen[6] und sich von dort aus wie ein roter Faden durchs Leben ziehen. Lernen ereignet sich nicht mehr exklusiv in der Schule, sondern hält über das Prinzip der Konkurrenzfähigkeit in Form von Fort- und Weiterbildungen sowie Umschulungen auch Einzug ins Arbeitsleben. Nicht umsonst ist » lebenslanges Lernen « zu einem Schlüsselbegriff geworden, der in im- mer mehr Bereichen der Gesellschaf Bedeutung erlangt und gemischte Gefühle weckt.[7] Mit einer Fülle an neuen Möglichkeiten ausgestattet trifft das Individu- um so auf eine Umwelt, die ihrerseits voll von anspruchsvollen Charakteren ist. Das erneuerte Biographieverständnis hat somit auch weitreichende soziale Im- plikationen:
»Menschen sollen ›sie selber werden‹, aber auch die Gesellschaf muss ü- berleben können. Zwischen beiden ist ein Ausgleich zu finden (und zwar nicht einmalig, sondern immer wieder), sodass die individuellen Interessen zu ihrem Recht kommen und zugleich das Sozialgefüge in seinem Be- stand gewahrt bleibt.«[8]
Dazu soll im nächsten Abschnitt der Ort in den Blick gefasst werden, an dem die Ansprüche von Individuation und Vergesellschafung täglich aufeinandertreffen und an dem die Voraussetzungen für die richtige »Ausbalancierung« der Verhältnisse besonders günstig erscheinen: die Schule.
2 Schule und Biographie
Schule ist unzweifelhaf ein maßgeblicher Bildungs- und Lebensraum junger Menschen. Gerade die täglichen Auseinandersetzungen und die ambivalenten Erfahrungen von Erfolg und Misserfolg, Anerkennung und fehlender Akzeptanz bedingen es jedoch, dass Schule selbst immer wieder zur Ursache biographischer Brüche wird. Insofern muss biographisch Lernen im Kontext der Schule immer auch heißen, die Schule selbst sowie die Interaktion der SchülerInnen mit und in ihr zu thematisieren.[9]
Dementsprechend leitet sich für die Schule ein ganzes Bündel von Desidera- ten ab: Sie muss als Grundvoraussetzung bestimmte institutionelle Rahmenbe- digungen erfüllen, eine Reflexion zentraler Unterrichtsinhalte unter dem Aspekt der Lebensrelevanz ermöglichen und Lernprozesse initiieren, die den Lernenden biographische Orientierung und individuelle Handlungsfähigkeit vermitteln. Sie muss den Lernenden im Sinne des christlichen Menschenbilds mit Respekt und Wertschätzung begegnen und ihnen so exemplarisch Hilfe zur eigenen Subjekt- werdung leisten.[10]
Dieser Subjektwerdungsprozess verläuf inzwischen jedoch nach den Regeln einer individualisierten Gesellschaf und kollidiert so unweigerlich mit den traditionellen und institutionellen Anforderungen der Schule. Für den (Religions-) Unterricht wirf dies die konkrete Frage auf: Wie soll pädagogisch mit Spannungen umgegangen werden, die einerseits biographische Lernprozesse begünstigen, andererseits aber ganze Biographien brechen können?[11]
Ziebertz versucht, diese Spannungen zu lösen, indem er ein »Eigenrecht der Kinder und Jugendlichen« fordert, »den persönlichen Lebensweg auszurichten« und im Gegenzug die Gewährleistung, »dass eine Bündelung der Lebensausrich- tung auf bestimmte gemeinsame Ziele geschieht.«[12] Die dazu nötigen Hand- lungsschritte verortet er in dem von Alheit geprägten Konzept des » transitorischen Lernens «[13]:
[...]
[1] Ziebertz 2001, 350.
[2] Dressler 2004, 29.
[3] Vgl. Lindner/Stögbauer 2005, 135 unter Rückgriff auf Beck 1986.
[4] Dressler 2004, 29.
[5] Lindner/Stögbauer 2005, 135 unter Rückgriff auf Beck 1986.
[6] So die PISA-Studien der Jahre 2000 und 2003, die ungeachtet der fachlichen Verbesserungen der Schüler immer wieder die deutlich selektierende Funktion der sozialen Herkunf in Deutschland anmahnen.
[7] So z. B. als Schlagworte in der Erwachsenenbildung (Knowles/Holton/Swanson/Hornung 2006) und in der geriatrischen Forschung (Becker 2000), aber auch als Mittel zum empowerment in der sozialen Arbeit (Herriger 2006) und als Kernkompetenz zum Überleben auf dem Arbeitsmarkt (Baethge/Buss/Lanfer 2004; Alheit 2003). Auf diese Aspekte kann im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht näher eingegangen werden.
[8] Ziebertz 2001, 352.
[9] Vgl. Ziebertz 2001, 357.
[10] Vgl. Lindner/Stögbauer 2005, 135f.
[11] Vgl. Ziebertz 2001, 352. Die Frage, inwieweit die Schule ihre Anforderungen verändern muss, wurde im Bereich Schulentwicklung durchaus kontrovers rezipiert (…), kann jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter thematisiert werden.
[12] Ziebertz 2001, 352, unter Rückbezug auf Ziebertz 2000.
[13] Vgl. Alheit 1995.
- Citar trabajo
- Andreas Barthel (Autor), 2009, Biographisches Lernen - Herausforderung und Chance für den Religionsunterricht, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/142035
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