Kartografie als Repräsentation des Raums zu untersuchen heißt zwangsläufig, Raumwissenschaft mit Elementen der Bildwissenschaft zu verbinden, denn die Entwicklung kartografischer Verfahren war schon immer abhängig von allgemein bildlichen Repräsentationstechniken. Den mittelalterlichen mappae mundi ging es nicht um geografische Genauigkeit, wie wir das heute von einer Karte erwarten, sondern um die Positionierung des Menschen im heilsgeschichtlichen Kontext; damit sind sie Repräsentanten eines mittelalterlichen, theologischen Weltbildes. Am Beispiel der Ebstorfer Weltkarte (entstanden um 1290) werde ich verdeutlichen, dass mappae mundi dem menschlichen Bedürfnis nach Verortung in einem idealisierten Bild der Welt als determinierte theologische Narration entsprachen, und so weniger Abbild eines physischen als eines zeitlichen Raums waren.
Dies wandelte sich mit der Entdeckung der Zentralperspektive um 1425 in Florenz, die zeitgleich mit der (Wieder-)Entdeckung kartografischer Projektionsverfahren das Bild der Welt veränderte. Für die kartografische Raumdarstellung markiert sie einen Wendepunkt, indem sie den Raum berechenbar machte. Der mathematisch konstruierte Raum erlaubt die exakte Lagebestimmung eines beliebigen Ortes oder Körpers und dessen Projektion, also maßstabsgerechte Abbildung, auf einen Bildträger. Fluchtpunkt und Blickpyramide verweisen auf einen definierten Beobachterstandpunkt. Fortan war es also der Blick des Individuums, der den Raum bestimmte oder überhaupt erst erzeugte. Meine Arbeit argumentiert für die Auffassung der Karte als symbolische Form (Panofsky).
Auf die Kartografie bezogen ist die Repräsentation durch technische Bilder gleichsam eine Geschichte des sich in die Vertikale aufschwingenden Blicks, des Aufblicks, der dem Apparat eine Sicht auf den Raum bietet, die vorher nur indirekt aus am Boden gewonnenen Daten abgeleitet werden konnte.
Schließlich folgt als vorläufiger Endpunkt der Abbildtechnik der leiblose, automatisierte Blick des Satelliten, z.B. in Geobrowsern wie Google Earth. Durch die Anbindung an das Internet ergibt sich ein interaktiver Blick auf die Welt, der durch Flexibilität und ständige Aktualisierung (Zeitbindung) auch durch das Nutzernetzwerk den fixierten Einzelstandpunkt auflöst. Multiperspektivität, Hypertextualität und Einbindung zeitlicher Faktoren kennzeichnen den derzeitigen Blick auf die Welt, der damit anschließt an die mittelalterliche Raumdarstellung.
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- 1. Anblick
- 2. spatial turn
- 3. Form und Inhalt
- II. Vom theologischen Raum des Mittelalters zum mathematischen Raum der Neuzeit oder von Kosmografie zu Geografie
- 1. Was ist eine Karte?
- 2. Mappae mundi: kartografische Repräsentation des theologischen Raums
- 2.1 Die Ebstorfer Weltkarte (um 1290)
- 2.2 Die Karte als Hypertext und das Primat der Zeit
- 2.3 Mappae mundi als kompensatorische Heterotopie
- 3. Projektion und Perspektive: die Erfindung des mathematischen/geografischen Raums in der Renaissance
- 3.1 Von Ptolemäus bis Alberti: Zusammenhänge zwischen kartografischen Projektionsverfahren und Zentralperspektive
- 3.2 Die Perspektive als symbolische Form und das Primat des Raums
- 3.3 Gradnetz und Verortung: die Aneignung des Raums
- III. Raumrepräsentationen durch technische Bilder
- 1. Die Fotografie als technisches Dispositiv
- 1.1 Die Zentralperspektivische Darstellung als Vorläufer der technischen Bilder
- 1.2 Fotografie und Authentizität - analog und digital
- 2. Vom Anblick zum Aufblick: der leiblose, orbitale Blick
- 2.1 Der Blick wird vertikal: Luftbilder
- 2.2 Satellitengestützte Kartografie
- 3. Google Earth (seit 2005) und der virtuelle ZeitRaum
- 3.1 Interaktivität und Netzwerk
- 3.2 Die Erde als virtueller Raum
- 3.3 Die Re-Etablierung des Zeitfaktors
- 3.4 Die Erde als Panopticon
- 1. Die Fotografie als technisches Dispositiv
- IV. Die Karte als symbolische Form: mappae mundi und Google Earth im Vergleich
- 1. Strukturähnlichkeiten vorneuzeitlicher und aktueller Raumrepräsentation
- 1.1 Hypertextualität
- 1.2 Enzyklopädischer Charakter
- 1.3 Repräsentationen des Zeitraums
- 1.4 Wachender und überwachender Blick
- 2. Symbolische Form
- 1. Strukturähnlichkeiten vorneuzeitlicher und aktueller Raumrepräsentation
- V. Resümee und Ausblick
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Entwicklung der kartografischen Repräsentation des Raums und untersucht die Wechselwirkung von Weltbild und Kartografie. Sie analysiert, wie Karten das Raumverständnis ihrer Epoche widerspiegeln, aber auch umgekehrt den Einfluss von Karten auf das Raumverständnis und das Weltbild haben. Die Arbeit verfolgt dabei den Medienbegriff von Marshall McLuhan, der Medien nicht nur als Informationsträger, sondern auch als Präger und Veränderer von Informationen betrachtet.
- Die Entwicklung der Karte als Repräsentation des Raums vom theologischen Raum des Mittelalters zum mathematischen Raum der Neuzeit
- Die Rolle der Perspektive in der Entstehung des mathematischen/geografischen Raums in der Renaissance
- Der Einfluss technischer Bilder, insbesondere der Fotografie und satellitengestützter Kartografie, auf die Raumrepräsentation
- Der Vergleich von mappae mundi und Google Earth als symbolische Formen der Raumrepräsentation
- Die Bedeutung von Hypertextualität, enzyklopädischem Charakter und der Repräsentation des Zeitraums in der Kartografie
Zusammenfassung der Kapitel
I. Einleitung
Die Einleitung stellt die Frage nach dem Blick auf die Welt und dem Wunsch nach einem panoptischen Blick auf die gesamte Erde. Sie zeigt die historische Entwicklung dieses Begehrens und die Rolle der Karte als Form der Raumrepräsentation.
II. Vom theologischen Raum des Mittelalters zum mathematischen Raum der Neuzeit oder von Kosmografie zu Geografie
Dieses Kapitel behandelt die Entwicklung der Karte vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Es untersucht die Mappae mundi als kartografische Repräsentationen des theologischen Raums und die Entstehung des mathematischen/geografischen Raums durch die Einführung von Projektionsverfahren und der Zentralperspektive.
III. Raumrepräsentationen durch technische Bilder
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Rolle der Fotografie und satellitengestützter Kartografie in der Raumrepräsentation. Es analysiert die Zentralperspektive als Vorläufer der technischen Bilder, die Fotografie als Medium der Authentizität und den Einfluss des orbitalen Blicks auf das Raumverständnis.
IV. Die Karte als symbolische Form: mappae mundi und Google Earth im Vergleich
Dieses Kapitel untersucht die Strukturähnlichkeiten von mappae mundi und Google Earth als symbolische Formen der Raumrepräsentation. Es analysiert die Hypertextualität, den enzyklopädischen Charakter, die Repräsentation des Zeitraums und die Rolle des Blicks in beiden Kartenformen.
Schlüsselwörter
Kartografie, Raumrepräsentation, Weltbild, theologischer Raum, mathematischer Raum, Perspektive, technische Bilder, Fotografie, Satellitengestützte Kartografie, Google Earth, Hypertextualität, Enzyklopädie, Zeit, Blick.
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- Benedikt Schulte (Author), 2009, Die Karte als symbolische Form - Kartografische Repräsentationen des Raums und ihre Transformation durch technische Bilder, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141836