Schreiben gilt zunächst als Mittel der Kommunikation – der Text als Medium, mit dem Autorinnen und Autoren Informationen, Meinungen oder Fiktionen über einen Sachverhalt potentiellen Adressaten mitteilen. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht das Verhältnis zwischen Autor und Leser. In kognitiver Hinsicht interessant ist aber auch die Wechselwirkung zwischen dem Autor und seinem Text. Untersuchungsgegenstand sind in dieser Betrachtungsweise die kognitiven Fähigkeiten, die die Grundlage für den Einsatz der rhetorischen Kompetenz im Textverfassen bilden. Der Umgang mit Wissen beim Textverfassen erhält in dieser Betrachtungsweise eine besondere Bedeutung. Denn beim Verfassen eines „Texts als Sprachwerk“ (vgl. Pospiech 2004, S. 205f.) wird nicht nur bereits aufgebautes, im Gedächtnis gespeichertes Wissen genutzt. Unter geeigneten Voraussetzungen können auch, indem Wissen bearbeitet und weiterverarbeitet wird, neue Zusammenhänge hergestellt und neue Wissensstrukturen aufgebaut werden. Wenn der Textproduktionsprozess neues Wissen generiert, kann von einer epistemischen Funktion des Textverfassen oder epistemischem Schreiben gesprochen werden.
Im Zentrum der vorliegenden Arbeit soll die Frage stehen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, dass epistemisches Textverfassen möglich ist.
Dafür werden zwei Modellierungsversuche vorgestellt, die in der Textproduktionsforschung bis heute einen zentralen Stellenwert einnehmen. Es handelt sich um das Modell von Hayes und Flower und die beiden Modelle von Bereiter und Scardamalia.
In einem ersten Schritt wird die Rekonstruktion des Textproduktionsprozesses als Problemlöseprozess anhand von Hayes und Flowers Modell erläutert. Die Kritik am Modell von Hayes und Flower soll in einem nächsten Schritt zu Bereiter und Scardamalias entwicklungspsychologischem Ansatz überleiten.
In der Folge bildet das „knowledge-transforming“-Modell von Bereiter und Scardamalia die Grundlage für die Auseinandersetztung mit dem Konzept des epistemischen Textberfassen.
Die Motivation der Fragestellung soll pragmatisch sein: Die Frage nach den Bedingungen epistemischen Schreibens wird gestellt, um im Wissen darüber epistemisches Textverfassen als Lernstrategie nutzbar zu machen.
In einem letzten Teil wird auf Schwierigkeiten im Umgang mit dem Konzept eingegangen. Probleme in der Verwendung des Begriffs und der empirischen Erforschung sollen kurz angesprochen werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Problemstellung
2. Texverfassen als Problemlöseprozess
2.1. Das Modell von Hayes und Flower
2.2. Einw ä nde gegen das Modell von Hayes und Flower
3. Textverfassen als Problemlösestrategie
3.1. Die Entwicklungshypothese von Bereiter und Scardamalia
3.2. Offene und geschlossene Diskursschemata
3.3. Die Modelle von Bereiter und Scardamalia
4. Epistemische Funktion des Textproduzierens
4.1. Bedingungen für epistemisches Schreiben als Lernstrategie
4.2. Schwierigkeiten mit dem Konzept des epistemischen Schreibens
5. Schlusswort
Literaturverzeichnis
1. Einleitung und Problemstellung
Eine typische Situation, in der ständig mit Wissen umgegangen wird, ist Textproduzieren. Dabei herrscht die intuitive Vorstellung, dass der Umgang mit Wissen beim Schreiben gleichbedeutend mit dem gekonnten Ausformulieren von Gedanken ist. Schreiben gilt in dieser Funktion zunächst als Mittel der Kommunikation - der Text als Medium, mit dem Autorinnen und Autoren Informationen, Meinungen oder Fiktionen über einen Sachverhalt potentiellen Adressaten mitteilen. Diese Thematik ist seit jeher Gegenstand der Rhetorik. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht das Verhältnis zwischen Autor und Leser. In kognitiver Hinsicht interessant ist aber auch die Wechselwirkung zwischen dem Autor und seinem Text. Untersuchungsgegenstand sind in dieser Betrachtungsweise die kognitiven Fähigkeiten, die die Grundlage für den Einsatz der rhetorischen Kompetenz im Textverfassen bilden (vgl. Molitor-Lübbert 2006, S. 280). Der Begriff Textverfassen soll darauf hinweisen, dass damit nicht das blosse Niederschreiben von Gedanken zu Kommunikationszwecken, sondern ein viele Teilprozesse umfassender komplexer Produktionsprozess gemeint ist. Der Umgang mit Wissen beim Textverfassen erhält in dieser Betrachtungsweise eine besondere Bedeutung. Denn beim Verfassen eines „Texts als Sprachwerk“ (vgl. Pospiech 2004, S. 205f.) wird nicht nur bereits aufgebautes, im Gedächtnis gespeichertes Wissen genutzt. Unter geeigneten Voraussetzungen können auch, indem Wissen bearbeitet und weiterverarbeitet wird, neue Zusammenhänge hergestellt und neue Wissensstrukturen aufgebaut werden. Wenn der Textproduktionsprozess neues Wissen generiert, kann von einer epistemischen Funktion des Textverfassen oder epistemischem Schreiben gesprochen werden. Erfolgreiche Textverfassende sind manchmal geradezu freudig erstaunt darüber, dass sie durch die Arbeit am Text neue Aspekte des Themas erkennen und neues Wissen erarbeiten können.
Im Zentrum der vorliegenden Arbeit soll die Frage stehen, welche Voraus-setzungen erfüllt sein müssen, dass epistemisches Textverfassen möglich ist.
Dafür werden zwei Modellierungsversuche vorgestellt, die in der Textproduktionsforschung bis heute einen zentralen Stellenwert einnehmen. Es handelt sich um das Modell von Hayes und Flower und die beiden Modelle von Bereiter und Scardamalia.
In einem ersten Schritt wird die Rekonstruktion des Textproduktionsprozesses als Problemlöseprozess anhand von Hayes und Flowers Modell erläutert. Die Kritik am Modell von Hayes und Flower soll in einem nächsten Schritt zu Bereiter und Scardamalias entwicklungspsychologischem Ansatz überleiten. In einem weiteren Schritt sollen die darauf aufbauenden Modelle vorgestellt werden.
In der Folge bildet das „knowledge-transforming“-Modell von Bereiter und Scardamalia die Grundlage für die Auseinandersetztung mit dem Konzept des epistemischen Textberfassen, doch auch die im Zusammenhang mit den anderen Modellen erarbeiteten Erkenntnisse sollen dabei berücksichtigt werden.
Die Motivation der Fragestellung soll pragmatisch sein: Die Frage nach den Bedingungen epistemischen Schreibens wird gestellt, um im Wissen darüber epistemisches Textverfassen als Lernstrategie nutzbar zu machen.
In einem letzten Teil wird auf Schwierigkeiten im Umgang mit dem Konzept eingegangen. Probleme in der Verwendung des Begriffs und der empirischen Erforschung sollen kurz angesprochen werden.
2. Texverfassen als Problemlöseprozess
Am Anfang der Suche nach einer adäquaten Modellierung des Textproduktionsprozesses scheint es wichtig, sich die Situation in der sich Textproduzierende zu Beginn ihrer Arbeit befinden, vor Augen zu führen. Jeder, der schon einmal selber einen komplexen Text verfasst hat, kennt die Situation, in der man vor einer blanken Seite sitzt und nicht genau weiss, wie man von der Ausgangslage zum Ziel, dem fertigen Textganzen, fortschreiten soll. Strukturell hat man es in dieser Situation mit einem Problem zu tun. Probleme sind Konstellationen, deren zugehöriger Lösungsweg bezüglich der Lösungsmittel, deren Reihenfolge, des Ausgangs- und Zielzustandes nicht von Beginn her klar sind. Sie unterscheiden sich darin von Aufgaben, deren Lösungswege, zumindest in der Theorie, von Beginn her klar sind (vgl. Arbinger 1997, S. 12f.).1 Vor diesem Hintergrund scheint es naheliegend, das Verfassen eines komplexen Textes als Problem und den Prozess des Verfassens als Problemlöseprozess zu konzeptualisieren. Denn die Situation am Anfang der Textproduktion erfüllt weitgehend die oben definierten Merkmale eines Problems: Wie genau der fertige Text entstehen soll ist meist unklar. Wissen über die Reihenfolge der nötigen Zwischenschritte ist zu Beginn nicht unmittelbar vorhanden und eine exakte Vorstellung des finalen Textes entsteht im Regelfall erst während des Schreibprozesses. Erfolgreiche Textproduzierende müssen demzufolge über Kompetenzen verfügen, Unklarheiten bezüglich Ziel, Lösungsweg und benötigter Hilfsmittel während des Produktionsprozesses auszuräumen - oder anders gesagt - einen Probemlöseprozess durchlaufen. Demzufolge hat sich Texproduktions-forschung mit der Analyse von Problemlöseprozessen zu befassen.
Textproduzieren als Problemlöseprozess zu betrachten ist in der Tat ein Ansatz, der vielen Arbeiten zur kognitiven Schreibforschung zu Grunde liegt (vgl. Molitor-Lübbert 2006, S. 281). Die Forschung von Hayes und Flower bildet den Ursprung dieser Auffassung von Textproduktion, auf die sich praktisch alle nachfolgenden Arbeiten beziehen.
2.1. Das Modell von Hayes und Flower
Am Anfang der Arbeiten von Hayes und Flower steht deren Entscheidung, auf den Prozess des Textverfassens zu fokussieren und nicht das Produkt:
“Thus, we viewed writing primarily as a process rather than as a product. We felt that by far the richest source of information about writing would be to observe step by step how the writer had actually created the essay.” (Hayes & Flower 1980, S. 389)
Die Fokussierung auf den Prozess der Textproduktion (anstatt auf das Resultat) bildet die Grundlage für die Modellierung von Textverfassen als Problemlösen. Das angestrebte Modell sollte zeigen können, welche Subprozesse beim Textverfassen involviert sind, wie sie in sich organisiert sind und wie sie miteinander interagieren. Oder anders ausgedrückt: Im Zentrum steht die Frage, welche Teilprozesse Textproduzierende durchlaufen, um ein gegebenes Schreibproblem zu lösen. Dazu die Autoren:
“Ideally, the model should be capable of telling us how writers go about producing a text when they are given a writing assignment. [The model] […] should tell us what processes are involved, in what order they occur, and at what points the writer will experience difficultiy.” (ebd, S. 390)
Um diese Fragen zu klären untersuchten Hayes und Flower den Textproduktionsprozess von College-Studierenden mittels der Methode des lauten Denkens (vgl. ebd, S. 389). Die Probanden erhielten einen Umschlag, der Thema und Adressat des zu verfassenden Textes enthielt. Sie wurden angewiesen, ihre Gedanken während des Planungs- und Schreibprozesses zu verbalisieren. Die Daten zeichneten die Forscher auf Tonband auf und transkribierten diese im Anschluss. Basierend auf der Analyse der erstellten Transkripte unterschieden die Forscher einzelne Teilprozesse des Textproduktionsprozesses und untersuchten, wie diese miteinander zusammenhängen. Die Forscher konnten anhand der handlungsbegleitenden Verbalisierungen der Probanden drei hauptsächliche Teilprozesse identifizieren:
- Planen (planning)
- Ausformulieren (translating)
- Überarbeiten (reviewing)
Die Hauptprozesse beinhalten jeweils weitere Subprozesse. Zum Prozess des Planens gehört beispielsweise das Erinnern und Bereitstellen von Wissen aus dem Langzeitgedächtnis (generating), das Bestimmen von Zwischenzielen im Schreibprozess (goal setting) oder die Auswahl und Strukturierung der bereitgestellten Wissensinhalte (organizing).
Das Überarbeiten gliedert sich in Schreiben (editing) und Lesen (reading) des aktuellen Texts.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: „Structure of the writing model” (Hayes & Flower 1980, S. 393)
Inhalt und Gestaltung sämtlicher Prozesse sind nach Hayes und Flower durch die Schreibumgebung (task environment) und das Langzeitgedächtnis (long term memory) beeinflusst. Die Schreibumgebung umfasst sowohl die thematischen und adressatenbezogenen Vorgaben sowie motivationale Aspekte, als auch den jeweils bereits produzierten Text. Zusammen mit dem Langzeitgedächtnis liefert die Schreibumgebung die Bedingungen, das notwendige Wissen, die Prüfkriterien und Einschränkungen, denen der Schreibprozess unterliegt (vgl. Molitor-Lübbert 2006, S. 283). Hervorzuheben ist, dass sich die einzelnen Prozesse in Hayes und Flowers Modell durch Interaktivität und Rekursivität auszeichnen. Das heisst einerseits, dass die Prozesse sich massgeblich gegenseitig beeinflussen, sprich, kein Prozess autonom funktioniert. Andererseits setzt das Modell keine feste Abfolge zwischen den einzelnen Teilprozessen voraus, und alle Prozesse können beliebig oft wiederholt werden. Die effektive Abfolge der einzelnen Prozesse wird durch einen übergeordneten Teilprozess, den so genannten Monitor gesteuert. Dabei handelt es sich um eine Handlungsdimension, welche die Abfolge der einzelnen Teilprozesse und somit den Verlauf des Textproduktionsprozesses steuert und überwacht. Hayes und Flower verankerten das Postulat des Monitors empirisch an Aussagen der Probanden wie „Let’s organize this mess“ oder „Ok, let’s get it down on paper now“ (Hayes & Flower 1980, S. 396).
An dieser Stelle lässt sich Folgendes zusammenfassen: Textverfassen kann als Problemlöseprozess modelliert werden. Das Modell von Hayes und Flower bringt zum Ausdruck, dass die Eigenschaften des entstehenden Textes im Wesentlichen von der Aufgabe und von der Vorstruktur der Gedächtnisinhalte betreffend Thema, Leserschaft und Schreibplänen abhängen. Während sich in einer ersten Phase des Schreibens die Anstrengungen vor allem auf Planungsaufgaben richten, wird mit fortschreitendem Erstellen des Textes auch die Prüfung und die Verbesserung der Zwischenresultate vermehrt Aufmerksamkeit erhalten. Die Teilprozesse des Schreibprozesses sind jedoch grundsätzlich nicht sequenziell organisiert, sondern können individuell in unterschiedlicher Reihenfolge, Frequenz und Intensität aktiviert werden. Gesteuert werden sie durch einen übergeordneten Prozess, den Monitor. Die Problemlösung resultiert in einem Text, der die Anforderungen der Schreibaufgabe erfüllt.
[...]
1 Die hier zitierte Unterscheidung Arbingers zwischen „Problem“ und „Aufgabe“ hat ihre Entsprechung bei Autoren aus dem angelsächsischen Raum meist im Begriffspaar „ill defined problem“ vs. „well defined problem“. Auch die Übertragung des englischen Begriffspaars ins Deutsche als „wohl- definiertes“ respektive „schlecht-definiertes Problem“ ist geläufig.
- Arbeit zitieren
- Mathias Haller (Autor:in), 2009, Textverfassen als wissensgenerierender Prozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141733
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