Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema der Entkoppelung von System und Lebenswelt, dem eine zentrale Bedeutung in der Gesellschaftstheorie zukommt, da dadurch versucht wird, den systemtheoretischen und den lebensweltlichen Ansatz zu verbinden, indem Gesellschaften sowohl als Lebenswelten als auch als Systeme angesehen werden. Die Entkoppelung von System und Lebenswelt ist praktisch der „Grundbaustein“, auf dem die modernen Gesellschaften mit Wohlstand und Fortschritt aufgebaut sind. Ohne diese Entkoppelung, wäre die Entwicklung der Gesellschaft womöglich auf einer sehr viel niedrigeren Stufe stehen geblieben. Dies darf man allerdings nicht missverstehen und die heutige Gesellschaft als endgültiges Ergebnis betrachten. Da niemand weiß, was die offene Zukunft bringt, kann man die modernen Gesellschaften allenfalls als bisheriges Ergebnis der Entkoppelung von System und Lebenswelt betrachten. Auf dem Weg zu diesen modernen Gesellschaften hat die Entwicklung noch zwei weitere bedeutende Stufen durchlebt, die es genauer zu analysieren gilt. Ausgangspunkt bilden Stammesgesellschaften (kohäsive Einheiten in archaischen Gesellschaften), die als Kontextgemeinschaften die Stütze des Lebensweltkonzepts darstellen. Im Zuge der sozialen Evolution kommt es dann zu Komplexitätssteigerungen, und die Stammesgesellschaften entwickeln sich weiter zu staatlich organisierten Gesellschaften. Die Fortentwicklung mündet letztendlich in die modernen Gesellschaften, wie wir sie heute kennen. Der Herausbildung von entsprachlichten Kommunikationsmedien wie Geld und Macht aber auch der Entwicklung von Recht und Moral kommt hierbei ein wichtige Rolle zu. Außerdem wird man sehen, dass System und Lebenswelt sich nicht nur entkoppeln, sondern man sogar von einer Technisierung der Lebenswelt sprechen kann. Wie im Titel schon angedeutet, handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine „erweiterte Betrachtung“. Zu diesem Zweck werden zunächst die wesentlichen Punkte der Entkoppelung von System und Lebenswelt im Kontext Kirsch herausgearbeitet (1.). Hierauf aufbauend folgt eine tiefergehende – erweiterte – Betrachtung anhand von Habermas (2.).
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Einleitung
1. Die Entkoppelung von System und Lebenswelt - ein erster Zugang im Kontext Kirsch
1.1 Strategisches und kommunikatives Handeln
1.2 Gesellschaft als System und Lebenswelt
1.3 Die Entkoppelung von System und Lebenswelt
2. Erweiterte Betrachtung der Entkoppelung von System und Lebenswelt
2.1 Übersicht
2.2 Stammesgesellschaften als soziokulturelle Lebenswelten
2.3 Stammesgesellschaften als selbstgesteuerte Systeme
2.4 Vier Mechanismen der Systemdifferenzierung
2.5 Die institutionelle Verankerung der Mechanismen systemischer Integration in der Lebenswelt
2.6 Technisierung der Lebenswelt - die Entlastung des Mediums der Umgangsprache durch entsprachlichte Kommunikationsmedien
Schlussbetrachtung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Die Entkoppelung von System und Lebenswelt
Abb. 2: Mechanismen der Systemdifferenzierung
Abb. 3: Gesellschaftsformationen
Abb. 4: Stufen der Rechtsentwicklung
Abb. 5: Quellen generalisierter Annahmebereitschaft
Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema der Entkoppelung von System und Lebenswelt, dem eine zentrale Bedeutung in der Gesellschaftstheorie zukommt, da dadurch versucht wird, den systemtheoretischen und den lebensweltlichen Ansatz zu verbinden, indem Gesellschaften sowohl als Lebenswelten als auch als Systeme angesehen werden1.
Die Entkoppelung von System und Lebenswelt ist praktisch der „Grundbaustein“, auf dem die modernen Gesellschaften mit Wohlstand und Fortschritt aufgebaut sind. Ohne diese Entkoppelung, wäre die Entwicklung der Gesellschaft womöglich auf einer sehr viel niedrigeren Stufe stehen geblieben. Dies darf man allerdings nicht missverstehen und die heutige Gesellschaft als endgültiges Ergebnis betrachten. Da niemand weiß, was die offene Zukunft bringt, kann man die modernen Gesellschaften allenfalls als bisheriges Ergebnis der Entkoppelung von System und Lebenswelt betrachten.
Auf dem Weg zu diesen modernen Gesellschaften hat die Entwicklung noch zwei weitere bedeutende Stufen durchlebt, die es genauer zu analysieren gilt. Ausgangspunkt bilden Stammesgesellschaften (kohäsive Einheiten in archaischen Gesellschaften), die als Kontextgemeinschaften die Stütze des Lebensweltkonzepts darstellen. Im Zuge der sozialen Evolution kommt es dann zu Komplexitätssteigerungen, und die Stammesgesellschaften entwickeln sich weiter zu staatlich organisierten Gesellschaften. Die Fortentwicklung mündet letztendlich in die modernen Gesellschaften, wie wir sie heute kennen. Der Herausbildung von entsprachlichten Kommunikationsmedien wie Geld und Macht aber auch der Entwicklung von Recht und Moral kommt hierbei ein wichtige Rolle zu.
Außerdem wird man sehen, dass System und Lebenswelt sich nicht nur entkoppeln, sondern man sogar von einer Technisierung der Lebenswelt sprechen kann.
Wie im Titel schon angedeutet, handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine „erweiterte Betrachtung“. Zu diesem Zweck werden zunächst die wesentlichen Punkte der Entkoppelung von System und Lebenswelt im Kontext Kirsch herausgearbeitet (1.). Hierauf aufbauend folgt eine tiefergehende - erweiterte - Betrachtung anhand von Habermas (2.).
1. Die Entkoppelung von System und Lebenswelt - ein erster Zugang im Kontext Kirsch
Das folgende erste Kapitel soll einen einführenden Charakter in die gestellte Problematik be- sitzen, um dadurch einen groben Überblick über die gesamte Thematik zu verschaffen. Hier- für wird zunächst die Unterscheidung von strategischen und kommunikativen Handeln als zwei grundsätzliche Arten des sozialen Handelns erläutert (1.1). Anschließend wird in Punkt 1.2 herausgestellt, dass eine Gesellschaft als System und Lebenswelt zu betrachten ist, bzw. nach Kirsch: Unternehmen müssen sowohl aus der Außenperspektive (systemtheoretischer Ansatz) als auch aus der Binnenperspektive (handlungstheoretischer Ansatz; Lebenswelt) betrachtet werden. Auf den ersten beiden Teilkapiteln aufbauend wird schließlich in Punkt 1.3 die Entkoppelung von System und Lebenswelt näher erläutert, die ausgehend von archaischen Gesellschaften bisweilen in die modernen Industriegesellschaften mündet.
1.1 Strategisches und kommunikatives Handeln
Grundlegend für die Entkopplung von System und Lebenswelt ist die Unterscheidung von zwei Arten sozialen Handelns: das erfolgsorientierte strategische Handeln und das verstän- digungsorientierte kommunikative Handeln (Kirsch 1997a: 45). Bei Letzterem geht es darum, dass die beteiligten Akteure versuchen, sich auf eine gemeinsame Definition der Situation2 zu verständigen, was in Einverständnis münden soll. Dies bedeutet, dass andere Akteure als „Ko- Subjekte“ betrachtet werden, und dass das durch die gemeinsame Definition der Situation umschriebene Wissen von allen Beteiligten als gültig anerkannt wird. Es ist eben nicht ausrei- chend,
„wenn die Interaktionspartner zur Akzeptanz bestimmter Annahmen über die Welt überredet oder beispielsweise durch Einsatz von Machtmitteln gezwungen werden; sie müssen vielmehr ü berzeugt werden.“
(Kirsch 1997b: 100; Hervorhebung durch den Verfasser)
Beim strategischen Handeln3 hingegen sind die Akteure nicht mehr um die Erreichung einer gemeinsamen Definition der Situation bemüht, sondern es ist allein der Erfolg ausschlagge- bend. Eigene Handlungsfolgen für andere werden nur insoweit betrachtet, wenn sie Rückwir- kungen auf persönliche Handlungspläne haben. Die anderen Akteure werden nun als Objekte betrachtet und die Handlungskoordination erfolgt über sogenannte entsprachlichte Kommunikationsmedien wie Geld und/oder Macht. Somit herrscht beim strategischen Handeln eine Einflussnahme vor.
1.2 Gesellschaft als System und Lebenswelt
Der Bezugsrahmen von Habermas beruht laut Kirsch auf einer „begrifflichen Differenzierung von Welt und Lebenswelt“ (Kirsch 1997a: 48), wobei „Welt“ das ist, was ein bestimmter Ak- teur in einer konkreten Situation konstruiert. Die Lebenswelt bildet ein Hintergrundwissen und liefert der Definition der Situation den Kontext4. Hierbei kommt sie auch als eine Art Ressource zum Einsatz, die die gegebene Situation quasi vorinterpretiert. Somit kann die Le- benswelt als ein sicherer Hintergrund gesehen werden, vor dem ein Akteur handeln kann. Des Weiteren werden drei Komponenten der Lebenswelt unterschieden: Kultur, Ordnung und Per- sönlichkeit5.
„Er [Habermas; M. B.] schlägt mit dieser Theorie [der Theorie des kommunikativen Handelns; M. B.] eine gesellschaftstheoretische Konzeption vor, die den handlungstheoretischen (mit dem Begriff der „Lebenswelt“ operierenden) Ansatz einerseits und den systemtheoretischen Ansatz andererseits „auf eine nicht nur rhetorische Weise“ (Habermas 1981a: 8) miteinander zu verknüpfen sucht.“
(Kirsch 1997b: 96)
Habermas führt die Unterscheidung zwischen „System“ und „Lebenswelt“ auf „doppeltem Wege“ ein: Einerseits unterscheidet er die rein methodologische Differenz zwischen Außenund Binnenperspektive, bzw. nach Habermas: die rein methodologische Differenz zwischen der Beobachterperspektive eines sozialen Systems und der Teilnehmerperspektive einer Lebenswelt (Kirsch 1997b: 96). Andererseits unterscheidet er zwischen zwei grundlegenden Mechanismen der Handlungskoordination (siehe oben unter: 1.1 Strategisches und kommunikatives Handeln). Es wird eine Gesellschaftstheorie angestrebt, die Gesellschaften sowohl als Lebenswelten als auch als Systeme betrachtet6.
1.3 Die Entkoppelung von System und Lebenswelt
Bei der Entkoppelung von System und Lebenswelt geht es um die Ausdifferenzierung von zwei entscheidend verschiedenen Arten der Handlungskoordination, nämlich Handlungsorientierung vs. Handlungsfolgen.
Ausgangspunkt liegt bei archaischen Gesellschaften, in denen sich das gesellschaftliche Geschehen primär in sog. kohäsiven Einheiten vollzieht. Alle deren Mitglieder teilen eine Lebensform und bilden somit eine Art Kontextgemeinschaft7. Dies alles ist aus der Binnenperspektive relativ gut überschaubar, da die „Säulen“ der Gesellschaft den Stammesmitgliedern noch intuitiv zugänglich sind. Eine Handlungskoordination der Teilnehmer kann daher primär über kongruente Handlungsorientierungen erfolgen.
Im Zuge der sozialen Evolution kommt es zu zunehmender Arbeitsteilung und Differenzie- rung, was die Integration dieser Gesellschaften zum Systemproblem werden lässt (Kirsch 1997a: 51). Es entstehen Systeme: Märkte und Kontrollnetzwerke zur Koordination der Hand- lungsfolgen. Entsprachlichte Kommunikationsmedien wie Geld und Macht bilden sich heraus, die die kongruente Handlungsorientierung von der Funktion der Koordination der Handlungs- folgen ablöst. Kommunikatives Handeln - und damit eine gemeinsame Definition der Situati- on - ist somit nicht mehr nötig, da nun die Handlungskoordination über Geld und/oder Amts- macht erfolgt.
„Für Max Weber stellte diese zumindest partielle Abkoppelung des erfolgsorientierten vom verständigungsorientierten Handeln den Kern der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung der Moderne dar. Dadurch wurde die Subsystembildung und Ausdifferenzierung verschiedener Wertsphären wie Moral und Recht, Kunst und Literatur, Wissenschaft und Wirtschaft erst möglich.“
(Kirsch 1997a: 52)
Dieses Zitat gibt die eine Seite der doppelten Differenzierung wieder, die sich im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung ergab, nämlich, dass aus der ursprünglichen Lebensweltverei- nigung unterschiedliche Wertsphären entstanden sind, die auf verschieden Aspekte der Ratio- nalität spezialisiert waren: Wissenschaft auf kognitiv-instrumentelle, Moral und Recht auf moralisch-praktische und Kunst und Literatur auf ästhetisch-expressive Aspekte. Die andere Seite der doppelten Differenzierung betrifft die Herausbildung komplexer Systeme bzw. Handlungsbereiche, welche über Geld und/oder Macht koordiniert werden und sich deshalb von solchen Handlungsbereichen der Gesellschaft entkoppeln, die nur über kommunikatives Handeln reproduziert werden können. Die Lebenswelt wird hier für die Handlungskoordi- nation nicht mehr benötigt. Organisationen bzw. Unternehmen sind Systeme, die primär über die Medien Geld und Macht gesteuert werden.
Kommunikatives Handeln ist jedoch nicht vollständig ausgeschlossen, es tritt aber nur noch unter Vorbehalt auf, da die Akteure wissen, dass sie notfalls auf eine Mediensteuerung zurückgreifen können8.
Bisheriges Ergebnis der Entkoppelung von System und Lebenswelt und der damit verbundenen Komplexitätssteigerung der Märkte und Organisationen ist die moderne Industriegesellschaft mit Fortschritt und Wohlstand.
Abschließend fast Abbildung 1 die bisherigen Überlegungen noch einmal kurz zusammen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Die Entkoppelung von System und Lebenswelt (Quelle: eigene Überlegungen)
[...]
1 Auf eine begriffliche Differenzierung von System und Lebenswelt wird später unter 1.2 aber auch unter 1.3 eingegangen.
2 Vgl. hierzu Kirsch (1997a: 36, 44 ff., 57 f., 181 ff., 639), Kirsch (1997b: 98 ff., 133) aber auch Kirsch (2001: 311 f.).
3 Hierbei ist zu beachten, dass das Adjektiv „strategisch“ im Kontext von Habermas verwendet wird und nicht im Kontext Kirsch. Im Gegensatz zu Kirsch bedeutet strategisch bei Habermas lediglich „erfolgsorientiert“ und nicht „die Fähigkeiten signifikant betreffend“ (vgl. z. B. Kirsch (1997b: 11 ff.) oder Kirsch (2001: 411 ff., 514 ff.)).
4 Vgl. Kirsch (1997a: 33 ff., 48 ff., 57 ff.) und Kirsch (2001: 311 f., 327 ff.).
5 Weitere Ausführungen hierzu siehe z. B. Kirsch (1997a: 97 ff.), Kirsch (1997b: 96 ff., 152 ff.) oder Kirsch (2001: 212 ff., 327 ff.).
6 Dies entspricht der Gegenüberstellung von Binnen- und Außenperspektive, z. B. verstehende Strategien versus zu beobachtende strategische Manöver, welche zentral ist für die evolutionäre Organisationstheorie von Kirsch. Dies hier noch weiter auszuführen, würde jedoch den vorliegenden Rahmen sprengen; siehe z .B. Kirsch (1997a: 19 ff., 345 ff., 500 ff.), Kirsch (1997b: 3 ff., 108 ff., 214, 433 ff., 660) oder auch Kirsch (2001: 325 ff., 339 ff., 365).
7 Vgl. Kirsch (1978: 108 ff.).
8 Vgl. zum Vorangegangenen Kirsch (1997a: 50 ff., 103 ff.) und Kirsch (1997b: 98 ff.).
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