Die Kinder der vertriebenen Donauschwaben sind Alterskohorten mit zerrissenen Familienverbänden und unterbrochenen Familiengeschichten. Wesentliche Lebensentscheidungen haben ihre Wurzeln in den dramatischen Geschehnissen nach 1944. Das Ziel dieser Untersuchung war, Gründe für die spezifische Bildungsanstrengungen und die konkrete Wahl des Berufes in den Nachfolgegenerationen aufzuhellen. Besonders wurde hierbei der Fokus auf familiäre Strategien gelegt.
Der empirische Teil besteht aus vier narrativen Interviews und einer dazu adäquaten Auswertungsmethode im Sinne von Alfred Schütze. Ergebnisse: Die Vertriebenen investieren erheblich in die Bildung der Kinder. Die Vorgaben der ersten Generation an die Mitglieder der zweiten Generation sind ehrgeizig. Rat und Hilfestellungen können sie ihren Kindern jedoch nicht geben. Häufig bleibt daher die Wahl von Schule oder Beruf zufallsabhängig. Die Mädchen der zweiten Generation stehen von Anfang an im Spannungsfeld zwischen der traditionellen und einer modernen Auffassung der Frauenrolle. Weiters werden siebzehn, in den Interviews beschriebenen, Personen drei Typen von familienstrategischen Vorgehensweisen zugeordnet.
Abstract / english
The offspring of expelled Danube Swabians are peergroups with both disrupted family bonds and discontinued (family) histories. Fundamental life decisions arose from dramatic events after 1944. The goal of this survey was to investigate educational directions and specific career choices of second- and third-generation Danube Swabians. In particular, the topic of different family strategies was elaborated.
The empirical part consists of four narrative interviews and their appropriate analysis as described by Alfred Schütze. Results: Expelled Danube Swabians invest significantly in the education of their offspring. First generation Danube Swabians have great expectations for their children, but can’t give them advice and support. Therefor often the choice of education or profession happens by chance. From the very beginning, females of the second generation Danube Swabians are confronted with both traditional and modern female role models. Based on these four interviews, seventeen described persons were associated with three behavior patterns of family strategies.
Inhaltsverzeichnis
Abstract / deutsch
Abstract / english
1 Einleitung
1.1 Problembeschreibung
1.2 Ausgangsituation für die nächste Generation und Forschungsfrage
1.3 Startvermutungen
2 Migration
2.1 Begriffe
2.2 Allgemeine Migrationsthemen und -probleme
2.3 Fehlgeschlagene Migrationen der Deutschen
2.4 Migrationen der Donauschwaben
2.4.1 Ökonomischer, militärischer und kultureller Auftrag der Ansiedelung
2.4.2 Das Besiedlungsbeispiel von ‚Drei Banater Schwestergemeinden’
2.4.3 Nationalbewegungen, Vertreibung und Ankunft in den Aufnahmeländern
3 Migrationstheoretische Ansätze
3.1 Soziologische Makromodelle
3.2 Soziologische Mikromodelle
3.3 Psychologische und therapeutische Modelle
4 Zur empirischen Forschung dieser Arbeit
4.1 Auswahl der Methode
4.2 Methode der narrativen Interviews
4.3 Auswertungsmethode
5 Durchführung der Interviews
5.1 Setting
5.2 Narratives Interview 1
5.2.1 Daten und methodische Reflexion des Gesprächsablaufes
5.2.2 Segmente- und Zeilendifferenzierung
5.2.3 Inhaltliche Strukturzuschreibungen in den Segmenten
5.2.4 Analytische Abstraktion: Der Gesamteindruck
5.3 Narratives Interview 2
5.3.1 Daten und methodische Reflexion des Gesprächsablaufes
5.3.2 Segmente- und Zeilendifferenzierung
5.3.3 Inhaltliche Strukturzuschreibungen in den Segmenten
5.3.4 Analytische Abstraktion: Der Gesamteindruck
5.4 Narratives Interview 3
5.4.1 Daten und methodische Reflexion des Gesprächsablaufes
5.4.2 Methodische Reflexion des Gesprächsablaufes
5.4.3 Segmente- und Zeilendifferenzierung
5.4.4 Inhaltliche Strukturzuschreibungen in den Segmenten
5.4.5 Analytische Abstraktion: Der Gesamteindruck
5.5 Narratives Interview 4
5.5.1 Daten und methodische Reflexion des Gesprächsablaufes
5.5.2 Segmente- und Zeilendifferenzierung
5.5.3 Inhaltliche Strukturzuschreibungen in den Segmenten
5.5.4 Analytische Abstraktion: Der Gesamteindruck
5.6 Kontrastive Vergleiche der Interviews
6 Ergebnisse
6.1 Generationensicht
6.1.1 Erste Generation / die Vertriebenen
6.1.2 Zweite Generation / die Kinder
6.1.3 Dritte Generation / die Kindeskinder
6.2 Vorläufige Typologie
6.3 Anwendung ursprünglicher Konzepte
7 Diskussion
7.1 Schwächen dieser Arbeit
7.2 Ergänzungen und Erweiterungen
7.3 Ausblick
8 Verzeichnisse
8.1 Abbildungsverzeichnis
8.2 Literaturverzeichnis
9 Anhang A: Definition der Posttraumatischen Befindlichkeitsstörung (PTBS)
10 Anhang B: Interviewtexte
10.1 Interviewtext 1
10.2 Interviewtext 2
10.3 Interviewtext 3
10.4 Interviewtext 4
Abstract / deutsch
Die Kinder der vertriebenen Donauschwaben sind Alterskohorten mit zerrissenen Familienverbänden und unterbrochenen Familiengeschichten. Wesentliche Lebensentscheidungen haben ihre Wurzeln in den dramatischen Geschehnissen nach 1944. Das Ziel dieser Untersuchung war, Gründe für die spezifische Bildungsanstrengungen und die konkrete Wahl des Berufes in den Nachfolgegenerationen aufzuhellen. Besonders wurde hierbei der Fokus auf familiäre Strategien gelegt.
Der empirische Teil besteht aus vier narrativen Interviews und einer dazu adäquaten Auswertungsmethode im Sinne von Alfred Schütze. Ergebnisse: Die Vertriebenen investieren erheblich in die Bildung der Kinder. Die Vorgaben der ersten Generation an die Mitglieder der zweiten Generation sind ehrgeizig. Rat und Hilfestellungen können sie ihren Kindern jedoch nicht geben. Häufig bleibt daher die Wahl von Schule oder Beruf zufallsabhängig. Die Mädchen der zweiten Generation stehen von Anfang an im Spannungsfeld zwischen der traditionellen und einer modernen Auffassung der Frauenrolle. Weiters werden siebzehn, in den Interviews beschriebenen, Personen drei Typen von familienstrategischen Vorgehensweisen zugeordnet.
Abstract / english
The offspring of expelled Danube Swabians are peergroups with both disrupted family bonds and discontinued (family) histories. Fundamental life decisions arose from dramatic events after 1944. The goal of this survey was to investigate educational directions and specific career choices of second- and third-generation Danube Swabians. In particular, the topic of different family strategies was elaborated.
The empirical part consists of four narrative interviews and their appropriate analysis as described by Fritz Schütze. Results: Expelled Danube Swabians invest significantly in the education of their offspring. First generation Danube Swabians have great expectations for their children, but can’t give them advice and support. Therefor often the choice of education or profession happens by chance. From the very beginning, females of the second generation Danube Swabians are confronted with both traditional and modern female role models. Based on these four interviews, seventeen described persons were associated with three behavior patterns of family strategies.
1 Einleitung
1.1 Problembeschreibung
Die lebenslangen psychosozialen Folgen von Kriegserfahrungen und Vertreibungen werden erst seit wenigen Jahren als Thema öffentlich wahrgenommen. Die Erlebnisse von Kriegskindern hatten schwerwiegende Auswirkungen in ihrem Erwachsenenleben (etwa Radebold 2004). Die vorliegende Arbeit geht einen Schritt weiter, da sie untersucht, ob Auswirkungen auch in späteren Generationen vorhanden sind. Die Relevanz der Frage ist überraschend groß: Rund 14 Millionen Personen mussten unter dramatischen Umständen ab 1944 ihre Heimat verlassen. Anfang der neunzehnhundertfünfziger Jahre leben in Österreich rund 170.000 Donauschwaben (Kaiser-Kaplaner 1998, S. 160). Betrachtet man die erste, zweite und dritte Generation als themenrelevant gesamt, so bewegt sich die Zahl der betroffenen Personen, die gegenwärtig in Österreich leben, je nach Definition[1] circa um 200.000[2].
Die Kinder der in Österreich angekommenen vertriebenen Donauschwaben hatten ungünstigere Entwicklungsbedingungen als gleichaltrige Kinder von Ansässigen. Welche waren diese unvorteilhaften Bedingungen und welche langfristigen Auswirkungen hatten sie? Welche familien-strategischen Überlegungen waren Entscheidungen zum Besuch von Schulen oder der Berufswahl der Heranwachsenden vorausgegangen? Die Beschäftigung mit diesem Thema hat auch biogra-phische Gründe: Die Mutter des Autors dieser Arbeit traf als Jugendliche das Vertreibungs-schicksal. Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass der Schwerpunkt dieser Arbeit nicht in den vergangenen Vertreibungsgeschehnissen liegt, sondern explizit gegenwartsorientiert ist. Der Fokus der Untersuchung liegt vorrangig im Verstehen der Lebensläufe gegenwärtig Lebender.
1.2 Ausgangsituation für die nächste Generation und Forschungsfrage
Arbeiten wie jene von Radebold (2004) benennen die schädigenden zeitgeschichtlichen Erfah-rungen. Hierbei geht es um Gewalterfahrungen, Entbehrungen, um ein plötzliches Aufgebenmüssen von Heimat und Sicherheit, den Verlust von zentralen familiären Bezugspersonen und materiellen Ressourcen (Kossert 2008). Nicht zufällig lässt sich das Wort Elend direkt von der Bezeichnung für anderes Land ableiten, das wiederum zu Ausland führte[3]. Die allgemeine Grundstimmung zeigt sich laut Kossert in einem „Gefühl der Wurzellosigkeit. Sie [die Vertriebenen] fühlen sich unruhig, getrieben, unfähig, sich irgendwo langfristig niederzulassen. Sie zeigen tendenziell eine hohe Mobilität (..). Auch im Beruf und in persönlichen Beziehungen lassen Vertriebene sich oft nur unter Vorbehalt ein“ (ebd., S. 327).
Die deutschen Vertriebenen brachten in den deutschen Aufnahmeländern die Vorteile einer gemeinsamen Sprache, einer (vermeintlich) gleichen Kultur, hohen Arbeitsethos und oft gute handwerklich orientierte Ausbildung mit. Aufgenommen wurden sie aber nur widerwillig als „unerwünschte Fremde“ (Kossert, 2008, S. 12). Traumatisiert durch den Verlust der Heimat, den Tod von Familienangehörigen und bar jeden Hab und Gutes standen sie einer Front gesell-schaftlicher Ablehnung gegenüber. Restriktionen wie etwa eine untersagte oder unmöglich gemachte Ausübung des erlernten Berufes erschwerten den Neuanfang. Vollständige Integration oder Assimilation wird nach populärer Auffassung oft erst in der Enkel-Generation oder später erreicht. Inklusionen von Zuwanderern auf verschiedenen, abgrenzbaren Gebieten wie Schule, Arbeitsplätze etc. sind früher möglich.
Wie reagieren Angehörige der zweiten Generation auf die skizzierten Startbedingungen? Einige mögliche Auswirkungen lesen sich nach Kossert so: „Umgeben von einer unvollständigen Familie, verlorenen Heimaten, instabilen Eltern und einer unfreundlichen Umwelt suchten viele Vertrie-benenkinder Selbstbewußtsein über Leistung zu gewinnen. Schule und Arbeitsplatz gehören zu den wenigen Feldern, auf denen Vergleich und Rivalität möglich waren: Es zählten Wissen, Können und Erfolg, nicht Herkunft oder Besitz“ (2008, S. 332 f). War es so und was ist noch zu endecken?
Diese Arbeit betrachtet die langfristigen Auswirkungen der Vertreibung in essentiellen Lebens-bereichen der Nachkommen.
Die konkrete wissenschaftliche Fragestellung dieser Arbeit lautet: „Unter welchen Umständen fanden Schul-, Berufs- und Qualifizierungsentscheidungen von Angehörigen der zweiten und dritten Generation vertriebener Donauschwaben statt und was waren hierbei die familienstrate-gischen und generationsübergreifenden Überlegungen?“
1.3 Startvermutungen
Weil keine Forschungstätigkeit ‚im freien Raum’ stattfinden kann, werden in diesem Abschnitt thesenartig Vermutungen des Autors beschrieben, die sich auf die später erwähnte Literatur beziehen oder eigene Vermutungen darstellen. Diese Thesen sollen aus forschungshygienischen Gründen die Startvermutungen des Forschers offenlegen, sodass sie im Verlauf der Arbeit einen geringeren Einfluss auf die Qualität der Forschung haben. Keinesfalls dient die vorliegende Arbeit der Überprüfung dieser Startvermutungen. Diese teilweise zusammenhängenden Vermutungen sind:
1) Erste Generation - Erschwerter Wiederbeginn: Oft ist das Arbeiten im angestammten Beruf nicht mehr möglich. Dies führt zum Bruch in der Erwerbsbiographie der ersten Generation. Familiales berufliches Know-How wird wertlos.
2) Erste Generation - Vorteile des Freiseins vom traditionellen soziokulturellen Zugriff: Persönlich fühlt man sich frei. Denn man ist den traditionellen familialen, nachbarlichen, sozialen Erwartungen oder religiösen Normen entzogen. Die Welt der anderen (ursprüng-lichen nachbarlichen) Donauschwaben ist für die eigenen Entscheidungen nicht mehr relevant.
3) Erste Generation - Strategie der Unsichtbarkeit: Die erste Generation vermeidet bewusst alle Hinweise auf ihre Herkunft. Die Eingewanderten stehen mit den Ansässigen in einem Wettbewerb um Ressourcen (Arbeitsplätze, Wohnungen etc.). Die Strategie der Unsicht-barkeit erleichtert Inklusionen aller Art. Ebenfalls kann dadurch eine permanente gesell-schaftliche Plazierung in der Unterschicht vermieden werden. Der Preis hierfür ist die Verdrängung der Familiengeschichte, der Verzicht auf Selbsterforschung und bisweilen die unbewusste Weitergabe ungelöster Konflikte an die nächsten Generationen.
Dies wiederum macht sich in grundlegenden Lebensentscheidungen bei Schulbildung und Berufswahl negativ bemerkbar.
4) Erste Generation + zweite Generation - Nachteile der nicht mehr vorhandenen soziokulturellen Umgebung: Hierbei geht es um individuelle und kleinfamiliäre Orientierungslosigkeit in teilweise unbekannter gesellschaftlicher Umgebung. Hinzu kommt das Aufgesplittertsein ehemals geschlossener Familienverbände auf unterschiedliche Länder und Kontinente. Man ist abgeschnitten von Traditionen des Familienverbandes und dessen Know-How.
5) Zweite Generation - Anderer Weg der Integration als spätere deutsche Migranten: Wolgadeutsche siedelten 50 Jahre später aus. Jedoch: Deren „Jugendliche reagieren auf soziale Ausgrenzung nicht selten mit abweichendem, ja kriminellem Verhalten“ (Oswald 2007, S. 105, in Bezug auf weitere Quellen wie Reich 2003 oder Wierling 2003).
6) Zweite Generation – Lebensentscheidungen teilweise abhängig von Vertreibung: Wesentliche Lebensentscheidungen wie Besuch von Schulen und Wahl des Berufes haben ihre – oft einengenden - Wurzeln in jenen dramatischen Geschehnissen ab 1944.
7) Zweite Generation – Fehlendes Problembewusstsein: Der zweiten Generation ist dieser gravierende Einfluss nicht bewusst. Es sind Alterskohorten mit zerrissenen Familien-verbänden, unterbrochenen Familiengeschichten, bestenfalls rudimentärem Heimatgefühl und entsprechend fehlendem Problembewusstsein.
2 Migration
2.1 Begriffe
Migration: Infolge des komplexen Geschehens und vieler unterschiedlicher Zugänge gibt es zahl-reiche Definitionen. Als geeignet für diese biographisch orientierte Arbeit wird folgende angesehen: „Migration wird als ein Prozess der räumlichen Versetzung des Lebensmittelpunktes einiger bis aller relevanter Lebensbereiche an einen anderen Ort angesehen. Eng damit verbunden sind Erfah-rungen sozialer, politischer oder kultureller Grenzziehung (nach Oswald 2007, S. 13). Als Lebens-bereiche eines Lebensmittelpunktes wird angesehen (ebd., S. 15):
- Die Wohnung (Wohnlage, Kontakt mit Nachbarn,..)
- Die Familie (rechtlicher und gesellschaftlichre Status, Familienstruktur, Vorhandensein von Kindern, Stellung der Familienmitglieder,..)
- Arbeit/Einkommen (Erwerbsstatus, Ausbildung und Beruf,..)
- Soziales Netz (Kontakt mit Verwandten, Freunden, Bekannten, Nachbarn und Schulkollegen der Kinder)
- Kulturelle und politische Orientierung (Sprachkompetenz, Religionszugehörigkeit, Werte,..)“
Qualifizierung: Diese wird aus arbeits- und organisationspsychologischen Aspekten verstanden als eine „zielgerichtete und geplante Veränderung arbeitsbezogener und allgemeiner Fertigkeiten und Handlungskompetenzen erwachsener Menschen“ (Greif und Kurtz 1997, S. 150).
Inklusion und Exklusion: Hierbei geht es um die Chance des Individuums, an spezifischer Kommunikation von sozialen Systemen teilzuhaben. (Goeke 2007, S. 97). Die Migrationsthematik ist in vielen Ländern emotional und politisch aufgeladen. Begriffe wie Asyl oder Integration werden häufig im politischen Alltag instrumentalisiert. Es empfiehlt sich daher, in der wissenschaftlichen Diskussion neutrale Termini wie das Begriffspaar Inklusion und Exklusion anstelle oder zumindest ergänzend zum Integrationsbegriff zu verwenden. Migration kann aus dieser Sicht als Versuch verstanden werden, „durch räumliche Mobilität Inklusionschancen in soziale Systeme (meist Funktionssysteme) an bestimmten geographischen Orten zu erhöhen und zu realisieren“ (Goeke 2007, S. 101).
Generationsbestimmung: Als erste Generation werden in dieser Arbeit alle jene Personen donau-schwäbischer Herkunft bezeichnet, welche zum Zeitpunkt der erzwungenen Wanderung (1944 bis 1948) Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene gewesen waren und anschließend in den Auf-nahmeländern eine Familie gegründet hatten. Die zweite Generation sind demnach deren Kinder, die dritte Generation deren Enkel.
2.2 Allgemeine Migrationsthemen und -probleme
Migration ist ein hoch komplexes Geschehen. Mehrere wissenschaftliche Disziplinen beschäftigen sich mit Wanderungen. Neben fachwissenschaftlichen Darstellungen sind multidisziplinäre (= nur die Thematik ist gleich) und interdisziplinäre (= teilweise Verschmelzung von Methoden und Modellen) je nach Aufgabenstellung notwendig. Die meisten gängigen Disziplinen sind von Migration tangiert: Anthropologie, Beratungswissenschaften, Ethnologie, Geographie, Geschichts-wissenschaften, Pädagogik, Philosophie, Politikwissenschaften, Psychologie, Rechtswissenschaften, Soziologie (Goeke 2007, S. 15, Treibel 2008, S. 17f).
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Migration war ab Ende des 19. Jahrhunderts durch ökonomische und soziologische Makroansätze gekennzeichnet. In den letzten Jahrzehnten verschob sich der Schwerpunkt der Betrachtungen zunehmend auf Mikrosichten (überschaubare Gemein-schaften, Familien, Individuen). Zusätzlich zu den summarischen Beschreibungen von national-staatlich orientierten Gesamtströmen erfolgen nun Rekonstruktionen der Entwicklung von Gemein-schaften, Familien und Individuen - etwa in Form von Einzelbiographien. Diese Sichten auf individuelle Migrationsmuster und deren Lebenswelten ergänzen nicht nur quantitative Unter-suchungen (Goerke 2007, S. 73), sondern ermöglichen Rückschlüsse auf Strukturänderungen von sozialen Systemen (ebd., S. 100). Insgesamt zeigt jene methodische „Wendung zum Alltag“, dass Migration und Identität in der Migrationsforschung aufeinander bezogene Begriffe sind.
Migration zeigt sowohl den politischen Aufbau als auch die gesellschaftlichen Brüche unserer Welt auf. Um das Phänomen der Migration besser zu verstehen, ist daher die Siedlungsgeschichte zu betrachten. Dies inkludiert besonders eventuelle Änderungen der Herrschaftsverhältnisse (Oswald 2007, S. 43). Wichtige Gründe für eine großflächige Migration können sein:
- Notwendigkeit, Flucht vor Krieg und Bedrohung, Vertreibung
- Armut, drohende Armut, wirtschaftliche Situation
- Bereits bestehende Diaspora (gut organisierte ethnische oder religiöse Ansiedlungen)
- Klimawandel.
Die Bildung der Nationalstaaten im 19. und 20. Jh und die beiden Weltkriege des 20. Jhs. stellen den wirkenden Hintergrund und Anlass für – meist zwangsweise erfolgten – Migrationen dar. Hatten die Großreiche der Habsburger und Osmanen noch verschiedene Ethnien und Kulturen beinhaltet, so strebten die nationalen Nachfolgestaaten eine Übereinstimmung zwischen politischer und nationaler Einheit an. Das Ziel war die Homogenisierung der Bevölkerung innerhalb des jeweiligen Nationalstaates. Durch die neuen Grenzziehungen und der nationalstaatlichen Ideologien sahen sich viele kulturelle Gemeinschaften auseinandergerissen oder als Minderheiten bedroht. Die ‚nationale Wende’ mündete im 20. Jahrhundert in zahlreiche ethnische Säuberungen. Ein Fazit nach Oswald: Der Nationalismus ist ein Gruppenverhalten eigener Art, eine Form des Patriotismus, der nur in modernen Gesellschaften existiert. Diese Gesellschaften verfügen über eine schriftgestützte relativ homogene Hochkultur, auf der das Erziehungssystem basiert. Das Ziel ist, jedes Individuum hierin einzugegliedern. Gesellschaftliche Sondergruppierungenen (Clans, Großfamilien, anders-ethnische Communities, abgelegene „autonome“ Täler etc., die vom Einzelnen ebenfalls Loyalität einfordern) widersprechen diesem System (2007, S. 59). Trotz aller fundamentalen Wirkkräfte auf nationaler Ebene gilt, dass Beschreibungen auf Basis nationaler Bezugssysteme (mit Begriffen wie Integration etc.) zu kurz greifen, weil sie sowohl die Vielfalt nicht erfassen als auch in einer globa-len Welt nicht verallgemeinert werden können.
Aus familiärer und individueller Mikrosicht kann folgendes geschrieben werden: Speziell aus familialer und individueller Sicht sind die Wanderungen und dere Resultate „eine Geschichte der Entfremdung und deren Folgen“ (Scheffer 2007, S. 295). Wichtige Einzelaspekte sind:
- Es fehlt die Rechtssicherheit: Aufgrund vielfacher Erfahrungen erwarten Migranten Willkür. Diese Willkür kann unvorhergesehen sowohl im Herkunftsland seinen Ursprung haben als auch im Aufnahmeland. Verschiedene Institutionen agieren (teilweise) willkürlich: Schule, Botschaften/Konsulate, Unternehmen/Arbeitsmarkt, Sozialämter, Fremdenpolizei. Die jeweiligen Sanktionsmittel sind potenziell existenzgefährdend: Passentzug oder Gefängnisdrohung im Falle des Besuches der Heimat, Entzug der Auf-enthaltsgenehmigung, Entzug der Arbeitsgenehmigung, nicht gelingende Anerkennung schulischer Ausbildungen seitens des Aufnahmelandes etc. Die entsprechenden psy-chischen Folgen sind Rückzug, Unsicherheit, Gefühl des Steuerungs- und Kontroll-verlustes, Nichtfestlegenwollen, Unauffälligkeit, ...
- Zufälligkeit von Chancen: Die Themen und die Vielfalt von Biographien sind abhängig von den jeweiligen befassten sozialen Systemen. Biografien sind daher kontingent (zufällig, prinzipiell offen und ungewiss). Das Spektrum an unterschiedlichen Lebensläufen ist groß. Die mehr oder weniger geringen Chancen auf Mehrfachinklusion in verschiedenen Lebens-bereichen (Bildung, Arbeitsplatz...) müssen genutzt werden.
- Die Lebenschancen werden in der Schule verteilt anstelle der traditionellen Großfamilie: „Die Schule ist der wichtigste Ort im Kampf um den gesellschaftlichen Aufstieg: dort fallen wesentliche Entscheidungen über die spätere Zukunft eines Schülers“ (Scheffer 2007, S. 89). Der erfolgreiche Bildungsaufstieg (im Vergleich zu den Eltern) stellt die Erreichung eines großen Migrationszieles mancher Eltern dar. „Mit den formalen Qualifikationsniveaus der Kinder hat die Mutter ‚ihre Mission vollendet’ und kann glücklich und zufrieden sein.“ (Goeke 2007, S. 281).
- Großfamilie als Auslaufmodell: Die Großfamilie ist ein Auslaufmodell. Es verschwinden ihre Sanktionsmöglichkeiten (früher Ausschluss aus Arbeitsverband). Mögliche Folgen eines Zuwiderhandelns gegen Normen gestalten sich als harmlos (Goeke 2007, S. 253). Der Erhalt der Großfamilie als Kollektiv ist nicht mehr erstrangig. Freie Entscheidungen von Individuen oder Kernfamilie sind die Regel (Goeke 2007, S. 253).
- Mitgebrachte ursprüngliche Spannungen und Ressourcenwettbewerb: Die Eingewanderten stehen mit den Ansässigen in zwei Basisbeziehungen. Erstens dem Transfer der ursprüng-lichen Spannungen aus dem Herkunftsland und zweitens einem Ressourcenwettbewerb. „Diese Spannungen münden (..) in sog. neofeudale Absetzungen der Einheimischen nach ‚oben’ und der Zugewanderten nach ‚unten’“ (Treibel 2008, S. 179).
Um eine erste Ordnung in die Vielfalt von Motiven und Folgen von Migration zu bringen, werden unterschiedliche Dimensionen für Typologien gewählt. Für diese Arbeit ist die Dimension Ursachen und Unfreiwilligkeit von Relevanz. Demnach wird in
- freiwillige Migration wie Arbeitswanderung oder Studienaufenthalt und
- in erzwungene Migration wie Flucht, Vertreibung und Verschleppung
eingeteilt (Oswald 2007, S. 65).
Die Wahlfreiheit ist im zweiten Fall gering oder nicht gegeben. Individuelle Motive dürften hier selten sein. Ziele und Ankunftsorte ergeben sich oft aus den sozialen und familialen Netzwerken jener Personen, welche die Migration früher geschafft hatten. Die Verläufe der Flucht sind kontingent (zufallsbedingt). Für individuelles Handeln ist wenig Spielraum. Flucht ist eine Unterform von Migration, welche Spezifitäten aufweist: „Fluchtmigration ist ein Feld, das auf-geteilt ist zwischen internationaler Politik, Menschenrechtsgruppen, Hilfsorganisationen und politikwissenschaftlicher Analyse. Ein genuin soziologisches Feld ist es (bisher) nicht.“ (Treibel 2008, S. 158). Die Befassung internationaler Gremien mit Zwangswanderungen ist abhängig von der jeweiligen internationalen politischen Lage und Machtkonstellation: „Nach dem Zweiten Welt-krieg war die Frage des Umgangs mit bzw. der Repatriierung von Flüchtlingen, Vertriebenen und displaced persons zentrales Thema der Vereinten Nationen, das jedoch völlig vom Ost-West-Konflikt überlagert war.“ (ebd., S. 158). Flüchtlinge und Vertriebene wurden dementsprechend entweder ignoriert oder instrumentalisiert.
2.3 Fehlgeschlagene Migrationen der Deutschen
Deutsche Auswanderungswellen gab es im 12. Jahrhundert in das Baltikum und nach Siebenbürgen. ab dem 15. Jahrhundert zogen Deutsche sogar nach West- und Südeuropa, im 18. Jahrhundert an die untere Wolga und Südosteuropa. Die überwiegende Mehrheit der deutschen Auswanderer jedoch migrierte in die USA (Demandt 2008, S. 73 f). Die Unterschiede der Auswirkungen, Ergeb-nisse und Schicksale zwischen den beiden Großströmungen – in den fernen Westen einerseits und in das relativ nahe Ost-/Südosteuropa andererseits – sind erheblich. Die Aussiedelung in den Osten erstreckte sich über einen Zeitraum von siebenhundert Jahren, die Migration nach Amerika dauerte nur ca. einhundert Jahre. In Amerika integrierten und assimilierten sich die deutschen Einwanderer, anglifizierten ihre Namen[4] und gaben Kultur und deutsche Sprache auf. Anders im Osten: Hier „bewahrten die Deutschen ihre Kultur, sie übernahmen die Sprache, die Religion, die Sitten der Einheimischen nicht“ (ebd., S. 75).
Nach den Vertreibungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist festzuhalten: Die Jahrhunderte währende Auswanderung nach Osten wurde schlagartig wieder rückgerollt. Unter Berücksichtigung des Aufgehens der deutschen Sprache und Kultur in der attraktiven amerikanischen Kultur kann abschließend geschrieben werden: Eine Ausbreitung der deutschen Kultur außerhalb ihrer hoch-mittelalterlich-mitteleuropäischen Siedlungsgebiete ist fehlgeschlagen.
2.4 Migrationen der Donauschwaben
Versuche, auf wenigen Seiten die Geschichte der Donauschwaben müssen notwendigerweise ein Torso bleiben. Im Folgenden werden einige ausgewählte Aspekte skizziert.
2.4.1 Ökonomischer, militärischer und kultureller Auftrag der Ansiedelung
Zum Besiedelungskonzept:
Die Siege Prinz Eugens am Beginn des 18. Jahrhunderts drängten die Türken über die Donau und Save zurück. Die Wiener Hofkammer entwickelte im Zuge des Vormarsches der habsburgischen Truppen im Südosten Europas Strategien zur Neubesiedelung der kriegsbedingt entvölkerten Landstriche. Nach der Eroberung von Belgrad 1717 wurde im Friedensvertrag von 1718 Passarowitz das ganze Banat und der nördliche Teil Serbiens Österreich zugeordnet. Hierdurch gab es „gegenüber den Osmanen eine Ausdehnung und Sicherheit, wie man sie seit Jahrhunderten nicht besessen hatte“ (Braubach 1964, S. 377). Der Wiener Hof betrieb eine Siedlungspolitik, die fol-gende Ziele hatte: wirtschaftlicher Wiederaufbau, stabile demographische, kulturelle und politische Verhältnisse. Der Kaiserhof sah daher eine Kolonisierung („Impopulation“) als Kernaufgabe. Die Leitidee war, das Gebiet sowohl ökonomisch zu entwickeln als auch kulturell fest in die Habsburgermonarchie einzugliedern. „Wenn man nicht anders habe will, daß der Untertan (..) davonlaufe und das Land öde stehen bleibe“ (Braubach 1964a, S. 215) – so lauteten die Vorschlägen Prinz Eugens, das Banat direkt den Zentralbehörden in Wien und nicht Ungarn und den Ständen zu unterstellen[5]. Um die Besiedelung voranzutreiben, wurden bereits im Rahmen des Ersten Impopulatonspatentes durch Leopold I. zahlreiche Privilegien gewährt (Eberl 1989, S. 116). „Treue Untertanen“ (Kühn 2004, S. V) wurden aus dem Westen des Reiches ausgewählt. Die Ansiedelungen erfolgten in drei großen Wellen: ab 1722 unter Kaiser Karl VI., 1763-1773 unter Kaiserin Maria Theresia und 1781-1787 unter Kaiser Josef II.
Durchführung und Ergebnis:
Die Werbung von Besiedlern wurde systematisch im Südwesten des Habsburgerreiches betrieben. Die Unzufriedenheit war hier groß, denn es gab repressive politische Verhältnisse. Viele der dortigen Landesfürsten hielten ihre Untertanen als Quasileibeigene (Paszkan 2005, S. 7 f). Attraktiv für die Siedler waren Vergünstigungen wie Übernahme der Übersiedlungskosten, Gewährung von Vorschüssen und Steuerbefreiung für einige Jahre. Im achtzehnten Jahrhundert übersiedelten französisch sprechende, deutsch und im geringeren Ausmaß auch italienisch sprechende Personen. Scherer schätzt, dass eta 70 % der Donauschwaben aus dem fränkischen Siedlungsgebiet stammen und nur 25% aus dem schwäbisch-alemannischen (2009, S. 39).
Das Banat entwickelte sich „zu einem der wichtigsten kontinentaleuropäischen Migrationsräume der Neuzeit (Paszkan 2005, S. 3). Weil Ungarn, Serben und Rumänen ebenfalls dort siedelten, entstand ein multiethnisches Banat. Dieses Ergebnis war von den kaiserlichen Behörden angestrebt worden, weil man die unterschiedlichen kulturellen Fähigkeit bei der Wiedererschließung des Gebietes nutzen wollte (Cassagrande 200, S. 90). Dieses Konzept, das nicht nur das Banat umfasste, bewährte sich im 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es legte aber gleichzeitig den Keim für die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Ethnien in späteren Generationen im Gefolge des aufkommenden Nationalismus. Diese Konflikte erreichten einen traurigen Höhepunkt im zweiten Weltkrieg. Sie waren noch in den Kriegen der jugoslawischen Nachfolgestaaten Ende des 20. Jahrhunderts wesentliche Faktoren.
Abbildung 1: Gebiet ‚Donauschwaben’ Mitte 19. Jahrhundert (Senz 1993, S. 132)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zur deutschen Kultur:
Die deutsche Bevölkerung in Südosteuropa war bis 1945 überwiegend bäuerlich geprägt, wenn es auch in einzelnen Gebieten eine größere Differenzierung gegeben hatte (Eberl 1989, S. 191). Wie schon erwähnt, waren die Siedler im 18. Jahrhundert hinsichtlich ihrer Treue zum Hause Habsburg und ihres katholischen Glaubens ausgesucht gewesen. Dieser Selektionseffekt ist bis heute spürbar. Blicke auf Internetseiten oder Aussendungen von Vertriebenenvereinen im deutschen Sprachraum zeigen Darstellungen, die eine – gelegentlich idealisierte - deutsche Kultur hochhalten, welche auf Vorstellungen der Romantik basieren. Die Themen sind Arbeit, Gewissenhaftigkeit, soziale Ordnung und Familie. Alle Muster sind religiös durchwirkt. Eine ehemals populäre Metapher[6] dieser, besonders in Südosteuropa tradierten deutschen Kultur stellt Schillers ‚Lied von der Glocke’ dar. Das Gedicht beschreibt einerseits in einer Struktur- und Rahmenhandlung handwerkliches Tun, diszipliniert-künstlerische Meisterschaft und andererseits darin verwoben gelingendes Familien-leben mit klaren geschlechtlichen und altersbezogenen Vorgaben und Rollen[7]: Jeder weiß, was er zu tun hat. Ein so geführtes Leben überdauert äußere Katastrophen wie Feuer, Tod und Revolutionen. Nicht zufälligerweise entstand dieses Gedicht 1799, am Beginn der Romantik.
2.4.2 Das Besiedlungsbeispiel von ‚Drei Banater Schwestergemeinden’
Die Ansiedlung von St. Hubert, Charleville und Soltur im Banat (im Westen von Temeschwar) erfolgte überwiegend in den Jahren 1769 und 1770: „Die Anlegung der Ortschaften wurde sorg-fältig geplant, wie aus den nachstehenden Fotokopien der Ansiedlungspläne deutlich abzulesen ist“ (Kühn 2004, S. V). Diese sorgfältige Planung umfasse nicht nur Anordnung der Gebäude, sondern beeinhaltete auch kulturelle Inhalte wie Vorgaben an die Berufe der Ansiedler, Mindestmaß an Institutionen je Ort etc.
Abbildung 2: Ansiedelungspläne von zwei der drei Schwesterngemeinden inklusive Hausnummern
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Gemäß dem kulturellen Auftrag mussten in Ansiedlungsorten bestimmte Einrichtungen aufgebaut werden. Daher wurden in jedem Ort in der Mitte eine Kirche, ein Pfarrhaus, eine Schule und am Dorfrand eine Mühle errichtet. Ebenso hatten in jedem Ort Arzt, Schulmeister und Gemeinde-schreiber vorhanden zu sein. Rechtsstreitigkeiten wurden durch einen Schulzen (Richter) behandelt (ebd., S. VII). Der Großteil der Besiedler waren Bauern. Jede Ansiedlung verfügte über Professio-nisten, also hauptberufliche Handwerker wie Schmiede, Zimmerleute etc. Die Ansiedler in den drei Dörfern kamen überwiegend aus dem Westen des Habsburgerreiches, vor allem aus Elsass-Lothringen. Der Herkunft nach sprachen die Kolonisten französisch oder deutsch: „Die Zuteilung der Häuser erfolgte gesondert nach der Volkszugehörigkeit. Entsprechend nannte man die Gassen Franzosen- oder Deutschengasse“ (ebd., S. VIII). Die Familiennamen der Erstsiedler entstammten überwiegend der französischen Sprache. Auch alle drei Ortsnamen des vorgestellten Ansiedlungs-beispiels waren dem Französischen entlehnt.
Fazit: Wie erkennbar wird, war von Anfang an eine selbstgenügsame, relative autarke Welt im Kleinen vorgesehen, in welcher die Bewohner vor allem aufeinander selbst bezogen leben. Ein Zusammenleben mit anderen Ethnien war dadurch erschwert worden. Akkulturation, das Über-nehmen von Traditionen anderer Ethnien, war nicht eingeplant gewesen.
2.4.3 Nationalbewegungen, Vertreibung und Ankunft in den Aufnahmeländern
Bis zum zweiten Weltkrieg:
Die deutschen Siedler wurden im 19. Jahrhundert im Zuge des aufkeimenden Nationalismus „als Fremdlinge empfunden, hatten Anfeindungen und Zurücksetzung zu erdulden“ (Demandt 2008, S 75). Um nur einige Punkte herauszugreifen: Ungarn erhielt ab 1867 im Rahmen der Doppelmonarchie Österreich-Unganrn die Kontrolle über die Siedlungsgebiete der Donauschwaben und übte einen starken Druck zur umfassenden Magyarisierung aus. Nach dem ersten Weltkrieg wurde das multiethnische Banat auf drei Nachfolgestaaten aufgeteilt, die sich formal nationalistisch gaben, obwohl sie viele multiethnische Komponenten in sich vereinten. Die Stellung deutscher Siedler verschlechterte sich weiter. So traf im Rahmen eines Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen eine Bodenreform besonders die donauschwäbische Bevölkerung (Casagrande 2003, S. 130).
Die Sammelbezeichnung ‚Donauschwaben’ wurde 1922 und 1923 von den beiden Geographen Hermann Rüdiger vom Stuttgarter Institut für das Deutschtum im Ausland und Robert Sieger, dem Inhaber des Lehrstuhls für Geographie an der Universität Graz geprägt. Die dort lebende Ethnie der Deutschen bezeichnete sich selbst so nicht. Sie wurden von den ungarischen und slawischen Nachbarn tendenziell abschätzig ‚Schwaben’ genannt. Der Begriff ‚Donauschwaben“ erfuhr in den unmittelbar folgenden Jahren eine starke politische Aufladung. Dies gilt insbesondere für die Zeit nach der Herrschaftsübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland (Drozdik-Drexler 2009 und Scherer, 1966, S. VII) und den Jahren des Weltkrieges. Ein Ergebnis dieser und vieler anderer Faktoren: „Diese Verknüpfung von Donauschwabentum, Deutschsein und Nationalsozialismus ermöglichte dem Dritten Reich einen immer größeren Zugriff auf die donauschwäbische Bevölkerung.“ (Casagrande 2003, S. 142).
Die Enteignung und Vertreibung ab 1945 ist in einem engen Konnex mit den Ereignissen in den unmittelbar vorhergehenden Jahren zu sehen. Betrachtet man die veröffentlichte Literatur zu diesen Jahren, ist der Eindruck eines nach wie vor emotional ‚verminten’ Zeitraumes nicht wegzuwischen. Eine akademischen Zitiergepflogenheiten entsprechende und ausgewogen erscheinende Beschreibung ethnischer, politischer und militärischer Ereignisse ist im Kapitel „Die Banater Schwaben 1941-1945“ im eben zitierten Werk von Casagrande zu finden (S. 155–322).
Allgemeines zur Vertreibung und Umstellungsprobleme in den Aufnahmeländern:
Das 20. Jahrhundert gilt aufgrund der zahlreichen Migrationen durch Flucht und Vertreibung als das „Jahrhundert der Flüchtlinge“ (Oswald 2007, S. 64). Mehr als 14 Millionen Deutsche mussten während der letzten Kriegsmonate und nach 1945 ihre bisherige Heimat, in welcher sie und ihre Vorfahren Jahrhunderte gelebt hatten, verlassen. Circa 2 Millionen Menschen überlebten die Flucht und Vertreibung nicht: „Abgesehen von der Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden hat nichts, was auf die NS-Wahnherrschaft zurückzuführen ist, der deutschen Gesellschaft so schwere Wunden geschlagen und das Land so versehrt“ (Kossert 2008, S. 9).
Die Aufnahme dieser riesigen Anzahl besitzloser Menschen bedeutete eine große Belastung für die, nach dem Krieg am Boden liegende deutsche und österreichische Gesellschaft. Dass man die Schwere dieser Ereignisse viele Jahre nicht sehen wollte, ist an den verharmlosenden Bezeich-nungen jener Zeit abzulesen: Aussiedler, Ausgewiesene, Heimatverwiesene oder Heimatlose. Die Überlebenden der Vertreibung kamen aus überwiegend ländlich-traditionell strukturierten Dörfern. Sie mussten nicht nur die traumatisierenden Vorgänge von Krieg, Enteignung, Lagerinternierung und Flucht bewältigen, sondern auch den Umstieg von Traditionalität ins Moderne. Siehe auch die Abbildung auf Seite 24
3 Migrationstheoretische Ansätze
Aufgrund des erkundenden Ansatzes dieser Forschungsarbeit und der nicht vorhersehbaren Spezifität biographischer Erzählungen wurde kein bestimmtes theoretisches Modell vorab gewählt. Im Folgenden wird vielmehr Wert gelegt, eine Übersicht über Faktoren und Probleme bei Migrationen zu ermöglichen. Außerdem stellen diese Modelle eine Kurzfassung zum Erkenntnis-stand der Migrationsforschung dar. Sie können auch als Werkzeugkasten angesehen werden können, der für bestimmte Themen unter Beachtung der spezifischen Annahmen jeweils geeignete Instrumente anbietet.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche theoretische Modelle zu den Wanderungen von Menschen formuliert. Die Diskussionen um diese Modelle brachten die Erkenntnis, dass ein Konzept allein nicht die Ursachen dieser existenziellen Vorgänge erklären kann. Die Modelle werden in Makro- und Mikromodelle unterteilt. Makromodelle formulieren auf gesellschaftlicher Ebene, können unter Umständen auch zu Top-down-Sichten (auf kleinere Einheiten bezogen) benutzt werden. Mikromodelle beschreiben individuelle oder gruppenorientierte Sichten. Sie können zu Erklärungen herangezogen werden, die auch Bottom-up-Sichten ermöglichen.
3.1 Soziologische Makromodelle
Der Brite E.G. Ravenstein konzentrierte sich Ende des 19. Jh. auf die Wanderungsmotive, den zurückgelegten Entfernungen, den Umverteilungen zwischen Regionen und den geschlechtlichen Unterschieden. Er formulierte „Gesetze“ und stellte sie Migrantentypen gegenüber. Aus heutiger Sicht fehlen besonders die Migrationsarten (Oswald 2007, S. 67). Seine Beobachtungen lassen sich natürlich nicht zu Gesetzen verallgemeinern.
Neoklassische Push- und Pullmodelle sind weitere frühe Ordnungsversuche. Hierbei wird unterschieden zwischen Faktoren, welche 'wegdrücken' (push) führen und Faktoren, welche anziehend (pull) wirken. Zugrunde gelegt ist ein wirtschaftlich rationalisiertes Menschenbild, wonach ein homo oeconomicus seinen Gewinn maximiert, indem er sich für jenes Land entscheidet, wo sein Nettogewinn am größten ist. In das Modell fließen Beschäftigungs- und Einkommens-kennzahlen ein (Treibel 2008, S. 40). Kritik: Menschen sind nicht so rational, wie es diese Modelle vorsehen: Entscheidungen werden häufig nicht von Einzelnen getroffen, sondern von Familien oder sie werden durch Gewalt von außen erzwungen. Auch die häufig anzutreffende Kettenmigration - in deren Rahmen Menschen entlang bestehender sozialer Beziehungen wandern (Oswald 2007, S. 72) - widerspricht den ökonomischen Push- und Pullmodellen. Soziologischen Ansprüchen genügen sie daher nicht. Anthropologisch wird überdies eine Neigung zum Verbleib am angestammten Ort angenommen (Treibel 2008, S. 43).
Die Migrationsforschung handelt zunehmend vom Begriff Ethnizität. Ethnie bezieht sich auf den Unterschied zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Die eigene Herkunftssprache und die eigene, ursprüngliche Enkulturation ermöglichen dem Menschen, das Leben zu bewältigen. Diese grundlegenden Aspekte und deren Zusammenhänge werden in verschiedenen Ethnizitätstheorien beschrieben. Ethnie spricht eine deutlich übergeordnete, vom Einzelnen aber mit ihr noch identi-fizierbare Ebene an. Das Ethnische deutet auf einen erweiterten Lebenskreis und ist als Ebene über den Familienverbänden und unterhalb des Staatlichen anzusiedeln. Um sich im Anschluss an eine Migration in einer anderen Kultur zu bewegen, bedarf es sowohl langer Einübung als auch einer teilweisen Resozialisation. Verschiedenen Interaktionsarten wie Konflikt, Wettbewerb oder Kooperation zwischen Ethnien untereinander oder zwischen Gesamtgesellschaft in den Ankunfts-ländern und einzelner Ethnie sind möglich. Eine häufig vorzufindende Einstellung ist der Ethno-zentrismus: „Die eigene Gruppe gilt als der Nabel der Weltund als Maßstab des richtigen Ver-haltens.“ (Abels 2002, S. 286).
Beim systemtheoretischen Ansatz geht es um die weitwinkelartige Schau auf die globale Welt-gesellschaft. Diese Schau basiert auf der Systemtheorie nach Luhmann: „Die moderne Gesellschaft hat die Form der Weltgesellschaft und kann nur noch als solche begriffen werden“ (Goeke 2007, S. 78). Migration wird als soziale Evolution angesehen (ebd., S. 76). Hierbei geht es um ein Verständ-nis der Fakten und ihrer Folgen durch die sich im System Bewegenden, quasi als moderne säkulare Anwendung von Spinozas sub specie aeternitatis[8].
3.2 Soziologische Mikromodelle
Einige Bemerkungen zu häufig verwendeten Begriffen:
Manche der in der Migrationsliteratur häufig verwendeten Begriffe stellen zwar keine explizit ausformulierten Modelle dar, sie verbinden aber assoziativ relevante Positionen des Einzelnen mit Gruppenzugehörigkeit. Stillschweigend wird als Ausgangspunkt angenommen, dass der Migrant sich im ‚Niemandsland’ zwischen der Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft befindet. Alternativen Positionen können sein: Fremdheit, Entwurzelung oder Marginalität. Der Begriff Fremdheit zeigt eine ambivalente Position zwischen außen und innen, eine Position, die möglicherweise bereits eine Vorstufe zur Assimilation darstellt (Treiben 2008, S. 104f). Der Begriff Entwurzelung verweist auf mögliche dramatische Folgen der Leere, Entfremdung und Orientierungslosigkeit. Marginalität oder Randständigkeit bedeutet, auf Dauer sich weder zur einen Gesellschaft noch zur anderen zu-gehörig fühlen (ebd. S. 107).
Einiges zu Assimilationsmodellen:
Die dauerhafte Verlegung des Lebensmittelpunktes in eine andere Gesellschaft und damit zumeist in eine andere Kultur erfordert die Bewältigung zahlreicher Umstellungs- und Entwicklungs-aufgaben. Diese Aufgaben benötigen Zeit und gelingen oft erst den Nachkommen von Immi-granten. Ein erstes Generationenmodell formulierte die Chicago School (Park 1950 und Thomas/ Znaniecki 1972, zitiert nach Oswald 2007, S. 94). Es umfasst im Wesentlichen drei Generationen: Die erste Generation gewöhnt sich äußerlich an die neue Lebenssituation. Die zweite Generation hat die Aufgabe, einen Weg zwischen den Werten ihrer Eltern (der Herkunftskultur) und den damit oft inkompatiblen Werten der nun gegebenen sozialen Umgebung (der Ankunftskultur) zu finden. Erst die dritte Generation schafft den Akkulturations- und Assimilationsprozess endgültig. Kritisiert werden dieses und ähnliche Modelle sowohl in der Annahme einess unvermeidlichen und irre-versiblen Ablaufes dieser Vorgänge als auch in der finalen Vorgabe einer Akkulturation /„Einschmelzung“ (Oswald 2007, S. 96). Es wurden daher auch partielle Assimilationsmodelle entwickelt. Interessant ist im Rahmen einer erklärenden Soziologie die folgend skizzierte Integrationstheorie von Hartmut Esser. Es ist ein Beispiel eines differenzierten Assimilations-modells, das Aspekte aus verschiedenen Disziplinen, insbesondere der Psychologie einbezieht. Der Einzelne gliedert sich in der neuen Umgebung in Phasen mittels vieler Lernprozesse ein. Am Anfang überwiegt zweckorientiertes Handeln. Am Ende zeigt das Individuum internalisierte Einstellungen, wenn letzten Endes die Werte der Aufnahmegesellschaft übernommen worden sind. Dieser Prozess ist störungsanfällig und vom aufnahmegesellschaftlichen Kontext abhängig. Quelle für nachstehende Abbildung: Esser 1980, S. 221, zitiert nach Oswald 2007, S. 111.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Die vier Assimilationsphasen nach Hartmut Esser
Sehr oft führt die Migration vom Land in die Stadt. Hier stellt sich insbesonders das Thema eines Umstieges von einer traditionellen Gesellschaftsform in eine moderne. Die Schwierigkeiten dieses Umstieges sollen an der folgenden Gegenüberstellung der unterschiedlicher Gesellschaftssysteme aufgezeigt werden (nach M. Rainer Lepsius 1977, S. 16f, zititert nach Treibel 2008, S. 14):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Ausprägungen von Traditionalität und Modernität nach M. Rainer Lepsius (1977)
Es ist verständlich, dass „Das Ringen um eine Identität zwischen Hier und Dort das Heimisch-werden in der fremden Umgebung oft geradezu unmöglich [machte]“ (Kossert 2008, 12).
Zum Ansatz der Migrantennetzwerke:
Hierbei geht es um kulturspezifische psychosoziale Netzwerke, welche eine emotionale, kognitive, soziale und materielle Versorgung von Migranten bieten. Netzwerkmodelle wurden erst in letzter Zeit entwickelt. Sie beschreiben und teilen noch rudimentär ein (Kizilhan 2007, S. 56 ff). Kennzeichnend ist ein Mix aus Emmigrations- und Immigrationskultur. Für bestimmte Kompe-tenzen werden Know-How und Institutionen beider Kulturen kontingent für Konfliktlösungen oder Hilfestellungen in Anspruch genommen. Vertrauensbasierte Kommunikation findet in privaten Netzwerken, welche familiär und außerfamiliär sein können, statt. Die Modelle beschreiben das Handeln von Akteuren, die Kooperation oder Konkurrenz beeinhalten (ebd., S.63). Aufgrund der Resultate jüngerer Migrationsstudien ist „die Bedeutung der Beziehungs-Netzwerke als so groß anzusehen, dass die anderen Faktoren bzw. Hypothesen dagegen ‚verblassen’“ (Treiben 2008, S. 42).
Zu einem generationenübergreifenden Phasenmodell:
Carlos Sluzki stellte 2001 ein kultur- und generationsübergreifendes Modell psychischer Phasen von Belastungen, Risiken und Anpassungsprozessen vor. Im Falle freiwilliger Migration sind die ersten drei Phasen (Vorbereitung, physische Migration, Überkompensation) durch ein psychisches Hoch gekennzeichnet. Im Falle erzwungener Migration „bleibt wenig Zeit zum Abschiednehmen, Packen, Planen. Die Zukunft erscheint sehr ungewiss, nicht kontrollierbar und nicht vorhersehbar.“ (Schouler-Ocak 2007, S. 84). Es folgen – oft erst nach mehreren Jahren - die Phasen der ernüch-ternden Dekompensation und Trauerzeit. In der anschließenden Phase der generationsübergrei-fenden Anpassungsprozesse werden herkunftskulturell typische Werte und Normen in Frage gestellt und in ein neues bikulturelles Gleichgewicht gebracht. Diese Phase bezieht in der Regel die zweite und dritte Generation mit ein. Das kann zu entsprechenden intergenerationalen Konflikten führen.
Zu Modellen der Ausbildungs- und Berufswahlentscheidungen:
Frühe mikrosoziologische Theorien zur Berufwahl kehren vor allem die Bedeutung der sozialen Schicht als wirkenden Faktor nach dem einfachen Konzept „Wie der Vater, so der Sohn“ heraus (Williams 1997, S. 194). Psychologische Theorien stellen hingegen Eigenschaften der Person und ihre Interessen in den Vordergrund. Eine dynamische Zusammenfassung und Weiterentwicklung dieser beiden Theorienstränge bieten Laufbahntheorien. Ihre Formulierungen beziehen sich auf Altersstufen, in welchen Entwicklungsaufgaben bewältigt werden sollen, und auf Laufbahn-übergänge (ebd., S. 194 f).
3.3 Psychologische und therapeutische Modelle
Einiges zu sozialpsychologischen Modellen:
Die Modelle des sozialen Lernens beziehen sich darauf, dass wesentliche Teile des menschlichen Verhaltens an Personen oder Gruppen orientiert sind. Beide im Folgenden kurz angerissenen Modelle implizieren die Annahme des Vorliegens einer Kontrollmotivation. Für die Zwecke dieser Arbeit lassen sich ein eher passives und eine eher aktives Modell unterscheiden:
- Tendenziell passiv: Ein bekanntes behavioristisches Modell ist das der erlernten Hilflosigkeit. Hierbei geht es um die Wahrnehmung der Unkontrollierbarkeit bestimmter Situationen und deren Generalisierung: „Eine solche wahrgenommene Nichtbeeinflussbarkeit beeinträchtigt die Motivation (in Richtung Passivität, Lethargie), Lernprozesse (erlahmendes Kontingenzlernen und die Gefühle (in Richtung Traurigkeit, Depression, Ohnmacht, Ausgeliefert-Sein“ (Fischer und Wiswede 2002, S. 77). Aufgrund der vielfach gemachten Erfahrungen von Willkür und Rechtsunsicherheit könnte das Modell der erlernten Hilflosigkeit von Nutzen sein, insbesonderen in der gemäßigten Form der erlernten Unsicherheit, wenn beide Ehepartner Migranten sind.
- Tendenziell aktiv: Nach dem Modell der sekundären Kontrolle wird der Versuch unternommen, das Beste aus einer bestimmten Situation zu machen oder Kontrolle auf einer anderen Dimension, als der gegenwärtig relevanten, zu erlangen. Beispielsweise können andere Personen instrumentalisiert werden (ebd., S. 76 f).
Zum Traumamodell:
Migration wird oft als traumatische Erfahrung empfunden, die sich im Rahmen eines psychischen Langzeitprozesses manfestiert. Dies gilt insbesondere für Kinder und junge Erwachsene, weil deren Verletzlichkeit gegenüber Erwachsenen deutlich größer ist. Wohlfahrt et al. (2007, S. 121 f) beschreiben einen dreiphasigen Prozess:
- Erste Phase der Tramatisierung: Gefühle des Schmerzes und Angst vor dem Unbekannten. War Verfolgung und Flucht die Ursache für die Wanderung, „so herrschen Gefühle des Misstrauens, paranoide Ängste und Phantasien der Alltagsverfolgung sowie Erfahrungen der Einsamkeit, Entehrung und der Schutzlosigkeit vor“ (ebd., S. 122).
- Zweite Phase des Übergangs: Die Erinnerung abgespaltener, verdrängter und verleugneter Gefühle kommt hoch.
- Dritte Phase einer weiteren ungestörten Ich-Entwicklung: die Lust am Denken, Wünschen, Planen und Handeln kehrt zurück. Die Trauerarbeit wurde positiv bewältigt.
Die besonderen Anforderungen und Belastungen für Kinder sind: Erlernen der neuen Sprache, Erwerb einer neuen Kultur, Fremdheitserfahrungen in Schule und öffentlichem Raum, ein Abbruch und Verlust wichtiger Beziehungen. Erschwert wird dies dadurch, dass die Eltern oder älteren nahen Angehörigen den Kindern keine Kompetenzen zu einer adäquaten Bewältigung vermitteln können (Wohlfahrt et al. 2007, S. 124 f).
Eine für Kriegsteilnehmer und Vertriebene besonders relevante Form einer traumatischen Störung, die ein Leben lang anhalten kann, ist die Posttraumatische Befindlichkeitsstörung (PTBS). Diese schwere Störung bleibt gleichsam in der ersten Phase der Traumatisierung – wie oben angegeben - stecken. Nach der Untersuchung von Joannidis ist bei Flüchtlingen und Vertriebenen mit rund zwei Drittel der PTBS-Anteil sehr hoch! Insbesondere kommt es zur Ausbildung intrusiver Kompo-nenten (unwillkürliche, überwältigende und belastende Erinnerungen, dichtes Gefühl als passiere es jetzt), einem Vermeidungsverhalten, emotionaler Betäubung und einem erhöhten Erregungs-niveau (2003, S. 195ff). Eine detaillierte Definition von PTBS ist im Anhang A ab Seite 93 zu finden.
Von allen gemeinsamen Definitionen zu traumatischen Situationen (Joannidis 2003, S. 18 ff) werden zum Thema Verfolgung diese Folgeerscheinungen als wichtig genannt:
- Die dauerhafte Erschütterung von Welt- und Selbstverständnis. „Gefolterte und Vertriebene werden nicht nur mit der menschlichen Grausamkeit konfrontiert, sondern erleiden weitgehende Verluste und Brüche, die mit dem Verlust von Freunden und Verwandten beginnen und bis zum Bruch mit der kulturgebundenen Identität und zum Verlust des früheren, gesunden Selbst reichen. Die Gewalt der Folter und der Vertreibung zielt auf die Zerstörung nicht nur der individuellen, sondern auch der gesellschaftlichen und kulturellen Identität des Menschen ab. Des Weiteren werden die Vertriebenen sowohl auf der Flucht als auch im Aufnahmeland mit weiteren Belastungen und Gefahren konfrontiert, die oft als Wiederholung der ersten Traumatisierung erlebt werden und die erschütterte Identität erneut destabilisieren.“ (Lueger-Schuster, 1998, zitiert nach Joannidis 2003, S. 20).
- Weitere Belastungen im Exilleben mit potenziell traumatischem Charakter sind: das Entwurzelungsgefühl, der Statusverlust, die soziale Isolation, die Sprachbarrieren, die Beschäftigungs- und Arbeitslosigkeit, die ungünstigen Wohnbedingungen, die schlechten Bildungschancen, die Diskriminierungserfahrungen durch die Behörden oder die einhei-mische Bevölkerung, die gesetzliche Ungewissheit sowie die Adaptionsschwierigkeiten.
Daran können Kriegsteilnehmer und Vertriebene ein Leben lang leiden. Wie wird damit umgegangen? Nach Yehuda und Mc Farlane haben die Bewältigungsstile (coping strategies), die Familiengeschichte und die Reaktion der Umgebung eine sehr große Bedeutung (Hinweis nach Joannidis 2003, S. 54). Im Falle der Donauschwaben spielen daher nicht nur die unmittelbaren Geschehnisse der Enteignung und Vertreibung eine Rolle, sondern auch die Ereignisse in den unmittelbaren Kriegsjahren davor und die Art der Bewältigung (Verdrängung, Tabuisierung, Un-sichtbarmachung, Selektivbetrachtung,...) dieser Zeit in den Familien später in den Ankunfts-ländern.
Zum Mehrgenerationenmodell der Systemischen Therapie:
Hierbei geht es um unsichtbare Bindungen, die über Generationen wirken. Angenommen werden Vermächtnisse und Delegationen, die aus vorhergehenden Generationen stammen. Das Verhalten, die Symptome und das Erleben von Einzelpersonen ergibt Sinn, wenn nicht nur horizontal der rezente Familienverbund angesehen wird, sondern vertikal vorhergehende Generationen und deren Erlebnisse, Themen und fortwirkende Aufgaben einbezogen werden. Es werden Fragen gestellt: Welche Vermächtnisse mögen das sein, wie ist der konkrete Inhalt familiärer Delegationen, welche transgenerationale ‚Konten’ gibt es im Speziellen, inwieweit wurden sie gelöst oder nicht gelöst? Siehe als Überblick Schlippe und Schweitzer (2003, S. 20 ff).
Zur Sehnsucht als Kompensationsmodell:
Sehnsüchte können verstanden werden als „wiederkehrende, intensive Wünsche nach idealen, alternativen Realisierungen und Zuständen des Lebens, welche weit weg oder unerreichbar sind.“ (Kotter-Grühn 2008, S. XI). Sie aktivieren potenziell kognitive oder emotional gefärbte Reflexionen oder beurteilende Prozesse, in denen ein Ist mit einem Soll verglichen wird. Wichtige Bereiche, in welchen sich Sehnsüchte manifestieren sind im Selbst und in der nahen sozialen Umgebung lokalisiert wie Arbeit und Freizeit. Es wird angenommen, dass Sehnsüchte auf Blockierungen bei Lebenszielen verweisen und im Sinne kompensatorischer Strategien positive Funktionen der Verlustregulation haben (ebd. S. XIII und XVIII).
4 Zur empirischen Forschung dieser Arbeit
4.1 Auswahl der Methode
Die komplexe Migrationsthematik ist mit traditionellen quantitativen Methoden kaum zu fassen (so etwa Oswald 2007, S. 23 ff). Weil es überdies um die Innensicht der Betroffenen geht, wurde für eine qualitative Vorgehensweise entschieden. Als Methode wurde das narrative (biographische) Interview in der Tradition von Fritz Schütze (1983) gewählt. Das narrative Interview wird all-gemein als sehr geeignet zum Erfassen von biographischen Vorgängen angesehen. Insbesondere dann, wenn „der Informant selbst handelnd oder erleidend in dem Vorgang involviert war“ (Küsters 2005, S. 33). Der Interviewte hat hier ausreichend Gelegenheit, seine eignen, kognitiv gebildeten und emotional gefärbten Handlungsabläufe und –figuren darzulegen.
4.2 Methode der narrativen Interviews
Die Grundidee eines narrativen Interviews ist, das Thema (die Frage) als zusammenhängende Geschichte vom Auskunftgeber erzählen zu lassen. Der Interviewer selbst legt sich hierbei eine methodische Zurückhaltung auf, indem er nicht vorstrukturierend und damit lenkend durch Art, Inhalt bzw. Reihenfolge konkreter Fragen eingreift (Flick 1999, S. 116). Diese Methode eines offenen Interviews wurde von Fritz Schütze 1983 eingeführt und könnte auch als Wiederent-deckung eines (vorerst) einfachen Zuhörens angesehen werden. Thematische Interventionen seitens des Forschers werden vermieden. Entscheidend ist die Stegreifbericht des Erzählers. Der Erzähler stellt nicht nur beschreibend dar, sondern er interpretiert durch Auswahl und Umfang der erzählten Punkte selbst. Erst im Abschlussteil sind Bilanzierungs- oder Rückgrifffragen durch den Forscher erlaubt und sinnvoll. Nach Schütze (1983, S. 284 f; 1987, S. 77 und 99 f) lassen sich in Narrationen klar trennbare Erzählsegmente (Erzählschichtungen) feststellen. Die Auswertungsbasis ist ein Finden/Zuordnen/Trennen dieser Segmente. Spätere Schritte der Analyse beziehen sich auf das Entwickeln von Arbeitshypothesen auf Basis eines Segmentes. Diese Arbeitshypothese wird anschließend sowohl innerhalb von Einzelerzählungen als auch zwischen den Erzählungen auf Plausibilität überprüft. Die Erzählung wird mittels auditiver (eventuell auch visueller Hilfsmittel) aufgenommen und anschließend einer (Text-)Analyse zugeführt.
Zu den Vor- und Nachteilen:
Die Vorteile von narrativen Interviews können kurz so umschrieben werden: Der Erzählung samt inkludiertem Sinn wird Vorrang eingeräumt. Dies kann als eine, die berichtende Person besonders respektierende Form des symbolischen Interaktionismus angesehen werden. Es gibt Hinweise, als könnten nichtdirektive Methoden in einigen Bereichen[9] verlässlichere oder detailliertere Aussagen bieten als direktive Methoden. Als Nachteil gilt eine methodische Abhängigkeit von der Sprach- und Erzählkompetenz der berichtenden Person. Die erzählerische Kompetenz kann unter Umständen so gering ausgebildet sein, sodass die narrative Methode nicht greift. Die Erzähl-kompetenz kann andererseits im Falle gebildeter und eloquenter Personen so gut ausgebildet sein, dass sich Interviews nur vermeintlich wie Stegreiferzählungen darstellen (Küsters 2005, S. 35 f). Das Nichtbeachten der Methode an der Erzeugung der Daten gilt als zentraler Kritikpunkt[10].
Aus zwei Gründen wurde in dieser Arbeit eine von der klassischen Form abweichenden Ausgestaltung der narrativen Interviews gewählt:
- Ethische Überlegungen: Jedes Gespräch ist als soziale Einheit aufzufassen, daher wurde vermieden, extrem lange Schweigephasen, die zu übertriebenen Sprechzwängen führen, entstehen zu lassen. Nach meiner Meinung kann ein starres Aufrechterhalten der Sprech-zwänge in bestimmten Fällen zu einem Schweigewettbewerb zwischen Erzähler und Interviewer führen. Die möglichen nachteiligen Konsequenzen können die Motivation des Erzählers beeinträchtigen, das angestrebte Gleichgewicht zwischen den beiden Gesprächs-‚Partnern’ verändern und damit unergiebigere oder weniger zutreffende Ergebnisse zeitigen.
[...]
[1] Je nach Einbezug jener Nachkommen der zweiten Generation, die nur einen Elternteil als Donauschwabe haben.
[2] Kaiser-Kaplaner schreibt 1998 von 120.000 lebenden Donauschwaben in Österreich, ohne allerdings eine entsprechende Definition anzugeben (S. 14). Die beiden zahlenmäßig wichtigsten Länder sind Deutschland mit rund 520.000 und USA & Kanada mit rund 350.000 1998 noch lebenden Donauschwaben.
[3] Mittelhochdeutsch ellende = „anderes Land, Verbannung, Not, Trübsal“, Drosdowski, 1989, S. 152.
[4] Bezeichnenderweise gehäuft während des ersten und zweiten Weltkrieges. Das sich von außerhalb bietende ethische Bild muss für die deutschen Migranten ein unvorteilhaftes gewesen sein.
[5] Was vermutlich für die Siedler eine Migration vom Regen in die Traufe bedeutet hätte: Von den repressiven politischen Verhältnissen in Süddeutschland zu intensiv gängelnden Abhängigkeiten im ungarischen Raum.
[6] Hinweis von Demandt 2008, S. 78.
[7] Dieser Absatz wurde erst nach der Durchführung des empirischen Teils dieser Arbeit und der Ergebnisse verfasst. Der Autor dieser Arbeit war überrascht vom unerwartet hohen Einfluss der traditionellen Frauenrolle, wie sie die Auskunftspersonen für sich oder für die vorherige Generation beschrieben.
[8] Buchstäblich: „Aus der Sicht der Ewigkeit“. Es schließt ein Loslassen von möglichen Fixiert-heiten auf Einzelthemen, ein begleitendes Zurücktreten und ein inhaltlich sowie zeitlich umfas-sendes Betrachten von Gesamtbewegungen ein. So abstrakt und individuumsfern dieser Ansatz auf den ersten Blick erscheint, er kann aus therapeutisch-lebensphilosophischer Sicht dem Einzelnen intellektuelle Ruhe und Stabilität bieten.
[9] Tests in französischen Untersuchungen zur Zeugenforschungs ergaben spezifischere Formen der narrativen Methode (etwa die Zeugen zusätzlich die Ereignisse rückwärts, vom Ende der Tat, erzählen zu lassen). Diese brachten bei gleicher Qualität „im Mittel 30% mehr Information“ (Py & Demarchi, 2005, S. 64). Beschreibungen des Tätergesichtes ergaben „im Vergleich zur klassischen Vernehmungsmethode doppelt so viele korrekte Informationen über einen Verdächtigen und halbiert[en] zugleich die Irrumtsrate“ (ebd.).
[10] Grundsätzliche erkenntnis- und erzähltheoretische Annahmen des narrativen Verfahrens – wie Korrespondenz der Erzählgestalt mit dem Erfahrungsprozess, der vorgeblich besonderen Authentizität des Datenmaterials - sind nicht ausreichend geprüft (Küsters 2005, S. 35 ff). Die Interviewsituation ist insofern künstlich, als eine hohe Asymmetrie in der Verteilung des Rede-rechts besteht (Küsters 2005, S. 26). Nicht zuletzt führt diese Methode zu einem erheblichen Feld- und Analyse-Aufwand, der gelegentlich nur zu wenigen Rekonstruktionen führt (Flick 1999, S. 226).
- Quote paper
- Reinhard Neumeier (Author), 2009, Schul-, Berufs- und Qualifizierungsentscheidungen von Angehörigen der zweiten und dritten Generation vertriebener Donauschwaben, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141116
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