Was geschieht in der Musiktherapie in einer psychosomatischen Klinik für Erwachsene? Die psychotherapeutischen Grundvoraussetzungen der Gruppentherapie und einige unterschiedliche - hier relevante - Richtungen der Musiktherapie werden vorgestellt. Detailliert wird die Morphologische Musiktherapie mit ihren historischen Hintergründen erläutert, bevor die Praxis in den Mittelpunkt rückt. Die Klinik und das Behandlungsmodell werden vorgestellt und die Patienten einzeln beschrieben. Das Kernstück der Arbeit ist die Dokumentation eines dreimonatigen Gruppenverlaufs in der Musiktherapie mit Patienten in stationärer Behandlung. Anhand von vier Fallbeispielen einzelne Patienten innerhalb der Gruppe betreffend und einem Gruppenbeispiel wird mithilfe der morphologischen Musiktherapie Einblick gegeben, wie die Musik und die Musiktherapie in den einzelnen Fällen wirkt und was sie bewirkt, um den Patienten zu einer Veränderung, einer Einsicht oder einem neuen Verhalten zu verhelfen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Gruppenpsychotherapie
1.1. Grundlegendes
1.2. Zwischen-Menschliches
1.3. Therapeutisches
2. Musiktherapeutische Richtungen
2.1. Gruppenmusiktherapie allgemein
2.2. Gestalttherapie
2.3. Gruppendynamik
2.4. Psychoanalytisch orientierte Musiktherapie
2.5. Musiktherapie in der Psychosomatik
2.6. Exkurs: Spielraum
3. Hintergrund zur morphologischen Musiktherapie
3.1. Goethe: Begründer der Morphologie
3.2. Theoretische Bezugssysteme der Morphologie
3.3. Morphologische Bezugssysteme in der Musiktherapie
3.4. Morphologische Musiktherapie
3.4.1. Tüpker: Vier Behandlungsschritte
3.4.2. Grootaers
3.4.2.1. Bilder
3.4.2.2. Vier Versionen
3.4.2.3. Stundenkonzept
3.4.3. Exkurs: Stundenwelten - Stundenblumen
4. Fragestellung
5. Klinik
5.1. Setting
5.2. Raum
5.3. Ablauf, Regeln
5.4. Klientel
5.5. Erstgespräch (mit Beispielen)
6. Patienten
7. Gruppenverlauf
8. Fallbeispiele
8.1. Frau Mo.: Offenbarung
8.2. Herr Ha.: Eine abgeschlossene Form
8.3. Frau Sch.: Befreiung
8.4. Frau Na.: Inszenierung und Lösung
8.5. Musik schafft Gruppe: Indianergeschichte
9. Abschließende Gedanken
Danksagungen
Literaturverzeichnis
Einleitung
Diese Diplomarbeit ist vor allem eines: Eine Antwort auf die immer wieder gestellte Frage „Was geschieht da eigentlich in der Musiktherapie?“; eine Frage, die mir Familienangehörige, Freunde und Teamkollegen stellen, die ich aber immer wieder an mich selbst richte und über die sich viele der hier beschriebenen Patienten ebenfalls Gedanken machten: Was ist das, was hier passiert, zwischen uns, in der Musiktherapie? Was passiert, wenn wir spielen, was passiert, wenn wir darüber sprechen, warum fällt es so schwer, und was soll das alles bringen? Warum reden wir über Musik, wir haben doch ganz andere Probleme! Häufig begegnet man - noch immer - einer grundlegenden Skepsis gegenüber der Musiktherapie. Es wird wohl vermutet, dass „Musikmachen“ ein Schritt von den Problemen weg sei, eine womöglich ausschließlich heitere Angelegenheit, die den Patienten Spaß und Entspannung biete. Oft hörte ich von Patientenseite her den Vorwurf, die Sitzungen in der Gesprächstherapie seien schon so anstrengend gewesen und sie wollten nun in der Musiktherapie nicht auch noch „Probleme wälzen“. Welch große Palette von Empfindungen, Erlebnissen, Neuheiten, Altlasten und Beziehungsebenen in der Musiktherapie verfügbar wird, möchte ich in dieser Arbeit beschreiben. Ich schreibe in dem Bestreben, einen Zusammenhang zwischen theoretischer Kenntnis - von Musik und Psychologie - und der tatsächlich stattfindenden musiktherapeutischen Praxis herzustellen, hier am Beispiel einer Gruppe von Erwachsenen in einer psychosomatischen Klinik, in der ich drei Monate als Musiktherapeutin tätig war. Diese Arbeit ist ein Versuch, Worte für das zu finden, was die Vorgänge im Innersten zusammenhält - die musikalischen Vorgänge, die Gespräche, die Widerstände, die Störungen, die Ängste und die Liebenswürdigkeiten. Die erste Antwort lautet: Beziehung. Viele Patienten kommen in eine Therapie oder eine Klinik, weil sie - möglicherweise unbewusst - in irgendeiner Form Beziehung suchen. Nun ist es nicht damit getan, eine Beziehung herzustellen, sondern der Patient1 kommt, weil er an etwas leidet, etwas nicht mehr kann, nicht mehr weiterkommt, schließlich: weil er etwas verändern will. Und diese Veränderung geschieht in der Therapie mithilfe von Beziehung, zwischen Patient und Therapeut, in diesem Fall hinzukommend durch die Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern und der Beziehung zur Musik.
Obwohl es unendlich viele Fallbeispiele aus der stationär angewandten Musiktherapie gibt, muss man nach Beispielen Gruppen betreffend länger suchen. (Häufig wird dabei jedoch ein einzelner Patient aus der Gruppe herausgehoben und als Einzelfall beschrieben.) Eindrucksvolle Beschreibungen über eine Gruppe in der Psychosomatik finden sich z.B. bei Schirmer (Schirmer 1987) und bei Diersen (Diersen 2002). Grootaers beschreibt in einer Fallstudie einen Gruppenverlauf, bezieht sich aber mehr auf das Verhältnis zwischen Spielen, Reden und Schweigen (Grootaers 1985). Eine Gruppe als Gesamtes, als Gestalt in Verwandlung, wird - neben vielen Studien über Einzelpatienten - in „Bilder behandeln Bilder“ dargestellt (Grootaers 2004): Anhand von zwei Gruppenverläufen zeigt der Autor mithilfe des morphologischen Ansatzes eindrucksvoll die Drehungen und Veränderungen, die die Gruppe jeweils durchlebt. Aus der eigenen praktischen Arbeit heraus ergab sich für mich zwar der Anhaltspunkt und die Möglichkeit, über eine bestimmte Gruppe zu schreiben; das Interesse an diesen interpersonalen Vorgängen wurde aber schon im Studium durch die Teilnahme an einem studienbegleitenden, dreijährigen Gruppenprozess-Seminar bei Tilman Weber geweckt, so dass ich das Psychodynamische einer Gruppe sozusagen am eigenen Leib erfahren konnte. Die Verknüpfung von beruflicher Kenntnis und persönlichen Erlebnissen mit der Morphologischen Musiktherapie führte zu der Themenauswahl, und ebenso der Wunsch, die Vorgänge in einer Gruppenmusiktherapie als Material zur Verfügung zu stellen und damit einen Beitrag zu dieser immer mehr in der Praxis vorkommenden Therapieform zu leisten.
Der Aufbau dieser Arbeit gestaltet sich folgendermaßen: Das Kap. 1. über die Gruppenpsychotherapie dient als Einstieg in die psychotherapeutische Denkweise und in die Vorstellung von dem, was in einer Gruppe geschieht, welche Kräfte am Werk sind, was eine Gruppe bewegt und was im Mittelpunkt der Behandlung steht. Weiterhin wird darauf hingewiesen, welche Rolle und Aufgaben der Therapeut übernimmt. Es wird im weiteren Verlauf nur am Rande auf meine Rolle als Therapeutin eingegangen; die Konzentration liegt somit auf den Patienten und deren Erfahrungen und Veränderungen. Eine Beschreibung von Interventionen und methodischen Überlegungen auf Seiten der Therapeutin würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. In Kap. 2. nähern wir uns der Musiktherapie von unterschiedlichen Seiten: Die verschiedenen Richtungen, die für meine Arbeit in der Gruppe relevant waren, werden vorgestellt.
Das Kap. 3. beschäftigt sich mit dem geschichtlichen Hintergrund der Morphologie und den hier relevanten Modellen der morphologischen Musiktherapie sowie den Konzepten, unter deren Gesichtspunkten die Fallbeispiele untersucht werden. Die Kap. 1. - 3. sollen eine theoretische Vorbereitung sein, um den dargestellten Gruppenverlauf und die aufgeführten Beispiele mit fundiertem psycho- und musiktherapeutischen Hintergrund erfassen zu können. Die Begrifflichkeiten vor allem aus der Morphologie werden in Kap. 3. eingehend beschrieben und erläutert, damit in den Fallbeispielen auf Literaturhinweise weitestgehend verzichtet werden kann. Umgekehrt finden sich in diesen Kapiteln Querverweise auf die Fallbeispiele, um eine Verknüpfung zur Praxis herzustellen.
Die Positionierung der konkreten Fragestellung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, in Kap. 4. beabsichtigt eine Teilung von Theorie und Praxis und fokussiert, mit gewonnenem theoretischen Wissen, den Blick auf die Geschehnisse in der Patientengruppe.
Die in Kap. 5. nachfolgenden Fakten über die Klinik, das Setting, die Symptome etc. bilden ebenfalls einen Hintergrund für die daraufhin vorgestellten Patienten, den Verlauf und die Beispiele.
Für mich hat sich im Laufe der Beschäftigung mit dieser Arbeit so etwas wie eine morphologische Weltanschauung entwickelt. Diese psychologische Richtung mag als Wissenschaft verstanden werden, doch erscheint sie mir mehr als grundlegende Denkweise über Vorgänge und Mensch-Sein überhaupt. In der musiktherapeutischen Praxis bedeutet dies, dass die Anschauung einer Gruppe und ihrer Einzelpatienten mit einem morphologische Hintergrund m. E. am eindeutigsten zu einer Erklärbarkeit der Vorgänge verhilft. Besonders wichtig finde ich den Ansatz, dass man nicht von einem Ergebnis ausgeht, das eine Therapie erzielen soll, sondern dass alle Vorgänge in einen Prozess eingebunden sind, der weder stringent ist noch in lenkbaren Bahnen verläuft. Auch die einzelnen theoretischen Modelle, die Behandlungsschritte von Tüpker (Kap. 3.4.1.), die Vier Versionen (Kap. 3.4.2.2.) und das Stundenkonzept von Grootaers (Kap. 3.4.2.3.), sind nicht als kontinuierlich aufeinander aufbauend oder als „eine Folge von“ zu verstehen, sondern sie bedingen sich immer gegenseitig und wirken im Wechselspiel miteinander. Gerade in Therapiesituationen passiert mehr Unvorgesehenes als Geplantes. Der Nutzen, den die Patienten aus der Therapie ziehen, lässt sich letztlich nicht aktiv steuern und manchmal auch nicht vollends nachvollziehen. Die Geschehnisse liegen nicht in unserer Hand: Das Seelische sucht sich selbst seinen Weg. Dazu ist die Musik und besonders die freie Improvisation ein willkommenes Mittel, und dies ist die zweite Antwort auf das, was die Vorgänge im Innersten zusammenhält: die 3 Musik. Die Musik braucht Beziehung, und doch scheint etwas in der Musik zu existieren, das unabhängig von den Spielern wirkt und arbeitet. Das spüren übrigens nicht nur Musiker, sondern Patienten vielleicht in einem viel höheren, wenn auch oft unbewussten Maße. Wenn in meiner praktischen Arbeit eine Erklärung für das Verhalten eines Patienten oder der gesamten Gruppe ferner lag als je zuvor, bezog ich mich immer wieder auf die Musik, spitzte meine Ohren, ließ die Klänge für sich sprechen und meine eigene Wahrnehmung Revue passieren. Eine Kollegin aus der Kunsttherapie sagte zu mir: „Stay close to the art“, bleib nah bei der Kunst, sie trägt die Erklärung in sich. Nun ist es ebenfalls nicht damit getan, sich darauf zu verlassen, dass z.B. eine Veränderung im musikalischen Verhalten sich schon mit der Zeit auf das alltägliche Verhalten übertragen wird; hierzu sind Prozesse nötig, bei denen der Therapeut und die anderen Gruppenmitglieder helfen können. In welchen verschiedenen Varianten dies geschieht, welche Form diese Prozesse annehmen können, davon berichten der Gruppenverlauf in Kap. 7. und die einzelnen Fallbeispiele in Kap. 8.. Alle Beschreibungen entstammen meinen eigenen, ausführlichen Gedächtnisprotokollen der einzelnen Sitzungen, Informationen aus Teamsitzungen und aus den Akten der Patienten2 und bilden somit einen Extrakt aus diesen Quellen. Die Beispiele in Kap. 8. sind in dem Bestreben ausgewählt, zu zeigen, welche unterschiedlichen musikalischen Situationen stattfinden und wie die Patienten sich die Möglichkeiten der Musik zu eigen machen. Vier Fallbeispiele betreffen einzelne Patienten, doch finden wir durch die anschließende Beschreibung eines Gruppenbeispiels wieder zum Ganzen zurück. Es wird jeweils der individuelle Verlauf (Kap. 8.1. - 8.4.) bzw. das Gruppen-Geschehen (Kap. 8.5.) erläutert und eine detaillierte Untersuchung der Vorgänge im morphologischen Sinne vorgenommen. Die Fallbeispiele können ebenso wieder auf den Gruppenverlauf (Kap. 7.) als Ganzes bezogen werden, sind Teil dessen und treten sozusagen aus dem Hintergrund des Gruppenverlaufs als Figur hervor.
Man könnte sich sogar dazu hinreißen lassen, den Aufbau dieser Diplomarbeit ebenfalls morphologisch zu betrachten: Wir nähern uns einer Sache, der Patientengruppe, von verschiedenen Seiten an: Die Psychotherapie bildet die Grundlage, die musiktherapeutischen Richtungen präzisieren das Verfahren, und mithilfe der morphologischen Denkweise werden die Prozesse näher untersucht. In Kap. 7. wird der Gruppenverlauf im Ganzen vorgestellt, bevor wir schließlich in Kap. 8. die einzelnen Teile des Ganzen näher betrachten: die Patienten. So vollziehen wir eine Entwicklung vom Großen ins Kleine, vom Allgemeinen zum Speziellen, vom Hintergrund zur Figur.
Die verschiedenen Sichtweisen helfen auf dem Weg zur Erkenntnis, zum Verständnis dessen, was den Menschen bewegt: das Seelische.
1. Gruppenpsychotherapie
1.1. Grundlegendes
„Gesundheit und Krankheit müssen als ein komplexes, vielfach verwobenes Gefüge verstanden werden, in dem biologische, psychologische und soziale Elemente von Gesundheit und Krankheit als gleichwertige Bedingungen der menschlichen Existenz zu begreifen sind.“ (Rudolf 1996, S. 1)
Dieses Zitat stammt ursprünglich aus den 1992 veröffentlichten Leitlinien für das Medizinstudium. Seit diesem Zeitpunkt findet der „Arzt für Psychotherapeutische Medizin“ als gültiger Facharzt seine Anerkennung (vgl. ebd.). Hier ist die Rede von mehreren Faktoren, die nicht getrennt voneinander gesehen und behandelt werden können, von gleichwertigen Bedingungen; polar gegenüber gestellt werden Gesundheit und Krankheit, wobei dennoch das eine ohne das andere nicht zu existieren vermag und beide untrennbar miteinander verbunden sind. Die Einheit, gebildet aus verschiedenen Elementen, ist der Mensch, kein einschränkbares Objekt, das nur Symptom, nur Körper, nur Psyche oder nur Geist sein kann. Dies ist mittlerweile die weit verbreitete Auffassung vom Klienten oder Patienten, der sich in Behandlung begibt. Eine Annäherung an die Krankheit des psychisch belasteten Patienten kann nur durch Verstehen-Wollen mithilfe des Angebots einer tragfähigen Patient-Therapeut-Beziehung gelingen. Dies gilt für die Einzeltherapie genauso wie für die Gruppentherapie, wobei sich im letzteren Fall die Prozesse des Austauschs nicht auf die Ebene zwischen zwei Menschen konzentriert, sondern durch den Kontakt zu mehreren Gruppenmitgliedern aufgefächert wird.
Im Folgenden werden einige geltende Grundsätze der Gruppenpsychotherapie aufgezeigt und erläutert.
Der amerikanische Psychotherapeut Irvin D. Yalom, der nicht nur durch seine therapeutischen Grundlagenschriften sondern auch durch zahlreiche, psychotherapeutische Themen behandelnde Roman-Veröffentlichungen bekannt geworden ist3, benennt als eine Grundvoraussetzung für die Gruppentherapie mehrere therapeutische Faktoren, die er für alle psychotherapeutisch arbeitenden Gruppen bzw. deren Therapeuten geltend macht.
Die Verknüpfungen zur Gruppenmusiktherapie (im Folgenden: GMT) entspringen meinen eigenen Erfahrungen mit der in Kap. 7. beschriebenen Gruppe.
Hoffnung-Einflößen (vgl. Yalom 1995, S. 24) bedeutet die Bemühung und Bekräftigung einer Einstellung, wobei das Vertrauen des Therapeuten in die eigene Methode als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Die Patienten müssen der Behandlungsmethode vertrauen können, um eine positive Sichtweise auf den eigenen Behandlungsverlauf zu erlangen. Es gilt, den Glauben zu stärken, dass die Gruppe trägt und heilt und Gruppentherapie für den Patienten eine Hilfe darstellt. Einige Patienten fühlen sich zuerst abgestellt und denken, dass man in einer Gruppe landet, weil man keine Einzeltherapie verdient und somit nur zur zweiten Wahl gehört. Folglich müssen die Vorteile der Gruppentherapie und die bei vielen Krankheitsbildern bestehende Notwendigkeit klar vermittelt werden. (In der in Kap. 7. vorgestellten Gruppe lag bei allen Patienten eine von Ärzten und Psychotherapeuten gestellte Indikation für Gruppentherapie vor.)
Hervorzuheben ist, dass Patienten nachweislich davon profitieren, dass andere ihre positiven Erfahrungen schildern: Neue Patienten haben ein Beispiel dafür vor Augen, dass die Therapie etwas bewirkt. Erfolge bei Mitpatienten mitzuerleben, kann ein großer Ansporn sein. Universalität des Leidens (vgl. Yalom 1995, S. 25): Ohne an der Individualität zweifeln zu wollen: Erstaunlich und doch einleuchtend ist die Erfahrung, dass die größten, für einzigartig gehaltenen Geheimnisse und Probleme der Menschen sich sehr ähneln und sich bei Patienten vorherrschend auf die Themen Selbstwertgefühl und Beziehungsfähigkeit konzentrieren. Diese Erkenntnis zeigt dem Einzelnen, dass auch andere sein Leiden, seine Gefühle und Gedanken in ähnlicher Form erleben. Das beruhigt.
Viele Krankheiten sind eng verknüpft mit schmerzlichem Alleinsein. Durch extreme soziale Isolation verstärkt sich das Gefühl von Einzigartigkeit, und durch mangelndes Vertrauen in andere Menschen findet kein Austausch statt. In der Gruppe fühlt man sich nicht mehr allein, es gibt wieder mehr Kontakt mit der Welt, wobei dieses Gefühl auch durch die Enthüllung der Schwierigkeiten anderer Patienten entsteht. Die Solidarität stärkt. Man handelt in wechselseitigem Einverständnis, sucht einen gemeinsamen Nenner und hat ähnliche Probleme. All dies lindert die Not des Einzelnen und erleichtert Selbstoffenbarung und Ausdruck der Affekte.
Auch in der GMT ist dies ein entscheidender Faktor: Es werden z.B. in den Improvisationen Impulsdurchbrüche bei anderen beobachtet. Dies bleibt ohne die befürchteten Folgen, die Gruppe bleibt zusammen. So kann z.B. Scham vor Wut oder Tränen abgebaut werden, die Angst, im Mittelpunkt zu stehen oder zu laut zu sein: man wird trotzdem weiter akzeptiert, und das Gruppengefühl macht es möglich, sich selbst zu zeigen.
Die Mitteilung von Informationen (vgl. Yalom 1995, S. 30), oft in Form von direktem Rat bzw. Ratschlägen ist typisch für dynamische Interaktionsgruppen im Anfangsstadium, wobei zu beachten ist, dass zur Bewältigung eines Problems der Inhalt des Ratschlags weniger von Nutzen ist als der Prozess des Ratgebens, in dem der Patient Interesse und Anteilnahme der anderen erfährt. Außerdem ist diese Art von Interaktion ein System, dessen sich bestimmte Patienten oft bedienen, so dass man viel über deren Beziehungsstrukturen erkennen kann. Auch in der GMT taucht dieses Phänomen auf: Der Klagende, der aber jede Hilfe ablehnt, der sogenannte „Ja-aber- Patient“ (Yalom 1995, S. 31, vgl. auch S. 401) ist der, der Ratschläge aus anderen herauslockt, das Gegenüber aber gleichzeitig vor unlösbare Probleme stellt (vgl. Kap. 8.3.).
Altruismus (vgl. Yalom 1995, S. 32) ist ein vorherrschendes Muster in der Patientengruppe: Man bemüht sich um gegenseitige Unterstützung, Haltgeben und Vorschläge, die dem anderen Einsicht verschaffen sollen. Die Handlung des Gebens als solche - nicht nur als eine Seite von wechselseitigem Geben und Nehmen - wirkt positiv auf das eigene Selbstwertgefühl und die Selbstachtung von Patienten, die denken, sie seien für niemanden wichtig oder wertvoll.
In der GMT findet dies seine Ausprägung in dem Phänomen, dass lieber über die Probleme anderer geredet wird, auch aber in der mehrmals gestellten Frage ihren Ausdruck findet: Wie können Patienten sich gegenseitig helfen, wo sie doch selbst Probleme haben? Im Laufe der Behandlung wird mit der Zeit die Wertigkeit der eigenen Aussagen erkannt und besser wertgeschätzt.
Korrigierende Rekapitulation der primären Familiengruppe (vgl. Yalom 1995, S. 33): Die Mitglieder der Gruppe sowie der Therapeut werden unbewusst mit Autoritäts- und Elterngestalten, Geschwistern, Feinden und Konkurrenten etc. identifiziert. Oft findet eine Idealisierung der Therapeuten als Muster gegenüber den Eltern statt, wodurch sich der Patient in eine Position der Abhängigkeit und des Beeindrucken- Wollens begibt. Die Rollenverteilung innerhalb der Gruppe spiegelt die eigene Positionierung innerhalb des vorhandenen Systems und die Vorstellung von Rollenbildern. Im Therapieverlauf soll es nicht nur darum gehen, diese Identifizierungen (Übertragungen) zu erkennen, sondern möglichst zu korrigieren: Verfestigte Rollen werden hinterfragt, neue Verhaltensweisen werden ausprobiert. In der GMT kann dies instrumental neu erfahren werden: Durch Spielanweisungen nehmen die Teilnehmer immer wieder neue musikalische Rollen ein und können reflektieren, in welcher sie sich z.B. wohl fühlen oder welche sie nicht einnehmen möchten.
Interpersonale Reaktionen geben Aufschluss über das eigene Verhalten. Das Erkennen macht Veränderung möglich, und eine Entwicklung von Techniken des mitmenschlichen Umgangs (vgl. Yalom 1995, S. 35) kann verfolgt werden. Hierbei geht es um: Lernen, hilfreich zu reagieren, Methoden der Konfliktlösung, Einfühlungsvermögen und Ausdrucksfähigkeit. Die gängigen Mittel zur Erweiterung des eigenen Verhaltensrepertoires sind das Feedback als Spiegelung der eigenen Wirkung und das Nachahmende Verhalten (vgl. Yalom 1995, S. 36). Man lernt und erfährt schon durchs Zuschauen und Miterleben und hat darüber hinaus eine Möglichkeit zur Identifikation.
1.2. Zwischen-Menschliches
In der Gruppentherapie stellt das Interpersonale Lernen einen Kernpunkt dar. Meist liegen die Schwierigkeiten der Patienten im zwischenmenschlichen Bereich; bestimmte Verhaltensweisen werden als störend wahrgenommen, vielleicht auch nur unbewusst, und möchten im Endeffekt verändert werden, d.h. es müssen andere Verhaltensweisen verfügbar gemacht werden, damit der Patient eine Alternative zu seinen alten Mustern bekommt. Per Übung kann neues Verhalten gelernt werden. Auch Yalom stellt die Bedeutung interpersonaler Beziehungen (vgl. Yalom 1995, S. 37) als existenziell dar: Der Mensch lebt immer in Gruppen, in denen meist intensive und beständige Beziehungen zwischen den Mitgliedern herrschen. Nun steckt der Patient in dem Dilemma, einerseits eigene Interessen verfolgen und andererseits das Interesse der Gruppe erfüllen zu wollen. (In der GMT sei hier Herr Ha. als Beispiel genannt, vgl. Kap. 8.2.) Jeder Mensch ist, in unterschiedlichem Maße, sein Leben lang auf der Suche nach positiver Beachtung und Anerkennung. Es wird als biologisches Bedürfnis betrachtet, enge Beziehungen zu haben, denn es besteht naturgemäß immer die Sehnsucht nach einer Reaktion vom Gegenüber. Dementsprechend gilt Isolation als größte Strafe, die man einem Menschen angedeihen lassen kann. Die Beziehungsfähigkeit wird in den ersten Lebensjahren angelegt und am stärksten beeinflusst: Das entwickelte Selbst eines Menschen beruht auf unbewusst gespeicherten Bewertungen seit dem Säuglingsalter. Wenn diese hauptsächlich negativ waren, entwickelt der Mensch eine negative Haltung sich selbst gegenüber, so dass im Umgang mit anderen Verzerrungen bzw. Übertragungen entstehen: Die Mitmenschen und deren Verhalten und Reaktionen werden nicht als solche, sondern die interpersonale Realität wird verzerrt wahrgenommen. In unterschiedlichen Ausformungen und Schweregraden dieses Verhaltens kommt es so weit, dass das Umfeld genau so reagiert, wie man es sich in seinen schlimmsten Träumen ausgemalt hat, dabei hat man unbewusst das Verhalten des Gegenübers provoziert: Wer Härte erwartet, verhält sich dementsprechend, dass man ihn auf bestimmte Art wahrnimmt und ihn dann tatsächlich straft o.ä.. Man spricht hier von self-fulfilling-prophecy4, von sich selbst erfüllenden Prophezeihungen (vgl. Fiedler 1994, S. 410).
Eindrucksvolle Beispiele hierfür liefert in der GMT Frau Ti., die mich u.a. darum bat, sie aus der Sitzung auszuschließen (vgl. Kap. 7., 18. Sitzung).
Als ein befriedigendes Ziel einer Therapie wird verfolgt, dass die Selbsteinschätzung sich mit dem wirklichen Verhalten anderen gegenüber deckt. Dies kann dadurch erreicht werden, dass man die eigenen Empfindungen in Bezug auf ein bestimmtes Verhalten mit den Wahrnehmungen anderer vergleicht (Auch hier diene Herr Ha. als Beispiel in der GMT, Kap. 8.2.).
Die Bedeutung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Therapie ist in ihren Zielen und Mitteln immer interpersonal. Und: Geistig-seelische Erkrankungen beruhen immer auf gestörten interpersonalen Beziehungen, die es zu durchleuchten gilt.
Das korrigierende emotionale Erlebnis (vgl. Yalom 1995, S. 44) kann für Patienten in einer Therapie entscheidend sein.
Oft geht es darum, dass die Patienten die Spannungen und andere starke Gefühle, die zwangsläufig innerhalb der Gruppe entstehen, offen ausdrücken dürfen. Diese Impulsdurchbrüche sind möglicherweise von übergroßer Kraft oder Intensität. Hierfür muss eine gewisse Sicherheit, Vertrauen und Schutz gegeben sein. Die Gruppe muss bereit sein, viel Engagement zu zeigen und Feedback zu geben, damit eine Realitätsprüfung möglich wird. Auch der Therapeut macht anhand seiner Reaktionen ein unangemessenes Verhalten eines Patienten bewusst.
Wichtig ist, dass eine Befürchtung nicht eintritt. Jeder Mensch verbindet bestimmte Situationen mit bestimmten Erfahrungen, z.B. Verbote oder Gewalt. Die Erfahrung, dass nach starker Affektäußerung niemand stirbt, einen verlässt o.ä., wie man aufgrund der eigenen Lebensgeschichte ursprünglich vermutet hat, führt zur Einsicht, dass entweder der Affekt irrational groß oder die Angst davor unangemessen war. Gefühle wie Ablehnung, Spott, Entwertung und Ausgrenzung finden in der Gruppe nicht wie erwartet statt, so dass man neue Erfahrungen machen kann, die positiv bestärken. Purer, kathartischer Ausdruck der Gefühle allein reicht nicht aus, sondern Reflektieren ist notwendig, um eine freiere Interaktion zu ermöglichen.
In der GMT finden wir ein Beispiel: Frau Mo., die sich stark belastenden Schuldgefühlen ausgesetzt fühlt, über die sie sich bisher nicht zu sprechen getraute, macht beispielsweise die korrigierende Erfahrung, dass ihre Empfindungen als angemessen bezeichnet werden, sie mit ihren tiefen Emotionen angenommen wird und von anderen Mitgliedern Trost erhält (vgl. Kap. 8.1.).
Die Mitglieder leben sich in der Gruppe in einer Art und Weise aus, wie sie es auch im normalen Leben tun, denn die Gruppe fungiert als sozialer Mikrokosmos (vgl. Yalom 1995, S. 57). In der GMT fand beispielsweise eine Diskussion über die Fragen „Was ist eine Gruppe? Wie kommen wir hier zusammen? Was geschieht zwischen uns?“ statt. Dies zeigt, dass die Mitglieder sich darüber bewusst werden, dass und was sie miteinander teilen können und wollen und was nicht. Sie nehmen die Gruppe als kleine Welt wahr, in der sie die gleichen Muster leben wie in der großen Welt, ihrem alltäglichen Leben. Der interpersonale Stil jedes Einzelnen kommt in den Aktionen innerhalb der Gruppe zum Vorschein, und das störende Verhalten wird auf die anderen Patienten übertragen bzw. mit und an ihnen ausagiert. Auf der einen Seite hat jeder seinen eigenen Mikrokosmos, auf der anderen Seite entwickelt sich der Mikrokosmos der Gruppe.
Eine Reaktion gibt immer auch Aufschluss über den, der da reagiert. So kann ein Vorfall acht verschiedene Reaktionen auslösen, denn „es existieren acht verschiedene innere Welten“ (Yalom 1995, S. 60), acht individuelle Wahrnehmungen. In der GMT zeigt sich, dass die Reaktionen auf Musik ebenso zahlreich sind wie die Patienten (vgl. Kap. 7., 22. Sitzung), und diese Eindrücke gilt es auseinanderzuhalten und gleichzeitig miteinander in Verbindung zu bringen. Die „Analyse dieser unterschiedlichen Reaktionen ist also ein Königsweg ( … ) zur inneren Welt des Gruppenmitglieds “ (Yalom 1995, S. 61). Der Therapeut muss die nicht anpassungsfähigen interpersonalen Muster der Patienten ausfindig machen, benennen und somit helfen, sie zu verändern.
Ziel einer Therapie ist es, Einsicht (vgl. Yalom 1995, S. 64) zu erlangen. Diese kann sich erst einstellen, wenn mithilfe von Feedback ein objektiveres Bild des eigenen interpersonalen Ganzen entsteht. Nachgegangen wird der Frage: Wie werde ich gesehen?
Durch die Beschreibung anderer werden Verhaltensmuster bewusst, die beantworten können: Was tue ich?
Weiterhin treten die Gründe für dieses Verhalten zutage, die Motivation wird deutlich: Was will ich im Kontakt erreichen und wovor habe ich Angst?
Und schließlich gibt die Verknüpfung mit der eigenen Lebensgeschichte Aufschluss
über das So-Geworden-Sein, und der Patient kann begreifen: Warum verhalte ich mich so und nicht anders?
Dies soll keine festgelegte, methodische Reihenfolge nach Schlüssigkeit oder Wert sein. Alle Fragen sind immer latent vorhanden und kommen immer wieder zur Sprache. Das eine geht in das andere über und tritt aus dem anderen hervor.
Gruppenkohäsion (vgl. Yalom 1995, S. 67) ist als Begriff bzw. Phänomen schwer erklärbar und nicht messbar, sie unterliegt starken Schwankungen und ist kaum bewusst beeinflussbar. Es ist aber offensichtlich, dass der Therapieerfolg nachweislich von der Therapeut-Patient-Beziehung und der Beziehung der Gruppenmitglieder untereinander abhängig ist. Mit der Zeit entsteht ein Gruppen- oder Solidaritätsgefühl, ein „Wir- Gefühl“. Eine starke Gruppe verteidigt sich gegen Bedrohung von außen und innen, stößt z.B. jemanden aus, der eine Gefährdung darstellt (GMT vgl. Kap. 7., 10. Sitzung).
Es herrscht ein der Gruppe innewohnender „totaler Gruppengeist“ und außerdem eine „Anziehungskraft der Gruppe auf den Einzelnen“ (Yalom 1995, S. 68). Fördernde Faktoren sind: Zugehörigkeit, Wärme, Trost, Respekt und Unterstützung untereinander, ebenso eine stabile Mitgliedschaft. Kohäsion entsteht durch die vielschichtigen Erfahrungen, die Mitglieder in einer Gruppe machen können. Das affektive Teilen der eigenen inneren Welt mit anderen und das Wissen, darin akzeptiert zu werden, ist die wichtigste Erfahrung in der Gruppentherapie. Alle Arten von Erlebnissen werden miteinander ausgehalten und stärken die Beziehungen untereinander, so dass daraufhin auch Konflikte innerhalb der Gruppe ausgetragen werden können. Viele Patienten haben bisher negative oder keine solche Gruppenerfahrungen gemacht und schätzen es sehr hoch ein, derart akzeptiert und in all ihrem Sein und Tun angenommen zu werden. Die Annahme durch andere fördert das Sich-Selbst- Annehmen, genau wie Liebe zu anderen mit der Liebe zu sich selbst zusammenhängt. Die Selbstliebe - und somit Akzeptanz des eigenen So-Seins - bildet eine Voraussetzung für die Liebe zu anderen und macht tiefgehende, befriedigende Beziehungen erst möglich (vgl. Fromm 1956). Für die meisten Patienten ist dies eines ihrer wichtigsten Themen überhaupt.
Durch ein starkes Gruppengefühl kann ein Patient „einen menschlicheren, reicheren Teil seiner Selbst erleben“ (Yalom 1995, S. 76) lernen, was für jeden ausgesprochen großen Wert hat.
Katharsis (vgl. Yalom 1995, S. 100) - die psychische Reinigung durch ausgelebten Ausdruck heftiger Affekte - ist oft für eine Entwicklung und eine Veränderung notwendig, für sich genommen ist sie aber nicht ausreichend, sondern der Nutzen für den Patienten entsteht erst durch Faktoren wie sich daraus entwickelnde Kohäsion, Verständnis der anderen oder sich stärkende Beziehungen. In der GMT sorgt kathartisches Spiel oft für einen Prozess der Öffnung und der Vertrautheit. Man hat sich musikalisch bereits offenbart, dann fällt das ehrliche Wort hinterher leichter.
Vom Menschen als Beziehungswesen ausgehend, beschäftigen wir uns noch mit einem Begriff aus der Sozialpsychologie, der mehrere oben genannte Faktoren mit einschließt oder berührt: der Pluralität. Man findet hierzu die leicht auf eine Therapiegruppe übertragbare Erklärung, die ursprünglich aus der Politik stammt: „Friedliche Koexistenz verschiedener Interessen, Ansichten und Lebensstile.“ (www.wikipedia.org/pluralismus)
„Der Mensch, das Individuum in der Singularität, mit sich allein, ist mit der Gruppe im Sinne seiner inneren Realität konfrontiert, d.h. mit seinen Phantasien von den Anderen, während er in der Pluralität einer real existierenden Gruppe mit den Anderen konfrontiert ist, so wie diese wirklich sind.“ (Heigl-Evers et al. 1993, S. 186) Zurückgehend auf Hannah Arendt kennzeichnet sich Pluralität im Hinblick auf die Therapiegruppe durch folgende Merkmale (vgl. Heigl-Evers et al. 1993, S. 187): „Unter Mehreren sein“ heißt, in Beziehung zu gehen, im Leid nicht mehr allein zu sein und in Schicksalsanteiligkeit die Ebenen von Ich und Wir zu erleben. „Als Glied einer Vielheit einzigartig sein“ ermöglicht Respekt und Akzeptanz nicht nur für das Individuum sondern schließt in der Therapiegruppe auch die Krankheit mit ein. „Nicht- souverän sein“ bedeutet, dass ausprobiert werden darf: Durch ein neues Verhalten kann ein anderes Bild von sich selbst und allem, was man ist, erzeugt werden. In der Gruppe entsteht ein Erscheinungsraum, in dem der Einzelne sich zeigen darf und wo Beziehungsinszenierungen erlaubt und Gegenstand der Behandlung sind.
1.3. Therapeutisches
Zu den Grundaufgaben (vgl. Yalom 1995, S. 128) des Therapeuten zählen sicherlich unendlich viele, doch seien hier diejenigen erwähnt, die, im Sinne Yaloms, bei der Arbeit mit der in Kap. 7. vorgestellten Gruppe im Vordergrund stehen. (Es entfallen z.B. Fragen nach der Einteilung der Patienten, da dies in der Klinik vorgegeben ist, wovon man als Musiktherapeut vorerst ja meistens ausgehen muss.)
1. (Zusammenstellung und) Erhaltung der Gruppe
2. Schaffung einer Gruppenkultur
3. Aktivierung und Klärung des Hier und Jetzt
1. Der Therapeut kann dabei helfen, eine Gruppe entstehen lassen, indem erste Grundregeln aufgestellt werden, was z.B. generelle Anwesenheitspflicht betrifft. Es gilt als allererstes, den Raum zu öffnen (auch i.ü.S.), da zu sein und die Situation überhaupt verfügbar zu machen, in der etwas entstehen kann.
2. Es werden Normen aufgestellt, wobei der Therapeut zwangsläufig immer als Beispiel und als Normgestalter fungiert, was schon bei der Frage beginnt, ob ein Zuspätkommender ermahnt oder ignoriert wird, denn jede Äußerung des Therapeuten wird von der Gruppe aufgenommen und verarbeitet. Ungeschriebene Regeln und latente sowie manifeste Normen (z.B. Rollenverteilung) entwickeln sich von selbst in jeder Gruppe. Oft ist der Wille da oder der Druck groß, die Gruppensituation und Normen definieren zu müssen, um Struktur zu erlangen, die dem Patienten innerlich nicht zur Verfügung steht. So zeigen sich die verfügbaren Ich-Funktionen und deren Einschränkungen: Interpersonale Konstellationen werden hergestellt und festgelegt, wie sie bekannt sind und werden pathologisch wiederholt, oder sie werden derart gestaltet, dass sie einen Aspekt verarbeiten oder kompensieren (vgl. Heigl-Evers et al. 1993, S. 232).
Während es in Gesprächsgruppen die verbale Interaktion unter den Mitgliedern zu fördern gilt, steht in der GMT der Therapeut in besonderer Weise im Vordergrund: Sein musikalisches Verhalten wird beobachtet, allein deshalb, weil meist kaum Kenntnis unter den Patienten besteht, wie man die Instrumente bedient. Am Beispiel des professionellen Musiktherapeuten wird Lautstärke ausprobiert, Angst überwunden und Mut bewiesen, ein neues Instrument zu nehmen, die Spielweise wird nachgeahmt etc.. Ein wichtiger Punkt, auch für die GMT, ist: Die Verantwortung für die Stunde liegt bei der Gruppe! Der Therapeut verhalte sich bestmöglich „unstrukturiert, spontan und frei“ (Yalom 1995, S. 144) und betone regelmäßig, dass die Gruppe die Macht hat, alles selbst zu gestalten, wobei ein strukturierter Anfang der Sitzung (in der GMT: Aufforderung zur freien Improvisation) nicht nur hilfreich, sondern je nach Klientel oft notwendig ist. Weiterhin ist es wichtig, die Selbstoffenbarung zu fördern, da dies entscheidend für den Prozess in der Gruppe ist, und zum gegenseitigen Helfen anzustiften. Die Gruppe soll möglichst als gefahrlos und unterstützend erlebt werden.
3. Die Erlebensebene bezeichnet das Agieren der Gruppe im Hier und Jetzt; die
Klärung des Prozesses (oder auch Verständnisebene) bedeutet, sich in der Phase der Selbstreflexion auf sich selbst zurückzuwenden, das Verhalten zu untersuchen und das, was gerade abgelaufen ist, zu besprechen (vgl. Yalom 1983, S. 222). Diese zwei verschiedenen Ebenen werden in der GMT durch das spontane, ungefilterte Spielen und die darauf folgende Beschreibung der Improvisation besonders deutlich herausgehoben. Die Gleichzeitigkeit der musikalischen Äußerungen spielt eine wichtige Rolle. Jeder ist für sich, und doch kommt man sich in der Musik auf eine ganz eigene Art und Weise nahe. Diese Gefühle und das musikalische Tun sind das pure Hier und Jetzt. Auch wenn der Inhalt eines verbalen Beitrags bedeutsam sein mag, steht das „Wie“ und „Warum“ bei der Klärung mehr im Vordergrund als der tatsächliche Informationsgehalt der Äußerungen. Der Therapeut konzentriert die Mitglieder auf die interpersonalen Beziehungen untereinander, wie sie hier und jetzt stattfinden und gibt prozessklärende Kommentare wie z.B. Beobachtungen, Beschreibungen, Vergleiche, Spekulationen, Einschätzungen und spiegelt dadurch dem Patienten sein Verhalten und sein Wirken, insgesamt: das Bild, das er darstellt.
2. Musiktherapeutische Richtungen
2.1. Gruppenmusiktherapie allgemein
Die Gruppenmusiktherapie im Sinne einer feststehenden Methode kann es nicht geben, da der Therapeut immer je nach Klientel entscheiden muss, nach welchen Gesichtspunkten er handelt. So seien die hier vorgestellten Richtungen und Einflüsse nicht als vorgefertigte Methodik oder bestimmtes, nur auf eine Art anzuwendendes Verfahren verstanden, sondern sie sollen - nebeneinander dargestellt - als Denkanstöße dienen, als Ineinander-Übergehendes und Ineinander-Greifendes, als im Endeffekt nicht trennbar voneinander zu Betrachtendes. Die hier beschriebenen Ansätze dienten bei meiner klinischen Arbeit in der Gruppe als therapeutischer Hintergrund. Es wird von einer Gruppen-Musik- Psycho therapie ausgegangen. Allen Verfahren gemeinsam ist die psychologische Sichtweise, die sich auf seelische Verhältnisse richtet. Im Unterschied zu anderen Therapieverfahren setzt Musiktherapie die musikalische, freie Improvisation (vgl. Weymann 1996a) ein, die als Ausdrucksform der individuellen Gegebenheiten, als Experimentier- und Übungsfeld betrachtet wird, wobei rein rezeptive Verfahren wie z.B. GIM (Guided Imagery and Music nach Helen Bonny) hier unberücksichtigt bleiben. Weiterhin kann hier nicht darauf eingegangen werden, dass es viele Bereiche gibt, in denen aktive Musiktherapie Anwendung findet und die freie Improvisation nicht eingesetzt wird.
Ein objektiv-distanzierter Blick reicht nicht aus, um das Geschehen zu verstehen:
Mitbewegung des Therapeuten ist notwendig. Er spielt bei der Improvisation mit und lässt sich damit auf den Prozess ein. Sein Zustand der freischwebenden Aufmerksamkeit (Begriff aus der Psychoanalyse), bei Weymann genannt: „sensible Schwebe“ (Weymann 2000a, S. 199), ermöglicht eine offene Wahrnehmung der Vorgänge sowohl musikalischer als auch interpersonaler Natur.
In der Musik wirken die individuellen Affekte der Spielenden; die Affekte sind Ausdruck des Seelischen, wozu natürlich auch die kranken Affekte gehören. Die Affekte bilden sich in der „Improvisationsgestalt“ (Weber 1996) ab: Die seelische Struktur des Patienten schlägt sich in der formalen Gestalt der spontanen Improvisation nieder, in dem „manifesten Hörwerk“ (Weber 2009, S. 167), das unter genau diesen Umständen mit genau diesen individuellen Vorerfahrungen entsteht.
Es wird davon ausgegangen, dass die Formen des menschlichen Fühlens den musikalischen Formen kongruenter sind als denen der Sprache (vgl. Weber 1996, S. 143), was bedeutet, dass die Musik Dinge offenbart, die mithilfe der Sprache nicht (oder noch nicht) zugänglich sind. Im „Gestaltungsraum“ (Weber 2009, S. 169) der Improvisation findet bereits ein Verstehen der seelischen Gestaltenbildung statt, das nicht durch Worte geschieht. In der Musik ist die Ausformung bereits enthalten: “Das Seelische spricht nicht durch die Musik, sondern in der musikalischen Form gestaltet sich das Seelische selbst.“ (Weber 1996, S. 143) Nun reicht es nicht aus, den Patienten allein sein Seelisches frei in der Musik ausgestalten zu lassen, sondern es braucht eine Führung: Erst durch das Mitspielen/Mitgestalten des Therapeuten als Gegenüber wird ein Erkennen der seelischen Strukturen möglich. Der Therapeut soll „so offen wie möglich und so strukturiert wie nötig“ (Weber 2009, S. 171) handeln. Der Patient befindet sich in einer Lage, in der er nicht auf Gewohntes zurückgreifen kann; das bewusste „Können“ wird außer Kraft gesetzt: „Durch ihre regelhafte Ungeplantheit garantiert die Improvisation ein Aufleben der strukturellen Gebundenheit des Seelischen schlechthin.“ (Grootaers 1983, zit. nach Weymann 1999, S. 54) Dadurch wird es auch möglich, neue Wege der Wahrnehmung zu erkunden. Der allgemein geltende Anspruch an Musik, sie vermöge das Unaussprechliche auszudrücken, d.h. die innersten Gedanken und Empfindungen darzustellen, sei hier modifiziert: Auch der Musikkritiker Hanslick (vgl. auch Kap. 3.4.2.1.) ist der Überzeugung, dass nicht die Musik an sich Gefühle auslösen könne, sondern dass erst durch das Hören und das subjektive Erleben eine Mitbewegung geschieht, die die Phantasie anregt und Bilder produziert, „deren innere Dynamik erst Gefühle auslösen“ (Weber 1996, S. 142). “Was nämlich die Musik tatsächlich widerspiegeln kann, ist lediglich die Morphologie des Gefühls.“ (Langer 1979 zit. nach Weymann 1999, S. 51) Die Gruppe ist ein „lebendiger Organismus“ (Weber 2009, S. 166); sie besteht aus mehreren Teilen und ist doch eine eigene Gesamtgestalt. Das Gleiche gilt für die Improvisation: Jeder spielt seinen Part, und doch spielen alle gleichzeitig und gemeinsam und bilden somit eine Musik.
In der musikalischen, freien Improvisation kommen die interpersonalen Probleme und Störungen der Spielenden zum Tragen (ebenso natürlich die Ressourcen und Kompetenzen); sie produzieren sich durch musikalisches Handeln, durch Kontaktaufnahme, Abwehr, stereotypes Spiel, Umgang mit den Instrumenten etc.. Besonderes Augenmerk liegt auf der Beziehungsgestaltung und dem interpersonalen Verhalten. Verschiedenste Interaktionsmuster treten innerhalb der Improvisation zutage; die musikalische Situation wird zum „Vergrößerungsglas“ (Hopster 2005, S. 22) der zwischenmenschlichen Aktionen. In der Musik werden die Kontaktstörungen hör- und fühlbar und können so musiktherapeutisch bearbeitet werden. Hierbei können die musikalischen Komponenten Aufschluss geben: Klang, Rhythmus, Melodie, Dynamik und Form (vgl. Hegi 1986 und 1998).
2.2. Gestalttherapie
Es handelt sich um ein Verfahren mit existenzialistisch-phänomenologischer und experimenteller Orientierung, das von dem Arzt und Psychoanalytiker Fritz Perls in den 20er/30er Jahren entwickelt wurde. Er verbindet gestaltpsychologische, psychoanalytische und psychodramatische Ansätze und sucht den Menschen in seiner Ganzheit zu verstehen (vgl. Frohne-Hagemann 1996, S. 114). Die kreative Persönlichkeit mit ihren schöpferischen Kräften steht im Mittelpunkt der Behandlung. Das Erleben im Hier und Jetzt steht im Vordergrund (vgl. Yalom 1983), was bedeutet, dass keine unerledigten Geschäfte in der Vergangenheit durchgearbeitet werden - da Veränderung in der Vergangenheit sowieso unmöglich ist - , sondern sich die individuellen Erfahrungen nur als Reinszenierungen im jetzigen Geschehen wiederum abbilden und daraufhin bearbeitet und verändert werden können. Ziel ist es, Verantwortung für sich selbst und das eigene Leiden zu übernehmen. Aus der Gestalttherapie stammt der Begriff des Figur-Hintergrund-Prinzips: Wie eine Kippfigur löst sich eine bestimmte Gestalt aus ihrem Kontext, tritt zutage, wird sichtbar, wird bearbeitet und verändert. Gemeint ist z.B. eine Person mit ihrer Lebensgeschichte oder ein bestimmtes Verhalten in einer Gruppensituation. Figur und Hintergrund wirken in einem dauernden Wechselverhältnis miteinander; es besteht ein Bedeutungszusammenhang. Eine Figur kann sowohl aus dem Bewussten als auch aus dem Unbewussten stammen. Sie kommt aus einer Dringlichkeit in den Vordergrund, wird aktiv und präsent, oder sie wirkt im Hintergrund als sogenanntes unerledigtes Geschäft, als Unruhe oder Phantasie (vgl. Hegi 1998, S. 39).
Das erlebniszentrierte Denkmodell legt nahe, die Musik als „Hier-und-Jetzt-Medium“ (Frohne-Hagemann 1996, S. 115), als Atmosphäre schaffendes Mittel hinzuzunehmen. Die Gestaltmusiktherapie hat sich zu einer eigenen, weit verbreiteten Richtung entwickelt.
2.3. Gruppendynamik
Die Bezeichnung Gruppendynamik wird in diesem Zusammenhang als Wissenschaftsrichtung verstanden und findet hier ihre Erwähnung (obwohl sie keine spezifische Methode darstellt), da sie einen entscheidenden Anteil an den Prozessen jeder Gruppe hat. Schwerpunkt der Forschung sind bis heute Kleingruppen, die durch überschaubare Größe, persönliche Verbindung, Zusammenarbeit und wechselseitige Identifizierung („Wir-Gefühl“) gekennzeichnet sind (vgl. Mayr 1996, S. 117). Der Arzt und Psychotherapeut Jakob Moreno erweiterte Mitte der 30er Jahre die Psychotherapie von Individual- auf Gruppentherapie und fokussierte seinen Blick auf die Wechselbeziehungen zwischen dem Individuum und der Gruppe. Der Gestaltpsychologe Kurt Lewin forschte zeitgleich an Beziehungs- und Bedeutungszusammenhängen, wobei er sich auf das Verhalten im sozialen Feld bezog und psychische und soziale Kräfte innerhalb der Gruppe untersuchte. Auch hier fokussiert sich das Geschehen auf das Hier und Jetzt. Die Gründung von sogenannten T- Gruppen (Trainings-Gruppen) erfolgte unter folgender Zielsetzung: Schulung der Wahrnehmung (Selbst-/Fremdeinschätzung), Übernahme von Eigenverantwortung, Entwicklung von Teamfähigkeit und der Nutzung von Feedback. Das eigene Verhalten soll erkannt und ggf. verändert werden. Die Ergebnisse aus den seit damals angestellten Forschungen beeinflussen und durchdringen bis heute die Arbeit in und mit Gruppen aller Art.
Yalom beschreibt die Kräfte, die im Patienten miteinander in Konflikt stehen und bestimmte Gefühle und Verhaltensweisen zur Folge haben. Sie sind auf unterschiedlichen Bewusstseinsebenen angesiedelt und oft im dynamischen Unterbewussten verdrängt. Diese Kräfte bzw. deren Verhältnis untereinander bilden den Hintergrund der Dynamik, mit der ein Patient interagiert. Für eine Gruppe bedeutet dies, dass es unsichtbare Konstruktionen oder Gruppenmerkmale gibt, die die Massenbewegung und somit die Dynamik der Gruppe beeinflussen (vgl. Yalom 1995, S. 83).
Die Musiktherapie verfügt beim Erkennen gruppendynamischer Prozesse über einen entscheidenden Vorteil: Beim freien Improvisieren existiert kein kognitiver, sprachlicher Filter mehr, denn der weniger manipulierbare nonverbale Ausdruck steht im Vordergrund; wir haben es mit „hörbarem Handeln“ (Mayr 1996, S. 119) zu tun, welches alle gemeinsam auf sinnlichem Wege erleben. Die Teilnehmer sind sowohl ein Teil davon als auch Beobachter der anderen. Die Erfahrung lehrt, dass in musiktherapeutischen Gruppen der dynamische Prozess aufgrund des Mittels der freien Improvisation sehr viel schneller voranschreitet als es ohne Musik der Fall ist.
2.4. Psychoanalytisch orientierte Musiktherapie
Wir haben es heutzutage nicht mehr mit der reinen Psychoanalyse im Sinne Freuds zu tun, sondern die Verknüpfung mit anderen Methoden und eine damit einhergehende Weiterentwicklung wird als notwendig erachtet. Diese Tendenz entspringt aus dem sich steigernden Interesse an interaktionellen Prozessen innerhalb der Therapie und dem Ziel, erlebnisbedingte Störungen zu verstehen, die sich in den täglich gelebten Beziehungen manifestieren (vgl. Langenberg 1996, S. 306). Wovon auszugehen ist, ist die „Wiederkehr des Verdrängten“ (Heigl-Evers et al. 1993, S. 192). Starke Widerstände werden mobilisiert, um Dinge im Hintergrund zu halten. Durch direkte Inszenierungen werden narzistische Bedürftigkeiten und infantile Wünsche deutlich (vgl. Heigl-Evers et al. 1993, S. 193).
Die Integration künstlerischer Ausdrucksformen ermöglicht einen nonverbalen und spielerisch-handelnden Zugang; die Improvisation bietet Spielraum für Reinszenierungen frühester Beziehungserfahrungen. Die Musik fördert regressive Prozesse und begünstigt das Zurückfallen in infantiles Verhalten, was musikalisch durchaus auch positiv verwertet werden kann (Spielen wie die Kinder, die sie nie waren). Das musiktherapeutische Psychotherapieverfahren mit psychoanalytischem Hintergrund wurde erstmals von Mary Priestley beschrieben, die die Begegnung von Patient und Therapeut und somit die Beziehungsgestaltung in den Vordergrund stellt und vor allem die auftauchenden Erinnerungen und das Unbewusste berücksichtigt. Das Erleben von Affekten gestaltet sich im Wechsel zwischen Spielen und Sprechen. Durch das Hörbarwerden kann ein psychodynamisches Verständnis der Begegnungssituation entstehen. Die in der Musiktherapie gängige Aufforderung, aus dem Stegreif zu spielen, entspricht in etwa der Grundregel der Psychoanalyse, alles zu sagen, was einem „in den Sinn kommt, auch wenn es ihm [dem Patienten] unangenehm zu sagen ist, auch wenn es ihm unwichtig oder sogar unsinnig erscheint“ (Freud 1940, zit. nach Weymann 1999, S. 58).
Anders ist, dass der Therapeut nicht, wie in der Psychoanalyse ursprünglich üblich, eine vollkommen abstinente Haltung einnimmt, sondern sich zum Teil mit in das Geschehen hineinbegibt, denn er improvisiert gemeinsam mit dem Patienten und geht so bewusst eine andere, nonverbale Art der Beziehung ein, die im musikalischen Geschehen durch unterschiedlichste Komponenten von z.B. Nähe, Distanz, Abgrenzung oder Umhüllen geprägt ist. So entsteht durchaus eine emotionale Beziehung, wobei die therapeutische Rolle trotzdem niemals verlassen werden darf.
In jeder Beziehung, hier zwischen Patient und Therapeut, muss davon ausgegangen werden, dass das von Freud erkannte und als solches bezeichnete Phänomen der Übertragung in jedem Fall stattfindet (vgl. Priestley 1993, S. 56): Der Patient verlagert seine Erfahrungen und damit seine Befürchtungen und Wünsche stellvertretend auf die Person des Therapeuten und agiert frühere Beziehungserfahrungen in der Patient- Therapeut-Beziehung aus. Der Therapeut muss damit bewusst umgehen, indem er z.B. Hass mit Mitgefühl oder Ablehnung mit Wohlwollen begegnet; er muss das Verhalten des Patienten nicht zwangsläufig deuten, um die Übertragung aufzulösen, aber er muss darum wissen, um sie ggf. für den therapeutischen Verlauf nutzbar zu machen. Bei dem das Geschehen ebenfalls beeinflussende Phänomen der Gegenübertragung handelt es sich um ein eher selten verwendetes Wort von Freud, aber nichtsdestotrotz einen Begriff der Psychoanalyse: Im Therapeuten entstehen Gefühle, die zwar durch den Patienten ausgelöst werden, unbewusst aber auch aus seiner eigenen Geschichte entspringen und auf damit verbundene Erfahrungen hinweisen. Hier ist wichtig, dass Wachsamkeit den eigenen Gefühlen gegenüber geboten ist, damit es zu keiner Vermischung kommt, die der Beziehung schaden könnte.
Die von Heigl-Evers und Heigl vorgenommene Verknüpfung mit der - auf Cohn zurückgehende - themenzentrierten interaktionellen Methode (vgl. Rudolf 1996, S. 329) lässt eine Differenzierung des gruppentherapeutischen Prozesses zu und wird als interaktionelle Gruppenpsychotherapie (vgl. Heigl-Evers/Ott 2002) bezeichnet. Auf unser Fach bezogen grenzt sie sich, so benannt von Jürgen Ott, als psychoanalytisch-interaktionelle Gruppenmusiktherapie ab. Gegenstand der Therapie ist vor allem das manifeste interaktionelle Verhalten innerhalb der Gruppe. Als psychoanalytische Methoden fließen das Prinzip Antwort und das Prinzip Deutung 5 in die musiktherapeutische Arbeit mit ein. Sie werden hauptsächlich im Bereich der Früh- bzw. strukturellen Störungen angewendet. Als therapeutische Intervention bedeutet dies die Übernahme eines Hilfs-Ich für strukturell gestörte Patienten, denen diese Instanz nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung steht6. Es erfolgte in der frühkindlichen Entwicklung eine Spaltung in Teilobjekte, die nicht mehr integriert werden können, und die Beziehungsgestaltung läuft nun nach dementsprechend inszenierten Mustern ab. Die das Erleben dominierende Teil-Objektbeziehung und die damit korrespondierenden Einschränkungen der Ich-Organisation prägen somit auch die Beziehungen, die in der Gruppe eingegangen werden und spiegeln sich im jeweiligen interaktionellen Verhalten wider (vgl. Heigl-Evers et al. 1993, S. 231).
Für diese Patienten ist ein wichtiges Thema, das Bedürfnis nach Autonomie und die Akzeptanz von Abhängigkeit in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen (vgl. HeiglEvers et al. 1993, S. 229). Gefühle wie Schuld, Scham, Stolz, Rache, Angst und Impulsdurchbrüche stehen im Mittelpunkt der Wahrnehmung, vieles spielt sich auf der ödipalen Ebene ab: Es geht um Begehren und Rivalität.
Ein therapeutisches Ziel ist es, auf die Realitätsverzerrungen einzuwirken und dazu anzuhalten, die Wahrnehmung einer Prüfung zu unterziehen, wobei die Gruppe wertvolle Hilfe leisten kann. Oft gilt es auch vorerst, „Erwartungsenttäuschung und daraus folgende Aggression“ (Heigl-Evers et al. 1993, S. 230) auszuhalten, wie man in der GMT am Beispiel von Frau Na. erkennen kann (vgl. Kap. 8.4.). Der Therapeut lässt sich ein Stück weit in den Prozess involvieren, übernimmt stellvertretend die Funktion von z.B. Impulsregulierung, Schutz, Entlastung oder Über-Ich-Funktionen, hauptsächlich muss er jedoch in der Bereitschaft sein, eine haltende Funktion zu übernehmen (holding function) (vgl. Heigl-Evers et al. 1993, S. 231; vgl. auch Winnicott 1971). Ein wichtiges Thema ist auch die individuelle Nähe- Distanzregulierung und die damit verbundene Frage: Was ist erwünscht, was verboten? Was will ich und was wollen die anderen? Hierbei ist der Weg zur Einigung der eigentliche Prozess, und die Klärung des gemeinsamen Nenners wird zum Thema an sich. In der GMT wurde festgestellt, dass die Gruppe für den Schritt zum Konsens mitunter die Hälfte der Stunde verbrachte, weil sich die Patienten in derart festgefahrenen Strukturen bewegten, die eine Einigung (z.B. spielen oder nicht spielen)
[...]
1 Es wird durchgehend die männliche Form benutzt, womit selbstverständlich beide Geschlechter gleichwertig gemeint sind.
2 Die Namen der Patienten wurden anonymisiert.
3 z.B. „Die Schopenhauer-Kur“, „Und Nietzsche weinte“, „Die rote Couch“
4 Dieser Begriff geht auf den Soziologen Robert K. Mertons zurück, gelangte zu Popularität vor allem durch Watzlawicks - auch von Patienten gern gelesene - „Anleitung zum Unglücklichsein“ (Watzlawick 2005)
5 Der Therapeut gibt selektiv-authentische, emotionale Antworten bzw. Deutungen, um dem Patienten zu einer deutlicheren Selbstabgrenzung, Differenzierung von Selbst und Objekt und einer klaren seelischen Strukturiertheit zu verhelfen. Dem Patienten wird ihm Unvertrautes gespiegelt, mit dem er bisher nicht in Berührung kommen konnte oder sich nicht aneignen konnte. Wird angewendet vor allem als Reaktion auf Dialogbrüche und unbewusste Einsetzung von Schutz- und Abwehrmechanismen (vgl. Rudolf 1996, S. 365).
6 Aufgrund von tief enttäuschenden Erfahrungen in den frühen Objektbeziehungen sind die Beziehungsstrukturen dieser Patienten durch Abbrüche und Ich-Entfremdung gekennzeichnet und gestalten sich mithilfe von Projektionen und ausagierten Verwicklungen, die sich in gestörter Kommunikation manifestieren (vgl. Rudolf 1996, S. 329).
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