Die nachhaltig von Jürgen Habermas geprägte These, eine Etablierung freiheitlich-demokratischer Gesellschaften könne vornehmlich über die Einführung demokratischer Verfassungen erfolgen, ist durch den empirischen Befund nicht zu bestätigen. Von den hundert Staaten der "Dritten Welle", dem von Samuel P. Huntington beschriebenen Siegeszug der Demokratie, sind lediglich zwanzig, darunter die heute zur EU gehörigen postsozialistischen Staaten, Chile, Taiwan und Süd Korea, auf dem Wege zu konsolidierten demokratischen Ordnungen. Der Rest bleibe nach Thomas Carothers in einer Grauzone zwischen Diktatur und Demokratie gefangen.
Auch Russland fügt sich mit der unter Präsident Putin formulierten "gelenkten Demokratie" in diese Grauzone ein. Trotz der Verankerung einer freien Marktwirtschaft und formaler demokratischer Institutionen haben die zentralistischen und autoritären Tendenzen im Zuge der staatlichen Konsolidierung zugenommen. Der Regierungswechsel von Präsident Putin zu Präsident Medvedev im März 2008 erfolgte durch interne und undurchsichtige Absprachen hinter den Mauern des Kremls. Die seit den Präsidentschaftswahlen 1996 zur medialen Farce verkommenen Wahlen hatten auf das Ergebnis keinen Einfluss. Laut repräsentativen Umfragen begegnet die große Mehrheit der Bevölkerung diesen Verhältnissen mit Zustimmung oder Gleichgültigkeit.
Unter der Prämisse, dass es für die Demokratie nicht nur auf formale politische Institutionen, sondern vor allem auch auf die gemeinschaftlichen Lebenserfahrungen der Bürger ankommt, untersucht der Aufsatz das sowjetgesellschaftliche Massenphänomen "blat" (dt. Vetternwirtschaft, Vitamin B). Hierbei geraten nicht-staatliche soziale Netzwerke in den Blickpunkt und es stellt sich die Frage, ob blat Ausdruck einer sowjetischen Zivilgesellschaft war, bzw. zur Produktion von "sozialem Kapital" beitragen konnte.
Inhaltsverzeichnis
- Zivilgesellschaft in Russland?
- Freundschaft und gegenseitige Hilfe: Soziales Kapital durch blat?
- Die nach dem Zerfall der Sowjetunion auf Russland gerichteten Hoffnungen bezüglich einer gesellschaftlichen Demokratisierung und Liberalisierung sind heute weitgehend enttäuscht.
- Im internationalen Vergleich ist diese Entwicklung keineswegs ein Sonderfall.
- Nach diesen allgemeinen Überlegungen soll im Folgenden ein soziales Phänomen beleuchtet werden, das in der politischen Diskussion um Russland bisher wenig Beachtung fand, aber nichtsdestotrotz große Erklärungskraft birgt.
- Anfang der 1990er Jahre erlebte der Begriff des sozialen Kapitals ein Revival und gilt seitdem, im Sinne einer demokratischen Sozialisierungsfunktion für die Gesellschaft, als Teil des Zivilgesellschaftskonzepts.
- Putnam meinte mit der „sozialen Organisation“ nach Alexis de Tocqueville ein staatsunabhängiges, nicht-hierarchisches Vereinswesen (u.a. Musik-, Sport oder Hobbyvereine), welches in der Sowjetunion allerdings nicht existierte.
- Die russische Soziologin Anna Ledeneva hat sich in einer Pionierarbeit eingehend mit einer besonderen Form der sowjetischen Freund- und Hilfsbereitschaft beschäftigt und verband diese mit dem russischen, eher negativ behafteten Terminus blat.
- Obwohl blat der offiziellen Ideologie zuwiderlief – denn der sozialistische Staat hatte den Anspruch, sämtliche Bedürfnisse zu erfüllen – war es selbst in den Rängen der Parteielite (nomenklatura) zu finden.
- Nach dem eben Gesagten könnte argumentiert werden, dass die über die Rhetorik der Freundschaft und gegenseitigen Hilfe funktionierenden blat-Netzwerke durchaus „die Koordination und Kooperation zum gegenseitigen Nutzen“ förderten und damit der Putnamschen Definition vom sozialen Kapital entsprechen.
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Text untersucht das Phänomen „blat“ in der sowjetischen Gesellschaft und analysiert, inwieweit es als eine Form sozialen Kapitals betrachtet werden kann. Ziel ist es, die Rolle von „blat“ in der russischen Gesellschaft im Kontext der Demokratisierung und der Entwicklung der Zivilgesellschaft zu beleuchten.
- Die Bedeutung von „blat“ als eine Form der gegenseitigen Hilfe und des informellen Austauschs in der sowjetischen Gesellschaft
- Die Beziehung zwischen „blat“ und dem Konzept des sozialen Kapitals
- Die Auswirkungen von „blat“ auf die Entwicklung der Zivilgesellschaft in Russland
- Die Rolle von „blat“ in der Privatisierung öffentlicher Ressourcen und der Vergrößerung der Kluft zwischen Privatem und Öffentlichem
- Die Herausforderungen der Demokratisierung in Russland im Kontext von „blat“ und dem Mangel an sozialem Kapital
Zusammenfassung der Kapitel
- Das erste Kapitel beleuchtet die enttäuschten Hoffnungen auf Demokratisierung in Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion und zeigt, dass formale demokratische Institutionen und Marktwirtschaft keine Garanten einer freiheitlichen Gesellschaft sind.
- Das zweite Kapitel führt den Leser in das Konzept des sozialen Kapitals ein und erläutert die Definition von Robert Putnam, die ein staatsunabhängiges, nicht-hierarchisches Vereinswesen als Grundlage für die Generierung sozialen Vertrauens sieht.
- Das dritte Kapitel stellt den Begriff „blat“ vor, der in der sowjetischen Gesellschaft eine besondere Form der Freund- und Hilfsbereitschaft beschreibt. Es wird erläutert, dass „blat“ in der Beschaffung von Konsumgütern und der Regelung öffentlicher Belange eine wichtige Rolle spielte.
- Das vierte Kapitel analysiert, inwieweit „blat“ als eine Form sozialen Kapitals betrachtet werden kann. Es wird argumentiert, dass „blat“ zwar die Koordination und Kooperation zum gegenseitigen Nutzen förderte, aber gleichzeitig die Privatisierung sämtlicher Lebensbereiche und die Vergrößerung der Kluft zum Öffentlichen begünstigte.
Schlüsselwörter
Zivilgesellschaft, Soziales Kapital, blat, Vetternwirtschaft, Sowjetunion, Russland, Demokratisierung, Liberalisierung, Privatisierung, öffentliche Ressourcen, informeller Austausch, gegenseitige Hilfe, Freundschaftsnetzwerke, Vertrauen, Misstrauen, politische Institutionen, Marktwirtschaft
- Arbeit zitieren
- Markus Huth (Autor:in), 2009, Zivilgesellschaft in Russland?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/140519
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