Diese Arbeit betrachtet das politische System der Bundesrepublik aus einer soziologischen Perspektive.
Sie setzt bei der Erklärung von Politik- und Demokratieverdrossenheit dort an, wo die rein politikwissenschaftlichen Ansätze versagen, da sie ihre Grenzen in der Verfassungsrealität oder der "politischen Korrektheit" finden.
Zentrale Themen der Arbeit, wie angedeutet, die:
- Entstehung und Wirkung der Politik- und Demokratieverdrossnheit
- Die Entstehung, die Funktion, und die Entwicklung der dt.Parteien und Parteienlandschaft
- Die Dreiecksbeziehung von Staat, Parteien und Wahlvolk
- Parteien- und Systemkritik
Die Themen werden umfangreich behandelt; die gängigen und vor allem die kritischen politikwissenschaftlichen Ansätze erörtert und deren Grenzen zur Erklärung der Parteien- und Demokratieverdrossenheit aufgezeigt.
Als Alternative werden dann soziologische Theorien und Ansätze von:
(u.a.) Weber, Luhmann, Popitz bewirtschaftet, um dem Problem der Politikverdrossenheit näher zu kommen.
Diese Arbeit eignet sich hervorragend für Studenten der Politik- und Sozialwissenschaft aber auch für all jene, die sich schon immer gefragt haben, warum Politik nahezu unabhängig von der Bevölkerung gemacht werden kann.
Gliederung:
I. Einleitung
I.1. Themenfindung
I.2. Vorgehen
I.2.1. Parteien
I.2.2. Parteien und Staat
I.3. Begriffsdefinition
I.3.1. Das politische System
I.3.2. Politische Klasse und politische Elite
I.3.3. Macht und politische Herrschaft
II. Parteien
II.1. Die politische Partei zwischen Monarchie und Demokratie
II.2. Die Partei als Organisation
II.3. Robert Michels „Ehernes Gesetz der Oligarchie“
II.3.1. Das „Eherne Gesetz der Oligarchie“ in der Kritik
II.3.2. Das „Eherne Gesetz der Oligarchie“
a) Technisch-Administrative Gründe
b) Intellektuelle Gründe
c) Psychologische Gründe
d) Charisma und Autorität
e) Bürokratie
II.4. Die demokratische Elitentheorien
II.5. Die Partei Bündnis90/Die Grünen im Spiegel von Michels Oligarchiethese
II.6. Zusammenfassung von Kapitel II
III. Parteien und Staat
III.1. Der Zugriff der Parteien auf das Staatswesen
III.1.1. Parteien und die Legislative
III.1.2. Parteien und die Exekutive
III.1.3. Parteien und die Verwaltung
III.1.4. Parteien und die Medien
III.2. Parteienstaat vs. Parteiendemokratie
III.3. Wettbewerbsdemokratie?
III.3.1. Schumpeters Anforderungen für den politischen Wettbewerb auf dem Prüfstand
III.3.2. Transparenz und Konkurrenz
III.4. Parteien, Wahlen und Demoskopen
III.4.1. Demoskopiekritik im Spiegel der Wettbewerbsdemokratie
III.5. Zusammenfassung von Kapitel III
IV. Schlussbetrachtung
V. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
»Es kann das Volk sein eigener Tyrann sein, und es ist es oft gewesen.«
- Ludwig Börne-
Die innerparteiliche Willensbildung ist neben der Wahl eine der beiden Möglichkeiten, mit der ein Bürger Einfluss auf das politische Geschehen in der Bundesrepublik nehmen kann. Als Voraussetzung hierfür gilt jedoch seine Mitgliedschaft in einer politischen Partei. Einmal beigetreten, steht es dem Bürger dann offen, seinen Willen per Wahl an die jeweils übergeordnete Parteiinstanz zu übertragen oder aber selber in der Parteihierarchie aufzusteigen. Dafür garantiert die im Grundgesetz vorgeschriebene demokratische Grundordnung der Parteien, die auf den ersten Blick eine Willensbildung von unten nach oben postuliert.[1]
Jedoch erscheint es dann konfus, wenn der Bürger nachlässig mit diesem Medium der demokratischen Willensbildung umgeht. Die deutschen Parteien verbuchen seit Jahren eine rückläufige Mitgliederanzahl.[2] Als Rekordhalter ist die SPD zu nennen, welcher allein zwischen 1990 und 2004 über ein Drittel ihrer Genossen den Rücken kehrte. Es wäre naiv diesen Negativtrend mit einem allgemeinen Verfall demokratischer Grundwerte zu erklären, der gerne mit schwammigen Begriffen wie Politik- oder gar Demokratieverdrossenheit garniert wird. Ein Blick auf die Beweggründe der vergrämten Ex-Mitglieder, die schließlich zum Parteiaustritt führen, belehrt eines bessern. Lassen wir einmal einige der ehemaligen Genossen zu Wort kommen:
»Nach 33-jähriger Mitgliedschaft in der Partei, die einmal die der sozial Schwächeren war, erkläre ich hiermit meinen Austritt aus der SPD. Begründung: Nach diesem unglaublichen Fehlgriff mit der Doppelbelastung der Direktversicherungen, die ausschließlich die weniger gut Verdienenden, nicht aber die besser Gestellten (…), und unter anderen eben auch mich persönlich trifft, reicht es mir jetzt einfach. Das war, gewissermaßen, der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. «[3]
Diesem Bürger kann wohl kaum Politikverdrossenheit vorgeworfen werden. Er war langjähriges Mitglied einer Partei und kann genaue Gründe für seinen Austritt vorbringen, was ein gewisses Maß an Interesse für die Politik vermuten lässt. Ein anderer schreibt:
»Werte Genossinnen und Genossen, nach 35 Jahren Mitgliedschaft erkläre ich hiermit meinen Austritt aus der SPD zum 31.01.04 und widerrufe damit zugleich meine Einzugsermächtigung zur Abbuchung meines Mitgliedbeitrages. Den bereits seit langem eingeschlagenen ideologischen und politischen Richtungswechsel kann und will ich nicht mehr länger mittragen. Mein gesellschaftspolitisches Engagement setze ich auf anderen Wegen fort. «[4]
Auch hier liegt eine langjährige Mitgliedschaft sowie politisches Interesse vor. Von Demokratieverdrossenheit fehlt jede Spur, denn das „gesellschaftliche Engagement“ wird fortgesetzt, jedoch nicht bei der SPD. Ein gravierendes Problem hingegen wird beim nächsten Beispiel deutlich:
»Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit möchte ich Ihnen meinen Parteiaustritt aus der "Sozialdemokratischen Partei Deutschlands" bekannt geben. Ich wünsche Ihrer Partei für die nahe Zukunft kompetente Leute an der Spitze und keine Betrüger. Ich schäme mich, dass ich dieser Partei Jahre angehört habe. Aber inzwischen kann man ja keine Partei mehr wählen. «[5]
Gerade weil hier Mitgliedschaft und Wahl in ein und denselben Topf geworfen werden, wird die Verzweiflung dieses Bürgers deutlich. Für ihn ist keine Partei mehr wählbar, obwohl er doch gerne wählen würde. Das Problem ist nicht die demokratische Grundordnung mit der Möglichkeit zu wählen an sich, sondern die Parteien, die zur Wahl zur Verfügung stehen. Diese Erkenntnis ist deshalb so wichtig, da die Begriffe Demokratie- und Parteienverdrossenheit gerne als gleichberechtigt in einem Atemzug genannt werden, obwohl die Parteien- der Demokratieverdrossenheit stets vorangeht.[6]
Gründe für diese Parteienverdrossenheit gibt es scheinbar viele. Sie gehen deutlich aus den veröffentlichen Austrittsschreiben hervor und sind auch in der Literatur weit reichend erforscht.[7] Nur einige dieser Begründungen, denen im Verlauf dieser Arbeit noch nachgegangen wird, sollen hier genannt werden. Es ist die Rede von einer wachsende Diskrepanz zwischen Parteiführung und Basis, einem allgemeinen Funktionswandel der Parteien, der sich dann scheinbar negativ auf das demokratische Verhalten der Bürger auswirkt oder von Parteimitgliedern die die ideologischen Richtungswechsel ihrer Partei nicht unterstützen können. All diese Kritikpunkte bemängeln das moderne Parteiwesen und können auch als Gründe für die grassierende Parteienverdrossenheit benannt werden. Ihr Ursprung bleibt jedoch vorerst ungeklärt.
Auch das Wahlverhalten der Deutschen gibt Grund zur Sorge. Die Beteiligung bei den für das demokratische System doch so wichtigen Wahlen geht, wie auch die Mitgliederzahlen der Parteien, stetig zurück. Die Bevölkerung scheint nicht nur am Prinzip der innerparteilichen Willensbildung zu zweifeln, auch die zweite Möglichkeit, die politischen Partizipation durch Wahlen, wird nicht entsprechend ihrer Bedeutung genutzt. Wo vergrämte Ex-Parteimitglieder, die Parteien selbst, aber auch die Forschung die innerparteiliche Resignation des Publikums zwar aufzeigen, den eigentlichen Ursprung jedoch nicht so recht auf den Punkt bringen können, sind sie auch nicht in der Lage den Ausgangspunkt für die sinkende Wahlbeteiligung zu ermitteln.
Gründe für die sinkende Begeisterung des Elektorats gibt es auch hier augenscheinlich viele. Da ist die Rede von überbezahlten Abgeordneten und Parteifunktionären oder von dubiosen Nebenjobs der Spitzenpolitiker, die deren Integrität zu gefährden drohen. Auch die viel beforschten Demokratiedefizite im Gesetzgebungsverfahren und der Gewaltenteilung wie auch der lähmende Konsenscharakter des deutschen Föderalismusmögen mögen dazu beitragen, dass die deutsche Bevölkerung das demokratische Prinzip in Frage stellt oder es zumindest uninteressant macht.[8] Natürlich sind diese, wie auch die weiter oben identifizierten innerparteilichen Probleme, existent und relevant. Sie wirken sich auch direkt negativ auf das demokratische Verständnis der Bevölkerung aus, die dann trotz theoretischer Einflussmöglichkeiten, aber auf Grund realer Machtlosigkeit, vor dem politischen System kapituliert. Jedoch kreist die Debatte der Politik, der Forschung und der Öffentlichkeit lediglich um diese Symptome, deren Ursprung nicht präzise eingekreist werden kann. Da sich das Gro der Kritik aber auf eben jene Symptome konzentriert, bleibt der Ausgangspunkt der demokratischen Vertrauenskrise unerkannt und ist daher auch mit noch so vielen Reformen nicht zu kurieren.
Daher dürfen an dieser Stelle nicht die klassischen politikwissenschaftlichen Ansätze rezitiert werden. Diese identifizieren entweder verschiedene „Fehlentwicklungen“ innerhalb von Parteien und Staat als Ursache für die Parteienverdrossenheit[9] oder aber die gleichen Symptome werden mit Hilfe eines Euphemismus als integraler Bestandteil des politischen Systems gepriesen. Die Resignation des Publikums wird dann kurzum auf ein allgemeines Unverständnis des Parteienstaates geschoben.[10] Da die politikwissenschaftlichen Analysen den Kern des Problems scheinbar nicht erfassen können und die aktuelle Forschung mehrheitlich an den Symptomen einer nicht richtig identifizierten Größe herumdoktert, darf es nicht genug sein, sich einer der beiden Positionen anzuschließen und die Welt dann in Schwarz und Weiß zu unterteilen. Stattdessen muss ein alternativer Ansatz gewählt werden, der den eigentlichen Gegenstand der Kontroverse, die Parteien, aus einer anderen Perspektive betrachtet. Denn es sind diese, die in erster Linie für die Parteien- und der anschließenden Politikverdrossenheit verantwortlich sind. Ziel dieser Arbeit ist es also, den Ursprung für die Parteienverdrossenheit zu identifizieren und dann, in einem zweiten Schritt, zu überprüfen, wie daraus eine allgemeine Politikverdrossenheit entstehen kann.
Da die klassischen politikwissenschaftlichen Ansätze bisher kaum zur Aufklärung dieses Ursprungs beitragen konnten, wird im Folgenden eine Analyse versucht, die die Partei nicht primär als politisches, sondern als sozilogisches Gebilde, als Organisation zum Gegenstand der Betrachtung macht. Aus diesem Blickwinkel wird es dann möglich sein, den eigentlichen Ursprung der Krise zu benennen, wobei schon hier vorweggenommen werden soll, dass wir am Ende dieser Arbeit zur gleichen Aussage wie Niklas Luhmann kommen, dem zum Thema Parteien- und Politikverdrossenheit folgendes einfällt:
»Als Soziologe hat man zunächst einmal verstehend zu erklären, dass dies [also die Systemkrise, die die einen als „Fehlentwicklung“ und die anderen als Bestandteil des politischen Systems bezeichnen] ganz normal ist und sich wiederholen wird. «[11]
I.1. Themenfindung
Die deutsche Bevölkerung scheint beide Möglichkeiten der politischen Partizipation, die innerparteiliche Willensbildung und die Wahl, immer weniger zu nutzen. Da jedoch alle Staatsgewalt vom „Volke“ ausgeht, wie es in Artikel 20 des Grundgesetzes heißt, stellt sich die Frage, warum der Volkssouverän nicht mehr bereit ist zu artikulieren, auf wen er denn seine Macht zu übertragen gedenkt. Der Grund hierfür könnte sein, dass nach Umfragen ca. 80% der Bürger der Meinung sind, sie hätten keinen Einfluss auf die Politik.[12] Dies äußert sich dann in plakativen Kommentaren, die aufhorchen lassen: „Die da oben machen ohnehin was sie wollen.“ oder: „Es ist sowieso keine Partei mehr wählbar.“ Auch wenn solche und ähnliche Aussagen wohl kaum eine wissenschaftliche Analyse darstellen, deuten sie auf eine Problematik hin, welcher hier weiter nachgegangen werden soll. Es stellt sich zum einen die Frage, warum das Volk keine Einflussmöglichkeiten auf die Politik mehr sieht und zweitens, wer denn dann in der Lage ist die Politik in Deutschland aktiv zu beeinflussen. In Kürze: Wer herrscht in der Bundesrepublik?
Theoretisch ist diese Frage schnell beantwortet. Deutschland ist eine Demokratie, was frei mit „Volksherrschaft“ übersetzt werden kann. So einfach ist es dann wiederum nicht, da es sich genau genommen um eine Demokratie repräsentativen Typs handelt, in dem das Volk nur indirekt über gewählte Vertreter zu herrschen vermag. An dieser Stelle muss dann der Begriff der Volkssouveränität fallen, welcher dem Volk keine direkte Herrschaft verspricht, wohl aber das Recht auf die Vergabe von zeitlich beschränkter Macht allein in seine Hände legt. Es sind dann eben jene gewählten Abgeordneten, die die Gesetze machen und sich eine Exekutive wählen, die dafür sorgt, dass diesen indirekt vom Volk geschaffenen Verordnungen auch Geltung verschaffen wird. Die Bindung aller Staatsdiener an das Volk wird durch die turnusgemäße Wahl sichergestellt, denn nur wer im Sinne des Volkes regiert, darf auf eine Wiederwahl hoffen. Jedoch funktioniert das Prinzip der indirekten Volksherrschaft nicht so, wie es sollte, denn die Abgeordneten scheinen die Bindung zur Bevölkerung verloren und sich dessen Einfluss entzogen zu haben.
Ebenso wird innerparteilich die Herrschaft der Parteibasis durch ein Delegiertensystem ausgeübt. Auch hier sollte so eigentlich die Bindung der Parteifunktionäre und des Vorstandes an die Basis gewährleistet sein, doch wie auch auf staatlicher Ebene entzieht sich die Parteiführung dem Einfluss der Mitgliedschaft. Parteichefs regieren oft viele Jahre und die Wahlergebnisse zum Parteivorstand erinnern oft an jene faschistischer oder kommunistischer Diktatoren.
Daher gilt es zu enträtseln, warum Parteibasis und Bevölkerung ihren Einfluss nicht mehr geltend machen können und warum es den Partei- und Staatsführern, also einer politischen Elite, möglich ist, oft unabhängig von ihnen zu regieren. Dabei sind es insbesondere die Parteien und deren Eliten, die einer tief greifenden Analyse unterzogen werden müssen. Dies aus zweierlei Gründen: Zum einen, da, wie festgestellt, die Parteien- der Politikverdrossenheit stets voran geht und zum anderen, da nahezu jeder Vertreter der Parlamente und der Regierungen[13] Mitglied in einer Partei ist und sein Amt maßgeblich nur dieser zu verdanken hat.[14] Um also die „Defizite“ des politischen Systems der Bundesrepublik zu untersuchen, ist zuallererst das Parteiwesen zu analysieren, da zu vermuten ist, dass Parteien die staatlichen Institutionen maßgeblich beeinflussen. Erst danach kann dann die hoheitliche Sphäre in den Fokus der Betrachtung rücken.
Hierzu wird, wie schon angekündigt, ein soziologischer Zugang gewählt, da die Politikwissenschaft allein die eigentliche Ursache für die Enttäuschung der Bevölkerung nicht ermitteln kann. Im Verlauf dieser Arbeit werden daher auch die gängigen politikwissenschaftlichen Positionen dargelegt. Es fällt jedoch schnell auf, dass es ihnen an einer sozilogischen Perspektive mangelt, obwohl eine solche oder auch eine Kombination aus beiden die „Probleme“ des politischen Systems präziser darstellen kann. Das Thema dieser Arbeit soll daher lauten:
Politische Herrschaft in der Bundesrepublik Deutschland – Eine Untersuchung aus soziologischer Perspektive.
I.2. Vorgehen
Ziel dieser Arbeit ist es darzulegen, dass der Ursprung des politischen Verdrusses nicht auf eine Fehlfunktion des politischen Systems zurückzuführen ist, sondern auf die Existenz einer politischen Elite, die sich der Kontrolle des theoretischen Souveräns entzogen hat und praktisch das politische System beherrscht. Um die Hegemonie einer solchen politischen Elite nachzuweisen, wird dargelegt, dass beide demokratische Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung, die innerparteiliche Willensbildung und die Wahl, ihre Funktion als Kontroll- und Willensbildungsmedium verfehlen. Darüber hinaus wird gezeigt, wie die Parteien und die öffentlichen Institutionen von der politischen Elite vereinnahmt und langfristig besetzt werden können.
Der Grund für die Dominanz dieser politischen Elite kann nicht lediglich auf den Machtwillen und das Vorteilstreben weniger Personen zurückgeführt werden.[15] Dies wird hier als durchaus natürlich und legitim vorausgesetzt. Vielmehr findet sich der Ursprung der Macht der politischen Elite und der praktischen Einflusslosigkeit der Bevölkerung in der Beschaffenheit des politischen Systems selbst. Innerhalb des politischen Systems sind es dann die Parteien, die auf Grund ihrer hierarchischen Organisationsform die Machtgrundlage der politischen Elite bilden. Die Hoheit über die eigene Partei verlagert die politische Elite dann erst in einem zweiten Schritt konsequent auf das Staatswesen. Diese These legt einen zweiteiligen Aufbau dieser Arbeit nahe, wobei der erste Teil das Verhältnis der Eliten zum Parteienwesen behandelt, während im zweiten dann die Dreiecksbeziehung zwischen Bevölkerung, Staat und Eliten eingehend betrachtet wird.
I.2.1. Parteien
Im Jahr 1910 schreibt der Soziologe Robert Michels in einem Vorwort seines Werkes zur Soziologie des Parteiwesens: »Die Demokratie führt zur Oligarchie, wird Oligarchie.«[16] Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist für ihn die Oligarchiebildung innerhalb des Parteiwesens, die aus der hierarchischen Organisation einer jeden Partei resultiert. Obwohl Michels These sich keiner großen Beliebtheit erfreut, soll sie als zentrale Aussage dieser Arbeit gelten.[17] Die Genese der Oligarchie innerhalb des Parteiwesens wird deshalb in Kapitel II dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen.
Zuvor ist jedoch zu klären, weshalb sich das moderne Parteiwesen überhaupt organisiert aufstellt und was unter einer organisierten Partei zu verstehen ist. Um diese Fragen zu beantworten, verlangt es nach einer historischen Vorüberlegung, die uns zu den Anfängen der Parlamentarisierung auf deutschem Boden zurückführen wird. Es wird dann deutlich, dass der Zwang zur Organisation mit dem Bedeutungsgewinn der Parlamente und dem daraus folgenden verschärften Kampf um Wählerstimmen einhergeht. Mit dem Ausbau der Organisation spitzt sich die Parteihierarchie immer mehr zu, was dann zu einem Abheben der Führung und zur Bildung einer Oligarchie führt.
Wenn die Oligarchie des Parteiwesens auch für das heutige Parteiwesen nachgewiesen werden kann, wäre eine der beiden Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung, die innerparteiliche Willensbildung, außer Funktion gesetzt. Denn eine basisorientierte Willensbildung wäre mit einer Oligarchie unvereinbar. Der Aufbau von Kapitel II orientiert sich daher auch an der hier vorgestellten Argumentation. Zunächst muss geklärt werden, warum sich das moderne Parteiwesen organisiert aufstellte. Erst dann ist es möglich, die aus der Organisation resultierende Oligarchiesierung des Parteiwesens zu erklären. Anschließend werden einige demokratische Elitentheorien vorgestellt, deren Autoren das Oligarchieproblem des Parteiwesens erkannt haben und versuchen, es in ein demokratisches System zu integrieren. Abschließend wird die Aktualität von Michels These auch für das heutige Parteiwesen anhand des Beispieles der Partei Bündnis 90/ Die Grünen demonstriert.
1.2.2. Parteien und Staat
Die politische Elite, die sich im Parteiwesen konstituiert hat, überträgt dann ihre innerparteilich gewonnene Macht auf das gesamte Staatswesen. Durch diese „Kolonisierung des Staates“ durch die Parteien wird ihre Macht auf staatlicher Ebene institutionalisiert. Der politischen Elite ist es so möglich, ihre Herrschaft über vergleichsweise wenige Parteimitglieder auf die gesamte Bevölkerung der Bundesrepublik auszudehnen. In Kapitel III. dieser Arbeit werden die Methoden und Umstände aufgezeigt, die diese Kolonisierung des Staates durch die politische Elite erst ermöglichen. Dabei wird auch eine der hitzigsten Debatten der politikwissenschaftlichen Forschung vorgestellt, die sich eben mit dieser Bevölkerung der staatlichen Institutionen nach Parteibuch auseinandersetzt. Kritische wie auch befürwortende Positionen werden dabei aus einer soziologischen Perspektive betrachtet und bewertet.
In diesem Rahmen ist eine Theorie der Kolonisierungsbefürworter zu beurteilen, die die Besiedelung des Staates durch die Parteien mit einer demokratischen Wettbewerbstheorie zu legitimieren versuchen. Dabei akzeptieren sie, dass Parteien tendenziell von Eliten beherrscht werden und das Prinzip der innerparteilichen Willensbildung unzulänglich ist. In ihrer Theorie transportieren sie den demokratischen Moment aus den Parteien heraus und reduzieren die Partizipation der Bürger auf den Wahlakt. Die Demokratie wird nach dieser Theorie durch den Wettbewerb verschiedener Parteien um die Wählerstimmen erzeugt und eine Rückbindung der Parteien und deren Eliten an den „Volkswillen“ garantiert. In Kapitel III. wird jedoch gezeigt, dass der Wahlakt in hohem Maße von der politischen Elite beeinflusst und eine unabhängige Wahlentscheidung der Bürger, wegen der Intransparenz des deutschen Regierungssystems und mangels wirklicher Konkurrenz der Parteien untereinander, immer unmöglicher wird. Gelingt es zu zeigen, dass nach der innerparteilichen Willensbildung auch das Medium der Wahl nicht frei von der Einflussnahme der politischen Elite ist, kann davon ausgegangen werden, dass Michels Oligarchiethese nicht nur für das Partei- sondern auch für das Staatswesen gültig ist.
1.3. Begriffsdefinitionen
Im Verlauf dieser Arbeit werden verschiedene Begriffe Verwendung finden, die ohne weitere Erläuterung unpräzise bleiben. Zum besseren Verständnis des Textes sollen sie an dieser Stelle deshalb genauer definiert werden.
I.3.1 Das politische System
Unter dem politischen System ist nicht lediglich das Staatswesen der Bundesrepublik, samt Regierungssystem und hoheitlichen Institutionen zu verstehen. Der Staat ist vielmehr der Steuerungsapparat des politischen Systems, der, zur Not mit Sanktionen in der Lage ist, die Gesellschaft zu beeinflussen und zu steuern. Das politische System hingegen umfasst alle, die sich dieses Steuerungsapparates bemächtigen wollen, um ihre eigenen Interessen gegen die Interessen anderer Akteure durchzusetzen. Das politische System umfasst also nicht nur jene, die öffentliche Ämter bekleiden, sondern alle Personen und Gruppierungen die versuchen den Apparat zu besetzen und mit ihm (dank seiner monopolen Sanktionsfähigkeit) die gesamte Gesellschaft zu steuern.[18] Hier zu nennen sind die politischen Parteien, Arbeitnehmer- wie Arbeitgeberverbände und Vereine unterschiedlichster Ausrichtung, die die Interessen einer bestimmten Klientel oder eine bestimmte Idee zu vertreten.[19]
Schon hier ist jedoch eine wichtige Unterscheidung zu treffen. Allen Interessengruppen ist es möglich auf die politische Willensbildung einzuwirken. Jeder Verein kann theoretisch die Ideen und Wertvorstellungen oder auch das politische Wahlverhalten einer jeden Person beeinflussen. Dies ist nicht nur politischen Parteien vorbehalten. Jedoch ist es nur der politischen Parteien gestattet, den politischen Steuerungsapparat zu besetzen und aktiv die Interessen ihrer Mitglieder durch eine direkte Steuerung der Gesellschaft umzusetzen.
Das Programm der politischen Parteien umfasst weiterhin nahezu alle Vorstellungen, die auch von den anderen Akteuren des politischen Systems vertreten werden. Daher wählt der Bürger als politische Interessenvertretung auch keinen Verein, dem er eventuell angehört, sondern eine Partei, die eben seine oder die Interessen seines Vereins programmatisch umfasst.[20] Da bei der folgenden Untersuchung die Gründe für den Parteien- und Wahlverdruss ermittelt werden sollen, stehen daher primär die politischen Parteien und deren Eliten im Mittelpunkt der Betrachtung.
I.3.2. Politische Klasse und politische Elite
Es erscheint wichtig zu erörtern, wer denn überhaupt zur oft erwähnten politischen Elite gehört. Über die Zugehörigkeit entscheidet natürlich erst einmal die Stellung, die eine bestimmte Person innerhalb von Staat und Partei einnimmt. An dieser Stelle kann gleich vorweggenommen werden, dass Partei- und Staatseliten nahezu immer identisch sind. Sollte ein hoher Staatsdiener einmal kein Parteiamt innehaben, so ist es beinahe sicher, dass er wenigstens bevor er entsprechendes Amt bekleidete auch in der Partei eine wichtige Rolle gespielt hat.[21] Ist also im Folgenden die Rede von politischen Eliten, wird damit primär auf die Parteielite verwiesen.
Natürlich könnte die Zugehörigkeit zur politischen Elite am Gehalt festgemacht werden. Ab einer bestimmten Position, die mit einem bestimmten Gehalt dotiert ist, dürfte sich der Inhaber dann zur politischen Elite zählen. Diese rein ökonomische Definition deutet jedoch eher auf einen anderen Begriff hin, den der Klasse, der von Weber nach rein ökonomischen Rahmenbedingungen definiert wird.[22] Diese Unterscheidung trifft auch der Parteienforscher Klaus von Beyme, wobei er in der Abgrenzung zur politischen Klasse gleich die politische Elite genauer definiert:
»Die Spezifikation „politische Elite“ ist andererseits enger als der Begriff der politischen Klasse. Zu dieser gehören alle Politiker, soweit sie an der Privilegiertenstruktur teilhaben, selbst wenn sie in der Entscheidungshierarchie der Elite keine große Bedeutung erlangen.«[23]
Die hier erwähnte „Privilegienstruktur“ bezieht sich auf eine regelmäßige staatliche Alimentierung von Parteifunktionären, die durch die Versorgung mit Staatsämtern erreicht wird.[24] Das primäre Merkmal der politischen Klasse ist es also, dass sie ihren Lebensunterhalt mit den Erträgen ihrer Ämter bestreitet. Die Selbsterhaltung, gesichert durch die Absicherung der eigenen Position, steht an erster Stelle. Die Politik ist ihr ständiger Beruf, der jedoch mit der zeitlich beschränkten Vergabe von Ämtern in demokratischen Systemen unvereinbar ist.
Auch die politische Elite rekrutiert sich aus der politischen Klasse. Folglich strebt auch sie danach ihre Versorgung langfristig durch die Übernahme von staatlichen Ämtern zu garantieren. Neben dieses Selbsterhaltungsinteresse tritt hier jedoch noch ein Steuerungsinteresse. Beyme beschreibt dies so:
[...]
[1] Art. 21 GG Abs. 2.
[2] Siehe Abb. 1.
[3] Frankfurter Rundschau (FR) vom 03.02.2004. In einem Bericht über den Einbruch der Mitgliederzahlen der SPD druckte die FR einige anonymisierte Austrittsschreiben ab. Dieses ist auf den 02.01.2004 datiert.
[4] Ebenfalls aus obigem Artikel der FR. Diesmal ein anonymisiertes Austrittsschreiben vom 19.01.2004.
[5] Nochmals die FR. Anonymisiertes Austrittsschreiben vom 18.01.2004.
[6] Zum Thema Parteien- und Demokratieverdrossenheit siehe: Lösche (1998), S. 159ff.
[7] Dies sind nur einige unter vielen: Wolling (1999), Arzheimer (2002), Jebens (1994).
[8] Vgl. hierzu: Darnstädt (2004).
[9] Wie Hans Apel, ehemaliger Verteidigungs- und Finanzminister, der dank Insiderwissen zum Schluss kommt: »Immer drängender stellt sich die Frage, ob die politischen Parteien angesichts ihrer inneren Struktur, ihrer unzureichenden Bodenhaftung und ihrer überdehnten Staatsmacht, die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen. « Apel (1991), S. 38.
[10] So zum Beispiel Peter Lösche, der den Kritikern Paroli bietet: »Viele der Befunde zur Parteiverdrossenheit sind gekennzeichnet von Missverständnissen, ja Unverständnis der Funktionsweisen parlamentarischer Regierungssysteme in ihrer Verfassungswirklichkeit…« Lösche (1998), S. 164.
[11] Luhmann (1992), S. 181.
[12] Stern-Online vom 27. Dezember 2006: Forsa Umfrage - Die Regierung ohne Volk.
[13] Der Plural bezieht sich auf die einzelnen Länderparlamente/Regierungen und jene auf der Bundesebene.
[14] Was im Laufe dieser Arbeit noch mehrfach nachgewiesen wird.
[15] Auch wenn dies von einigen Wissenschaftlern behauptet wird. Z.B. Armin (2001).
[16] Michels (1989), XLII
[17] Die Oligarchiethese Michels wird oft als unzulänglich und für das heutige Parteiwesen unzutreffend dargstellt. Diese Kritik wird in Kapitel II.3.1. relativiert und widerlegt. Die bundesdeutschen Parteien gehen überhaupt nicht auf Michels These ein. Ihre Satzungen basieren weiterhin auf dem Prinzip der innerparteilichen Willensbildung von unten nach oben, obwohl Michels deutlich aufzeigt, dass eine solche Willensbildung zumindest schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist. Auch Schul- und Lehrbücher erwähnen Michels nur am Rande, sie gehen nicht weiter auf die Oligarchiethese ein und messen ihr keine größere Bedeutung zu. Vgl.: Ellwein; Hesse (1987), S. 195. oder Hartwich (1976), S. 174. Eine Begründung hierfür würde lediglich in das Reich der Verschwörungstheorien führen und ist daher – zumindest im Rahmen einer „wissenschaftlichen“ Arbeit leider nicht weiter zu vertiefen.
[18] Grosser; Scheffel (1976), S. 25ff.
[19] Z.B. Tierschutzvereine, Frauenvereine oder die Zigaretten- bzw. in den USA bekannte Schusswaffenlobby.
[20] Ein Bürger ist z.B. Mitglied im Tierschutzverein. Bei Kommunalwahlen wählt er dann jedoch eine Tierschutzpartei, da nur diese die Kommune nach seinem Willen verändern kann.
[21] Als eindruckvollstes Beispiel ist hier die Personalunion von Parteichef und Kanzler zu nennen. Dazu später mehr in Kapitel III.1.2.
[22] Vgl. dazu Kapitel II.
[23] Beyme (1995), S. 30.
[24] Wiederum ist die Mitgliedschaft und aktive Arbeit innerhalb einer Partei Vorraussetzung, um überhaupt ein Staatsamt zu ergattern.
- Quote paper
- Stephan Röttgen (Author), 2008, Politische Herrschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139930
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