Um zur Überzeugung zu gelangen, dass sich Sprachen verändern, genügt am Beispiel der deutschen Sprache beispielsweise ein Blick in ein Wörterbuch des Mittelhochdeutschen . Dort findet man im Vergleich zu heutigen Wörterbüchern eine Fülle von morphologischen, phonologischen oder semantischen Unterschieden. Trotz dieser auf allen Ebenen der Linguistik stattfindenden Veränderungen, handelt es sich in beiden Fällen dennoch um die deutsche Sprache.
Coserius Theorie über den Wandel von Sprache ist in seine Theorie von der Sprache im Allgemeinen eingebettet, in der er den Wandel nicht als Zeichen für eine malade Sprache betrachtet, sondern als geradezu charakteristisches Merkmal einer funktionierenden Sprache herausarbeitet, denn das „[…] Latein Ciceros hat aufgehört, als historische Sprache zu funktionieren, gerade weil es aufgehört hat, sich zu verändern […].“ (Coseriu 1974: 24)
Ziel dieser Arbeit soll sein, anhand der Theorie von Eugenio Coseriu festzustellen, in welchem Spannungsfeld sich Wandel innerhalb einer Sprache vollzieht und weiter, inwiefern Coserius Theorie selbst einem Wandel unterliegt. Hierzu werde ich zunächst Coserius Betrachtung von Sprache und die sprachphilosophische respektive sprachwissenschaftliche Tradition aus der er hervorgegangen ist, beleuchten (Kap. 2.1). In der Folge geht es um die verschiedenen Ebenen einer Sprache, die Coseriu in zwei Hierarchien aufteilt (Kap. 2.1.1 und 2.1.2). Der Wandel, der sich aus dem Hierarchie-Modell ergibt und seine Ursachen werde ich in 2.2 erläutern. Im dritten Kapitel soll es dann schließlich um eine kritische Betrachtung der Theorie gehen, welcher dann im Fazit eine Diskussion über die Haltbarkeit der Theorie beziehungsweise über die Stichhaltigkeit der Kritik folgt.
Inhaltsverzeichnis Seite
1. Einleitung
2. Die Theorie von Coseriu
2.1 Coserius Auffassung von Sprache
2.1.1 Rede/Norm/System
2.1.2 Norm/System/Typus
2.2 Das Problem des Sprachwandels
2.3 Faktoren von Sprachwandel
3. Eine kritische Betrachtung der Thesen Coserius
4. Fazit
Literaturverzeichnis
„Die Gewalt einer Sprache ist nicht, daß sie das Fremde abweist, sondern daß sie es verschlingt.“Johann Wolfgang von Goethe
1. Einleitung
Um zur Überzeugung zu gelangen, dass sich Sprachen verändern, genügt am Beispiel der deutschen Sprache beispielsweise ein Blick in ein Wörterbuch des Mittelhochdeutschen[1]. Dort findet man im Vergleich zu heutigen Wörterbüchern eine Fülle von morphologischen, phonologischen oder semantischen Unterschieden. Trotz dieser auf allen Ebenen der Linguistik stattfindenden Veränderungen, handelt es sich in beiden Fällen dennoch um die deutsche Sprache.
Coserius Theorie über den Wandel von Sprache ist in seine Theorie von der Sprache im Allgemeinen eingebettet, in der er den Wandel nicht als Zeichen für eine malade Sprache betrachtet, sondern als geradezu charakteristisches Merkmal einer funktionierenden Sprache herausarbeitet, denn das „[…] Latein Ciceros hat aufgehört, als historische Sprache zu funktionieren, gerade weil es aufgehört hat, sich zu verändern […].“ (Coseriu 1974: 24)
Ziel dieser Arbeit soll sein, anhand der Theorie von Eugenio Coseriu festzustellen, in welchem Spannungsfeld sich Wandel innerhalb einer Sprache vollzieht und weiter, inwiefern Coserius Theorie selbst einem Wandel unterliegt. Hierzu werde ich zunächst Coserius Betrachtung von Sprache und die sprachphilosophische respektive sprachwissenschaftliche Tradition aus der er hervorgegangen ist, beleuchten (Kap. 2.1). In der Folge geht es um die verschiedenen Ebenen einer Sprache, die Coseriu in zwei Hierarchien aufteilt (Kap. 2.1.1 und 2.1.2). Der Wandel, der sich aus dem Hierarchie-Modell ergibt und seine Ursachen werde ich in 2.2 erläutern. Im dritten Kapitel soll es dann schließlich um eine kritische Betrachtung der Theorie gehen, welcher dann im Fazit eine Diskussion über die Haltbarkeit der Theorie beziehungsweise über die Stichhaltigkeit der Kritik folgt.
2. Die Theorie von Coseriu
2.1 Coserius Auffassung von Sprache
Möchte man der Sprachauffassung von Coseriu in befriedigendem Maße näherkommen, so trifft man unweigerlich auf Wilhelm von Humboldts Theorien über Sprache. In der hier gebotenen Kürze werde ich nur auf die gemeinsamen Schnittstellen eingehen, ohne die Theorie von Wilhelm von Humboldt en Detail vorzustellen.[2]
Bei Humboldt findet man „[…] eine Sprachauffassung, […] die sowohl der Strukturiertheit der Sprachen als auch der Kreativität des Sprechens Rechnung trägt.“ (Albrecht 1988a: 3) Für diese beiden Pole benutzt Humboldt die griechischen Begriffe Ergon und Energeia. Die Tatsache, dass er gerade diese gebraucht, lassen den Rückschluss zu, dass er sich im Verständnis dieser Termini auf Aristoteles bezieht. In beiden Fällen sind Tätigkeiten gemeint. Ergon beschreibt „Tätigkeiten […] , die zwar ‚produktiv’ sind, die etwas produzieren, dabei aber nur ein schon vorhandenes Wissen […] anwenden […]“ (Lehmann 1988: 4), Energeia hingegen ist dann eine Tätigkeit, die etwas im schöpferischen Sinne produziert, also ohne dabei erlerntes Wissen oder eine bestimmte Technik zu benutzen.[3] Coseriu setzt hier an und sagt:
„Das Sprechen ist eine freie und zweckgerichtete Tätigkeit und hat als solche keine äußeren oder natürlichen Ursachen; deswegen kann sie der Sprachwandel ebensowenig haben, der nichts anderes ist als das Werden der Sprache durch das Sprechen.“
(Coseriu 1974: 169)
Sprache stellt sich für Coseriu demnach als ständige Entwicklung dar und so postuliert er, „dass die Sprach-‚Entwicklung’ keine ‚Evolution’ eines Naturobjekts ist, sondern Gestaltung eines Kulturobjekts […].“ (Coseriu 1974: 203) Hieraus folgt für Coseriu die Notwendigkeit, das wissenschaftliche Untersuchen von Sprache und den in ihr stattfindenden Phänomene nicht den Natur-, sondern den Humanwissenschaften zuzuordnen. So sei bei ihr „eine innere Notwendigkeit oder Finalität“ zu suchen und eben keine „äußere Notwendigkeit oder Kausalität“. (Coseriu 1974: 166)
Nun mag man anführen, dass Sprache auch als Ergon betrachtet werden kann. Und geht man von der oben aufgeführten Erklärung des aristotelischen Begriffs aus, lernen wir unsere Sprache tatsächlich aufgrund von vorhandenen Techniken, welche an uns weitergegeben werden. Hierzu bietet Coseriu an:
„Die Sprache wird wiedergeschaffen, weil das Sprechen sich auf frühere Muster gründet und Sprechen-und-Verstehen ist, sie wird durch die Sprechtätigkeit überwunden, […] und sie wird erneuert, weil das Verstehen über das hinausgeht, was durch die dem Sprechakt vorausgehende Sprache bereits gewusst wird. Die wirkliche Sprache ist geschichtlich und dynamisch, weil die Sprechtätigkeit nicht darin besteht, eine Sprache zu sprechen und zu verstehen, sondern darin, vermittels einer Sprache etwas Neues zu sprechen und zu verstehen.“
(Coseriu 1974: 92)
Um das dennoch in der sprachwissenschaftlichen Betrachtung bestehende Dilemma der Polarisation Ergon und Energeia in Bezug auf Sprache aufzulösen und in eine Synthese zu transformieren, führt er aus, „dass also Synchronie und Diachronie im Hinblick auf eine Sprache eigentlich nicht verschiedene Faktenbereiche, sondern verschiedene Gesichtspunkte gegenüber denselben sind.“ (Lehmann 1988: 6)
Hinsichtlich dieser Arbeit lässt sich daraus das erste Ergebnis formulieren: Coserius Sprachwandeltheorie als solche gibt es nicht, vielmehr lässt sich aus seiner umfassenden Sprachtheorie das in einer Sprache implementierte Existenzmerkmal des Wandels ableiten.[4] Nachfolgend wird dann auch gezeigt, wie Coseriu seiner theoretischen Einschätzung der Sprache eine detailliert ausgearbeitete Typologie folgen lässt.
Bei seiner Typologie zieht Coseriu eine klare Trennlinie zur Klassifikation, indem er sich auch hier auf Humboldt bezieht und „Sprachen nicht als Gattungen, sondern als Individuen verschieden und […] daher [ als, P.H.] nicht klassifizierbar“ (Coseriu 1988a: 162) einordnet. Um der stetigen Verbindung mit den Theorien Humboldts auch einen angemessenen Ausdruck zu verleihen, nennt Coseriu seine Sprachtypologie seit 1983 „integrale ‚humboldtianische’ Sprachtypologie“. (Lehmann 1988: 6)
Auf den ersten Blick könnte man zu dem Schluss kommen, dass Coseriu für seine Hierarchie Rede/Norm/System, der Dichotomie parole/ langue von Saussure[5] einfach die Norm hinzugefügt hat. Doch trifft dies so nicht zu, denn Coseriu stattet die von Saussure verwendeten Termini mit anderen Attributen aus. Es geht ihm auch nicht um eine generelle Abkehr von Saussures Theorie, auch wenn er in der Vielzahl seiner Schriften nicht müde wird, die Unzulänglichkeit dieser zu unterstreichen. Mehr liegt es ihm seiner Auffassung nach daran, „die Verzerrungen einer so scharfen und strengen Dichotomie“ (Coseriu 1975: 48) aufzuweichen. Im Rahmen dieser Arbeit wird es mir nicht möglich sein, die Kritikpunkte Coserius an der Theorie von Saussure im Einzelnen zu diskutieren beziehungsweise zu hinterfragen und so möchte ich es dabei bewenden lassen, das Hauptaugenmerk auf die ohne den Cours de linguistique générale nicht möglich gewesene Theorie Coserius zu richten. Hinzu kommt im Übrigen, dass sich die Typologie Coserius aus der Abgrenzung zu Saussures Auffassung erklären lässt.
2.1.1 Rede/Norm/System
Um die Gesamtheit einer Sprache zu typisieren, benutzt Coseriu zunächst die Hierarchie Rede/Norm/System[6] und untermauert sie mit praktischen Beispielen aus den romanischen Sprachen. Nachfolgend werde ich zuerst die einzelnen Ebenen im Sinne Coserius definieren, um dann ihre Relationen in der von ihm aufgestellten Hierarchie zu beleuchten.
Im Gegensatz zur parole von Saussure, sieht Coseriu in seinem Typus Rede nicht nur die konkrete Sprechtätigkeit des Individuums. Er stellt Saussures Dichotomie aufgrund dessen paradoxer Abgrenzung der parole zur langue daher in Frage:
„Doch wäre dem so und existierte jener Graben zwischen Gesellschaft und Einzelnem, wie könnte dann der enge, von Saussure selbst beschworene Zusammenhang von langue und parole noch bewahrt bleiben? Wie könnte dann der Einzelne das soziale System noch verwirklichen?“
(Coseriu 1975: 51)
Im Umkehrschluss gelangt Coseriu dadurch zu dem Resultat, dass, um im Saussureschen Duktus zu bleiben, in der parole selbst, ein gewisses Maß an langue entstehen respektive enthalten sein muss. Und gewiss kann man aus eigener Erfahrung nicht abstreiten, bei sprachlichen Äußerungen definitiv auf ein vorher erlerntes System von Sprache zurückzugreifen, nicht als strikte Befehlsvorgabe, sondern als Konvention zur Vereinfachung der Kommunikation mit anderen. Gleichwohl sind sich die wenigsten Menschen im Akt ihrer Sprachäußerung dem gesamten Bestand an festgelegten sprachlichen Regeln bewusst und darüber hinaus in der Lage, diese auch anzuwenden. Die hieraus entstehenden sprachlichen „Übertretungen“ des Vorgegebenen können aber dennoch zu einer befriedigenden Verständigung führen. Die Frage, die sich daraus für Coseriu ergibt, ist die nach dem Verhältnis der langue zur parole. Um die durch Saussure aufgebaute Abgrenzung aufzulösen, versucht er den Begriff der langue neu zu interpretieren, indem er ihn zu Gunsten der beiden Typen Norm und System dividiert. Sie entstehen seiner Ansicht nach aus „[…] der ‚langue’ als ‚sozialer Institution’, die als solche an andere soziale Institutionen gebunden ist und auch Nicht-Funktionelles umfasst (Norm)“ und aus „der ‚langue’ als abstraktem System funktioneller Oppositionen (System)“ (Coseriu 1975: 54). In Verbindung mit dem bereits angeführten Typus Rede, entsteht hieraus Coserius Typologie der Sprache, mit den drei in einer Hierarchie zusammengefassten Ebenen Rede, Norm und System.
An dieser Stelle möchte ich eine kleine Zusammenfassung des bisher Gesagten geben. Wir haben es bei der Theorie von Coseriu also mit einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung von Sprache zu tun, die er in Tradition von Humboldt als ständig in Entwicklung und so den Charakter des Sprachwandels als sprachimmanent begreift. Seine Ergebnisse erzielt Coseriu aus der Auseinandersetzung mit Saussure, indem er dessen naturwissenschaftlich ausgerichtete Theorie quasi als Rohmasse benutzt und sie nach seiner humanwissenschaftlichen Ausrichtung hin modelliert und sie in seiner Theorie aufgehen lässt. Saussures Dichotomie der langue und parole wird in seine drei Ebenen umfassende Typologie Rede / Norm / System transformiert.
Um seine Hierarchie zu erläutern, benutze ich das folgende Schaubild.[7] Anhand dessen erscheint mir eine Erklärung am anschaulichsten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bezog sich Saussure noch primär auf die Ebene der Phonologie, weitet Coseriu seine in dem obigen Schema dargestellte Typologie auf alle Ebenen einer Sprachgemeinschaft aus. Das Rechteck der Rede ABCD stellt dabei „das wirkliche Sprechen (Gespräch), d.h. die konkret in dem Augenblick ihrer Entstehung registrierten Sprechakte.“ (Coseriu 1975: 85) Dazu muss ich kurz ausführen, dass Coseriu hier von der „verwirklichten“ Sprache spricht, der er die „virtuelle“ Sprache gegenüberstellt. Letztere beinhaltet den „sozialen Sprachbesitz“, den „individuellen“ Sprachbesitz und den „Ausdruckimpuls“ (Coseriu 1975: 83), also wenn man so will, alle sprachlichen Kompetenzen vereint. Die „verwirklichte“ Sprache könnte man demnach als Sprachperformanz bezeichnen, die sich im Sprechakt selbst ausdrückt. In der oben dargestellten Ebene der Rede sind gleichwohl auch alle Eigenschaften der Norm und des Systems enthalten, weil diese „[…] nur verschiedene Abstraktionsgrade im Sprechen selbst sind.“
[...]
[1] vgl. Lexer, Matthias (1992): Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. 2. Nachdruck der 3. Auflage. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
[2] vgl. Trabant, Jürgen (Hrsg.)(1985): Über die Sprache: ausgewählte Schriften. Wilhelm von Humboldt. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag.
[3] vgl. Volkmann-Schluck, Karl-Heinz (1979): Die Metaphysik des Aristoteles. Frankfurt am Main: Klostermann.
[4] Im Rahmen dieser umfassenden Sprachtheorie ist die dreibändige Festschrift „Energeia und Ergon“ (s. auch Literaturverzeichnis) zu Ehren Eugenio Coserius erschienen.
[5] vgl. Saussure, Ferdinand de (1973): Cours de linguistique générale. Paris : Payot. Für eine weitergehende Lektüre vgl. auch : Scheerer, Thomas M. (1980): Ferdinand de Saussure: Rezeption und Kritik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
[6] Erstmals veröffentlicht in: Coseriu, Eugenio (1952): Sistema, norma y habla. Montevideo: Facultad de Humanidades y Ciencias.
[7] Zu finden in und entlehnt aus: Coseriu 1975: 86.
- Citar trabajo
- Patrick Hillegeist (Autor), 2009, Die Sprachwandeltheorie von Eugenio Coseriu, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139785
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