Diese Arbeit befasst sich mit der Mitbestimmung von Kindern an ihrem Erziehungsprozess und an den Regeln, mit denen sie aufwachsen. In Betreuungseinrichtungen, Schulen und ihren Familien werden Kindern fortwährend Regeln auferlegt, die die Rahmenbedingungen für ihr Aufwachsen bestimmen. Während in der Pädagogik weitestgehend Konsens darüber herrscht, dass die Partizipation der Kinder an ihrer Erziehung notwendig ist, um ihnen zu Selbstverantwortlichkeit, Mündigkeit und Selbstständigkeit zu verhelfen, werden die zur Verfügung stehenden Modelle bis jetzt nur sehr spärlich umgesetzt (vgl. Palentien/Hurrelmann 2003, S. 54).
Die Beteiligung der Kinder an Entscheidungen, die sie direkt betreffen, wie etwa die Wahl zwischen unterschiedlichen Beschäftigungsformen, Lern- oder Arbeitstechniken oder gar des Lerninhalts, wirkt sich zudem positiv auf ihre Grundhaltung zu der jeweiligen Beschäftigung aus und kann zu einem positiven sozialen Klima beitragen (vgl. ebd.). Die Chancen, die sich durch diese Art der Zusammenarbeit von Kindern und erzieherisch Tätigen für beide ergeben, sollen in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt stehen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Zum Aufbau der Arbeit
1.2 Partizipative Erziehung als Voraussetzung für eine kindergerechte Welt
2. Janusz Korczak und sein pädagogischer Ansatz
2.1 Korczaks Weg zur Pädagogik
2.2 Pädagogische Ideen und Ziele
2.3 Korczaks Position zu partizipativer Pädagogik
3. Kinder als Teil der Gesellschaft
3.1 Die Situation der Kinder in unserer Gesellschaft
3.2 Für die Rechte der Kinder kämpfen
3.3 Das Wahlrecht für Kinder
3.4 Die Rechte der Kinder nach der UN-Kinderrechtskonvention
4. Bedeutung, Forschung und Praxis der partizipativen Erziehung
4.1 Ziele der heutigen Partizipationsp ädagogik und ihre historische Entwicklung
4.2 Erfahren, was eine Gemeinschaft ist - Reformvorschl äge für Schule und Gesellschaft
5. Fallbeispiel partizipativer Erziehung: Das „Kinderparlament“ des I-Punkt Rabe e.V
5.1 Die Einrichtung
5.2 Das Projekt
5.3 Gewonnene Erkenntnisse
6. Schlussfolgerungen
6.1 Das Recht des Kindes auf Partizipation
6.2 Verortung des Rechts auf Partizipation
7. Quellenverzeichnis
8. Anhang: Sitzungsprotokolle des „Kinderparlaments“ im I-Punkt Rabe e.V
8.1 Erste Sitzung, 27.10.06
8.2 Zweite Sitzung, 24.11.06
8.3 Dritte Sitzung, 26.01.07
8.4 Vierte Sitzung, 23.02.07
1. Einleitung
1.1 Zum Aufbau der Arbeit
Diese Arbeit befasst sich mit der Mitbestimmung von Kindern an ihrem Erziehungsprozess und an den Regeln, mit denen sie aufwachsen. In Betreuungseinrichtungen, Schulen und ihren Familien werden Kindern fortwährend Regeln auferlegt, die die Rahmenbedingungen für ihr Aufwachsen bestimmen. Während in der Pädagogik weitestgehend Konsens darüber herrscht, dass die Partizipation der Kinder an ihrer Erziehung notwendig ist, um ihnen zu Selbstverantwortlichkeit, Mündigkeit und Selbstständigkeit zu verhelfen, werden die zur Verfügung stehenden Modelle bis jetzt nur sehr spärlich umgesetzt (vgl. Palentien/Hurrelmann 2003, S. 54).
Die Beteiligung der Kinder an Entscheidungen, die sie direkt betreffen, wie etwa die Wahl zwischen unterschiedlichen Beschäftigungsformen, Lern- oder Arbeitstechniken oder gar des Lerninhalts, wirkt sich zudem positiv auf ihre Grundhaltung zu der jeweiligen Beschäftigung aus und kann zu einem positiven sozialen Klima beitragen (vgl. ebd.). Die Chancen, die sich durch diese Art der Zusammenarbeit von Kindern und erzieherisch Tätigen für beide ergeben, sollen in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt stehen.
In dem Lebenswerk Janusz Korczaks (Juli 1878 oder 1879 - August 1942), einem für die Pädagogik bedeutsamen polnischen Forscher und Akteur im Kampf für die Rechte von Kindern, nimmt das Verständnis um die Wünsche und Bedürfnisse der Kinder eine zentrale Rolle ein. Da die Aussagen und Erkenntnisse Korczaks von so grundlegender Relevanz für das Verstehen kindli- cher Bedürfnisse sind und die Kerngedanken partizipativer Erziehung darstellen, findet der Einstieg in die Thematik durch ein Profil von ihm und seinem pädagogischen Ansatz statt.
Auf die Leitgedanken Korczaks, der von Vielen auch als „Anwalt der Kinder“ angesehen wurde, folgt eine Darstellung der Situation der Kinder in unserer Gesellschaft. Dabei soll die Dis- kussion einiger ausgewählter Gesetze einen Einblick in die juristische Lage liefern, in der sie sich befinden. Darauf aufbauend möchte ich zeigen, dass der Wunsch nach einer Verbesserung der rechtlichen Situation der Kinder weit verbreitetet ist. Zahlreiche Vereine und andere nichtstaatliche Organisationen, wie z. B. das „Deutsche Kinderhilfswerk“, die „National Coalition“ oder die „Kinder- RÄchTsZÄnker“ setzen sich für eine bessere Stellung von Kindern in Staat und Gesellschaft ein. Ich möchte einige von ihnen kurz vorstellen und ihre Zielsetzungen erläutern. Da einige Organisa- tionen auch das Wahlrecht für Kinder fordern, was für sich genommen und besonders für diese Ar- beit ein sehr spannendes Thema darstellt, werde ich diesbezüglich in einem gesonderten Abschnitt näher darauf eingehen. Zumal stellt sich bei der Diskussion über Mitbestimmung der Kinder auf gesellschaftlicher Ebene die Frage nach der Aufhebung der Wahlaltersgrenze.
Als große Errungenschaft im Kampf um Kinderrechte kann die UN-Kinderrechtskonvention (vereinzelt auch „Kinderrechtekonvention “) betrachtet werden, zu deren Anerkennung sich 1990 alle UN-Mitgliedstaaten verpflichteten. Aufgrund der einheitlichen Standards, die durch die Konvention erhoben werden, können Verstöße und widrige Lebensbedingungen von Kindern leichter identifiziert und deren Ausmaße leichter abgewogen werden als zuvor, was die rechtliche Stellung der Kinder insgesamt bedeutend aufwertet. Da der Umfang von vierundfünfzig Artikeln nicht zulässt, die Kinderrechtskonvention in dieser Arbeit in vollem Ausmaß vorzustellen, werde ich sie zusammengefasst präsentieren. Für diesen Zweck werde ich einerseits auf eine Unterteilung in vier Grundkategorien von Rechten zurückgreifen, die Susan Fountain, eine Mitarbeiterin von „UNICEF“ New York, aufgestellt hat und auf die von „UNICEF“ genannten zehn wichtigsten Rechte.
Die Ausweitung der Sicht von Janusz Korczak über die Rechte von Kindern zunächst auf die Situation in Deutschland und schließlich - durch die Diskussion der UN-Kinderrechtskonventi- on - auf die globale Ebene soll die Tragweite der Forderung nach einer kinderfreundlicheren Welt verdeutlichen. Da Kinder in ihrer momentanen Lage allenfalls Subjekt politischer Entscheidungen sein können, weil ihnen das Stimmrecht fehlt, sind sie von der Mitgestaltung der Rahmenbedingungen ihrer eigenen Zukunft ausgeschlossen.
Kapitel 4. und 5. der Arbeit beschäftigen sich mit Ansätzen partizipativer Erziehung und sollen so die Aufmerksamkeit auf konkrete Vorschläge zur praktischen Arbeit in pädagogisch arbeitenden Einrichtungen lenken. Mit Rücksicht auf die vorangegangenen Aufforderungen an die pädagogische Arbeit und die politische Welt soll hier der Brückenschlag erfolgen, der diese beiden Felder miteinander verbindet. Der Grund dafür, warum die Pädagogik hierfür herangezogen wird, besteht darin, dass nur sie die konkreten Handlungsmodelle liefern kann, mit deren Hilfe die Kinder in die Welt überführt werden, die sie in ihrem späteren Leben erwartet.
Während im vierten Kapitel eine Darstellung zur Entwicklung und der gegenwärtigen Stel- lung partizipativer Erziehung in der Forschung und in der Praxis erfolgt, möchte ich im darauffol- genden Kapitel ein Fallbeispiel präsentieren, das eine spezifische Form ihrer Anwendung zeigt. Es handelt sich dabei um ein Projekt der Ganztagsbetreuungseinrichtung „I-Punkt Rabe e.V.“ in Biele- feld, an dem ich als dort beschäftigter Betreuer selbst mitgewirkt habe. Es soll beschrieben wer- den, wie in dem sogenannten „Kinderparlament“ die Kinder in von den MitarbeiterInnen betreuten monatlichen Sitzungen über Belange, die den Alltag in der Einrichtung betrafen, in demokratischer Form mitbestimmen durften.
Der Erkenntnisgewinn, der durch die Durchführung dieses Projekts erzielt wurde, soll eben- falls dargelegt werden. Dabei werde ich sowohl auf Erfolge und Misserfolge, als auch auf Proble- matiken, Risiken und Chancen eingehen, die sich während der sechs Monate gezeigt haben, in denen das Projekt stattfand. Als besonders Interessant betrachte ich in diesem Zusammenhang die verschiedenen Entwicklungsphasen des „KiPas“, da Kinder und BetreuerInnen gleichermaßen jede Sitzung als neue Erfahrung erlebt haben, aus der neue Schlüsse für die weitere Vorgehens- weise gezogen wurden.
Im Fazit sollen die Kernaussagen der einzelnen Kapitel zusammengetragen und zu einer Argumentationskette zusammengefasst werden, mit der die Hauptthese der Arbeit belegt werden soll. Hierbei steht im Vordergrund, die Argumentation zu verdeutlichen, warum die pädagogischen Leitgedanken Korczaks in Zusammenhang mit den Postulaten der UN-Kinderrechtskonvention und der in der Gesellschaft vertretenen Forderung nach mehr Rechten für Kinder den Schluss zulassen, Kindern ein allgemeines Recht auf Partizipation in Erziehung und Gesellschaft zuteil werden zu lassen. Am Schluss der Arbeit soll ein kurzer Ausblick auf mögliche Szenarien folgen, wie ein solches „Recht“ geltend gemacht, bzw. seine Einhaltung sichergestellt werden kann.
1.2 Partizipative Erziehung als Voraussetzung für eine kindergerechte Welt
Im Folgenden möchte ich darlegen, warum ich die Diskussion von Modellen partizipativer Erziehung für das Handeln im Interesse der Kinder und ihren Möglichkeiten auf Selbstbestimmung in der heutigen Gesellschaft als sehr wichtig und deren Umsetzung als „Kinderrecht“ betrachte. Diese Ausführung soll auch als Rechtfertigung für das Thema dieser Arbeit gelten, da es m. E. einer genauen Erläuterung bedarf, warum partizipative Erziehung als Mittel anzusehen ist, das der Erfüllung grundlegender kindlicher Bedürfnisse dienen kann und so auch als staatliche Pflicht den Kindern gegenüber verstanden werden kann.
Auf die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der eigenen Kinder einzugehen, liegt zwar in der Natur des Menschen, und das Anliegen der Eltern, jederzeit für den Schutz und das Wohlbe- finden ihrer Kinder zu sorgen, führt auch zu Verhaltensmustern den Schützlingen gegenüber, die man als erzieherisch betrachten kann. In modernen Industriegesellschaften, wie der deutschen, geben Eltern die Verantwortung über beträchtliche Anteile der Erziehung und die Betreuung ihrer Kinder jedoch schon früh an pädagogisch arbeitende Institutionen weiter (vgl. Hurrelmann/Bründel 2003, S. 96). Das eigens für diese Aufgabe geschulte Personal, das in den Betreuungs- und Bil- dungseinrichtungen, wie z. B. Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen arbeitet, handelt im Gegensatz zu den Eltern im Auftrag der Träger, die sie finanzieren und nach deren Standards sie ihre Arbeit auszurichten haben.
Zusätzlich müssen sich die Einrichtungen der staatlichen Kontrolle bezüglich des Einsatzes von Finanzmitteln und der Gewährleistung des „Wohles der Kinder“ unterziehen (§ 45 Achtes Sozialgesetzbuch). Die Attribute und die Qualität der Erziehung unterliegen dort also Rahmenbedingungen, die durch die Politik und die Erziehungswissenschaft hergestellt werden und nicht durch persönliche Überzeugung, wie es innerhalb von Familien der Fall ist.
In Anbetracht der Tatsache, dass sowohl die Ausbildung des pädagogischen Personals, als auch die Richtlinien und Rahmenbedingungen ihrer Arbeit staatlicher Kontrolle und Vorschriften unterliegen, ist die Verantwortung über den institutionell erfolgenden Anteil der Kindererziehung dem Staat anzulasten. Bestimmungen über Art und Ausprägung der in den Einrichtungen zu er- bringenden Leistungen, wie das z. Zt. noch als Entwurf vorliegende „Gesetz zur frühen Bildung und Förderung von Kindern“ („Kinderbildungsgesetz“), mit dem die Landesregierung NordrheinWestfalen nach eigenen Angaben eine verbesserte Förderung und Bildung von Kindern anstrebt, machen zudem deutlich, dass die Regierung diese Verantwortung anerkennt.
Wie bereits ausgeführt, halte ich die im weiteren Verlauf der Arbeit dargelegten Ansichten über die Grundbedürfnisse und Grundrechte von Kindern für essentielle Eckpfeiler kindergerechter Erziehung und somit für eine kindergerechte Gesellschaft, zumal Befunde aus Forschung und Praxis auf vielen Ebenen belegen, welch positiven Effekt partizipationspädagogische Konzepte sowohl auf das allgemeine soziale Klima zwischen allen Beteiligten haben können, als auch auf das individuelle „psychosoziale Wohlbefinden der Kinder“ (Böhme/Kramer 2001, S. 34).
2. Janusz Korczak und sein pädagogischer Ansatz
2.1 Korczaks Weg zur Pädagogik
Um zu beschreiben, wie Janusz Korczak, dessen bürgerlicher Name Henryk Goldszmit war, zu sei- nem pädagogischen Ansatz gekommen ist, möchte ich zunächst Shimon Sachs von der Abteilung für Korczak-Forschung an der Universität Tel Aviv zitieren: „Korczak lehrte durch sein Leben und sein Vorbild. Er sprach nicht über Kinder, sondern mit dem Kinde, weil er mit dem Kinde lebte.“ (Kluge u. a. 1981, Vorwort). Ebenfalls im Vorwort des Buches „Eine kindgerechte Umwelt schaffen“, dass Karl-Josef Kluge über Korczaks pädagogisches System verfasst hat, zitiert Sachs Korczak:
„...Ihr sagt: der Umgang mit Kindern ermüdet uns. Ihr habt recht. Ihr sagt: denn wir müssen zu ihrer Begriffswelt hinuntersteigen. Hinuntersteigen, herabbeugen, beugen, kleiner machen. Ihr irrt euch. Nicht das ermüdet uns. Sondern daß wir zu ihren Gefühlen emporklimmen müssen. Emporklim- men, uns ausstrecken, auf die Zehenspitzen stellen, hinlangen. Um nicht zu verletzen.“ (ebd.)
Aus dem Zitat geht Korczaks Bewunderung für die Kinder hervor. Er stellt sie als etwas dar, zu dem man aufschauen muss und dem man gleichzeitig mit höchster Vorsicht begegnen muss. Diese beiden Aspekte können als die Basis seiner Pädagogik angesehen werden, auf der alle Methoden und Ziele Korczaks fußen.
Die pädagogischen Ansichten Korczaks sind aus der Vielzahl an Beschäftigungsfeldern hervorgegangen, denen er sich im Laufe seines Lebens gewidmet hat. Während er bereits als Me- dizinstudent begann, fiktionale Literatur zu schreiben, fing er neben seiner Arbeit als Kinderarzt in Warschau schließlich an, zusätzlich pädagogische Texte zu verfassen, um die Erkenntnisse über das Leben und die Bedürfnisse der Kinder wissenschaftlich zu reflektieren. Der Umgang mit Kin- dern und deren Erforschung wurden zu seinem Lebensinhalt, wobei sich seine Faszination für Kin- der in vielerlei Hinsicht äußerte. Er fungierte beispielsweise als Geldgeber und ehrenamtlicher Be- treuer in Projekten, die benachteiligten Kindern zugute kamen und moderierte eine Radiosendung, in der er humorvoll über erzieherische Belange sprach. 1911 gab er seinen Beruf als Kinderarzt auf und übernahm stattdessen die Leitung des Waisenhauses „Dom Sierot“ und vier Jahre später zu- sätzlich die von „Nasz Dom“, wo er sein pädagogisches Konzept selbst in die Praxis umsetzen konnte.
Das Elend der Armen und Benachteiligten, das er in seiner Heimatstadt Warschau kennen- gelernt hatte, zu mindern und sich für eine insgesamt friedvollere Welt einzusetzen, waren Korczaks ursprüngliche Motive, als Arzt und schließlich als Erziehungswissenschaftler tätig zu wer- den (ebd., S. 33). Diese Anliegen, deren Umsetzung er sich mit größter Hingabe widmete, und die Ganzheitlichkeit seiner Arbeit - er betrachtete Kinder und den Umgang mit ihnen sowohl aus der Perspektive eines einfachen Beobachters, als auch aus der eines Arztes und Wissenschaftlers - machen sein Lebenswerk zu etwas Besonderem. Die Liebe zu „seinen“ Kindern wird auf tragischste Weise dadurch begreifbar, dass er die Möglichkeit, der Deportation durch die Nazis zu entgehen, verschmäht und stattdessen im August 1942 zweihundert seiner Schützlinge, in Eisenbahnwaggons verladen, nach Treblinka in den Tod begleitet (Dauzenroth/Kirchner 2006, S. 19). Auch die Sprache, die in Korczaks Werken Verwendung fand, ist besonders hervorzuhe-ben. „Korczak war frei von der sogenannten Wissenschaftssprache, frei von Mode-Vokabular. Korczak ist aufgrund seiner Sprache glaubhaft geblieben“, schreibt der Pädagoge Erich Dauzen-roth in seiner Textsammlung Janusz Korczak - Erfahrungen und Berichte (ebd., S. 29). Was Korczaks Sprache auch von der „sogenannten Wissenschaftssprache“ unterscheidet, ist sein oft-mals lyrischer Schreibstil, der seine Leidenschaft für das Thema Kindererziehung zum Ausdruck bringt und ihn auch als „Erzieher-Poet“ bekannt gemacht hat.
„Was wäre das Auflisten allen Unrechts und aller Schmerzen, der Unterdrückung und der Verbrechen von heute wert, was die Proteste und blutigen Kämpfe - wenn es nicht diejenigen gäbe, die das Banner aus den erstarrten Händen der Sterbenden willig aufnehmen und es weitertragen den dornigen Weg in den neuen Morgen?“ (Kunz u. a. 1994, S. 103)
In dieser Frage nach der Bedeutsamkeit der Nachfolge durch die jüngeren Generationen, die Korczak 1909 in „Sorgenkinder“ stellt (Dauzenroth/Kirchner 2006, S. 13), sind eine derartige Viel- zahl an bedeutungsschwangeren Metaphern enthalten, dass der sachliche Inhalt dadurch eine zu- sätzliche Dimension erhält. Durch die Verwendung sowohl solch poetischer Schreibformen als auch jener, die eher erzählerisch oder objektiv-analytisch und auch medizinisch ausgeprägt sind, decken seine Texte stilistisch ein breites Spektrum ab. Die Folge ist, dass sich unter Korczaks Tex- ten solche befinden, die einerseits Kinder und deren Eltern ansprechen, aber auch solche, die für PädagogInnen und ÄrztInnen interessant sind (vgl. Korczak: K ö nig H ä nschen I., 1971; Das Kind lieben, 1996; Verteidigt die Kinder!, 1978) .
2.2 Pädagogische Ideen und Ziele
Im Einblick in den Werdegang des Pädagogen Korczak wurden bereits wichtige Bestandteile der „Korczak-Pädagogik“ genannt. Das von Lothar Kunz so bezeichnete Erziehungskonzept Korczaks beruht demnach auf einer ganzheitlichen Betrachtung des Kindes und seinen Bedürfnissen. Diesen gerecht zu werden, ist die Aufgabe der ErzieherInnen. Diese müssen außerdem sicherstellen, dass die drei von Korczak in Wie man ein Kind Lieben soll postulierten Grundrechte der Kinder nicht verletzt werden (Kunz u. a. 1994, S. 106):
1. das Recht des Kindes auf seinen Tod,
2. das Recht des Kindes auf seinen heutigen Tag,
3. das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist.
Da diese Formulierungen nicht selbsterklärend sind, bedürfen sie zumindest einer kurzen Erläute- rung. Hinter der ersten verbirgt sich die Forderung, Kindern nicht aus Angst, ihnen könnte etwas zustoßen, durch eine „Laufkette“ von Geboten und Verboten nur wenig Spielraum für eigene Erfah- rungen zu lassen (Kunz u. a. 1994, S. 107). Das zweite Recht fordert ein, jederzeit den individuel- len Bedürfnissen entsprechend behandelt zu werden. Der Status des Kindes soll zu keiner Zeit un ter dem eines Erwachsenen sein und die Gewichtigkeit seiner Bedürfnisse, z. B. mit den Worten „Wir wollen nur dein Bestes. Wenn du groß bist, wirst du das verstehen“, abgewertet werden. Das zuletzt genannte Recht verlangt nach der Berücksichtigung der Individualität jedes einzelnen Kindes. Überhöhte Idealvorstellungen seitens der Erwachsenen sollen abgebaut und stattdessen Veranlagung, eigene Ziele und „Mittelmäßigkeit“ der Kinder akzeptiert werden (Kunz u. a. 1994, S. 98, 99).
Aus den drei Grundrechten gehen Verpflichtungen der Erwachsenen hervor, von denen speziell diejenigen im nächsten Abschnitt genauer betrachtet werden sollen, die sich auf das überlegte Schaffen von Raum für die Umsetzung kindlicher Wünsche beziehen. Einen Anhaltspunkt dazu, woraus diese Rechte und Verpflichtungen hervorgehen, liefert bereits die Wortwahl im Titel der Arbeit. Da Korczak sich als Pädagoge dem Umgang mit Kindern widmete, lässt der Titel darauf schließen, dass die Liebe zum Kind seiner Ansicht nach der Schlüssel zum richtigen Umgang mit dem Kind ist. Die drei Grundrechte und alle sich daraus ergebenden Aufgaben der Erwachsenen führt er also darauf zurück, seine Kinder zu lieben. Die Kraft und die Hingabe, die aufgewendet werden müssen, um als Erwachsener kindlichen Bedürfnissen angemessen zu begegnen, schätzt Korczak nicht geringer ein als die, die der Liebe gleichkommen.
Das Lebenswerk Janusz Korczaks wird in der Pädagogik zwar häufig als Konzeption oder als geschlossenes pädagogisches System angesehen, oft wird jedoch auch betont, dass Korczak selbst seine Arbeit nicht als eine in sich geschlossene Theorie angesehen hat. Während in der Li- teratur einerseits Begriffe wie „die Korczak-Pädagogik“ (vgl. Kunz u. a. 1994) oder „das Korczak- System“ (vgl. Kluge u. a. 1981) Verwendung finden, um seine Arbeit zu umschreiben, weisen z. B. Silvia Ungermann und Erich Dauzenroth in ihren Büchern darauf hin, dass Korczaks Projekte in erster Linie Versuche waren, sich einem pädagogischen Ideal anzunähern. Einer Ansprache Korczaks an die Mitglieder- und Wahlversammlung „Nasz Dom“ vom 21.10.1923, die Ungermann in ihrem Buch Die P ä dagogik Janusz Korczaks zitiert, lässt sich diesbezüglich entnehmen:
„Das Ziel der gegenwärtigen Erziehung ist es, die Kinder auf das Leben vorzubereiten, wenn sie dann nach Jahren zu Menschen werden; wir möchten die Allgemeinheit davon überzeugen, daß die Kinder schon Menschen sind, und daß man sie wie lebendige und bereits menschliche Wesen be- handeln muß. [...] Weil wir vorläufig keine besseren Muster haben als diejenigen, welche die Ge- sellschaft der Erwachsenen für sich erarbeitet hat, werden wir sie nachahmen und sie dabei den Bedürfnissen und Besonderheiten der Kindergesellschaft anpassen.“ (Ungermann 2006, S. 102)
Die Aufgaben, denen sich Korczak in den Einrichtungen annehmen wollte, sind deutlich beschrieben. Dennoch ist auch der Versuchscharakter des Vorhabens erkennbar. Zwar enthält die Ansprache auch über diese Passage hinaus eine Vielzahl an Zielsetzungen für die Waisenhäuser Dom Sierot und Nasz Dom, jedoch finden auch weitere Relativierungen statt. Der Vorstand formuliert während derselben Versammlung: „Hier [in den Einrichtungen Dom Sierot und Nasz Dom] sind Theorie und Praxis zu einer Einheit verschmolzen. Es ist ein einzigartiger Versuch in Polen.“ (Ungermann 2006, S. 102-104).
Es bleibt zu bemerken, dass sich die Begriffe „System“ und „Versuch“ im Zusammenhang mit Korczaks Arbeit nicht gegenseitig ausschließen. Obwohl die ihm zugrunde liegende pädagogische Theorie nicht zu einem Abschluss gekommen ist, hat die detaillierte Planung des Alltagslebens in den Waisenhäusern schlussendlich ein Betreuungssystem hervorgebracht.
Neben des Verstehens des Kindes, das in Korczaks Ansatz die zentrale Voraussetzung für pädagogisches Arbeiten mit Kindern ist (Ungermann 2006, S. 104), sind weitere wichtige Faktoren, die Korczaks Arbeit maßgebend mitbestimmten, Genauigkeit in Durchführung und Dokumentation, forschendes Fragen, sowie das Anstreben von Selbstverantwortung der Kinder durch deren Mitbe- stimmung. In seinen Schriften stellt Korczak häufig Fragen, die das Wesen der Kinder und deren Bedürfnisse erkunden oder nach Antworten für die Pädagogik oder anderen Wissenschaftsdiszipli- nen suchen. Ein Beispiel für letzteres ist „Weshalb geht aus einer mittelmäßig begabten Familie manchmal ein hochbegabtes Kind hervor?“ (Korczak 1984, S. 119). In Korczaks Konzept ist stets das Anliegen erkennbar, alle ihm auffallenden Aspekte der Kindesentwicklung und des Zu- sammenlebens mit Kindern zu definieren. Auf diese Weise formuliert er Fragen, die sich sicherlich die meisten ErzieherInnen und Eltern stellen und beantwortet sie anschließend. Dabei wird sein beträchtlicher Erfahrungsschatz, den er v. a. durch seine Tätigkeit als Kinderarzt, Erzieher und Be- obachter erlangt hat, deutlich erkennbar. Die Beschreibungen der Umstände im Waisenhaus sowie Details über einzelne Kinder, Situationen oder seine Theorien sind ebenso akribisch genau for- muliert, wie einzelne Elemente der praktischen Arbeit geplant wurden (Kunz u. a. 1994, S. 108).
Diejenigen Elemente in Korczaks System, die den Kindern zu Selbstverantwortung durch Mitbestimmung verhelfen sollen, sind für diese Arbeit von besonderem Interesse und werden deshalb im nächsten Abschnitt näher beschrieben.
2.3 Korczaks Position zu partizipativer Pädagogik
Korczaks Verständnis von der Leitung seiner Waisenhäuser hob sich stark von der konventionellen Auffassung zu seiner Zeit ab (Kunz u. a. 1994, S. 32). Indem er den Kindern über demokratische Abstimmungen und andere Mittel einen großen Teil der Verantwortung für die Geschehnisse in den Einrichtungen übertrug, machte er sie zu einem Teil der Leitung (Dauzenroth/Kirchner 2006, S. 59/60; Kluge u. a. 1981, S. 57). Die Gleichberechtigung von ErzieherInnen und Kindern stand dabei im Vordergrund. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Abstimmung über die Beliebtheit sowohl einzelner Kinder als auch der ErzieherInnen. Dabei ergab sich nicht nur ein Stimmungsbild der Kinder über das Verhalten der anderen Kinder, sondern auch über das der Erwachsenen. So erhielten beide Parteien eine Rückmeldung, ob ihr Verhalten akzeptiert wurde, was die Entwicklung eines hohen Grades an Selbstreflexion seitens der Beurteilten zur Folge hatte.
Hinsichtlich des besonders hohen Grades an Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Gemeinschaft, das für ein Funktionieren dieser Methode Voraussetzung war, ist jedoch zu beden- ken, dass diese Abstimmungen ohne die in den Waisenhäusern herrschenden Rahmenbedingungen, die den Kindern dazu verhalfen, ein starkes soziales Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln, vermutlich nicht durchführbar gewesen wären.
Wie bereits im vorigen Teil angedeutet, gehen aus den drei genannten Grundrechten der Kinder Pflichten der Erwachsenen hervor. Die Rechte sind aus dem Grund auch als Pflichten anzu- sehen, da die Kinder in eine von Erwachsenen gelenkte Welt hineingeboren werden und es so schließlich nur die Erwachsenen sein können, die die Einhaltung der Kinderrechte sicherstellen können. Die oben genannten Maßnahmen zur Einbindung der Kinder in das System der Erwachsenen - in diesem Fall die Leitung eines Waisenhauses - sind nach Korczak also gleicher- maßen Kinderrecht, wie auch Pflicht der Erwachsenen. Doch dies soll an dieser Stelle nur eine ex- emplarische Darstellung von Korczaks Auffassung über die Gewährleistung von Partizipation sein.
Den Rechten, bzw. ihrer Erläuterung, ist zu entnehmen, dass Kindern ihre freie Entfaltung, ihren Bedürfnissen und ihren Wünschen entsprechend, zu ermöglichen ist und die strukturell grö- ßere Macht der Erwachsenen nicht dazu missbraucht werden darf, die Grundrechte der Kinder de- nen der Erwachsenen unterzuordnen. Es wird also gefordert, den Grad an Fremdbestimmung über das Leben der Kinder durch Erwachsene so gering wie möglich zu halten. Die Einrichtung und Be- treuung der Konferenzen, Zeitungen, Parlamente und Gerichte, in denen Kinder die Hauptakteure waren, war einerseits Teil seines Leitungskonzepts, andererseits aber auch Bestandteil seiner Visi- on von einer Kinderrepublik (Dauzenroth/Kirchner 2006, S. 59, 62). Denn mit den Waisenhäusern, in denen Korczak seine zahlreichen partizipationspädagogischen Entwürfe in die Praxis umsetzte, steuerte er auf eine sich selbst organisierende „Kindergesellschaft“ zu, deren Strukturen an denen der „Erwachsenengesellschaft“ ausgerichtet sind, mit der er eine Gleichstellung anstrebte (Unger- mann 2006, S. 103).
Die Einsatzgebiete von Korczaks Verfahrensweisen waren in erster Linie seine Waisenhäu- ser. Die von ihm umgesetzten Projekte und Methoden sind also als Elemente geschlossener Struk- turen zu betrachten, die, im Gegensatz etwa zu einem nur bis nachmittags geöffneten Kinderhort oder einer Ganztagsschule, für die Kinder das zu Hause, den Lebensraum, darstellen (vgl. poln. „Nasz Dom“: „Unser Haus“). In der in Kapitel 2.2 genannten Ansprache an die Mitglieder- und Wahlversammlung „Nasz Dom“ nennt Korczak mehrere Gründe, warum seine Entwürfe zur Refor- mation der Erziehung und der Situation der Kinder in der Gesellschaft in den Waisenhäusern um- gesetzt werden sollten:
„Wir beginnen unsere Arbeit mit den Internaten, weil man in ihnen die Kinder leichter von äußeren Einflüssen fernhalten kann. Wir wollen sie ihr eigenes Leben gestalten und die Kräfte, die moralische Widerstandskraft und die Entwicklungstendenzen, erproben lassen. [...] Wir beginnen unsere Arbeit in den Internaten, denn während wir den Geist der Erwachsenen und Alten kennen, erwarten wir eine Antwort darauf, welches die Werte und Bedürfnisse des heranwachsenden, reifenden menschlichen Geistes sind.“ (Ungermann 2006, S. 103)
Der hohe Stellenwert, den die demokratische Selbstverwaltungsstruktur für Korczak einnahm, der enorme Einfluss, den sie auf das Alltagsleben der Kinder hatte und nicht zuletzt ihr revolutionärer Charakter legen nahe, dass die Mitbestimmung und die Selbstverantwortung der Kinder zu seinen zentralsten Zielsetzungen zählten (vgl. Ungermann 2006, S. 171; Kunz u. a. 1994, S. 108; Dauzenroth/Kirchner 2006, S. 60/61).
[...]
- Citation du texte
- Sebastian Heinrichs (Auteur), 2007, Das Recht des Kindes auf Partizipation - Grundlagen und Perspektiven in Erziehung und Gesellschaft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139462
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