Lesen wurde jahrhundertelang durchweg als Vorlesen praktiziert. Sowohl in der Antike als auch im Mittelalter war es selbstverständlich, dass, wenn öffentlich oder individuell gelesen wurde, dies grundsätzlich laut geschah.
Seit der frühen Neuzeit bildeten sich neue Formen des lauten Vorlesens heraus. Gemeint ist damit jenes Vorlesen, „das sich komplementär zum stillen Lesen in privatem Rahmen entwickelte und Formen einer intimen Geselligkeit und informellen Öffentlichkeit ausbildete.“
Im Barock entstanden so genannte literarische Zirkel, in denen sich die dort verkehrenden Autoren ihre Dichtungen gegenseitig laut darboten. Auf dieser Basis entwickelte sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine eigenständige ästhetische Vortragskunst, die dazu diente, die Qualität der vorgetragenen Texte zu testen.
Beim Theater diente die Vorleseprobe den Schauspielern oder dem Regisseur in erster Linie als Auseinandersetzung mit dem Stück. All das geschah letztendlich vor dem Hintergrund, die deutsche Sprache zu pflegen, zu vereinheitlichen und hoffähig zu machen.
Eine selbstständige Vorlesekunst lässt sich erst um 1750 nachweisen.
Heute sind es vor allem die Schauspieler, die die Rolle des Vorlesers übernehmen und einem sich dafür begeisternden Publikum Texte meist schon verstorbener Autoren vortragen. Jedoch verhindern die seit den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts aufgekommenen Medien, wie Rundfunk, Fernsehen, Schallplatte, Tonband oder CD, die völlige Wiederbelebung der alten Tradition. Statt der öffentlichen Lesung gewinnen medienvermittelte Vorlesungen, wie zum Beispiel in Form des Hörbuchs, zunehmend die Oberhand.
Wie wichtig das Lesen und Vorlesen von und aus Büchern vor allem im Kindesalter ist, wird von verschiedenen Seiten immer wieder bestätigt, denn es regt nicht nur die Fantasie an, sondern fördert auch die individuelle sprachliche Entwicklung. Darüber hinaus wird Lesen als Basiskompetenz für lebenslanges Lernen angesehen. Um so alarmierender wirken die PISA-Ergebnisse, aus denen hervorgeht, dass die deutschen Mädchen und Jungen erhebliche Defizite im Bereich der Lesekompetenz aufweisen und zu 42 Prozent sehr ungern lesen. Da Kinder nicht als Leseratten geboren werden, ist es die Aufgabe der Familie und der Schule, und hier vor allem des Deutschunterrichts, sie zum Lesen zu motivieren und in ihnen die Freude am Lesen zu wecken.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Hinführung zum Thema
1.2 Abgrenzung des Themas
2.Schulische Förderung des Vorlesens
2.1 Das 17. Jahrhundert
2.2 Das 18. Jahrhundert
2.3 Vom Ende der Klassik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
2.3.1 Die Theorie
2.3.2 Die Praxis
3.Der Deutschunterricht im 20. Jahrhundert
3.1 Der Literaturunterricht während der NS-Zeit
3.2 Die Entwicklung des Literaturunterrichts nach der NS-Zeit bis 1968
3.2.1 Das Lesebuch zwischen 1965 und 1970
3.2.2 Das Lesebuch in der DDR
3.2.3 Die Entwicklung des Lesebuches seit 1970
4.Die Bedeutung des Deutschunterrichts heute
4.1 Die Leseleistungen 15-jähriger deutscher Schüler nach PISA
4.1.1 Lesekrisen und Leseunlust als Erklärungsansatz
4.2 Die gegenwärtige Stellung des (Vor-)Lesens im Deutschunterricht
4.2.1 Ein Plädoyer für das Vorlesen in der Schule
4.3 (Vor-)Lesen als Aufgabe des Deutschunterrichts
4.3.1 Die Verankerung des (Vor-)Lesens im Rahmenlehrplan für die Grundschule
4.3.2 Die Verankerung des (Vor-)Lesens im Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I
4.3.3 Die Verankerung des (Vor-)Lesens im Rahmenlehrplan für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe
5.Schlussbetrachtung
6.Literaturverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Hinführung zum Thema
Lesen wurde jahrhundertelang durchweg als Vorlesen praktiziert. Sowohl in der Antike als auch im Mittelalter war es selbstverständlich, dass, wenn öffentlich oder individuell gelesen wurde, dies grundsätzlich laut geschah.
Da lange Zeit von einer illiteraten Gesellschaft ausgegangen werden muss, wird weiterhin angenommen, dass das Vorlesen zunächst den Schreibern von Dokumenten als Absicherung ihrer Arbeit diente. Und zwar dahingehend, dass sie die Schriften nach Fertigstellung den Auftraggebern, meist adligen Grund- und Gerichtsherren, die in der Regel nicht lesen konnten, zur Kontrolle vorlasen. Gleiches gilt auch für die seit dem frühen Mittelalter überlieferten Regesten, Verordnungen, Privilegien und Verfügungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine ähnliche Überprüfung erfahren haben, ehe sie von den Machthabenden genehmigt wurden.
Im Mittelalter gehörten nicht nur die freie Predigt sowie das Rezitieren zu den wichtigsten Formen der gesprochenen deutschen Sprache. BENEDIKT VON NURSIA erklärte sogar per Satzung das Vorlesen zu einem wesentlichen Bestandteil des Klosteralltags, wobei dies laut Artikel 38 seines Regelwerks nach genauen Vorgaben geschehen sollte:
„Zu den Mahlzeiten der Brüder soll stets gelesen werden; doch keiner möge es wagen, aufs Geratewohl zum Buch zu greifen und mit dem Lesen anzufangen; sondern der, welcher dieses Amt für eine ganze Woche übernimmt, soll damit am Sonntage beginnen.“1
Doch auch vor den Klostermauern wurde das Vorlesen zu einer notwendigen und weit verbreiteten Praxis, da nur wenige diese Fertigkeit beherrschten und Bücher zudem recht teuer waren.
Seit der frühen Neuzeit bildeten sich neue Formen des lauten Vorlesens heraus. Gemeint ist damit jenes Vorlesen, „das sich komplementär zum stillen Lesen in privatem Rahmen entwickelte und Formen einer intimen Geselligkeit und informellen Öffentlichkeit ausbildete.“2
Im Barock entstanden so genannte literarische Zirkel, in denen sich die dort verkehrenden Autoren ihre Dichtungen gegenseitig laut darboten. Auf dieser Basis entwickelte sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine eigenständige ästhetische Vortragskunst, die dazu diente, die Qualität der vorgetragenen Texte zu testen. Damit ist zu jener Zeit jedoch nicht das Verfassen von möglichst originellen, sondern vielmehr der „Schulmeinung und entsprechenden Dichterlehren“ angemessenen Texten gemeint.3
Beim Theater diente die Vorleseprobe den Schauspielern oder dem Regisseur in erster Linie als Auseinandersetzung mit dem Stück. All das geschah letztendlich vor dem Hintergrund, die deutsche Sprache zu pflegen, zu vereinheitlichen und hoffähig zu machen.
Eine selbstständige Vorlesekunst lässt sich erst um 1750 nachweisen. Die daraus hervorgegangene Autorenlesung ist bis in die 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts erhalten geblieben und erfreute sich größter Beliebtheit, was E. OCKEL auf die Neugier des Leserpublikums zurückführt, das die Schriftsteller und Autoren ihrer Bücher persönlich kennen lernen wollte.4 Trotz des Interesses seitens der Zuhörerschaft verschwand diese öffentliche Lesekultur jedoch weitestgehend.
Heute sind es vor allem die Schauspieler, die die Rolle des Vorlesers übernehmen und einem sich dafür begeisternden Publikum Texte meist schon verstorbener Autoren vortragen. Jedoch verhindern die seit den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts aufgekommenen Medien, wie Rundfunk, Fernsehen, Schallplatte, Tonband oder CD, die völlige Wiederbelebung der alten Tradition. Statt der öffentlichen Lesung gewinnen medienvermittelte Vorlesungen, wie zum Beispiel in Form des Hörbuchs, zunehmend die Oberhand.
Wie wichtig das Lesen und Vorlesen von und aus Büchern vor allem im Kindesalter ist, wird von verschiedenen Seiten immer wieder bestätigt, denn es regt nicht nur die Fantasie an, sondern fördert auch die individuelle sprachliche Entwicklung. Darüber hinaus wird Lesen als Basiskompetenz für lebenslanges Lernen angesehen. Um so alarmierender wirken die PISA-Ergebnisse, aus denen hervorgeht, dass die deutschen Mädchen und Jungen erhebliche Defizite im Bereich der Lesekompetenz aufweisen und zu 42 Prozent sehr ungern lesen. Da Kinder nicht als Leseratten geboren werden, ist es die Aufgabe der Familie und der Schule, und hier vor allem des Deutschunterrichts, sie zum Lesen zu motivieren und in ihnen die Freude am Lesen zu wecken.
1.2 Abgrenzung des Themas
Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, aufzuzeigen, welche Bedeutung dem (Vor-)Lesen im Deutschunterricht beigemessen wurde und inwieweit sich diese über die Jahrhunderte hinweg verändert hat.
Der zweite Gliederungspunkt rückt die Entwicklung vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhundert in den Mittelpunkt. Da zu jener Zeit die Pflege der gesprochenen deutschen Sprache im Vordergrund stand, soll in erster Linie herausgearbeitet werden, welche Rolle das Vorlesen dabei einnahm und welche Bedeutung der Textauswahl beigemessen wurde. Die entsprechenden Ausführungen basieren vorrangig auf den Untersuchungen von IRMGARD WEITHASE, die sie unter dem TitelZur Geschichte der gesprochenen deutschen Spracheveröffentlicht hat. Das Werk umfasst alles, was zur Darstellung der historischen Entwicklung bedeutsam erscheint und ist als weiterführende Lektüre sehr zu empfehlen ist.
Gliederungspunkt 3 der vorliegenden Arbeit beschäftigt sich mit der Stellung des Deutschunterrichts zur Zeit des Nationalsozialismus bis hin zum Jahr 1968. Da keine Quellen vorlagen, die darüber hätten Auskunft geben können, in welcher Art und Weise zu jener Zeit vorgelesen werden sollte, beziehen sich die Ausführungen in erster Linie auf die Auswahl der Autoren und die Themen der zu lesenden Texte. Dabei wird die Frage zu berücksichtigen sein, zu was die Jugendlichen erzogen werden sollten. Da das Schulbuch in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle spielt, wird seine Entwicklung besondere Beachtung finden.
Der vierte Gliederungspunkt setzt sich mit der heutigen Bedeutung des Faches Deutsch und in diesem Zusammenhang auch des (Vor-)Lesens auseinander. Als Ausgangspunkt sollen die Ergebnisse der PISA-Studie 2000 dienen, die gezeigt haben, dass die deutschen Schülerinnen und Schüler im Bereich Lesen erhebliche Defizite haben und zu neuen Diskussionen anregten. Unter Berücksichtigung dessen soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit Lesen und Vorlesen im heutigen Deutschunterricht praktiziert wird und welche Vorgaben die Lehrer im Einzelnen erhalten. Als Informationsquellen dienen in erster Linie der Rahmenlehrplan für die Grundschule, die Sekundarstufe I sowie für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe.
An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass Zitate aus wissenschaftlichen Quellen und älteren Veröffentlichungen original übernommen werden. Die Neuregelungen der Rechtschreibung finden in diesen Passagen folglich keine Anwendung.
2. Schulische Förderung des Vorlesens
2.1 Das 17. Jahrhundert
Während des 16. Jahrhunderts nahm das Lateinische in den deutschen Schulen eine herausragende Stellung ein. Ein Antagonist dieser Situation war unter anderem W. RATICHIUS. Der Pädagoge verfolgte das Ziel, die Vormachtstellung fremder Sprachen, insbesondere die der lateinischen, zu beseitigen und durch die deutsche Sprache zu ersetzen. Die Unterweisung in Lesen, Schreiben und Sprechen der Muttersprache sollte anhand der Bibel Martin Luthers erfolgen, wobei der gesprochenen Sprache stets eine bevorzugte Stellung einzuräumen war. Den Erwerb der Lesefähigkeit beabsichtigte RATICHIUS über akustische Leitbilder herbeizuführen. Dies sah im Einzelnen so aus, dass der Lehrer einen Textabschnitt mehrmals langsam und mit halblauter Stimme sowie unter Berücksichtigung der Satzzeichen vorlas, während der Schüler die entsprechende Passage still im Buch mitverfolgte. Aufgrund der Anschauungen wird ersichtlich, dass RATICHIUS der Rhetorik einen besonders hohen Stellenwert einräumte.5
Die Bestrebungen des Pädagogen und die damit einhergehenden Lehrmethoden sind zu jener Zeit stark angegriffen und ins Lächerliche gezogen worden, wobei die gesellschaftliche Situation eine wesentliche Rolle spielte, denn indem RATICHIUS vornehmlich die lateinische und griechische Sprache durch die deutsche ersetzte, wurde vieles verständlicher. Dies galt vor allem für die Wissenschaften, die dadurch nicht länger der alleinige Besitz einer dünnen, sich bis dahin durch die Verwendung fremder Sprachen nach außen abgrenzenden Schicht blieben.6
Welchen Einfluss die ratichianische Didaktik trotz allem hatte, zeigen nicht nur Belege wie die Hessische Schulordnung von 1618 oder die Weimar’sche von 1619, sondern auch zahlreiche Lehrbücher, wie zum Beispiel OLEARIUS’Deutsche Sprachkunst(1630) oder GIRBERTSTeutsche Orthographie(1650), die in den darauf folgenden Jahrzehnten erschienen sind. Allen Schriften ist gemeinsam, dass sie, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, die Pflege der gesprochenen deutschen Sprache fordern, wobei in jedem Fall der Lehrer als Vorbild für seine Schüler zu gelten habe.7
Der Richtlinienentwurf, der 1640 eigens für das Gymnasium in Gotha herausgegeben wurde und dessen überarbeitete Ausgaben bis 1685 eine weite Verbreitung fanden, ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er auch außerhalb der Schule eine deutliche Aussprache der Schüler anstrebte. Wann immer die Eltern ihre Kinder zu Hause rezitieren ließen, sollten sie auf eine angemessene Artikulation achten.8
Im Jahre 1700 erschien ZEIDLERSNeuverbessertes, vollkommenes ABC-Buch; oder Schlüssel zur Lesekunst. Bildeten bis dahin Texte aus dem Lehrbuch für den christlichen Glaubensunterricht sowie aus der Heiligen Schrift die Grundlage für das Nachsprechen und Lesen, so unterscheiden sich die zwei Bände von den Leselehren und Lesebüchern der letzten Jahrhunderte dahingehend, dass der Pädagoge bewusst auf die Verwendung des Katechismus und der Bibel für Leseübungen verzichtete, denn Gottes Wort war ihm zu heilig, „um es zum Gegenstand mühsamer Buchstabierübungen zu machen.“9
2.2 Das 18. Jahrhundert
Auch wenn die Pflege der gesprochenen deutschen Sprache sowohl im schulischen als auch im universitären Bereich ihre Anerkennung gefunden hatte, dauerte ihre uneingeschränkte Durchsetzung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, wobei sie immer wieder Rückschläge hinnehmen musste. Vergleicht man beispielsweise die zeitgenössischen Schulordnungen mit denen des 17. Jahrhunderts, wird man feststellen, dass sie kaum großartige Neuerungen enthalten, sondern die bisherigen Forderungen lediglich wiederholen.
Eine Ausnahme bildet die Braunschweig-Lüneburgische Schulordnung aus dem Jahre 1737, die etwas näher auf die Pflege der gesprochenen Sprache eingeht. So weisen die Herausgeber zum Beispiel darauf in, dass der Lehrer nicht nur „fleissig auf die Aussprache und den Accent“ der Schüler, sondern auch auf die Zusammenhänge zwischen Aussage-Inhalt und lautlicher Erscheinungsform achten soll.10 Des Weiteren lassen sich bei der Wahl der Lesestoffe neue Tendenzen feststellen. Standen bisher ausschließlich religiöse Texte im Mittelpunkt, werden diese nun durch „nützliche Historien“ sowie „öffentliche Zeitungen“ ergänzt.11
Erst zu Beginn des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts werden weitläufigere Veränderungen sichtbar, die durch die deutsche Dichtung ausgelöst wurden. Die Kurfürstlich Sächsischen Schulordnungen für die Fürstenschulen aus dem Jahre 1773 legen beispielsweise fest, dass der Lehrer „die besten Werke der Nationalschriftsteller, welche die Beobachtung der Sprachlehre mit dem Reichthume und der Wahl der Redensarten, und mit der Zierlichkeit des Ausdruckes am glücklichsten verbunden haben, fleißig mit ihm [dem Schüler] lesen“ soll.12 Die Kurfürstlich Sächsische Schulordnung für die lateinischen Stadtschulen empfahl hingegen „gute, wohlgeschriebene, andächtige Lieder, ingleichen gute Fabeln und Erzählungen [...]“, wobei Erzählungen, die von Hexen und Gespenstern handelten, verboten waren.13
Veränderungen gab es jedoch nicht nur im Hinblick auf den Lesestoff, sondern auch in Bezug auf das Lesenlernen. Demnach löste man sich von der Ansicht, dass das Buchstabieren der einzelnen Wörter für den Prozess notwendig sei und bevorzugte nun mehr das Lesenlernen auf einer phonetischen Grundlage. Darüber hinaus wurde von den Schülern verlangt, dass sie, wann immer es ihnen möglich war, ihre rednerischen Leistungen, wie das Rezitieren von selbstverfassten Versen oder auch das Halten von Reden sowie Zwie- und Rundgesprächen, öffentlich präsentierten, um nicht nur in Gegenwart zahlreicher, meist fremder Personen sprechen zu lernen, sondern auch um stimmlich flexibel auf die jeweiligen räumlichen Bedingungen reagieren zu können.14
Neben den Pädagogen erhielt die gesprochene deutsche Sprache auch von Dichtern und Philosophen neue Anregungen. So forderte HERDER beispielsweise unter anderem Übungen im Vorlesen von Dichtungen, denn wie die Italiener ihren Ariost und Tasso, die Engländer ihren Milton und Shakespeare sollten die deutschen Schüler Lessing, Winkelmann, Kleist, Klopstock, Uz sowie Haller kennen und rezitieren lernen. Gleichzeitig sollte das laute Lesen dazu dienen, sich mit verschiedenen Formen der Dichtung auseinanderzusetzen. „Es wird empfohlen, Erzählung, Fabel, Geschichte, Gespräch, Selbstgespräch, Lehre und Lehrgedichte, Epopöen, Oden, Hymnen, Lust- und Trauerspiele in Gegenwart andrer oder mit andern, ohne Zwang, in der natürlichsten Art zu lesen.“15
Die gesprochene deutsche Sprache hat um 1800 von verschiedenen Seiten Impulse erhalten, die zu ihrer Pflege beigetragen haben. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, ob diese Anregungen erhalten, weitergeführt und ausgebaut wurden oder ob es möglicherweise rückwärts gerichtete Tendenzen gegeben hat.
2.3 Vom Ende der Klassik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
2.3.1 Die Theorie
Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts setzte man sich immer häufiger mit Fragen hinsichtlich der Erziehung und Förderung des Kindes im Sprechen und Vorlesen auseinander. In diesem Zusammenhang kam verstärkt die Forderung nach einer systematischen Ausbildung des Lehrers auf dem Gebiet der Sprechererziehung auf. Doch obwohl sich Pädagogen, Dichter und Vortragskünstler gleichermaßen dafür einsetzten, ist diese bis heute nur unzureichend verwirklicht worden. Als Beispiel sei an dieser Stelle auf die sprecherzieherische Ausbildung der Lehramtskandidaten an der Universität Potsdam verwiesen. In dem mit ‘Sprecherziehung’ titulierten Seminar geht es in erster Linie um die Vermittlung von Übungen zur Gesunderhaltung der Stimme sowie um das Kennenlernen verschiedener Stimmstörungen und -erkrankungen. Sprecherziehung im eigentlichen Sinne findet leider nicht statt.
Abgesehen von der Forderung nach einer sprecherischen Ausbildung der Lehrer lassen sich während des 19. Jahrhunderts auch im schulischen Bereich neue Entwicklungstendenzen feststellen. Vertreter einer schlichten Vorlesekunst forderten beispielsweise, „die Zöglinge nichts lesen zu lassen, was sie nicht geistig beherrschen und mit Verständnis, Gefühl und Phantasie durchdringen.“16 Davon ausgehend leitete HEYSE 1833 entsprechende Anweisungen ab, wonach das Kind zunächst eine angemessene Aussprache und erst im Anschluss daran Lesen lernen sollte. Diesen Bestrebungen schloss sich auch der Philologe BECKER an. Doch während HEYSE großen Wert auf die Übereinstimmung von Ton und Ausdruck der Stimme mit der Empfindung legte, verband BECKER die Sprechübungen mit Denkübungen.
Hervorzuheben sind an dieser Stelle auch die Leistungen des erfahrenen Pädagogen F. A. W. DIESTERWEG, der für lange Zeit als Vorbild für die schulische Sprecherziehung gegolten hat. Er forderte vom Leser, dass dieser zwar lebendig darstellen, jedoch nicht deklamieren möge.
[...]
1 zit. n. Manguel, A. (1998), S. 139
2 Meyer-Kalkus, R. (2001), S. 234
3 Ockel, E. (2000), S. 2
4 vgl. ebd., S. 3
5 vgl. Weithase, I. (1961), S. 245 ff.
6 vgl. ebd., S. 249
7 vgl. ebd., S. 250
8 vgl. Weithase, I. (1961), S. 259
9 zit. n. ebd., S. 263
10 zit. n. ebd., S. 286
11 zit. n. ebd., S. 287
12 zit. n. Weithase, I. (1961), S. 289
13 zit. n. ebd., S. 290
14 vgl. ebd., S. 293 f.
15 vgl. ebd., S. 381
16 zit. n. Weithase, I. (1961), S. 426
- Quote paper
- Janice Höber (Author), 2007, Lesen und Vorlesen von (literarischen) Texten in der Schule, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138885
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