Sergej RACHMANINOFF war einer der größten Pianisten, Dirigenten und Komponisten des des 19. bzw. 20. Jahrhunderts. Als Dirigent wurde er von seinen Zeitgenossen hochverehrt, als technisch überaus versierter Pianist sowohl von Kollegen wie auch vom Publikum geschätzt und bewundert. In der Tat war RACHMANINOFF einer der bestbezahlten Pianisten seiner Zeit, obwohl ein Großteil seiner Karriere von finanziellen Nöten geprägt war, insbesondere seine Jahre in Russland. Sein nüchtern-sachlicher Interpretationsstil muss aus heutiger Sicht als geradezu visionär gelten. Als Komponist hingegen war RACHMANINOFF umstritten – und ist es bisweilen heute noch, hielt er doch zeitlebens an der romantischen Harmonik fest.
Kritiker bezeichneten seine Musik oft als überheblich, titulierten sie als schwülstig oder künstlich. Beim Publikum waren RACHMANINOFFS Werke vielleicht gerade wegen der vielen unvergesslichen, vermeintlich schwülstigen Melodien zumeist überaus beliebt, besonders in den angelsächsischen Ländern. Insbesondere die Werke für Klavier und Orchester, die zugleich die wichtigsten Werke des RACHMANINOFF‘SCHEN Oevres darstellen, erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit, vor allem natürlich das 2. und 3. Klavierkonzert sowie die Rhapsodie über ein Thema von Paganini. Auch für Pianisten stellen diese eine große Herausforderung dar. Das 3. Klavierkonzert (1909) gilt als das wohl schwerste Konzert überhaupt. Nicht umsonst bezeichnete es der berühmte polnische Pianist Arthur RUBINSTEIN einst als „Elefantenkonzert“.
Das 2. Klavierkonzert bedeutete einen Höhepunkt im Kompositionsprozess RACHMANINOFFS und hat eine besondere Stellung in seiner Biografie inne. Es beendete eine dreijährige Schaffenskrise und markierte gleichzeitig den Durchbruch vom genialen Talent zum Komponisten von Weltgeltung. Zusammen mit seiner großen Beliebtheit beim Publikum ist es daher wert, einmal genauer betrachtet zu werden. Dabei werden die Umstände der Komposition beleuchtet, wie auch Aspekte der Kritik und Rezeption. Durch musikalische Analysen sollen darüber hinaus besondere Merkmale des RACHMANINOFF‘SCHEN Kompositionsstils dargelegt werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die Uraufführung der 1. Sinfonie und der Sturz in die Depression
2. Die Komposition des 2. Klavierkonzerts und die Überwindung der Krise
3. Musikalische Analyseaspekte und Besonderheiten des Rachmaninoffschen Stils
4. Zur Intention des Komponisten
5. Rezeption und Kritik
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur
8. Abbildungsverzeichnis
Einleitung
Sergej RACHMANINOFF war einer der größten Pianisten, Dirigenten und Komponisten des des 19. bzw. 20. Jahrhunderts. Als Dirigent wurde er von seinen Zeitgenossen hochverehrt, als technisch überaus versierter Pianist sowohl von Kollegen wie auch vom Publikum geschätzt und bewundert. In der Tat war RACHMANINOFF einer der bestbezahlten Pianisten seiner Zeit, obwohl ein Großteil seiner Karriere von finanziellen Nöten geprägt war, insbesondere seine Jahre in Russland. Sein nüchtern-sachlicher Inerpretationsstil muss aus heutiger Sicht als geradezu visionär gelten. Als Komponist hingegen war RACHMANINOFF umstritten – und ist es bisweilen heute noch, hielt er doch zeitlebens an der romantischen Harmonik fest.
Kritiker bezeichneten seine Musik oft als überheblich, titulierten sie als schwülstig oder künstlich. Beim Publikum waren RACHMANINOFFS Werke vielleicht gerade wegen der vielen unvergesslichen, vermeintlich schwülstigen Melodien zumeist überaus beliebt, besonders in den angelsächsischen Ländern. Insbesondere die Werke für Klavier und Orchester, die zugleich die wichtigsten Werke des RACHMANINOFF‘SCHEN Oevres darstellen, erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit, vor allem natürlich das 2. und 3. Klavierkonzert sowie die Rhapsodie über ein Thema von Paganini. Auch für Pianisten stellen diese eine große Herausforderung dar. Das 3. Klavierkonzert (1909) gilt als das wohl schwerste Konzert überhaupt. Nicht umsonst bezeichnete es der berühmte polnische Pianist Arthur RUBINSTEIN einst als „Elefantenkonzert“.
Das 2. Klavierkonzert bedeutete einen Höhepunkt im Kompositionsprozess RACHMANINOFFS und hat eine besondere Stellung in seiner Biografie inne. Es beendete eine dreijährige Schaffenskrise und markierte gleichzeitig den Durchbruch vom genialen Talent zum Komponisten von Weltgeltung. Zusammen mit seiner großen Beliebtheit beim Publikum ist es daher wert, einmal genauer betrachtet zu werden. Dabei werden die Umstände der Komposition beleuchtet, wie auch Aspekte der Kritik und Rezeption. Durch musikalische Analysen sollen darüber hinaus besondere Merkmale des RACHMANINOFF‘SCHEN Kompositionsstils dargelegt werden.
1. Die Uraufführung der 1. Sinfonie und der Sturz in die Depression
Sergej RACHMANINOFF wurde am 1. April 1873* in Oneg (Novgorodprovinz) in eine russische Aristokratenfamilie hineingeboren. Nachdem sein Vater Arkadij Alexandrowitsch RACHMANINOFF, ein ehemaliger Offizier der russichen Armee und gebildeter Dilettant, mit einer Ausnahme alle Güter der Familie verprasst hatte, ließen sich die Eltern im Jahre 1882 scheiden. Der junge Sergej zog mit seiner Mutter daraufhin nach St. Petersburg. Dort besuchte er von 1883-1885 das Konservatorium. Von 1885-1892 studierte er am Moskauer Konservatorium Klavier bei Nikolai SVEREV und seinem Cousin Alexander SILOTI sowie Komposition bei Sergej TANEJEW und Anton ARENSKI. Er wurde Schützling TSCHAIKOWSKIS und enger Freund SKRJABINS, obwohl RACHMANINOFF dessen Kompositionsstil nicht sonderlich schätzte und umgekehrt auch SKRJABIN den Stil RACHMANINOFFS nicht anerkannte.1
RACHMANINOFFS Abschluss am Konservatorium war überaus erfolgreich. Seine Abschlussarbeit in Komposition, die einaktige Oper Aleko, wurde mit besten Noten bewertet. 1892 erhielt er sein Diplom zusammen mit der höchsten Auszeichnung, die das Moskauer Konservatorium zu vergeben hatte, die große Goldmedaille, eine Ehre, die vor ihm nur zwei anderen Studenten zuteil geworden war, einer von ihnen war sein eigener Lehrer TANEJEW.2
Bereits ein Jahr zuvor hatte er sein erstes Klavierkonzert op. 1 in fis-Moll geschrieben. Im Jahr seines Abschlusses komponierte RACHMANINOFF eines seiner bekanntesten Stücke, das Prélude op. 3 Nr. 2 in cis-Moll, das ihn fast aus dem Stand weltberühmt machte und ihn zeitlebens nicht mehr loslassen sollte. Das Prélude brachte RACHMANINOFF gerade einmal 40 Rubel ein, während ausländische Verlage aufgrund fehlenden Copyrights Millionen verdienten.3
Durch den Erfolg seiner frühen Werke beflügelt entschloss sich RACHMANINOFF zur Komposition seiner 1. Sinfonie. Die Uraufführung am 27. März 1897 geriet allerdings zu einem Desaster. Der Dirigent Alexander GLASUNOW, selbst hoch geachteter Komponist, der allerdings das Werk RACHMANINOFFS nicht sonderlich schätzte, schien die Sinfonie nicht ordentlich geprobt zu haben. Zahlreiche Fehler in den Orchesterstimmen waren nicht verbessert worden. Zudem dirigierte er völlig uninspiriert und fantasielos. RACHMANINOFFS Frau vermutete später gar, GLASUNOW sei bei der Aufführung betrunken gewesen.4
Obwohl die Sinfonie ein Frühwerk und daher sicher nicht frei von kompositorischen Schwächen war, muss es doch GLASUNOW angelastet werden, dass sie sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik sang- und klanglos durchfiel. Da GLASUNOW jedoch in der russischen Musikszene ein hohes Ansehen genoss, war es nicht er sondern RACHMANINOFF, den die Kritiker zerrissen. Besonders hervor tat sich dabei der Komponist und gefürchtete Musikkritiker César CUI. So schrieb dieser in der Zeitung Navosti i virzhevaya Gazeta vom 29. März 1897:
„Angenommen, es gäbe in der Hölle ein Konservatorium, und einer der dortigen Studenten würde beauftragt, eine Programmmusik in Form einer Sinfonie zu schreiben, deren literarisches Vorbild die ‚Sieben Plagen Ägyptens‘ sein sollten, und er würde dabei eine solche Sinfonie abliefern wie Herr Rachmaninow, dann hätte er seine Aufgabe in der Tat hervorragend gelöst und alle Bewohner der Hölle in geradezu köstlicher Weise erfreut.“5
César CUI hatte seiner Zeit einen großen Einfluss auf die Meinungsbildung in den musikalischen Zentren Russlands. Als Mitglied des „Mächtigen Häufleins“ und Vertreter des Dilettantentums und eines national-russischen Stils war er gegenüber RACHMANINOFFS westlich orientiertem Kompositionsstil ohnehin kritisch eingestellt. Mit seiner unsachlichen und polemischen Kritik bremste er RACHMANINOFF in seinen Ambitionen knallhart aus und stürzte diesen in eine tiefe Krise.6
Die 1. Sinfonie wurde zu Lebzeiten des Komponisten nie wieder aufgeführt. RACHMANINOFF selbst zerstörte die Partitur und wollte sein Werk für immer vernichtet wissen. Nachdem jedoch die Partitur aus den einzelnen Orchesterstimmen wiederhergestellt worden war, feierte die Sinfonie 1945 – zwei Jahre nach dem Tode des Komponisten - bei ihrer Wiederaufführung in der Sowjetunion einen großen Erfolg.7
RACHMANINOFF jedoch verfiel nach der katastrophalen Aufführung und der vernichtenden Kritik in tiefe Depressionen und begann zu trinken. Verstärkt durch eine unglückliche Liebesaffäre zu der verheirateten Anna Lodyshenskaja, der Widmungsträgerin der 1. Sinfonie, war er drei Jahre lang unfähig zu komponieren.8
2. Die Komposition des 2. Klavierkonzerts und die Überwindung der Krise
Stattdessen konzentrierte er sich auf seine Karriere als Pianist und Dirigent. 1899 absolvierte er seinen ersten Auftritt außerhalb Russlands und gab sein Debut mit dem London Philharmonic Orchestra. Das Konzert wurde ein großer Erfolg. Doch wurde RACHMANINOFF weniger für die Qualität seiner Werke gerühmt als vielmehr für seine interpretatorischen Fähigkeiten. Er bekam die Einladung für ein weiteres Konzert im folgenden Jahr, in dem er sein 1. Klavierkonzert spielen sollte. RACHMANINOFF sah dieses jedoch als Jugendwerk an (wesentliche Teile wurden von ihm 1917 noch einmal grundlegend überarbeitet) und versprach den Organisatoren ein neues besseres Konzert.9 Doch seine Depression und Blockade hielten an. Im Gegenteil, sie verstärkten sich nach einem Gespräch mit dem von ihm verehrten Lew Tolstoi, der seine Musikanschauung als großbürgerlich dekadent verurteilte.10
In seiner Not wandte sich RACHMANINOFF an den bekannten russischen Psychater Dr. Nikolai DAHL. Dieser hatte sich auf die Behandlung von Alkoholkranken mittels Hypnose spezialisiert. DAHL – selbst begabter Cellist und Bratscher – behandelte den Komponisten aufgrund seines persönlichen Interesses an der Musik kostenlos. Er versuchte, RACHMANINOFFS Schlafstörungen zu lindern, dessen Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit während der Wachphasen zu steigern, seinen übermäßigen Alkoholkonsum zu beenden und ihm insgesamt neue Lust aufs Komponieren zu verschaffen. Täglich wiederholte DAHL sein Mantra:
„Sie werden Ihr Konzert schreiben. Sie werden es mit großer Leichtigkeit schreiben und es wird von exzellenter Qualität sein.“11
Mit seiner Methode aus Hypnose und Autosuggestion hatte DAHL Erfolg. RACHMANINOFF beendete seinen Alkoholkonsum und trank Zeit seines Lebens nie wieder. Seine Depressionen kehrten allerdings in unregelmäßigen Abständen wieder. Seine neugewonnene Schaffenskraft stellte er jedoch umgehend unter Beweis. Während eines Italienaufenthaltes im Spätsommer des Jahres 1900 zusammen mit seinem Freund, dem russischen Sänger Fjodor SCHALJAPIN begann er nicht nur mit der Arbeit an einem neuen Klavierkonzert sondern einer neuen Oper (Francesca da Rimini). Der zweite und dritte Satz seines 2. Klavierkonzertes wurden bereits am 15. Dezember 1900 unter der Leitung SILOTIS in Moskau aufgeführt. Obwohl RACHMANINOFF beunruhigt war ob der Wirkung seines Werkes, brachte es ihm den langersehnten Erfolg. Dadurch ermutigt und inspiriert, begann er mit der Komposition des Kopfsatzes, die er am 4. Mai 1901 beendete. Fast zeitgleich schrieb RACHMANINOFF seine 2. Klaviersuite. Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Werken sind unverkennbar. In der Tat läutete die Komposition des 2. Klavierkonzertes eine überaus schaffensreiche Phase ein. In der Folge entstanden einige der bedeutendsten Werke RACHMANINOFFS, unter anderem die besagte 2. Klaviersuite, aber auch die beliebte Sonate für Cello und Klavier in g-Moll op. 19 sowie die 10 Préludes op. 23.12
Die Uraufführung des vollständigen Konzertes fand am 9. November 1901 in Moskau wiederum unter der Leitung SILOTIS statt. War der erste Eindruck noch zwiespältig, feierte die zweite Aufführung – diesmal mit RACHMANINOFF am Pult und SILOTI als Solist – einen enormen Erfolg. Die Schaffenskrise des Komponisten war damit endgültig überwunden.13
1904 wurde RACHMANINOFF für sein 2. Klavierkonzert mit dem begehrten Glinka-Preis der St. Petersburger Beljaew-Stiftung ausgezeichnet, einen Preis, den er insgesamt drei mal erhielt, so auch für seine Kantate Der Frühling op. 20 und seine 2. Sinfonie in e-Moll op. 27.14
Aufgrund seines großen Beitrages zur Überwindung der Krise und – damit einhergehend – seiner großen Bedeutung für die Komposition des zweiten Klavierkonzertes ist es nicht verwunderlich, dass das Werk Dr. Nikolai DAHL gewidmet ist.
3. Musikalische Analyseaspekte und Besonderheiten des Rachmaninoffschen Stils
Das zweite Klavierkonzert gehört mit einer Aufführungsdauer von 34 Minuten zu RACHMANINOFFS reifsten Werken. Dennoch hielt er zeitlebens an der spätromantischen Harmonik und dem romantischen Lyrismus fest, sei doch das lyrische Empfinden und der melodische Ausdruck nach RACHMANINOFF das höchste Ziel eines Komponisten.15 Das zweite Klavierkonzert markiert darüber hinaus einen Wendepunkt in der musikalischen Entwicklung des Komponisten. Wurden seine früheren Werke vor allem wegen der farbigen Harmonik gerühmt, etablierte sich RACHMANINOFF mit diesem Konzert als großartiger Melodiker. Der Orchesterklang wird überwiegend von Streichern und Holzbläsern dominiert. Blechbläser kommen nur in den emotionalen Höhepunkten zum Einsatz.16
Im Konzert lassen sich zwei grundsätzliche Gestaltungsebenen finden: stark rhythmisierte, oft düstere Klänge wechseln sich mit fließenden liedhaften Melodien ab. Die Bandbreite der musikalischen Emotionen reicht dabei von zart bis schwärmerisch-hymnisch.17
1. Satz: Moderato (alla breve)
Diese beiden Gestaltungsebenen kommen im Hauptthema des 1. Satzes zusammen: dumpfe Glockenschläge des Klaviers erklingen über einer Orchestermelodie in Moll.
Die 8 Eröffnungsakkorde (T. 1-8) enden mit dem „Kernmotiv“ des Konzerts (G)-Ab-F-G-C. Dieses lässt eine klare Verbindung zu seinem berühmten Prélude cis-Moll op. 3,2 erkennen. Das Motiv ist klar durch die Anfangstöne des Préludes inspiriert (A-G#-C#). Vor allem aber das Ende diente als Vorlage für die Eröffnung des Konzerts. In beiden
Fällen erklingen Subdominant-Akkorde, Septakkorde der II. und IV. Stufe. Die einzelnen tiefen Basstöne dienen als Fundament, die konstanten Außenstimmen besitzen eine Stützfunktion. Die Innenstimmen hingegen alterieren. Sie steigen und fallen und sind somit für den symmetrischen Aufbau der Akkordreihe verantwortlich. Chromatische Stimmführung ist ein bestimmendes Stilmerkmal in den Werken RACHMANINOFFS. Auch die finalen Akkorde des Préludes zeigen einen symmetrischen Aufbau, allerdings in umgekehrter Struktur. Erklingt in dem Stück zuerst der Basston und anschließend der Akkord, wird dies im Klavierkonzert genau umgekehrt gehandhabt. Zudem weist das Prélude eine entgegengesetzte dynamische Entwicklung auf. Die Akkorde scheinen im pp geradezu hinwegzusterben. Im Konzert beziehen diese durch die alterierenden Innenstimmen eine unerhörte Energie, welche sich im Kernmotiv zur Tonika c-Moll hin entlädt. Die Aufstauung von Energien ist ebenfalls typisch für den Stil RACHMANINOFFS, allerdings erfolgt diese im Verlauf des Konzerts überwiegend durch Modulation und Sequenzierung des musikalischen Materials.18
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1 Eröffnungsakkorde des 1. Satzes
Die Einleitungsakkorde des Konzerts erinnern zudem an Glockenmusik, ein Element der russisch-orthodoxen Kirchenmusik, die eine wichtige Säule im Werk RACHMANINOFFS darstellt.
Setzen Gläubige im Westen ihr Seelenheil und ihre Hoffnung in einen hohen, strahlenden, göttlich reinen Glockenton, wird im Osten ein dunkler, voluminöser und warmer Glockenklang bevorzugt. Diese vollklingenden Töne werden nur durch einen übergroßen Glockenkorpus erreicht. Teilweise sind die russischen Glocken so groß, dass nicht die Glocke selbst bewegt werden kann sondern nur ihr Klöppel – teilweise durch die Kraft von vielen Männern. Glockengeläute war jahrhundertelang im täglichen Leben der Menschen involviert. Es rief zum Gebet, zum Essen, zu Feierlichkeiten und vielem mehr. Es war so selbstverständlich, dass viele Ethnologen versäumt haben, es zu dokumentieren. Die Oktoberrevolution von 1917 bedeutete häufig das Ende der Glocken, die als Zeichen des russisch-orthodoxen Glaubens keinen Platz im kommunistischen Weltbild hatten. Ein Umdenken fand erst in den 1970er Jahren statt, als man sich bemühte, die wenigen historischen Aufnahmen zu archivieren und zu analysieren. RACHMANINOFF war seit seinen Kindertagen auf dem Landgut Oneg fasziniert vom Glockengeläut ( russ: kolokol’nost‘) des Sophiendoms im nah gelegenen Nowgorod. Die verschiedenen Klangfarben sollen auf ihn eine geradezu hypnotische Wirkung gehabt haben. In fast allen seinen Kompositionen lassen sich Anklänge an die Glocken finden, entweder in der Struktur, dem Klang, der Harmonie oder Melodie, ganz besonders natürlich in seiner Kantate Kolokola (die Glocken) op. 35.19
Die Verbindung zur sakralen Glockenmusik kann allerdings nur rein spekulativer Art sein, betrachtete doch RACHMANINOFF sein Prélude in cis-Moll – die Ähnlichkeiten zwischen diesem und dem Beginn des Klavierkonzerts wurden ja bereits erläutert – als absolute Musik ohne programmatische Vorlage. Er verwahrte sich geradezu gegen Überinterpretationen dieses Klavierstücks, und derer gab es reichlich. Sie reichten von der musikalischen Darstellung des „Brands von Moskau“, des „Jüngsten Gerichts“ oder der „Agonien eines Mannes, der lebendig in einen Sarg genagelt sei“.20
Das Kernmotiv, das die Einleitung beschließt, führt zum lyrischen Hauptthema des ersten Satzes, das nicht – wie man bei einem Klavierkonzert vielleicht erwarten würde – vom Klavier, sondern von den Streichern und der Klarinette eingeführt wird. Das Klavier dient lediglich der Begleitung. Das eigentliche Thema besteht aus zwei unterschiedlichen Teilen, die in der Exposition unter der Klavierbegleitung zusammenschmelzen. In der Reprise (ab T. 245) sind diese jedoch klar als jeweils eigenständig erkennbar.
Das Hauptthema des Kopfsatzes erinnert an die romantische Tonsprache der Klavierkonzerte TSCHAIKOWSKIS, der nur 8 Jahre zuvor gestorben war. Dies wird durch die weitgespannte Melodie voll „russischer“ Melancholie und Leidenschaft erreicht, die augenblicklich eine weite russische Landschaft vor dem geistigen Auge erscheinen lässt.21 Ebenso durch die mögliche Verbindung des Themas zur gedehnten russischen Volksmelodik. Diese findet man besonders im Liedtypus der protjashnaja pesnja (das gedehnte Lied), melismatischer Gesänge mit großem Ambitus und größeren
Intervallsprüngen (die sich allerdings in der Melodie des Hauptthemas kaum finden lassen) sowie lyrischem Inhalt, die in ihrer Textverständlichkeit sehr gedehnt sind, bis hin zur Vertonung einzelner Silben. Ein großer Teil des Liedschaffens RACHMANINOFFS steht in dieser Tradition. Das berühmteste Beispiel hierfür ist sicherlich die Vocalise op. 34 Nr. 14.22
Obwohl die angedeuteten Verbindungen des Klavierkonzerts zur sakralen und traditionellen Musik Russlands plausibel erscheinen, muss allerdings angemerkt werden, dass Nikolai MEDTNER und RACHMANINOFF selbst jegliche bewusste Anlehnung an Volksliedintonationen zurückgewiesen haben.23
Ein weiteres charakteristisches Merkmal RACHMANINOFF‘SCHER Melodieentfaltung ist eine Art „Pendelmelodik“. Die Melodie des Hauptthemas steigt auf und kehrt immer wieder zum Ausgangston, dem Grundton der Tonika (c‘), zurück. Diese Melodieführung ist kennzeichnend für das Konzert und auch weitere Stücke des Komponisten. Sie ist gleichsam das bereits erwähnte hemmende Element, das so typisch für den Kompositionsstil RACHMANINOFFS ist. Die Sequenzierung des musikalischen Materials und der langsame Auf- und Abbau des Themas erzeugen einen enorm weiten Atem, während die Sekundintervalle an die Intonantionen der alten russischen Heldenlieder, der sogenannten Bylinen, erinnern.24
Der bereits zuvor angedeutete russische Klang des Hauptthemas wird auf verschiedene Art und Weise erreicht. Zum einen durch seine tiefe Tonlage und das melodische Streicherunisono und zum anderen durch die dynamische Steigerung durch harmonische Füllstimmen der tiefen Bläser und die breit aufgefächerten Klavierarpeggien.25
In der Vorliebe RACHMANINOFFS, das Klavier als Begleitung für das Orchester einzusetzen, findet sich eine zweite Verbindung zu den Konzerten TSCHAIKOWSKIS. In der Tat spielt das Klavier im ersten Satz niemals das vollständige Hauptthema, sondern lediglich dessen zweiten Teil. Im Gegenzug spielt das Orchester das zweite Thema nur ein einziges Mal vollständig (Hornsolo in der Reprise), meist wird es nur angedeutet. Man vergleiche diese Vorgehensweise beispielsweise mit dem Beginn von TSCHAIKOWSKIS Klavierkonzert Nr. 1 in b-Moll op. 23. Auch hier wird das Hauptthema vom Orchester vorgetragen, während das Klavier die berühmten heroischen Akkorde daruntersetzt. RACHMANINOFF fungierte auf der Bühne nicht selten als Begleiter, häufig für seinen Freund Fjodor SCHALJAPIN. Möglicherweise ist der Einsatz des Klaviers als Begleitung für das Orchester unter anderem diesem Umstand geschuldet.26
Noch kurz vor der Uraufführung des Konzerts war RACHMANINOFF in tiefem Zweifel ob der Gestalt dieses ersten Themas. So schrieb er in einem Brief vom 22. Oktober 1901 an seinen Freund Nikita MOROZOW:
„Du hast recht, Nikita Semjonowitsch! Ich habe gerade den ersten Satz meines Konzerts durchgespielt, und erst jetzt ist mir klar geworden, daß der Übergang vom ersten Thema zum zweiten nicht gut ist, und daß in dieser Form das erste Thema nicht mehr als eine Introduktion ist – und daß, wenn ich das 2. Thema beginne, kein Narr glauben würde, daß es das 2. Thema ist. Jeder würde denken, daß dies der Beginn des Konzerts ist. Ich betrachte den ganzen Satz als mißglückt, und von dieser Minute an ist er unverändert gräßlich für mich geworden. Ich bin einfach verzweifelt. Und warum erschrecktest du mich mit deiner Analyse fünf Tage vor der Wiedergabe!“27
Diese Äußerungen zeigen deutlich, wie ausgeprägt die Selbstzweifel RACHMANINOFFS auch nach der Therapie durch Nikolai DAHL immer noch waren. Zudem war es sein erster Auftritt als Solist mit Orchester seit 8 Jahren. Doch der Erfolg des Konzerts gab RACHMANINOFF Recht und damit auch neues Selbstvertrauen.
Das Seitenthema ab Takt 83 steht dem Hauptthema bezüglich der Melodik in nichts nach. Es hat die Gestalt einer klassischen 8-Takt-Periode, bestehend aus einem 5-taktigen Vordersatz und einem 3-taktigen Nachsatz zuzüglich einer 2-taktigen Schlusswendung, mit der das Thema in den Bratschen auch eingeführt wird. Zuvor wurde in einer pianistischen Überleitung das Wechseltonmotiv des Hauptthemas bestätigt und unter Einsatz der Blechbläser in die Tonart des Seitenthemas nach Es-Dur moduliert. Im Gegensatz zum Hauptthema, dessen Gestus dramatisch und schwermütig war, erstrahlt das zweite Thema in freundlichem Dur. Es vermittelt den Eindruck eines Aufbruchs, eines frühlingshaften Erwachens. Das hemmende Element kommt auch hier wieder zum Einsatz. In diesem Falle ist es der Gipfelton as“, der die Melodie in ihren Bahnen hält und ein Überborden der Emotionen verhindert.28
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2 Seitenthema des 1. Satzes
Nachdem das Thema vom Klavier wiederholt und nach g-Moll moduliert worden ist, wird es in der Cellostimme verarbeitet. Nachfolgend wird es vom Klavier erneut solistisch und virtuos wiederholt. Dieser Passage schließt sich ein kurzer Zwischensatz an (T. 121-124). Das darauf folgende Wechselspiel zwischen Oboe/Klarinette und Klavier kann als Paradebeispiel eines polyphonen Kontrapunktes dienen und zeigt die ganze Meisterschaft RACHMANINOFFS. Gerade für seine Kontrapunktik ist er immer wieder gerühmt worden. Ab Takt 133 erfolgt eine lyrische Themenwiederholung, die gleichsam als Ruhepol fungiert.
Der Abschnitt Un poco piu mosso (T. 141) bildet die zweiteilige Überleitung zum Orchesterritornell. Der erste Teil endet mit dem Einsatz der Blechbläser und einer einer Modulation nach G-Dur. Am Ende des zweiten Teils erklingt in den Kontrabässen erneut das Kernmotiv des Konzerts an, wiederum ein Beispiel für die raffinierte motivische Arbeit RACHMANINOFFS.
Ab Takt 161 beginnt das Orchesterritornell. Dieses Zwischenspiel reicht in seiner Geschichte bis zu den barocken Ritornellkonzerten zurück. Es dient der formalen Gliederung des Werkes und verschafft dem Solisten eine Verschnaufpause vor der kräftezehrenden Durchführung.29
Auch zu Beginn des Orchesterritornells ist es eine Freude zu sehen und zu hören, wie famos Rachmaninoff das Wechselmotiv aus dem Vordersatz des Hauptthemas (Horn, Klarinette, Bratsche) und eine Abwandlung des Kopfmotivs in den Bässen (in diminuierter Form als Achtel-Figur) zu verbinden weiß.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3 Abwandlung des Kernmotivs in den tiefen Streichern
Mit der Bezeichnung più vivo beginnt ab Ziffer 8 die fünfteilige Durchführung. Sie ist gekennzeichnet durch ein stetiges Ansteigen der Dynamik und des Tempos. Der Rhythmus wird immer drängender. Zugleich zeigt sich die Orchestrierung zunehmend sinfonischer, ein Eindruck, der durch die massigen Klavierakkorde unterstützt wird. Während der Durchführung wird die musikalische Energie durch Sequenzierung bis aufs Äußerste aufgestaut, ein Effekt, der nur wenige Zuhörer unbeeindruckt lassen dürfte. Während des ersten Teils wird erneut das Kopfmotiv wiederholt und bestätigt. Der zweite Teil (ab T. 193) ist durch eine Verschärfung des Rhythmus im Klavier gekennzeichnet (aus Achtel werden Achteltriolen). Im dritten Teil (ab T. 209) werden die Emotionen weiter angestaut – diesmal durch Augmentation der Notenwerte und Sequenzierungen, vor allem in den Streicherstimmen. Eine weitere Erhöhung der Spannung wird durch die Chromatik in der Klavieroberstimme erreicht. Die Steigerung der Intensität setzt sich im vierten Teil der Durchführung (ab T. 217) fort. Das Klavier setzt mit vollen kräftigen Akkorden ein, während die Melodie in den Streichern und auch in den Klarinetten – ein Derivat des Seitenthemas – weiterhin durch Sequenzierung gesteigert wird. Im sinfonischen Schlussteil (ab T. 225) erreicht die Durchführung bezüglich der Spannung und Energie unter vollem Orchestereinsatz ihren (auch dynamischen) Höhepunkt. Diese Energie entläd sich in der anschließenden Reprise. Die Durchführung ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich, beispielsweise aufgrund der stetigen Tempobeschleunigung. Ist diese sonst lediglich ein bloßer Affekt überambitionierter Pianisten, ist sie in diesem Falle ein bewusstes kompositorisches Gestaltungsmittel. Darüber hinaus ist die extreme Dichte der Durchführung bemerkenswert, und letztlich zeichnet sie sich durch eine geradezu geniale motivische Arbeit des Komponisten aus. Diese ist für ein Virtuosenkonzert überaus ungewöhnlich und eher in einer Sonate oder Sinfonie zu erwarten.
In der Reprise (ab T. 245) erklingt erneut das Hauptthema des Satzes. Es wirkt allerdings wesentlich kämpferischer als in der Exposition. Darüber spielt das Klavier tokkatenhaft die bereits bekannte Abwandlung des Kernmotivs. Deren Rhythmus fungiert wiederum als hemmendes Element, das die Kantilene des Hauptthemas in ihren Grenzen hält. Die rhythmische Energie der Klavierakkorde ist charakteristisch für Rachmaninoff und ist laut Juri KELDYSCH Ausdruck des mannhaften willensmäßigen Elements, was wiederum zum kämpferischen Gestus des Hauptthemas passen würde.30 Ab Ziffer 11 erklingt der zweite Teil des Hauptthemas im Klavier. In der Exposition wurde dieser ursprünglich durch die Celli vorgestellt. An dieser Stelle wird auch die eigentliche Zweiteilung des Themas deutlich, die zuvor von der Klavierbegleitung verschleiert wurde. In der Folge wird das Thema erweitert und moduliert. Die Melodie sinkt chromatisch und endet nicht etwa in der Tonika c-Moll sondern in einem famosen Trugschluss auf As-Dur. Daran schließt sich eine traumhafte Passage an, während der das zweite Thema in der Hornstimme erklingt. Es ist das erste und einzige Mal, dass dieses Thema vollständig im Orchester zu hören ist. Der augmentierte Rhythmus in halben Noten verleiht diesem Augenblick eine unglaubliche Ruhe. Das Thema wirkt geradezu introvertiert und nicht etwa schwärmerisch wie noch in der Exposition. Anschließend wird das Kernmotiv mehrfach in den Orchesterstimmen wiederholt und vom Klavier in doppelt augmentierter Form in der Oberstimme aufgegriffen. Dies trägt zu einer weiteren Beruhigung bei, ebenso die Abwandlung des Seitenthemas, die in der Cellostimme erklingt. Der anschließende Teil trägt geradezu impressionistische Züge.
Es herrscht eine unwirkliche, fast schwebende Atmosphäre vor, ehe in Ziffer 16 die Coda und damit der Schlussteil des Satzes beginnt. Es wird annähernd das Anfangstempo aufgegriffen und darüber hinaus die Grundtonart c-Moll bestätigt. Die Coda führt in eine fulminante Engführung. Die halben Noten in den Hornstimmen dienen erneut als hemmendes Element und versuchen die Klavierstimme im Zaum zu halten. Das Wechselmotiv des Hauptthemas tritt in den Streicherstimmen dominant zu Tage und wird vom Klavier nach einem heroischen Aufgang in Achteltriolen und großangelegtem Crescendo final bestätigt, womit der erste Satz beschlossen wird.
2. Satz: Adagio sostenuto
Der zweite Satz des Konzerts ist in einer 3-sätzigen Liedform (A-B-A‘) komponiert. Der Beginn steht in der Tonart des Kopfsatzes c-Moll. Durch enharmonische Verwechslung im dritten Takt (As-Dur zu Gis-Dur), wird über verschiedene Dominantklänge im fünften Takt die eigentliche Tonart des Satzes, die relativ entfernt liegende Tonikavariant-Gegenparallelvariante E-Dur, erreicht. Dabei kommt die für RACHMANINOFF so typische chromatische Fortführung der Akkorde zur Anwendung. Möglicherweise haben diese Akkorde in halben Noten auch den Komponisten zu den Eingangsakkorden des Kopfsatzes inspiriert. Immerhin ist dieser erst nach dem 2. Satz entstanden. Bei dieser Modulation von c-Moll nach E-Dur zeigt RACHMANINOFF, dass er nicht nur ein hervorragender Melodiker ist, sondern sein Handwerk auch bezüglich der harmonischen Gestaltung versteht. Die harmonischen Übergänge sind im 2. Klavierkonzert wesentlich weicher und fließender als in seinen früheren Werken. Es lassen sich kaum Brüche oder plötzliche Wechsel in entfernte Tonarten feststellen.31
In Takt 5 setzt das Klavier mit einer ruhigen, fast meditativen Begleitung in Achteltriolen ein. Diese Begleitung hat RACHMANINOFF einem seiner früheren Werke entnommen, der Romanze in A-Dur zu 6 Händen aus dem Jahr 1891.32 Dabei weiß er den Zuhörer geschickt zu täuschen. Durch eine Betonungsverschiebung in der Begleitfigur scheint das Klavier nicht 4 Achteltriolen-Gruppen zu spielen sondern 3 Sechzehntel-Gruppen. Auf diese Weise wird der Anschein erweckt, es handele sich um einen 3/4-Takt und nicht um einen 4/4-Takt. Die Soloflöte in Ziffer 17 spielt aber sehr wohl im 4/4-Takt. So scheint sich eine Überlagerung von „3 gegen 4“ zu ergeben, was den schwebenden, beinahe improvisatorischen Charakter der Flötenstimme erklärt. So offenbart der scheinbar einfache Beginn des Satzes eine rafinierte Metrik. Dieser Eindruck wird durch den häufigen Wechsel der Taktart von 3/2 auf 4/4 noch unterstützt. Das Hauptthema des zweiten Satzes, das ab Takt 13 von der Klarinette vorgetragen wird, und sich in Takt 19 voll entfaltet, ist wohl eine der schönsten Melodien, die Rachmaninoff je komponiert hat. Sie ist derart hinreißend, dass sie sogar Eingang in die Popular- und Filmmusik gefunden hat, ein Umstand, auf den später noch einzugehen sein wird.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4 Hauptthema des 2. Satzes in der Klarinette
Der Seitensatz beginnt in Takt 47 und ist mit Un poco più animato überschrieben, beinhaltet also eine kleine Tempobeschleunigung. Auch der zweite Konzertsatz ist von der für RACHMANINOFF so typischen Steigerung der musikalischen Emotionen durch Seuenzierung von Themen und Motiven gekennzeichnet – so beispielsweise ab Takt 63. Die in oktavierte Melodie im Klavier erinnert dabei stark an das Seitenthema des Hauptsatzes. Besonders deutlich wird dieses Verfahren der Melodiebildung ab Takt 93 (più animato). Durch kontinuierliche Steigerung der Melodie wird der Satzhöhepunkt fortwährend hinausgezögert. Es ist wieder dieses hemmende Element, was die Energie fast bis zur Unerträglichkeit aufstaut, bis diese sich in einem virtuosen Lauf aus Quinten und Sexten über die gesamte Klaviatur entlädt.
Mit der gleichzeitig einsetzenden Tempobeschleunigung wird in den scherzo-artigen Mittelteil (B) übergegangen. Dieser stellt erneut eine Verbindung zu TSCHAIKOWSKIS b-Moll Konzert dar, denn auch in diesem hat der Komponist ein Scherzo in den langsamen Mittelsatz eingebaut. Obwohl Rachmaninoff also ohne Zweifel eine höchst individuelle Tonsprache gefunden hat, ist der Einfluss TSCHAIKOWSKIS dennoch unverkennbar.33
Das Scherzo endet in einer kurzen Solokadenz des Klaviers. In ihr finden sich ebenfalls arpeggierte Akkorde, die an die Glockenschläge zu Beginn des Konzertes erinnern. Anschließend wird in den Schlussteil (A‘) übergeleitet, der sich stark an den ersten Teil des Satzes anlehnt. Das Thema wird nun von den Streichern übernommen. Es folgt die wohl anrührendste Passage des gesamten Werkes. Im Klavier ertönen erneut glockenhafte Akkorde, die von einer Begleitfigur in Sechzehntelnoten untermalt werden. Die Melodie sinkt kontinuierlich und scheint mit den letzten Tönen des Klaviers förmlich hinwegzusterben. Der letzte Aufgang im Klavier nimmt erneut klar Bezug zum zweiten Thema des Kopfsatzes. Ein weiteres Beispiel für die kongeniale, satzübergreifende motivische und thematische Arbeit RACHMANINOFFS.
3. Satz: Allegro scherzando
Der dritte Satz beginnt mit einem dreiteiligen Prolog, der im ersten Teil vor allem von den Streichern dominiert wird.34 In den Violinen erklingt zweimal ein Derivat des Kernmotivs, bevor es in Takt 14 vollständig zitiert wird. Es ist nun auch völlig klar, woher RACHMANINOFF diese motivische Keimzelle, die in allen drei Sätzen in mehr oder minder abgewandelter Form erklingt, genommen hat. Der dritte Satz (wie auch der zweite Satz) ist ja bekanntermaßen vor dem Kopfsatz komponiert worden. Es ist diese satzübergeifende motivische Arbeit, die die ungewöhnliche Geschlossenheit des gesamten Werkes ausmacht. Mit den Tonarten verfährt der Komponist ähnlich wie im zweiten Satz. Der Beginn des Finalsatzes steht wie der vorhergehende in E-Dur. In Takt 7 wird dann die Satztonart c-Moll erreicht, auch wenn dies erst im Verlauf der folgenden Takte deutlich wird durch die Bestätigung der Subdominante f-Moll in Takt 15 und vor allem der Dominante G-Dur im Orchestertutti in den Takten 17-20. Der zweite Teil des Prologs besteht aus einer virtuosen Klavierkadenz, der dritte Abschnitt aus einem Wechselspiel zwischen Klavier und den Holzbläsern, das wiederum die Glockenschläge zu Beginn des Konzerts in Erinnerung ruft. An dessen Ende findet sich auch wieder das omnipräsente Kernmotiv As-G-C (As-G in der Klavieroberstimme und C in den Streichern), womit die Satztonart c-Moll endgültig gefestigt ist.
Nach dem Prolog trägt das Klavier das 1. Thema vor (Ziffer 28). Mit seinen
Wechseltönen erinnert es stark an das Hauptthema des Kopfsatzes. Durch sein tänzerischen Charakter markiert es die vielleicht fröhlichste Stelle des gesamten Werkes. Nach einem kleinen Zwischensatz (T. 53-64) wird das Thema wiederholt. Ein sich daran anschließender zweiter Zwischensatz könnte den Zuhörer durch seinen Gestus glauben machen, es handele sich um das zweite Thema. Doch dem ist nicht so, denn das Hauptthema wird vom Klavier – diesmal in einer vollgriffigen orchestralen Manier – wiederholt. Nach einer kurzen Überleitung (Meno mosso) beginnt das Seitenthema in Takt 106.
Dieses Thema trug wie auch das Hauptthema des 2. Satzes ganz wesentlich zur Popularität des Klavierkonzerts bei. Die leicht orientalisch anmutende Melodie ist in ihrer unendlichen Melancholie eine der schönsten im gesamten Oevre RACHMANINOFFS. Für das Gerücht, nicht RACHMANINOFF selbst, sondern sein Freund Nikita MOROZOW habe diese Melodie komponiert, gibt es keinen Beweis.35 Das Seitenthema erinnert besonders in den Takten 117-119 (Oboe, Bratsche) stark an das zweite Thema des Kopfsatzes. Diese starke Ähnlichkeit, die viele kritisiert haben, kann man aber genausogut als thematische Geschlossenheit des Werkes zu Gunsten des Komponisten auslegen.36
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 5 Seitenthema des Finalsatzes
Nachdem das Thema durch das Orchester vorgestellt worden ist, wird es vom Klavier wiederholt und erweitert. Anschließend erfolgt die Überleitung zur Durchführung (ab T. 160). Aus der scheinbaren Gleichförmigkeit der Klavierstimme wird eine fast greifbare
Spannung erzeugt, während die Streicher mit ihren Wechselnoten wieder das erste Hauptsatzthema zitieren.
Im Zuge der Durchführung ab Takt 172 wird mehrfach das Hauptthema des Finalsatzes wiederholt. Wie schon im ersten Satz erfolgt dabei eine stetige Tempobeschleunigung. Der anfänglich scherzohafte Charakter des Themas hat sich dabei spürbar gewandelt und besitzt insbesondere ab Takt 198 (Presto) einen deutlich kämpferischen Gestus. Die Durchführung endet in einem kurzen Fugato über das erste Thema (Ziffer 34). Die ersten Geigen stellen das Thema vor (Dux), das vom Klavier zwei Takte später real in der Oberquinte beantwortet wird (Comes). An dieser Stelle zeigt RACHMANINOFF einmal mehr seine hervorragenden Fähigkeiten im Kontrapunkt. Das Fugato mündet in eine Reihe von Klavier-Arpeggien, über welche das Orchester in den Takten 284/285 das Kernmotiv des Konzerts in den Streichern spielt. Nachdem in den Bässen noch einmal das Fugato-Thema erklungen ist (T. 290), endet die Durchführung auf ihrem Höhepunkt in einem dynamischen Orchestertutti.
Die Reprise wird mit dem aus der Exposition bereits bekannten Zwischensatz auf dem ersten Thema eingeleitet, der in der Folge nach Des-Dur moduliert. In Takt 320 beginnt dann die Reprise des zweiten Themas im Orchester, das anschließend vom Klavier in seiner erweiterten Version wiederholt wird.
Die nachfolgenden Takte leiten schließlich zur Satzcoda über, die in Ziffer 38 als Orchesterritornell beginnt. Das Hauptthema wandert durch alle Stimmen. Ab Takt 394 leitet das Klavier in einer aufsteigenden Akkordkette zur Engführung (Stretto) hin (Ziffer 39), in der die Themeneinsätze immer rascher erfolgen. Diese endet in einem orchestralen Forte-Fortissimo. Daran schließt sich eine kurze virtuose Klavierkadenz an, ehe ein letztes Mal das Seitenthema in einer bisher unerreichten Emotionalität und Intensität wiederholt wird.
Wahrhaft majestätisch setzt das gesamte Orchester zum finalen Höhepunkt an. Alle aufgestauten Emotionen scheinen in diesem einen Punkt zu kulminieren, um im Fortissimo auszubrechen. Das strahlende C-Dur gibt dem Konzert einen positiven heroischen Ausklang. Begleitet von hymnischem Jubel siegt das Licht über die Finsternis und das Chaos. Der Schluss des Konzerts diente mit diesen Assoziationen als Vorbild für die sowjetische Sinfonie der 1930er Jahre.37 Gleichzeitig erinnert er an das furiose Finale des b-Moll Konzerts von TSCHAIKOWSKI. Kompositorisch gelingt es RACHMANINOFF, das Seitenthema im Orchester mit dem ersten Thema, das im Klavier anklingt, zu verbinden.
[...]
* Alle Datumsangaben entsprechen dem am 1.2. 1918 in Russland eingeführten gregorianischen Kalender.
1 THOMPSON, Kenneth: Sergei Rachmaninov. In: THOMPSON, Kenneth [Hsg.]: A Dictionary of Twentieth-Century Composers: 1911-1971. London 1973. S.405f. Vgl. EBERLEIN, Dorothee: Russische Musikanschauung um 1900. Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts Bd. 52. Regensburg 1978. S. 122.
2 BIESOLD, Maria: Sergej Rachmaninoff: 1873-1943. Zwischen Moskau und New York – Eine Künstlerbiographie. Berlin 1993. S. 61.
3 GORISCHEK, Thussy: Revolution & Emigration. Russische Nationalkomponisten Bd. 2. Graz 2007. S. 148.
4 BIESOLD, Maria: Sergej Rachmaninoff. (wie Anm. 2). S. 94. Vgl. NORRIS, Geoffrey: Serge Rachmaninoff. In: SADIE, Stanley [Hsg.]: The New Grove Dictionary of Music and Musicians Bd. 20. London 2001. S. 709.
5 Zitiert nach: REDER, Ewald: Sergej Rachmaninow – Leben und Werk (1873-1943). Gelnhausen 2001. S. 135.
6 BIESOLD, Maria: Sergej Rachmaninoff. S. 94ff.
7 REDER, Ewald: Sergej Rachmaninow. (wie Anm. 5). S. 138f.
8 KRAMER, Jonathan D.: Listening to Music – The Essential Guide to the Classical Repertoire. London 1991. S. 529.
9 PFANN, Walter: Sergei Rachmaninoff – Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll op. 18. Aachen 2000. S. 1.
10 Ebenda, S. 3f.
11 Zitiert nach: KRAMER, Jonathan D.: Listening to Music – The Essential Guide to the Classical Repertoire. London 1991. S. 530.
12 HARRISON, Max: Rachmaninoff – Life, Works, Recordings. London 2005. S. 92ff. Vgl. IVANOVA, Anastassia: Sergei Rachmaninoff’s Piano Concertos: The Odyssey of a Stylistic Evolution. College Park 2006, Dissertation, University of Maryland, Faculty of the Graduate School. S. 33.
13 BIESOLD, Maria: Sergej Rachmaninoff. S. 133.
14 REDER, Ewald: Sergej Rachmaninow. S. 191.
15 WEHRMEYER, Andreas: Sergej Rachmaninow. Hamburg 2000. S. 132.
16 IVANOVA, Anastassia: Sergei Rachmaninoff’s Piano Concertos. (wie Anm. 12). S. 44.
17 RÜGER, Christoph: 2. Klavierkonzert c-Moll op. 18. In: SCHAEFER, Hansjürgen [Hsg.]: Konzertbuch Orchestermusik P-Z. Leipzig 1974. S. 69.
18 ALEXEJEW, Alexander: Klaviermusik und Klavierkonzerte. In: KUHN, Ernst [Hsg.]: Sergej Rachmaninow – Zugänge zu Leben und Werk. Berlin 2007. S. 333f.
19 NEEF, Sigrid: Der Klang der Glocke in russischer Musik. In: KUHN, Ernst [Hsg.]: Sergej Rachmaninow – Zugänge zu Leben und Werk. Berlin 2007. S. 141-145.
20 BIESOLD, Maria: Sergej Rachmaninoff. S. 68f.
21 KRAMER, Jonathan D.: Listening to Music. (wie Anm. 11). S. 531.
22 REDER, Ewald: Sergej Rachmaninow. S. 15. Vgl. BIESOLD, Maria: Sergej Rachmaninoff. S. 247.
23 BARRIE, Martyn: Rachmaninoff: Composer, Pianist, Conductor. Aldershot 1990. S. 127. Vgl. FISK, Charles: Nineteenth-Century Music? The Case of Rachmaninov. In: 19th-Century Music 31/3 (2008). S. 264f.
24 PFANN, Walter: Sergei Rachmaninoff. (wie Anm. 9). S. 7. Vgl. BIESOLD, Maria: Sergej Rachmaninoff. S. 23.
25 PFANN, Walter: Sergei Rachmaninoff. S. 8.
26 KRAMER, Jonathan D.: Listening to Music. S. 531.
27 BIESOLD, Maria: Sergej Rachmaninoff. S. 135f.
28 ALEXEJEW, Alexander: Klaviermusik und Klavierkonzerte. (wie Anm. 18). S. 335.
29 PFANN, Walter: Sergei Rachmaninoff. S. 10.
30 KELDYSCH, Juri: Der Schaffensweg von Sergej Rachmaninoff. In: KUHN, Ernst [Hsg.]: Sergej Rachmaninow – Zugänge zu Leben und Werk. Berlin 2007. S. 8.
31 BIESOLD, Maria: Sergej Rachmaninoff. S. 135.
32 IVANOVA, Anastassia: Sergei Rachmaninoff’s Piano Concertos. S. 39.
33 PFANN, Walter: Sergei Rachmaninoff. S. 21.
34 Ebenda, S. 27.
35 BARRIE, Martyn: Rachmaninoff. (wie Anm. 23). S. 129f.
36 HARRISON, Max: Rachmaninoff. (wie Anm. 12). S. 68.
37 BIESOLD, Maria: Sergej Rachmaninoff. S. 135.
- Arbeit zitieren
- Martin Schröder (Autor:in), 2009, Das 2. Klavierkonzert im Schaffensprozess von Sergej Rachmaninoff, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138348
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