In dieser Examensarbeit geht es um die systematisch-theologische Reflexion des sozialen Kompetenztrainings "Identität und Wertschätzung, Achtsamkeit und Anerkennung". In der Arbeit wird zunächst das soziale Kompetenztraining ausführlich mit seinen Übungen und Zielen beschrieben. Dabei handelt es sich um acht Unterrichtseinheiten, die in jeder Stunde einen anderen Schwerpunkt behandeln, z.B. Gefühle oder Konflikte lösen. Das Kompetenztraining wurde mit Schülern durch einen Fragebogen evaluiert. Die Ergebnisse der Evaluation werden im Anschluss vorgestellt.
Im nächsten Teil der Arbeit geht es um die entwicklungspsychologische Betrachtung eines sozialen Kompetenztrainings. Dabei werden die Stufen der moralischen Entwicklung nach Lawrence Kohlberg auf das Praxismodell angewandt. Es geht insbesondere um die Frage, ob Jugendliche im Alter von 13 bzw. 14 Jahren in der Lage sind, moralische Urteile zu fällen und sich damit während eines sozialen Kompetenztrainings von einer niedrigeren moralischen Urteilsstufe nach Kohlberg auf eine höhere Stufe entwickeln können. Die moralische Entwicklung der Jugendlichen dient dabei als Indikator für versöhnendes Handeln.
Im dritten Teilbereich dieser Arbeit geht es um die ökumenische Perspektive, speziell um das Thema "in Beziehung Heil werden". Mit dem Training soll die Sozialkompetenz der Jugendlichen verbessert werden, wodurch auch ein Beitrag zur versöhnenden Einheit der Menschen geleistet werden kann. Das Kompetenztraining wird auf die fünf Akte der dramatischen Erlösungslehre nach Raymund Schwager angewendet. Es handelt sich dabei um die relationale Soteriologie, d.h. um die Beziehungen der Menschen untereinander und zu Gott. Ein Mensch wendet sich durch die Sünde von Gott ab und unterbricht die Beziehung. Der soteriologische Grundgedanke liegt in der Beziehungsfähigkeit Gottes zu den Menschen. Dies zeigt sich vor allem in der Heilsgeschichte, denn Gottes Beziehungsfähigkeit überwindet hier die Sünde und den Tod. Gott wendet sich den Sündern stets zu. Auch in der gegenwärtigen Zeit kämpfen nicht nur Jugendliche mit Ausgrenzung und Ablehnung. Nur mit der versöhnungsbereitschaft im Sinne Gottes, so wie in der Heilsgeschichte Jesus Christus, können Beziehungen in einer Gemeinschaft aufgebaut werden. Jesus Christus verurteilt die Sünder nicht, sondern verkündet stets die Gottesherrschaft als neue Gemeinschaft und Beziehung zwischen Menschen und Gott, die er durch sein Handeln sichtbar macht.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Definitorische Abgrenzung
2.1 Definition Sünde
2.2 Definition Versöhnung
2.3 Definition dramatische Erlösung
2.4 Konflikt-, Aggressions- und Versöhnungsverständnis in der Schule
3 Praxismodell „Identität und Wertschätzung, Achtsamkeit und Anerkennung“
3.1 Versöhnung im Praxismodell
3.2 Die Grundidee des Praxismodells
3.3 Ziele des Modells
3.4 Wirkungsziele
3.4.1 Ich-Ziele
3.4.2 Gemeinschaftsziele
3.4.3 Zukunftsziele
3.5 Handlungsziele
3.6 Stundenaufbau des Modells
3.7 Auswertung des Schulprojekts
3.8 Zusammenfassung der Auswertung
3.9 Persönliche Bewertung des Modells
4 Entwicklungspsychologische Betrachtung
4.1 Der Begriff Versöhnung auf der Grundlage der Moralentwicklung
4.2 Stufen der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg
4.2.1 Die präkonventionelle Stufe
4.2.2 Die konventionelle Ebene
4.2.3 Die postkonventionelle Ebene
4.3 Entwicklung der Kriterien zur Bewertung des Praxismodells
4.4 Bewertung des Praxismodells
4.5 Auswertung der Ergebnisse
5 Theologische Perspektive
5.1 Versöhnung und Beziehungsdenken
5.2 Die fünf Akte dramatischen Erlösungslehre
5.2.1 Erster Akt
5.2.1.1 Beziehungsaspekt im ersten Akt
5.2.2 Zweiter Akt
5.2.2.1 Beziehungsaspekt im zweiten Akt
5.2.3 Dritter Akt
5.2.3.1 Beziehungsaspekt im dritten Akt
5.2.4 Vierter Akt
5.2.4.1 Beziehungsaspekt im vierten Akt
5.2.5 Fünfter Akt
5.2.5.1 Beziehungsaspekt im fünften Akt
5.3 Zusammenfassung
6 Fazit
1 Einleitung
Sünden und Leid begegnen einem Menschen jeden Tag. Der Amoklauf von Winnenden am 11. März 2009 zeigt wie der 17-jährige Tim Kretschmer, ein ehemaliger Schüler der Albertville-Realschule, mit einer Waffe die Schule stürmt und neun Schüler[1] sowie drei Lehrerinnen erschießt. Auf seiner Flucht aus dem Schulgebäude überquert er das Gelände einer Psychiatrie und erschießt unterdessen einen Krankenhausmitarbeiter. Danach nimmt der 17-jährige eine Geisel und flieht mit ihr in einem Auto in Richtung Wendlingen. An einem Autobahnkreuz schmeißt sich die Geisel aus dem fahrenden Fahrzeug und überlebt die Entführung. Der Amokläufer flüchtet in ein Autohaus. Dort tötet er mit dreizehn Schüssen einen Autoverkäufer und einen Kunden und eröffnet das Feuer gegen die Polizei. Nachdem Tim Kretschmer durch einige Schüsse am Bein verwundet wird, richtet er die Waffe gegen sich selbst und schießt sich in den Kopf.[2]
Angesichts solcher Nachrichten zeigt sich die Krise des christlichen Glaubens und der Soteriologie, die sich bis in die Schulen erstreckt. Es stellt sich die Frage, wie Gott in der heutigen Zeit rettet? Hier entsteht die Erfahrung, dass Gott nicht hilft und auf ihn kein Verlass ist. Aus welchem Grund sollten Menschen an Gott als den Retter glauben, wenn sein Handeln nicht erkennbar ist?[3] Die menschlichen Erfahrungen sind nie ganz widerspruchsfrei, besonders im Bereich der Weltanschauungen und der Religion. Die Paradoxien führen nicht nur zu Spannungen im Glauben, sie können weiterhin nicht mit einer übergeordneten These erklärt werden. Die christliche Theologie muss diese Widersprüche aufgreifen und die Erfahrungen mit Paradoxien thematisieren, damit der Glaube an Gott begründet sein kann und nicht auf Sagen zurück zu führen ist. Dieser Prozess ist allerdings nicht aktueller Natur, sondern vollzieht sich seit vielen Jahren und brachte das trinitarische und christologische Dogma hervor.[4] In der Soteriologie geht man von der Grundannahme aus, dass Gott rettet. Dieses Verständnis ist bedeutsam für den Glauben an Gott und ermöglicht über die Erlösung zu sprechen. Auf die Frage wie Gott rettet, nennt die christliche Theologie Jesus Christus, der in seinem Wirken Menschen gerettet und geheilt hat.[5] Doch wie können speziell Jugendliche im Schulalltag angesichts aktueller Geschehnisse und dem paradoxen Bild Gottes versöhnendes Handeln lernen? In den Schulen werden immer häufiger soziale Kompetenztrainings angeboten, die bei einem versöhnlichen Leben miteinander helfen sollen. Der Aspekt des versöhnenden Handelns wird in dieser Arbeit aus der Perspektive des Praxismodells und seiner Wirkung, aus entwicklungspsychologischer und theologischer Sichtweise betrachtet.
Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werde ich zunächst die grundlegenden Begriffe erklären, die im weiteren Verlauf besonders wichtig sind. Dabei wird es um die Begriffe Sünde, Versöhnung, und Dramatische Erlösung gehen, deren Bedeutungen jeweils im Anschluss auf die Lebenswelt der Jugendlichen bezogen werden. Danach soll das Praxismodell mit seinen geplanten Zielen vorgestellt werden sowie die Durchführung der einzelnen Stunden, um die genannten Ziele zu erreichen. Das Praxismodell wurde durch die FH Münster unter der Fragestellung ausgewertet, wie die Sozialkompetenzen zum Beginn des Projekts ausgebildet sind und ob nach der Durchführung Wahrnehmung- oder Verhaltensänderungen auftreten. Die Auswertung soll im Anschluss vorgestellt werden, um die Ergebnisse auf das versöhnende Handeln Jugendlicher zu beziehen. Auf diese Weise kann dem Praxismodell ein Wirklichkeitsbezug gegeben werden, der nach der Wirkung in der Realität fragt und sich vom theoretischen Konzept abhebt. Abgeschlossen wird die Präsentation des Praxismodells durch eine persönliche Bewertung.
Nach der Vorstellung des Praxismodell und der Auswertung erfolgt eine entwicklungspsychologische Betrachtung aus Perspektive der Stufen der moralischen Urteilsbildung nach Kohlberg. Hierbei geht es um die Frage, ob mit dem Praxismodell moralisches Urteilen und damit versöhnendes Handeln gefördert werden kann, so dass eine höhere Urteilsstufe erreicht wird. Dazu wird Eingangs der Begriff Versöhnung im Zusammenhang mit moralischer Urteilsbildung definiert. Danach werden die einzelnen Stufen vorgestellt sowie Kriterien entwickelt mit denen die Wirksamkeit des Praxismodells bewertet werden soll. Nachfolgend werden die Kriterien auf das Praxismodell angewandt und die Ergebnisse der entwicklungspsychologischen Untersuchung zusammengefasst.
Im nächsten großen Teilbereich dieser Arbeit geht es um die Theologie der Dramatischen Erlösungslehre nach Raymund Schwager. Hier werden die fünf Akte des Dramas der Heilsgeschichte vorgestellt, um im Anschluss den Beziehungsaspekt darin heraus zu arbeiten. Der Beziehungsaspekt gilt hier als Indikator für versöhnendes Handeln und wird im Verlauf mit dem Praxismodell verglichen. Es sollen Parallelen zwischen den dramatischen Akten des Heilsgeschehens und dem Lebendrama heutiger Jugendlicher gesucht werden, um die Möglichkeit eines Beziehungslernens in dieser Situation heraus zu stellen. Abgeschlossen wird die gesamte Arbeit mit einem Fazit bzw. einer Zusammenführung aller drei Teilbereiche, um die Frage zu beantworten, ob Jugendliche versöhnendes Handeln lernen können.
2 Definitorische Abgrenzung
2.1 Definition Sünde
Der Begriff Sünde wird heutzutage in unterschiedlichen Zusammenhängen benutzt, wie z.B. im Bezug zur Sexualität. Es ist eine genauere Definition nötig, um das christlich-theologische Wesen des Wortes in dieser Arbeit herzustellen. Im christlich-theologischen Kontext bedeutet eine Sünde der Beziehungsbruch eines Menschen zu Gott. Er hat den Menschen als sein Ebenbild erschaffen (vgl. Gen 1,26), doch durch den Sündenfall (vgl. Gen 3,1-24) tritt die Sünde in das Leben der Menschen ein und verhindert die Gemeinschaft mit Gott.[6] Eine unterbrochene bzw. gestörte Gemeinschaft kann nur von Gott wieder hergestellt werden. Dabei muss ein Mensch sich selbst neu reflektieren, da er für seine Sünden die alleinige Verantwortung übernehmen muss und nicht auf Mitschuldige verweisen kann. So bittet David um Vergebung seiner Schuld, da er seine Sünden erkannt hat und ihm seine Schuld immer vor Augen steht (vgl. Ps 51,3-5). Das Erkennen der Sünden ist die Voraussetzung dafür, dass Gott die Beziehung zum Menschen wieder herstellt. Der Mensch trägt die Verantwortung für seine Sünden selbst, was aus theologischer Perspektive auch als Verantwortung vor Gott verstanden wird.[7] Die Verantwortung liegt darin, dass der Mensch nach dem Ebenbild Gottes erschaffen wurde (vgl. Gen 1,27) und damit eine Gemeinschaft mit ihm besteht, die durch die Sünde gebrochen wird.[8]
Wenn eine Sünde die Abkehr von Gott bedeutet, so muss für den weiteren Verlauf dieser Arbeit erklärt werden, was die Sünde und damit die Handlungsmotivation im Praxismodell ausmacht. Das Abwenden von Gott und damit die Sünde kann für die Jugendlichen gegenwärtig darin bestehen, dass sie in einer leistungsorientierten Gesellschaft leben in der hohe Erwartungen an sie gerichtet werden, die zu Enttäuschung, Auflehnung, Überforderung und sogar Aggression, kurz gesagt zu Konflikten, führen. Der Begriff Konflikt leitet sich vom lateinischen Begriff „confligere“ und heißt übersetzt zusammenstoßen, kämpfen oder zusammenprallen. Wenn zwei Parteien, die voneinander abhängig sind, unterschiedliche Interessen verfolgen und die individuelle Verwirklichung die andere Partei blockiert, so kann dies als Konflikt bezeichnet werden.[9]
2.2 Definition Versöhnung
Der Begriff Versöhnung leitet sich vom Wort „reconciliation“[10] ab und bedeutet wiederherstellen. Damit ist gemeint, dass ein Konfliktzustand beendet wird. Die Parteien überwinden mit dem Vertragen gegenseitiges Misstrauen und Verletzbarkeit und stellen eine Beziehung wieder her.[11] Mit der Versöhnung zeigen die Parteien das Interesse eine gemeinsame Grundlage zu suchen, auf der sie sich um eine Beziehung bemühen können. Die Initiative kann von einer Partei ausgehen, wobei an der Versöhnung alle beteiligt sein müssen.[12] Versöhnung ist das erklärte Ziel der Christen, denn damit konnte in der Heilsgeschichte der Konflikt zwischen Jesus und seinen Feinden überwunden werden. Durch sein Lebensgeschick können wir uns den Sündern zukehren und ihr Fehlverhalten vergeben, um letztendlich in Versöhnung miteinander zu leben. Jedoch kann ein Mensch die Versöhnung mit Gott nicht verdienen, sie ist das Ergebnis der Gnade Gottes.[13]
Diese allgemeine Definition reicht allerdings noch nicht, um den Begriff Versöhnung konkret für diese Arbeit zu nutzen. Daher wird in den einzelnen Teilbereichen dieser Arbeit der Begriff konkretisiert, damit deutlich wird auf welche Weise Versöhnung erreicht werden soll.
2.3 Definition dramatische Erlösung
Die Frage nach dem Heil beschäftigt alle Religionen, denn für den Menschen sind Leben und Heil nicht deckungsgleich. Dass der Mensch vom Unheil umgeben ist, liegt nicht an geschichtlichen Zusammenhängen oder den Gegebenheiten der Natur, sondern an seiner Existenz als Mensch. Nach dieser grundsätzlichen Erklärung kann ein Mensch nur geheilt werden, wenn aus seiner Existenz ausbricht. Aus christlicher Perspektive kann daher angenommen werden, dass der Mensch sich nicht selbst zum Heil führen kann, sondern dies nur durch das Handeln Gottes möglich ist. Dieses Handeln zeigt sich in Jesus Christus, denn durch ihn hat Gott sich den Menschen als Heiland gezeigt und sich den Menschen zugewendet. Es gibt verschiedene Annahmen darüber, welches Ereignis in der Heilsgeschichte letztlich das Heil gebracht hat. Im Verlauf dieser Arbeit ist das Verständnis Raymund Schwagers über die Erlösung als Grundaussage des christlichen Heilsverständnisses elementar.[14]
Schwager orientiert sich am Modell des Dramas, um einen äußeren Rahmen zu finden, in dem der Widerspruch zwischen der Güte Gottes und der Frage nach der Erlösung zu erklären bzw. deuten ist. Bei der Erlösungsfrage geht es darum, wie Gott zum Heil der Christen handelt, die durch die Sünde die Gemeinschaft zu Gott verloren haben. Schwager geht bei der dramatischen Theologie davon aus, dass das Erlösungsgeschehen Jesu Christi nicht durch eine einzige Tat geschehen ist, sondern durch ein dramatisches Geschehen in Akten, bei dem bedrohende Einflüsse auf Gottes Macht stoßen.[15] In diesem Drama treten durch bestimmte Handlungen neue Situationen ein, die von den vorausgegangenen Handlungen abhängig sind. Durch ihre Handlungen können Akteure ein bestimmtes Ziel erreichen, wobei es zu einer Spannung zwischen den unterschiedlichen Zielen kommen kann und damit zu einem Konflikt. Die Argumentation des Dramas bezieht sich auf die Konflikte, die es im Interesse der Gemeinschaft zu lösen gilt. Beim biblischen Drama geht es insbesondere um den Konflikt zwischen dem Tod Jesu Christi am Kreuz und der Auferstehung, da hier die Sünde im Gegensatz zu Gottes Macht besonders deutlich wird.[16] In der dramatischen Erlösungslehre wird das Drama des Jesus Christus auf der Grundlage einer konfliktreichen Gesellschaft in Bezug auf das Kreuz und die Versöhnung neu gedeutet. Darin besteht auch der Bezug zum Schulprojekt, bei dem die Schüler in einer problematischen Zeit aufwachsen und darin versöhnendes Handeln lernen sollen.[17]
2.4 Konflikt-, Aggressions- und Versöhnungsverständnis in der Schule
Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer Zeit auf, in der sie und ihre Eltern unter starkem Leistungsdruck stehen und materielle Güter einen hohen Stellenwert haben. Persönliche und berufliche Ziele müssen erreicht werden, egal auf welche Art und Weise. Viele Eltern können der beruflichen Verpflichtungen und der Kindererziehung kaum nachkommen und übergeben diese an die Schule bzw. Lehrer. Die Kinder und Jugendlichen spiegeln diese gesellschaftliche Situation in ihrem Verhalten wieder. Sie reagieren rücksichtslos oder sogar mit Gewalthandlungen.[18] Es ist bedenklich, dass viele Kinder Konflikte als eine Art Rechtfertigung für gewalttätiges Verhalten ansehen. Lehrer können den Erwerb von sozialen Handlungskompetenzen im Unterricht selten steuern, da Schüler die Erfahrungen mit ihren Handlungen oft außerhalb der Schule machen.[19] Aus diesem Grund arbeiten Schule und Jugendhilfe immer näher zusammen.
Schüler sammeln viele Erfahrungen im menschlichen Umgang miteinander außerhalb der Schule. Trotzdem ist die Schule ein Sozialisationsort, in dem die Jugendlichen in verschiedenste Beziehungen mit Lehrern und Mitschülern eingebunden sind.[20] Die Lern- und Erziehungsumwelt in der Schule bestimmt den Prozess der Sozialisation entscheidend mit. So kann der Leistungsdruck in einer Schule zu Lernproblemen und sogar Schulangst führen, was einen negativen Umgang mit Lehrern und Mitschülern begünstigt. Sind die pädagogischen Ziele eher auf das Einbinden der Schüler in den Schulalltag, Förderung der Klassen und Konfliktlösungsstrategien gerichtet, kann dies die Qualität des Schulklimas beeinflussen. Lehrer und Schüler können Vertrauen zueinander aufbauen, sich verstehen lernen und eine bessere Hilfestellung anbieten. In der Klassengemeinschaft können die Schüler sich leichter integrieren, Solidarität entwickeln und soziale Anerkennung kennen lernen.[21]
Konflikte können zu aggressivem Verhalten führen. Das Wort Aggression stammt vom lateinischen Begriff „aggredi“ ab, was herangehen oder sich an jemanden wenden bedeutet. Das Wort ist mit dieser Übersetzung zunächst nicht negativ besetzt. In Nebenbedeutung „angreifen“ erhält es seine negative Bezugnahme. Mit Aggression ist also gemeint, dass ein Mensch mit seinen Handlungen energisch Hindernisse bekämpft. In welcher Form ein Mensch aggressiv reagiert, hängt von situativen Faktoren ab, z.B. Gruppenzugehörigkeit, Interaktion, soziale Normen und gesellschaftlicher Bewertung. Die situativen Faktoren hängen wechselseitig mit dem Individuum zusammen, z.B. mit seiner Lerngeschichte, dem Kommunikationsstil oder seiner Identität. Für eine aggressive Handlungen sind nicht nur situative Faktoren entscheidend, sondern auch welche Erfahrungen die handelnde Person gemacht hat und welche Gewohnheiten sie hat.[22]
3 Praxismodell „Identität und Wertschätzung, Achtsamkeit und Anerkennung“
Es stellt sich die Frage, wie ein positives Schul- und Klassenklima in Anbetracht heutiger Sozialisationsbedingungen entstehen kann, indem Schüler soziales Handeln lernen, Konflikte vermeiden oder diese verantwortungsbewusst austragen können. Auf welche Weise lernen Schüler Beziehungen aufzubauen und versöhnend zu handeln, und zwar im Einflussbereich der Lehrkräfte. Mit diesen Fragen hat sich die Outlaw gGmbH, ein Jugendhilfeträger der Erziehungshilfen und Beratung für Familien, Kinder und Jugendliche anbietet, beschäftigt. Daraufhin wurde das soziale Kompetenztraining[23] „Identität und Wertschätzung, Achtsamkeit und Anerkennung“ entwickelt, das sich mit dem sozialen Umgang von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I beschäftigt.[24] Das Konzept wird im Folgenden vorgestellt.[25] Dabei wird zunächst die Grundidee beschrieben. Danach soll aufgezeigt werden, wie diese Grundidee im Rahmen des Unterrichts umgesetzt wird. Anschließen werden die Ziele erarbeitet, die mit dem Konzept erreicht werden sollen. Abgeschlossen wird dieser Teilbereich durch eine persönliche Bewertung des Modells.
3.1 Versöhnung im Praxismodell
Der Gedanke der Versöhnung wird in dieser Arbeit dahingehend interpretiert, dass die Schüler im Verlauf des Projekts soziale Kompetenzen und Konfliktlösungsstrategien entwickeln. Dazu zählt, dass die Schüler auf ihre persönlichen Gefühle und auf die Gefühle anderer achten. Das Einfühlen in die Gefühlslage der Personen hilft den Schülern, Konfliktsituationen zu bewerten. Sie erkennen mit der Zeit was fair oder ungerecht ist, was die Grundlage für Konfliktlösungsstrategien bildet. Das heißt, dass die Schüler die sozialen Kompetenzen erlernen, damit sie Konflikte friedvoll lösen können und auf diese Weise den versöhnlichen Umgang miteinander implementieren.[26]
3.2 Die Grundidee des Praxismodells
Besonders in der Klassengemeinschaft treffen unterschiedliche Individuen aufeinander, die andere Erwartungen, Interessen und Gewohnheiten haben. Verschiedene Persönlichkeiten beurteilen Situationen anders, was zu Konfliktsituationen im Klassenverband führen kann. Die Schüler sollen lernen ihre Konflikte verantwortungsvoll in der Klassengemeinschaft auszutragen. Das heißt, sie müssen mit Missverständnissen zurechtkommen und sich gewaltfrei in Konfliktsituationen behaupten. Dabei lernen die Jugendlichen sich und andere besser kennen und entwickeln ihre Fähigkeiten im Umgang mit vielseitigen sozialen Ansprüchen weiter. Diese Fähigkeiten sind zu beachten, da sie Bausteine der Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung sind.[27] Die Schüler erarbeiten die Grundlagen sozialen Verhaltens, damit sie zu eigenverantwortlichen, selbstbestimmten Erwachsenen heranreifen, die ihr Leben in sozialer Verantwortung führen können.
Die Grundidee des Praxismodells stützt sich auf die Begriffe „Identität und Wertschätzung, Achtsamkeit und Anerkennung“, die ein leitendes Ziel für die Schüler werden sollen.[28] Im Folgenden werde ich die einzelnen Begriffe kurz skizzieren. Unter Identität versteht man, dass die Schüler sich in einer Entwicklungsphase befinden, in der sie sich von ihrer Familie lösen und neue Beziehungen eingehen, z.B. in Peergroups. Sie gewinnen eine neue Freiheit, jedoch steigt auch der Druck, die richtigen Entscheidungen zu treffen, z.B. über den richtigen Freundeskreis oder zu späterer Zeit über die Berufswahl. Die Jugendlichen müssen immer mehr Verantwortung tragen und selbstständig werden. Dies ist für sie ein schwieriger Prozess, da sie erst den Umgang mit ihren neu gewonnenen Ansichten und Handlungsweisen lernen müssen. Die gesammelten Erfahrungen formen ihre Identität, die sie besonders kennzeichnet. Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, die Identitätsentwicklung der Schüler zu unterstützen.[29]
Auch Anerkennung ist ein wichtiger Baustein einer gelungenen Klassengemeinschaft. Sie bedeutet, dass die Wünsche, Neigungen, Interessen und Meinungen anderer akzeptiert werden, ohne einen persönlichen Nutzen davon zu tragen.[30] Wenn soziale Anerkennung möglich wird, können Schüler ihre Identität entfalten und ihr Selbstwertgefühl stärken. Dies geschieht bspw. wenn eine gute Leistung gelobt wird oder Schüler sich durch erlernte Handlungskompetenzen besser mit ihren Mitschülern verstehen und Beziehungen aufbauen können. Daher wird Anerkennung als leitender Begriff des Praxismodells angesehen, der zu einem besseren Sozialverhalten führen soll.[31]
Achtsamkeit bedeutet, dass die Schüler aufmerksam sich und ihre Umgebung wahrnehmen. In der Schule kommt es häufig zu Konflikten, in denen die Schüler sich gegenseitig beleidigen. Auch wenn die Schüler diese Situationen häufiger als Spaß verstehen, so verletzen und verunsichern sie sich gegenseitig. Sie nehmen die Rollen von Tätern ein, missachten die Gefühle der Opfer und beeinträchtigen damit die Lernatmosphäre. Auf diese Weise würde die persönliche Entwicklung der Schüler gehemmt werden. Deswegen wird Achtsamkeit als ein leitender Begriff zur Unterstützung einer wertorientierten persönlichen Entwicklung und eines besseren Lernklimas gewertet.[32]
Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Wertschätzung. Eine Klassengemeinschaft, in der Achtsamkeit und Anerkennung alltägliche Formen des Umgangs sind, berücksichtigt dieses Bedürfnis nach Wertschätzung. Das heißt, dass die individuellen Einstellungen und Interessen eines Schülers respektiert werden, damit er sich frei entwickeln kann.[33]
Mit dem Praxismodell „Identität und Wertschätzung, Achtsamkeit und Anerkennung“ werden mit den Schülern Kommunikationskompetenzen und Konfliktbewältigungsstrategien erarbeitet. Sie sollen zu einem versöhnenden Umgang miteinander beitragen sowie das Lern- und Klassenklima verbessern. Sie lernen ihre persönlichen Ansprüche, fremde Bedürfnisse und Interessen im Verlauf des Projekts kennen.[34]
3.3 Ziele des Modells
Im Konzept werden zahlreiche Ziele definiert, die im Folgenden aufgelistet und erklärt werden. Sie wurden von der Outlaw gGmbH in Wirkungsziele und Handlungsziele unterteilt. Die Einteilung wird nicht genau erklärt, jedoch können die Wirkungsziele auf die Fähigkeiten der Schüler bezogen werden, die im Rahmen des Modells erlernt bzw. trainiert werden sollen. Die Handlungsziele beschreiben vorwiegend praktische Übungen mit denen die Wirkungsziele erreicht werden sollen. Dabei werden ganz unterschiedliche Angebote aufgelistet, damit auf die Interessen der Schüler sowie auf die Bedürfnisse der Klasse reagiert werden kann. Das bedeutet, dass die Handlungsziele ein praktisches Repertoire an Übungsmöglichkeiten darstellen und nicht nacheinander abgearbeitet werden.[35] Als nächstes werden die Wirkungsziele vorgestellt, die in Ich-Ziele, Gemeinschaftsziele und Wirkungsziele unterteilt wurden.
3.4 Wirkungsziele
3.4.1 Ich-Ziele
Die Ich-Ziele beschreiben die persönlichen Ziele, die ein Schüler im Verlauf der Arbeit lernen soll. Zu diesen Zielen zählen:
- „Achtung und Aufmerksamkeit für sich selbst
- personale und soziale Identität
- emotionale Stabilität
- Gefühle erkennen
- soziale Kompetenz
- Ausdauer (z.B. beim Lernen)
- Selbstkontrolle
- Selbststeuerung
- sorgsamer Umgang mit dem eigenen Körper
- Überwinden von Misserfolgen
- Lob und Kritik annehmen“[36]
Die Ich-Ziele haben eine hohe Priorität, denn nur wer die eigenen Kompetenzen und Grenzen kennt, kann im Umgang mit anderen Menschen erfolgreich sein.[37] Demgemäß sollen die Jugendlichen von sich selbst zu anderen Menschen kommen. Die Schüler müssen wissen, wann sie handeln können und was ihre Grenzen überschreitet, ansonsten würden die Misserfolge den versöhnlichen Umgang miteinander stören. Das bedeutet, dass die Schüler durch die positiven Erfahrungen motiviert werden sollen, was ihr Selbstbewusstsein weiterhin stärkt.[38] Auch das Selbstwertgefühl spielt bei den Ich-Zielen eine große Rolle. Die Jugendlichen müssen verstehen, dass der Mensch mit Gefühlen reagiert, wenn er kritisiert wird. Die Kritik an der eigenen Person ist schmerzhaft, sie kann aber trotzdem positiv genutzt werden, je nachdem wie das Selbstwertgefühl ausgeprägt ist. So kann man aus Kritik für die Zukunft lernen, sie komplett abweisen oder mit Gegenkritik reagieren.[39] Die Schüler sollen in ihrer Entwicklung ihre emotionale Stabilität entfalten, damit sie Kritik positiv umsetzen können und nicht zum Gegenangriff übergehen. Sie müssen Kritik hinterfragen und sich nicht verletzt abwenden, um für die Zukunft zu lernen. Mit der Unterstützung eines gesunden Selbstwertgefühls der Schüler können viele Ich-Ziele, wie Selbststeuerung oder das Überwinden von Misserfolgen, erreicht werden.
3.4.2 Gemeinschaftsziele
Die Gemeinschaftsziele bilden die zweite Gruppe. Sie beschreiben diejenigen Ziele, die den Umgang der Schüler in der Klassengemeinschaft betreffen. Im schulischen Rahmen können Lehrer und Schüler sich auf gemeinsame Ziele verständigen. Zu den Begriffen Achtsamkeit, Anerkennung, Identität und Wertschätzung treten konkretere Gemeinschaftsziele hinzu. Dazu zählen:
- „Achtung und Aufmerksamkeit für andere
- Gefühle ausdrücken
- Toleranz
- Interkulturelle Kompetenz
- Rationales gewaltfreies Verhalten in Konflikten
- Kommunikation und Kooperation“[40]
Es handelt sich hierbei um den grundsätzlichen Respekt, den man einem anderen Menschen entgegen bringt. Nicht das persönliche Streben nach Macht und Vorteilen steht im Vordergrund, sondern eine Kooperation in der Klassengemeinschaft, in der die gegenseitige Abhängigkeit anerkannt wird[41]. Jeder Mensch möchte fair behandelt werden und über Probleme sprechen dürfen. Dies ist nur in einer Umgebung möglich, in der tolerant und aufmerksam miteinander umgegangen wird. Die Schüler sollen Gefühle ausdrücken lernen, damit in der Klassengemeinschaft Vertrauen und Offenheit entstehen kann. Die Jugendlichen haben Angst davor, dass Konflikte in der Schule eskalieren und sie physisch sowie psychisch verletzt werden. Wenn Konflikte in einer funktionierenden, achtsamen Klassengemeinschaft gelöst werden, nimmt diese Angst ab. Durch gegenseitigen Respekt entspannt sich das Klassenklima, ermöglicht verschiedene Meinungsperspektiven und Selbstkritik der Jugendlichen. Die Schüler können sich gegenseitig helfen.[42]
3.4.3 Zukunftsziele
Die dritte Gruppe bilden die Zukunftsziele. Diese beschreiben die Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn die Ich-Ziele und Gemeinschaftsziele erreicht werden. Zu den Zukunftszielen zählen Lern- und Leistungsmotivation sowie Entscheidungen und Planungen, die die Berufswahl, das Leben oder die Zukunft angehen. Damit ist gemeint, dass durch ein positives Klassen- und Schulklima die Leistung der Schüler verbessert werden kann. Die Schüler können Spaß am Unterricht entwickeln und ihre Noten verbessern. Sie steigern ihre Chance auf dem Ausbildungsmarkt gleichermaßen wie auf eine bessere Lebensperspektive.[43]
3.5 Handlungsziele
Mit den Handlungszielen können zusammenfassen praktische Übungen und Angebote beschrieben werden mit denen die Wirkungsziele erreicht werden sollen. Dies wird im Konzept allerdings nicht konkret benannt. Die Übungen werden nicht nacheinander abgearbeitet, sondern auf die jeweiligen Bedürfnisse der Klasse abgestimmt. Dazu wird die Klasse in Vorgesprächen mit den Klassenlehrern genauer betrachtet, damit auf dieser Grundlage die Übungen ausgewählt werden können. Weiterhin werden Angebote an die Lehrer gemacht, so wird im Rahmen des Modells die Methode der kollegialen Fallberatung für Lehrer angeboten. Außerdem ist die Zusammenarbeit mit den Eltern ein Bestandteil der Handlungsziele. Die Handlungsziele sind bspw. Methoden des Kommunikationstrainings, der Biographiearbeit, der Konfliktbearbeitung, der Gruppendynamik und der Theaterpädagogik.[44] Erst wenn die Schüler verstehen, wie Konflikte in ihrer Klasse entstehen und wie diese auf kommunikativer Ebene lösbar sind, können sie die Situation aktiv verändern.[45] Mit den Methoden werden diese Konflikte in der Klassengemeinschaft thematisiert, damit die Schüler produktiv damit umzugehen lernen.
Die Wirkungs- und Handlungsziele zielen auf Konfliktbewältigung und Kommunikationskompetenzen innerhalb einer Klassengemeinschaft ab. Dies kann verwirklicht werden, indem der Schwerpunkt des Unterrichts während der Projektstunden nicht auf Wissensvermittlung gelegt wird, sondern auf das Sozialverhalten der Schüler. Konflikte können als Chance gesehen werden, die auf Probleme in einer Gemeinschaft hinweisen und Lösungen anbieten.[46] Mit den Übungen des Projekts kann ihre Persönlichkeit gestärkt werden. Sie lernen ihre Stärken und Schwächen in sozialer Gruppenarbeit kennen und erarbeiten argumentativ Entscheidungen, damit ihre Kommunikationskompetenz geschult werden kann.[47] Die Handlungs- und Wirkungsziele bieten die Möglichkeit eines versöhnlichen Umgangs in der Klassengemeinschaft. Für den weiteren Verlauf der Arbeit stellt sich die Frage, wie diese Ziele im Unterricht erreicht werden sollen. Im Folgenden wird der im Konzept vorgeschlagene Stundenaufbau beschrieben. Dabei geht es in erster Linie um die Vorstellung der einzelnen Stunden mit ihren Themen.
3.6 Stundenaufbau des Modells
Das Projekt wird je nach Bedarf in einem Zeitraum von 4 Wochen bis zu einem Schuljahr angeboten. Dabei hat die Outlaw gGmbH ein Muster des Stundenaufbaus vorgegeben, das allerdings in der Stundenanzahl flexibel angepasst werden kann. Das heißt, dass die Mitarbeiter die Möglichkeit haben das Projekt um weitere Übungssequenzen zu ergänzen, um die Schüler auch über einen längeren Zeitraum zu begleiten. Das soziale Kompetenztraining richtet sich an die siebte Jahrgangsstufe einer Schule. In diesem Alter sind die Schüler besonders geeignet für das soziale Training, da hier noch ein positiver Einfluss auf die soziale Entwicklung der Schüler genommen werden kann.[48]
Erste Stunde: Einführung in die Thematik
Das Projekt ist in acht Unterrichtseinheiten gegliedert. Die erste Stunde dient der Einführung in die Thematik. Eine musikpädagogische oder eine andere Übung werden zur Motivation angewendet. An dieser Stelle bietet sich vor allem ein Kennlernspiel an, damit die Projektleiter einen ersten Eindruck der Klasse erhalten und umgekehrt. Zu diesem Zweck setzen die Schüler sich in einem Stuhlkreis zusammen. In der Mitte des Kreises liegt ein Plakat mit den Fragen „Wer bin ich? Was mag ich?“ Ein Wollknäuel wird von Schüler zu Schüler geworfen. Derjenige, der das Knäuel gefangen hat, muss die Fragen beantworten. Besonders wichtig ist, dass die Schüler das Garn festhalten, damit am Ende ein großes Netz zwischen allen Schülern entsteht. Die Klassengemeinschaft kann mit einem Netz verglichen werden, dass alle Schüler miteinander verbindet, d.h. jeder trägt zur Klassengemeinschaft bei. Jeder trägt die Verantwortung, dass das Netz straff bleibt und niemand loslässt. Nur so kann das Netz der Klassengemeinschaft einzelne Schüler auffangen, die z.B. in einer schlechten familiären Situation stecken. Wenn einzelne Schüler los lassen, sich also nicht um eine funktionierende Gemeinschaft kümmern, ist das Netz locker und durchlässig. Jeder Schüler soll sich seiner Verantwortung der Klasse gegenüber bewusst werden.[49]
Im Anschluss werden die Begriffe Achtsamkeit, Anerkennung, Identität und Wertschätzung eingeführt. Die Schüler werden in Kleingruppen eingeteilt und erstellen Mindmaps zu den Begriffen. Damit sollen die Jugendlichen zu ersten Diskussionen über die Begriffe angeregt werden. Die Aufgabe dient der Sensibilisierung für die persönlichen und fremden Empfindungen. Auf dieser Grundlage wird mit der Klasse ein Brainstorming durchgeführt. Die Schüler werden befragt, wo sie sich schon einmal ungerecht behandelt gefühlt haben, was sie dann gemacht haben und wie sie sich dabei gefühlt haben. Die Ergebnisse werden in Form von Schlagwörtern an der Tafel gesammelt. Auf diese Weise werden die einzelnen Ereignisse mit den entstandenen Gefühlen für die Schüler visualisiert. Die Unterrichtsstunde wird mit einer Abschlussrunde beendet. Dabei sollen die Schüler ihre Befindlichkeit nach der Unterrichtssequenz ausdrücken, d.h. ob es ihnen besser oder schlechter geht, nachdem sie sich über Ungerechtigkeiten äußern durften.[50]
Zweite Stunde: Ich selbst und die Anderen
Die zweite Stunde wird im Konzept mit dem Thema „Ich selbst und die Anderen“ vorgestellt. Die Stunde beginnt mit einem Rückblick auf die letzte Unterrichtseinheit. Als nächstes wird ein Motivationsspiel durchgeführt. Die Schüler bilden eine gerade Stuhlreihe im Raum und stellen sich auf die Stühle. Jeweils ein Schüler balanciert vom ersten bis zum letzten Stuhl. Da die Mitschüler währenddessen auf ihren Stühlen stehen, bleibt nur sehr wenig Platz übrig, um von Stuhl zu Stuhl zu gelangen. Zusätzlich darf der Boden zu keiner Zeit berührt werden. Das Platzproblem kann gelöst werden, indem die Schüler sich gegenseitig festhalten. Das Ziel dieser Übung ist, dass die Schüler Vertrauen zueinander entwickeln. Sie werden festgehalten und die Gemeinschaft hilft, dass niemand auf den Boden fällt.[51]
Nach dieser Motivationsübung geht es um die Einordnung der Jugendlichen in ihre verschiedenen Sozialisationsorte, z.B. die Familie, der Freundeskreis oder der Sportverein. Die Schüler sollen herausfinden, in welchen Rollen sie sich befinden und welche Anforderung diese mit sich bringen, z.B. in der Schule als Freund und Schüler oder in der Familie als große Schwester und Kind. Es ist wichtig, dass die Jugendlichen ein Gleichgewicht zwischen den eigenen Bedürfnissen und fremden Erwartungen finden, um die richtigen Entscheidungen für die Lebensplanung zu treffen und die persönlichen Ziele zu erreichen.[52] An dieser Stelle wird ein Brainstorming zum Thema „Alle wollen was von mir“ mit der Klasse durchgeführt. Dabei können die Projektleiter herausfinden, ob sich die Jugendlichen mit den Anforderungen ihrer Rollen zurechtfinden oder ob sie überfordert sind. Weiterhin erstellen die Schüler einen sogenannten Zeitkuchen, bei dem sie auf einem Kreis einteilen, wie viel Zeit sie mit alltäglichen Aktivitäten verbringen, wie z.B. Hausaufgaben, Freunde treffen und Schule. Das Ziel dieser Übung ist, dass die Jugendlichen ihre Aufgaben und Bedürfnisse besser einschätzen lernen. Sie können ihre derzeitige Alltagsstruktur visualisieren und überdenken.[53]
Dritte Stunde: Wie sehe ich mich, wie sehen mich die Anderen?
In der dritten Stunde geht es darum, wie die Schüler sich sehen und wie andere sie sehen. Im Konzept wird beschrieben, dass die Jugendlichen ihre persönlichen Fähigkeiten kennen müssen, um sich in einem Konflikt zu behaupten. Da die Kinder sich in einer Entwicklungsphase befinden, in der sich vieles für sie verändert, z.B. das Verhältnis zu den Eltern oder der eigene Körper, müssen sie sich selbst neu kennen lernen. Häufig ist die eigene Wahrnehmung jedoch eine andere als die Fremdwahrnehmung. Aus diesem Grund wird das „Stärken-Schwächen-Tandem“ durchgeführt. Die Übung wird in Partnerarbeit vollzogen. Jeder Schüler bekommt zunächst einen weißen Zettel, auf den er die Silhouette eines Menschen zeichnet. Durch die Mitte der Silhouette wird ein Strich gezogen, der das Bild in zwei Hälften teilt. Die Schüler bekommen die Aufgabe in der linken Hälfte ihre eigenen Stärken und Schwächen einzutragen. Im Anschluss wird der Zettel mit dem Partner getauscht, damit dieser in der rechten Hälfte die Stärken und Schwächen des anderen eintragen kann. Im Vorfeld wird mit den Schülern besprochen, dass man bei dieser Übung die Wahrheit schreiben darf und muss. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass der Übungspartner nicht böse reagiert, sondern den Umgang mit einer persönlichen Beurteilung lernt. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung geht häufig weit auseinander. Deswegen wird im Konzept Zeit eingeplant, damit die Jugendlichen Rückfragen an ihre Partner oder an die Projektleiter stellen können. Das Fazit der Stunde ist, dass jeder Mensch Schwächen hat und diese jeden besonders auszeichnen. Das Ziel soll in der Reflexion nochmal genau benannt werden.[54]
Vierte Stunde: Gefühle
In der vierten Stunde geht es um das Thema „Gefühle“. Die Projektleiter beginnen mit einem Rückblick auf die letzte Stunde, damit das Verständnis zum Thema „Wie sehe ich mich selbst, wie sehen mich die Anderen“ gesichert werden kann. Gleichermaßen dient der Rückblick als Einstieg in das Thema der vierten Stunde. Jeder Mensch hat eine andere Wahrnehmung über sich und andere, weshalb auch Gefühle unterschiedlich wahrgenommen werden.[55] Was den einen traurig macht, führt beim anderen zu Wut oder Hilflosigkeit. Dabei spielt Empathie eine wichtige Rolle, um Konflikte zu vermeiden. Die Schüler müssen ihre eigenen Gefühle einschätzen lernen, damit sie sich in andere hineinversetzen können. Weiterhin zeigt sich, dass Kinder, die die Gefühle anderer nachvollziehen können, sozial kompetenter sind.[56] Zu diesem Zweck wird im Konzept eine pantomimische Übung vorgeschlagen, bei der die Jugendlichen einer anderen Person ansehen sollen, wie sie sich fühlt. Die Klasse wird in zwei Gruppen aufgeteilt, die gegeneinander spielen. Die Projektleiter geben jeweils einem Schüler ein Gefühl vor, das er pantomimisch darstellt. Für jedes richtig erratene Gefühl bekommt die Gruppe einen Punkt. Die genannten Begriffe können in der Klassengemeinschaft zunächst gesammelt werden, da sie ein Ausdruck dafür sind, dass Menschen Gefühle unterschiedlich einschätzen. Weiterhin ist es für die Schüler schwierig, ähnliche Gefühle genauer abzugrenzen, obwohl sie eine unterschiedliche Bedeutung haben z.B. Trauer und Langeweile. In dieser ersten Phase der Stunde sollen die Schüler für die Empfindungen anderer sensibilisiert werden.[57]
In der zweiten Phase der Unterrichtsstunde bekommen die Schüler einen Fragebogen, auf dem Sätze ergänzt werden sollen. Diese Methode wurde gewählt, damit auch hier die zurückhaltenden Schüler die Möglichkeit bekommen, sich mit ihren Gefühlen auseinander zu setzen. Sie können sich in dieser Stillarbeitsphase damit beschäftigen, was sie traurig, glücklich, ängstlich oder aggressiv macht. Die Fragebögen sind anonym und werden von den Projektleitern eingesammelt. Im Anschluss werden einige Sätze der Schüler vorgelesen, damit in der Klassengemeinschaft über die verschiedenen Gefühlsreaktionen diskutiert werden kann. Dadurch soll den Schülern nochmal das Ziel der Stunde verdeutlicht werden. Gerade weil Menschen so unterschiedlich reagieren, ist es schwierig ihre Gefühle richtig zu deuten, da jeder aus der eigenen Gefühlsperspektive bewertet. Es entstehen Missverständnisse und Konflikte, die es zu verhindern oder klären gilt. Damit das Thema „Gefühle“ eine wichtige Vorbereitung für die fünfte Stunde.[58]
[...]
[1] In dieser Arbeit werden die Begriffe Schüler, Lehrer, Projektleiter und Mitarbeiter übergeordnet für beide Geschlechter verwendet
[2] Vgl. Bornhöft, P. u.a. (2009), S. 31 f.
[3] Vgl. Werbick, J. (1990), S. 9
[4] Vgl. Schwager, R. (1990), S. 11 f.
[5] Vgl. Werbick, J. (1990), S. 9
[6] Vgl. Schwager, R. (1997), S. 22 f.
[7] Vgl. Schlögel, H. (2007), S. 29 f.
[8] Vgl. Leonhardt, R. (2008), S. 264
[9] Vgl. Kleiter, E. F. (2003), S. 6
[10] Kleiter, E. F. (2003), S. 45
[11] Vgl. Kleiter, E. F. (2003), S. 45
[12] Vgl. Renz, S. (2007), S. 1
[13] Vgl. Schlögel, H. (2007), S. 96 f.
[14] Vgl. Leibold, G. (2003), S. 35 f.
[15] Vgl. Schwager, R. (1997), S. 73
[16] Vgl. Leibold, G. (2003), S. 36 f.
[17] Vgl. Schwager, R. / Niewiadomski, J. (2003), S. 32
[18] Vgl. Herzog, R. (2007), S. 5
[19] Vgl. Weinert, F. E. (1998), S. 114 ff.
[20] Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2006), S. 12
[21] Vgl. Tillmann, K.-J. / Holler-Nowitzki, B. / Holtappels, H.-G. u.a. (2007), S. 42 f.
[22] Vgl. Sewz, G. (2006), S. 24
[23] Die Begriffe Kompetenztraining und Schulprojekt werden synonym für das Praxismodell „Identität und Wertschätzung, Achtsamkeit und Anerkennung“ verwendet.
[24] Das von der Outlaw gGmbH entwickelte Kompetenztraining entnimmt z.T. Themen und Übungen aus: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2006): Achtsamkeit und Anerkennung, Köln. Daher wird in dieser Arbeit häufig Bezug genommen, um Grundthesen und Übungen näher zu erläutern.
[25] Da das Konzept ein unveröffentlichtes Manuskript ist und zudem keine Literaturverweise enthält, habe ich verschiedene Belege in der Literatur gesucht, um Thesen im Konzept zu unterstützen oder zu erklären.
[26] Vgl. Everett, S. / Steindorf, L.-C. (2004), S. 155 f.
[27] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 2 f.
[28] Vgl. Mayer, C.-H. (2006), S. 45
[29] Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2006), S. 16
[30] Vgl. Honeth, A. (1994), S. 180 f.
[31] Vgl. Schubarth, W. (2006), S. 182 f.
[32] Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2006), S. 15
[33] Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2006), S. 17
[34] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 3
[35] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 5 f.
[36] Outlaw gGmbH (o.J.), S. 5
[37] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 2
[38] Vgl. Chibici-Revneanu (2007), S. 7 f.
[39] Vgl. Vopel, K. W. (2001), S. 21 f.
[40] Outlaw gGmbH (o.J.), S. 6
[41] Vgl. Hart, S. / Kindle Hodson, V. (2007), S. 25 f.
[42] Vgl. Vopel, K. W. (2001), S. 37 f.
[43] Vgl. Schuhbart, W. (2006), S. 183
[44] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 6
[45] Vgl. Fellsches, J. (1978), S. 78
[46] Vgl. Herzog, R. (2007), S. 26
[47] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 5
[48] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 4
[49] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 7 f.
[50] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 7 f.
[51] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 9
[52] Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2006), S. 36
[53] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 10
[54] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 10 f.
[55] Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2006), S. 47
[56] Vgl. Saarni, C. (2002), S. 15
[57] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 11 f.
[58] Vgl. Outlaw gGmbH (o.J.), S. 11 f.
- Quote paper
- Christine Wieching (Author), 2009, Können Jugendliche Versöhnung lernen?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/137832
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