In unserem alltäglichen Leben geben wir Trinkgeld. Roland Girtler beschreibt das Geben von Trinkgeld im Restaurant allgemein "als freiwillige Gabe des Gastes für den Kellner, die diesem anzeigen soll, dass man mit ihm und seiner Arbeit zufrieden ist. Kellner, die kein oder nur wenig Trinkgeld bekommen, müssen dies als Zeichen dafür ansehen, dass ihre Tätigkeit vom Gast nicht geschätzt wird". Michael Lynn geht noch weiter und attestiert dem Geben vom Trinkgeld, auf Basis diverser empirischer Studien, die Intention, den:die Kellner:in finanziell zu unterstützen, soziale Anerkennung durch die Gabe zu erlangen und den "Internalized Tipping Norms" gerecht zu werden. In beiden Definitionen lassen sich unterschiedliche Argumentationsstrukturen finden. Hierbei stellt sich nun die Frage, inwiefern sich das Geben von Trinkgeld soziologisch erklären lässt.
Um diese Forschungsfrage beantworten zu können, sollen zunächst das ökonomische und das soziale Tauschmodell nach Peter M. Blau vorgestellt und verglichen werden. Anschließend soll eine Überprüfung, gebunden an die Empirie Lynns, stattfinden, in welchen Aspekten sich das Geben von Trinkgeld mithilfe dieser Modelle erklären lässt. Daran anknüpfend soll durch eine alternative Erklärung des Trinkgeldgebens von André Kieserling die theoretische Paradoxie jener Modelle abschließend aufgelöst und mit der Empirie vereinbar gemacht werden.
Einleitung
In unserem alltäglichen Leben geben wir Trinkgeld. Roland Girtler beschreibt das Geben von Trinkgeld im Restaurant allgemein „als freiwillige Gabe des Gastes für den Kellner, die diesem anzeigen soll, dass man mit ihm und seiner Arbeit zufrieden ist. Kellner, die kein oder nur wenig Trinkgeld bekommen, müssen dies als Zeichen dafür ansehen, dass ihre Tätigkeit vom Gast nicht geschätzt wird“ (Girtler 2008: 321). Michael Lynn geht noch weiter und attestiert dem Geben vom Trinkgeld, auf Basis diverser empirischer Studien, die Intention, den Kellner1finanziell zu unterstützen, soziale Anerkennung durch die Gabe zu erlangen und den „Internalized Tipping Norms“ (Lynn u. Saunders 2010: 107) gerecht zu werden (vgl. ebd.: 106ff.). In beiden Definitionen lassen sich unterschiedliche Argumentationsstrukturen finden. Hierbei stellt sich nun die Frage, inwiefern sich das Geben von Trinkgeld soziologisch erklären lässt.
Um diese Forschungsfrage beantworten zu können, sollen zunächst das ökonomische und das soziale Tauschmodell nach Peter M. Blau vorgestellt und verglichen werden. Anschließend soll eine Überprüfung, gebunden an die Empirie Lynns, stattfinden, in welchen Aspekten sich das Geben von Trinkgeld mithilfe dieser Modelle erklären lässt. Daran anknüpfend soll durch eine alternative Erklärung des Trinkgeldgebens von André Kieserling die theoretische Paradoxie jener Modelle abschließend aufgelöst und mit der Empirie vereinbar gemacht werden.
Der „Tausch“
Peter M. Blau grenzt den Austausch anhand von drei Beweggründen ab und ein: physischer Zwang, Orientierung an einer verinnerlichten Norm und irrationale Antriebe (vgl. Blau 2005: 128). Als physischen Zwang bezeichnet er zum Beispiel das Geben von Geld, weil jene Person mit einer Waffe bedroht wird. Mit der Orientierung an einer verinnerlichten Norm beschreibt Blau beispielsweise, dass eine Person nur Geld spendet, weil sein Gewissen es verlange. Schließlich betrachtet es der Autor nicht als sozialen Austausch, wenn eine Person ihr Geld sinnlos verschwendet (vgl. ebd.). „[Das] Konzept des Austausches zielt auf freiwillige soziale Handlungen ab, die von belohnenden Reaktionen anderer abhängig sind und die eingestellt werden, wenn die erwarteten Reaktionen nicht eintreffen“ (ebd.: 129).
Ökonomischer Austausch
Eine Art des Tausches ist der ökonomische Tausch. Dieser beschreibt den Austausch eines Guts oder einer Dienstleistung gegen einen im Vorhinein von beiden Tauschpartnern angenommenen, festgelegten Wert. Entscheidend ist hier der manifeste Charakter des Tauschs und, dass Gabe und Gegengabe im Vorhinein festgelegt sind. Ein „Vertrag legt […] fest, welche Verpflichtung jede Vertragsseite in der Zukunft erfüllen muss“ (Blau 2005: 130).
Das Geben von Trinkgeld kann mit dem ökonomischen Tauschmodell beschrieben werden, weil es als eine von dem Gast erfolgende Belohnung der Bevorzugung durch den Kellner gelte, denn mit dem Trinkgeld dankt man eben jenem für den ‚guten‘ Service (vgl. Lynn 2001: 14ff.). Außerdem erhebt man, nach Lynn, damit gleichzeitig den Anspruch auf zukünftig ‚guten‘ Service (vgl. Lynn 2015: 75f.). Für die Beschreibung des Trinkgeldgebens als Realisierung des ökonomischen Austausches nach Blau spricht des Weiteren auch die Tatsache, dass der Zeitpunkt der Gegenleistung informell festgelegt ist, nämlich beim Begleichen der Rechnung.
Gegen eine Erklärung des Trinkgelds durch das ökonomische Tauschmodell spricht jedoch der Grund, dass „auch der beflissene Durchschnittskellner, der sich nicht sonderlich anstrengt, und zwar auch von Gästen, die er nie mehr wiedersieht“ (Kieserling 2020), Trinkgelder empfängt. Daran anschließend könnte die These aufgestellt werden, dass die Figur des Kellners nicht die zentrale Motivation des Trinkgeldgebens innehat, anders wie bei Girtler, der das Trinkgeldgeben vom Kellner abhängig macht (vgl. Girtler 2008: 321).
Lynn erforschte darüber hinaus in einer Metastudie aus dem Jahr 2001, bestehend aus 14 unabhängigen Studien über das Trinkgeldgeben in Restaurants, dass die Höhe des Trinkgeldes eben kein Indikator für die Zufriedenheit mit dem Service des Kellners ist (vgl. Lynn 2001: 18). Dies würde die vorher gestellt These bekräftigen, da das Geben von Trinkgeld nur gering mit der Arbeit des Kellners korreliert.
Auch, dass manche Gäste trotz einer Unzufriedenheit mit dem Service Trinkgeld geben, kann somit als Indiz gegen einen ökonomischen Austausch angesehen werden. Außerdem ist die Höhe des Trinkgelds, wie bereits dargestellt, nicht im Vorfeld von beiden Parteien spezifiziert und durch eine Art Vertrag festgelegt, wodurch die Erklärung des Gebens von Trinkgeld als ökonomisches Tauschmodell nicht zutrifft. Dagegen spricht zudem, dass die Leistungen nicht gleichzeitig erbracht werden. Generell geht es, so Lynn und Grasman, vielmehr darum, „Social Approval“ (Lynn u. Grassman 1990: 170) durch die Gabe von Trinkgeld zu erwerben. Interessant wäre in diesem Zusammenhang, die Korrelation zwischen Gruppengröße und Höhe des gegebenen Trinkgelds zu analysieren, um diese Aussage weiter zu erforschen.
Sozialer Austausch
Peter M. Blau beschreibt in seinem Text „Sozialer Austausch“ in „Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität“ (2005) noch eine weitere Form des Tausches. Der soziale Tausch, nach Blau, „umfasst […] die Gewährung einer Wohltat, die eine diffuse Verpflichtung zur zukünftigen Gegenleistung kreiert“ (Blau 2005: 130). Dies bedeutet, dass ein Tauschpartner eine Leistung für die andere Seite erbringt und gleichzeitig eine Gegenleistung erwartet, welche allerdings unspezifisch in ihrem Wert und Erhaltungszeitpunkt bleibt (vgl. ebd.: 130f.).
„Wenn man Vorteile aus einem Kontakt zieht, so ist man verpflichtet, sich zu revanchieren und dem Anderen im Gegenzug Vorteile zu gewähren. […] Wer der Abgeltung dieser Verpflichtung nicht nachkommt und sich für die erwiesenen Vorteile nicht revanchiert, beraubt den Anderen des Anreizes, die Freundlichkeiten ihm gegenüber fortzusetzen“ (ebd.: 126), fügt Blau zur Erklärung seines sozialen Austauschkonzepts hinzu. In sozialen Kontakten beschreibe der Tausch das Hin- und Hergeben unspezifischer Gefallen zwischen den Kontakten (vgl. Blau 1968: 454f.). Die genannten Tauschgüter seien somit, anders als im ökonomischen Tausch, nicht im Voraus spezifiziert und verbleiben im Ermessen des Anderen, wobei die höchstmöglichen Güter Anerkennung und Respekt darstellen (vgl. ebd.: 455). Hier finden sich erste Parallelen zur Empirie von Lynn und Grassman, die ebenfalls die gesellschaftliche Anerkennung als eines der wertvollsten Tauschgüter identifizieren (vgl. Lynn u. Grassman 1990: 169ff).
Somit stehen sich der Gefallen beim sozialen und das Geschäft beim ökonomischen Austausch gegenüber. Außerdem gibt es keine Verhandlungsmöglichkeiten bezüglich der Gegenleistung und ein Erzwingen dieser ist bei dem sozialen Austausch nicht möglich (vgl. Blau 2005: 130). Ein weiterer wichtiger Unterschied ist, dass der soziale Austausch stärker durch persönliche Beziehungen beeinflusst wird, da dieses Tauschverhalten das soziale Band der Handelnden intensiviert und nachhaltig kräftigt (vgl. Blau 1968: 453ff.).
Beim Geben von Trinkgeld handelt es sich um ein soziales Austauschsystem, da jeder Gast bei einem Restaurantbesuch die Erwartungshaltung besitzt, freundlich bedient zu werden und ‚guten‘ Service zu erhalten. Der Kellner erwartet wiederum, dass er für den erbrachten Service später mit Trinkgeld belohnt wird. Schließlich ist das Geben von Trinkgeld somit eine Gegenleistung für den vorher erbrachten Service, welcher sehr wohl erwartet wurde, aber nicht vollständig in seinem Wert bestimmt ist.
Trotzdem spricht gegen diese Erklärung durch Blau, dass das Geben von Trinkgeld sich, empirisch bewiesen, stark an einer verinnerlichten sozialen Norm orientiere (vgl. Lynn 2015: 75f..). Es gelte als institutionalisierter Tausch; Trinkgeld werde für die Besänftigung des eigenen Gewissens gegeben und um vor Anderen nicht geizig zu wirken, was für Blau Beweggründe darstellen, die nicht in seinem Tauschmodell eingegrenzt sind (Blau 2005: 128). Dagegen spreche wiederum, „dass man das [Geben von] Trinkgeld verweigern kann und dass viele dies tun, ohne dafür bestraft zu werden; nicht einmal die unfreundlichen Blicke des Kellners müssen sie fürchten“, schreibt Kieserling (2020).
Erklärungsvorschlag für die Soziologie des Trinkgelds
André Kieserling beschreibt sowohl das ökonomische als auch das soziale Austauschsystem als Erklärung für das Prinzip des Trinkgeldgebens als Paradoxie: „Beide stellen sich das Verhalten des Gebenden, und zwar gerade, weil sie es erklären wollen, als gebunden und unfrei vor“ (ebd.). Auf der Seite des ökonomischen Prinzips wird das Trinkgeldgeben als eine Belohnung einer besonderen Leistung erklärt, die aber auch an Leistungsverweigern gezahlt wird (vgl. ebd.). Auf der Seite des sozialen Austauschs ist das Trinkgeldgeben eine soziale Norm, das Abweichen von jener werde aber nicht sanktioniert.
Stattdessen schlägt Kieserling die Erklärung vor, dass Trinkgeldgeben eine „supererogatorische Handlung“ (ebd.) ist, was bedeutet, dass das Geben von Trinkgeld geschätzt, aber nicht vorgeschrieben werde. Kieserling unterstreicht mit dieser Art von Erklärung nur die Freiwilligkeit des Trinkgeldgebens. Für ihn ist es wichtig, „dass man das [Geben von] Trinkgeld verweigern kann und dass viele dies tun, ohne dafür bestraft zu werden; nicht einmal die unfreundlichen Blicke des Kellners müssen sie fürchten“, schreibt Kieserling (2020). Inwieweit diese Aussage Bestand hat, bleibt mit Rückblick auf die eignen Erfahrungen zweifelhaft. Offen bleibt in Kieserlings Argumentation außerdem, wie die Varianz in der Höhe des Trinkgeldes zu erklären ist.
Kieserling, wie auch Girtler, argumentieren beide auf der Grundlage, dass der Tauschprozess allein zwischen Kellner und Gast besteht. Mit Rückgriff auf die vorherigen Ausführungen zum sozialen Austausch, den aufgestellten Thesen und die Studien von Lynn, kann unabhängig davon eine andere Perspektive eingenommen werden. Das Trinkgeldgeben kann ebenso als ein „sekundärer Austausch“ (Blau 2005: 135) zwischen Gast und seinen Begleitungen gesehen werden. Indem ebendieser Gast dem Kellner Trinkgeld gibt, erhält er dadurch gesellschaftliche Anerkennung durch beispielsweise den Kellner, Begleitungen oder auch Fremden im Raum (vgl. Lynn u. Grassman 1990: 169ff). Mit Blick auf die angeführte Empirie weist die Erklärung des Trinkgeldgebens durch den sekundären Austausch die wenigsten Lücken auf. Dass es neben diesem indirekten Tausch noch einen untergestellten sozialen Austausch zwischen Kellner und Gast geben kann, der auf den Service fokussiert ist, ist nicht auszuschließen. Dennoch bleibt die Annahme, dass der indirekte Tauschprozess eine Art Höherstellung erfährt, vor allem durch Lynns zahlreiche Untersuchungen.
Interessant wären eigens für diese These aufgestellte Studien, die beispielsweise das Trinkgeldgeben mit der Gruppengröße, der Restaurantfülle oder auch mit dem Grad der Beziehung zwischen Gast und Begleitungen vergleichen und versuchen, Korrelationen aufzustellen. Anzunehmen wäre beispielsweise ein höheres Trinkgeld für den Kellner, wenn der Gast ein erstes Date mit seiner Begleitung im Restaurant vollführt, um das Date zu beeindrucken und gleichzeitig Anerkennung zu erlangen.
Schluss
Zusammenfassend ließ sich zeigen, dass das Geben von Trinkgeld weder vollständig mit dem ökonomischen noch dem sozialen Austauschmodell nach Blau erklärt werden kann.
Es widerspricht Ersterem insofern, dass die Leistung des Tausches unspezifisch ist. Der Gast ist durch keine rechtliche Grundlage verpflichtet dem Kellner eine bestimmte Höhe an Trinkgeld zu zahlen.
Das Geben von Trinkgeld entspricht dem sozialen Austauschmodell nach Peter M. Blau, weil es eine gewisse Erwartungshaltung auf Gegenleistung bei dem Kellner gegenüber dem Kunden gibt, denn dieser möchte für den ‚guten‘ Service, den er erbringt, später von dem Gast bezahlt werden.
Gegen dieses Modell spricht allerdings, dass das Geben von Trinkgeld eine unfreiwillige Handlung sei, da es sich an einer verinnerlichten Norm und einem irrationalen Zwang orientiere und deshalb außerhalb der von Blau genannten Beweggründe für sozialen Austausch liege (vgl. Blau 2005: 128f.). André Kieserling schlägt daher die Erklärung vor, dass Trinkgeldgeben eine „supererogatorische Handlung“ (Kieserling 2020) sei, was bedeutet, dass es sich um eine Tat handle, die allgemein geschätzt, aber nicht vorgegeben ist. Vielmehr hat die Person so die Möglichkeit, ihren Charakter nach außen zeigen zu können und so beispielsweise soziale Anerkennung zu erlangen (vgl. ebd.). Kieserling Argumentation lässt besonders bei der Varianz der Höhe des Trinkgeldes Federn und zielt auf die falsche Figurenbeziehung ab.
Sobald die Perspektive von der Beziehung zwischen Kellner und Gast auf Gast und seine Mitmenschen wechselt, erscheint es logisch, dass es sich beim Trinkgeldgeben vielmehr um einen indirekten Tausch handeln muss. Der Gast gibt dem Kellner Trinkgeld, um „Social Approval“ (Lynn u. Grassman 1990: 170) seitens seiner Begleitungen und/oder der anderen Menschen im Raum zu erhalten. Die Anerkennung seiner Person durch Andere ist eins der höchsten Güter, die im Tausch erhalten werden kann.
(1457 Wörter)
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1Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im Text das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind jedoch immer alle Geschlechter.
- Quote paper
- Philipp Wandelt (Author), 2023, Die Soziologie des Trinkgelds. Sozialer oder ökonomischer Austausch?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1372809
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