Inwieweit hängen Fortschrittsdenken und Aufklärung mit Kolonialismus und Imperialismus in der liberalen Moderne zusammen? Wie kann der selbstdeklarierte Moment der politischen und wirtschaftlichen Freiheit zu Weltkriegen, dem Holocaust und Kolonialismus/Imperialismus geführt haben? Wie kann das autonome und rationale Subjekt der Moderne sich freiwillig einer Staatsgewalt unterwerfen und somit sich selbst quasi entmündigen? Welche epistemischen Grundlagen müssten dafür geschaffen worden sein?
Hobbes und Locke, auf die ich mich hauptsächlich in dieser Arbeit fokussiere, vereint der Wunsch nach einer sicheren Gesellschaftsordnung und es eint sie die Suche nach gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien die sich von Dogmen religiöser Art emanzipiert wollten. Sie stehen in der Tradition der Aufklärung und liberalen, bürgerlichen Gesellschaft, können aber auch als proto-imperialistische Denker betrachtet werden. Laut Arendt besteht eine enge Verbindung zwischen der liberalen Marktrationalität und der expansiven, imperialistischen (Geo-)Politik. Genau diese Ambivalenz der Moderne bzw. diese Dialektik der Aufklärung versuche ich in der folgenden Arbeit anhand des dichotomen Denkens aufzuzeigen.
1. Einleitung
Als die Ständegesellschaften mit ihren feudalen Strukturen überwunden wurden und die Phase des Frühkapitalismus begann, kristallisierte sich zugleich die bürgerliche Gesellschaft. Die feudalen Strukturen wurden mit der Hoffnung auf mehr Freiheit überwunden. Kennzeichnend für diesen Übergang von Feudalismus hin zum Kapitalismus sind verschiedene Mentalitätszustände, die (neu) aufkommende kapitalistische Wirtschaftsweise, das rationalistische bzw. mechanistische Weltbild (instrumentelle Vernunft) und die Postulierung eines autonomen, individualisierten und Eigentum besitzenden Subjekts im Namen der Aufklärung (Besitzindividualismus). Vorbild hierfür gilt die sog. „Glorreiche Revolution“ in der Royalisten auf der Seite des Königs, gegen die New Model Army (der bürgerlichen Klasse) kämpften. Die agrarkommunistische und egalitäre Ambition der Diggers fand im liberalen Siegeszug wenig politische und theoretische Beachtung.
Zweckgerichtetes, egoistisches und individuelles Handeln werden bei Descartes, Locke und Hobbes als rational, also als der Vernunft entsprechend betrachtet. Eine anthropologische Annahme aus der Bibel wird vor allem bei Locke weiter an die Spitze getrieben: Der Mensch hat den (göttlichen) Auftrag die Natur zu beherrschen. Durch Arbeit und Aneignung (bzw. Enteignung) werden wir „Herr“(scher) über die Natur. Das private Eigentum wird in Folge als sakrales Resultat der menschlichen Leistung betrachtet. Kaum verwunderlich ist es daher, dass das derzeitige Akkumulations- und Profitregime auf billigste Arbeitskraft und Ressourcen andernorts basiert. Diese Lebensweise, die auch eine nicht nachhaltige Produktions- und Konsumweise beinhaltet, nenne ich auch imperiale Lebensweise (Mühlbauer/Gabriel 2022). John Locke und Thomas Hobbes sind zweifelsfrei zwei kanonische Denker, die diese liberal-moderne Gesellschaftsformation theoretischkonzeptionell durchdachten und zu legitimieren versuchten. Doch Freiheit, Sicherheit und Zivilisation sind nur die Begriffe auf der einen Seiten der Medaille. Auf der anderen stehen Chaos, Unordnung und Barbarei. Diese Gegensatzpaare werden von Locke, Hobbes, Mill bis hin zu Huntington und den Reden von George W. Bush kontinuierlich im Zeichen des westlichen Fortschritts ideologisch gebraucht. Um dieses dichotome Denken wird es in meiner Arbeit hauptsächlich gehen.
Hobbes und Locke, auf die ich mich hauptsächlich in dieser Arbeit fokussiere, vereint der Wunsch nach einer sicheren Gesellschaftsordnung und es eint sie die Suche nach gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien die sich von Dogmen religiöser Art emanzipiert wollten. Sie stehen in der Tradition der Aufklärung und liberalen, bürgerlichen Gesellschaft, können aber auch als proto-imperialistische Denker betrachtet werden (Arendt 1986; Said 1993; Armitage 2013)1. Laut Arendt besteht eine enge Verbindung zwischen der liberalen Marktrationalität und der expansiven, imperialistischen (Geo-)Politik (vgl. Redecker 2022.). Genau diese Ambivalenz der Moderne (Baumann 2005) bzw. diese Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno 2006) versuche in der folgenden Arbeit anhand des dichotomen Denkens aufzuzeigen.
Inwieweit hängen Fortschrittsdenken und Aufklärung mit Kolonialismus und Imperialismus in der liberalen Moderne zusammen? Wie kann der selbstdeklarierte Moment der politischen und wirtschaftlichen Freiheit zu Weltkriegen, dem Holocaust und Kolonialismus/Imperialismus geführt haben? Wie kann das autonome und rationale Subjekt der Moderne sich freiwillig einer Staatsgewalt unterwerfen und somit sich selbst quasi entmündigen? Welche epistemischen Grundlagen müssten dafür geschaffen worden sein? Diese Fragen bilden nicht nur mein Forschungsinteresse an dem Thema ab sondern zeigen auch den ambivalenten Charakter der Moderne. Mit Blick auf diese Ambivalenzen und Fragen möchte ich mich dem Denken von Locke und Hobbes widmen. Aufgrund des Platzmangels werden nicht alle Fragen beantwortet oder besprochen. Worauf ich mich genau fokussiere beschreibe ich nun im nächsten Absatz.
1.1Aufbau der Arbeit und zentrale Fragestellung
Diese Arbeit fokussiert sich auf epistemischer Ebene auf die Wissensproduktion und Reproduktion. Grundlegend stelle ich die Frage, welches Wissen wird/wurde bei Locke und Hobbes tradiert, damit dichotome Denkmuster von Zivilisation und Barbarei überhaupt erst entstehen können? Die Frage die ich mit Sicherheit nicht ausführlich angehen werde, dennoch wichtig zu stellen ist, lautet: Besteht ein roter Faden zwischen liberalen Denkschulen von Locke/Hobbes bis Samuel Huntington und Francis Fukuyama? Konkret werde ich auf das dichotome Gegensatzpaar von Barbarei und Zivilisation eingehen, was ich als grundlegenden epistemischen Baustein der Moderne betrachte (Eberl 2021).
2.Epistemischen Grundlagen der kolonialen Moderne
Zivilisation ist seit mehreren Jahrhunderten ein Eckpfeiler der Europäischen Identität (Salter 2002: 15). Der Begriff taucht zum ersten Mal auf Englisch 1772 im semantischen Gegensatz zur Barbarei auf. Auf Französisch taucht der Begriff 1767 auf. Diese Begriffe wurden mobilisiert im imperialen Kontext, um die europäische Expansion zu rechtfertigen (ebd.). Die Zivilisierungsmission wurde somit zum Schlagwort imperialer Ideologien. Salter beschreibt die institutionelle und historische Einschreibung dieser imperialen Ideologie folgendermaßen:
European nations - as exemplified by the Covenant of the League of Nations - saw themselves as the ‘civilized' world in stark contrast to the savage and barbaric worlds. Laws of warfare and the treaties of international organizations were based on the tacit or explicit value consensus which ‘European civilization' represented. For most of this part of its history, civilization was a political term, which was used to elide the differences within European communities, in comparison to those savage and barbaric communities outside Europe (Salter 2002: 15).
Begriffe wie Orientalismus (vgl. Said 1979) beschrieben stets das Andere, das Außerhalb von Europa. Europa selbst beschrieb sich selbst als technologisch überlegen und Europas universalistische Werte portraitierte das aufgeklärte Denken (Salter 2002: 16). Damit einher geht eine epistemische Hierarchisierung. Die erste Stufe sind sog. „wilde“ („savage“) Gesellschaften, welche aus Jäger-Sammler-Gesellschaften bestehen. Dann kommen „barbarische“ Gesellschaften, die knapp über den Jäger-Sammler-Gesellschaften stehen. Als die größte menschliche Errungenschaften und Spitze der aufgeklärten Gesellschaftsformation wird das europäische Modell mit seinen liberalen Institutionen, kapitalistischen Handel und modernster Technologien beschrieben (ebd.). Auch wenn zahlreiche Entdeckungen und Entwicklungen außerhalb von Europa stattfanden, der imperiale Diskurs behaarte auf seine Überlegenheit. So schrieb Montesquieu im Jahr 1750 dass der grundlegende Unterschied zwischen barbarischen und zivilisierten Gesellschaften der Geist der Gesetze sei. Edmund Burke skizziert eine ähnliche „Great Map of Mankind“ (1777) indem er zwischen savagery, barbarism und civilization unterscheidet. Mit Julia Kristeva könnte man dieses dichotome Denken schon bei Aristoteles vorfinden, da er Barbaren als natürliche Sklaven definierte. Wenn Menschen von Geburt an zur Sklaverei bestimmt sind, dann ist Imperialismus und Unterwerfung legitim und moralisch gerechtfertigt. Doch hier ist nicht der Platz um die dekolonialen Theorien (siehe vor allem Achille Mbembe) aufzumachen. Mir ging es hier lediglich darum die Kontinuität im abendländischen Denken und die damit einhergehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufzuzeigen. Auch wenn Hobbes und Locke den aristotelischen Essentialismus bestreiten würden, läuft ihr Gesellschaftsentwurf auf eine Fusion von horizontalem (freiwilligen, vernünftigen) Gesellschaftsvertrag und einem vertikalen (hierarchischen, teils auf Sicherheit und/oder Besitz orientierten Machtapparat) Herrschaftsvertrag hinaus.
Auf zwei wesentliche Merkmale dieses kolonialen bzw. imperialen Diskurses möchte ich mich festlegen. Einerseits will ich die Eigentumslogik herausarbeiten. Schon bei Vittoria (1527), Hugo Grotius (1625) und vor allem bei John Locke (1690) wurden die „wilden“ Nordamerikas als Paradebeispiele herangezogen um ihre Eigentumstheorien zu unterstreichen (zit. nach Salter 2002: 24). Mit demManifest Destinyund vielen weiteren Beispielen aus den internationalen Beziehungen sehen wir die westliche, bzw. europäische Zivilisierungsmission - am allerdeutlichsten auf ökonomischer und militärischer Ebene. Andererseits möchte ich auf den Aspekt der (Staats-)Gewalt eingehen, die mit Hilfe des dichotomen Denkens von Natur- vs. Gesellschaftszustand gerechtfertigt wurde. Die Frage der Staatsgewalt und die Eigentumsfrage sind zentrale Elemente der frühneuzeitlichen Staatenbildung und der frühkapitalistischen Wirtschafts- und Expansionsweise.
2.1 Staatsgewalt bei Hobbes
„Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer.
Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: „Ich, der Staat, bin das Volk.“ (Nietzsche 1883: 65).
Welches Wissen muss produziert und reproduziert worden sein, damit „wir“ im Namen der Sicherheit, die Freiheit aufgeben? Welches Wissen musste sich durchsetzen, damit wir uns freiwillig einem biblischen Seeungeheuer (Leviathan) unterwerfen? Von diesem Ungeheuer sprach auch Nietzsche, der die vermeintliche Einheit von Staat und Gesellschaft kritisierte.
Obwohl Hobbes und Locke ein anderes Staatsverständnis vorweisen, können einige Parallelen gezogen werden. So zB skizzieren beide in einem reinen Gedankenexperiment mit wenig empirischer Fundierung einen „Naturzustand“. Beide Denker können im Lichte ihrer Zeit und der damaligen Bürgerkriege in Europa verstanden und gelesen werden. Demgemäß reagieren ihre Ansätze auf die dringenden Fragen ihrer Zeit. Vor dem Hintergrund des Englischen Bürgerkrieges (1640er) entwickelt Hobbes seine anthropologischen Annahmen über den Menschen. Er vertritt einen psychologischen Egoismus, denn laut Hobbes befinden wir uns im Naturzustand im Kampf aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) aufgrund unserer Triebe und aufgrund des Wettstreits um Macht, Anerkennung und Ruhm. Da jeder Mensch, ganz egal wie stark und schlau er sein mag, mittels Kooperation mehrerer Menschen überwunden werden kann, ist das menschliche Zusammenleben durch Argwohn, Misstrauen und Konkurrenzdenken geprägt.2Diese Prädisposition verursacht aber gleichzeitig eine kriegerische Dynamik. Denn es liegt sogar in der Rationalität des Menschen diese Zustände bzw. Umstände zu antizipieren und somit selbst pro-aktiv zu werden, um präventiv diese Gefahren die die Anderen darstellen auszulöschen. Die Konklusion aus dieser „geometrischen Analyse“ mündet im Naturrecht, genauer im Recht auf Selbsterhaltung. Laut Hobbes sind wir frei und haben das Recht auf alles und Selbsterhaltung, jedoch gibt es keine Garantien dass diese „Gesetze“ eingehalten werden. Ähnlich des Ansatzes des Gefangenendilemmas, sind wir Menschen nun in einem Null-Summen-Spiel gefangen, wo wir genuin den anderen Mitstreiter:innen misstrauen müssen und nicht wissen wie der andere handeln könnte. Genau an diesem Punkt, konstruiert Hobbes einen anderen Zustand, wo diese Garantien (vermeintlich) gegeben seien. Und hier kommt der sog. Gesellschaftsvertrag und in Folge dessen auch der Staat (bzw. der Leviathan) ins Spiel. Der Leviathan, wird an einigen Stellen in der jüdisch-christlichen Erzählung auch als Krokodil, Seeungeheuer und als schlangenartiges Wesen beschrieben (Psalm 74,14, 104,26; Hiob 40,25, 41,26; Jesaja 27,1...). Daher rekurriert Nietzsche im eingangs erwähnten Zitat wohl auf Thomas Hobbes, wenn den Staat als Ungeheuer tituliert. Von der Neuzeit bis zur Gegenwart steht Leviathan jedoch für eine Allmacht und weniger ein teuflisches Ungeheuer. Sich dieser Allmacht zu unterwerfen sei rational und gibt den Menschen Sicherheit, so die Annahme von Hobbes. Die Bürger:innen haben ein vitales Interesse ihre Mündigkeit und Freiheit dem Leviathan abzugeben, der außerhalb des Rechts steht, welches er ja im Grunde symbolisiert (vgl. Agamben 2002).3Das Interesse eines jeden liegt in der Sicherheit. Durch den fiktiven Gesellschaftsvertrag verzichten alle Bürger:innen unwiderruflich (!) auf ihre Macht und übertragen ihre Recht dem allmächtigen Ungeheuer Leviathan. Das ist der Punkt an dem nicht mehr Gott, oder Kirche über das Leben bestimmen sollten, sondern der Staat. Für damalige Zeiten und aus der Perspektive von Hobbes vielleicht sogar ein progressiver Gedanke, da man sich von Konfessionsstreitigkeiten und Feudalismus emanzipieren wollte. Dennoch bleibt uns Hobbes die Antwort schuldig, wer schlussendlich dieser Leviathan sein soll? Sind es alle Bürger:innen? Wohl kaum, den dann hätten wir ja laut Hobbes wieder einen basisdemokratischen Streit um Deutungshocheiten, Konfessionen, Macht, Ruhm etc.
[...]
1Tarlton (1998) unterstreicht sogar die Ähnlichkeiten zwischen Faschismus und die Rechtfertigungsstrategie von Hobbes.
2Selbiges gilt für das internationale Staatensystem. Jeder Staat bzw. Imperium kann durch den Zusammenschluss mehrerer Staaten überwunden werden.
3Auf das Paradox, dass die Staatsgewalt bereits bestehen musste, damit der Gesellschaftsvertrag erst seine Gültigkeit entfalten kann (denn laut Hobbes und Locke erhalten Gesetze erst durch das Schwert die Garantie ihrer Einhaltung) und auf das Paradox, dass die Staatsgewalt über den Ausnahmezustand (der nicht im Recht gefasst werden kann) bestimmt und somit gleichzeitig außerhalb des Rechts sich befindet, kurz: auf diese Paradoxien die Judith Butler und Giorgio Agamben aufgezeigt haben, werde ich nicht weiter eingehen.
- Citation du texte
- Josef Mühlbauer (Auteur), 2023, Zivilisation und Barbarei. Zwillinge der kolonialen Moderne. Begründungsversuche der bürgerlichen Gesellschaft bei John Locke und Thomas Hobbes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1370833
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