Petersen deutet die Welt und die Erziehung vor allem aus seiner christlichen Verwurzelung heraus. Der Mensch bedarf vor allem deshalb der Erziehung weil er aus der Natur herausgefallen ist. Erziehung vollzieht sich primär funktional, das heißt nicht durch absichtsvolle Planung, sondern durch „die gesamte den Menschen umgebende Wirklichkeit“ . Die absichtsvolle Erziehung ist ein Teilbereich der Erziehung, die nach Petersen auf Bildung abzielt und nur handlungsorientiert zum Erfolg führen kann. Aufgrund seines biographischen Hintergrundes und reformpädagogischer Erziehungsauffassungen überhöht Petersen die Gemeinschaftsidee. In der Dorfgemeinschaft, in der Petersen aufwuchs und durch seine christliche Auffassung lernte er, dass der Einzelne eine Verpflichtung zum Dienst am anderen Menschen hat. In der Diskussion um das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft hebt Petersen deutlich den Wert der Gemeinschaft hervor.
Petersens Menschenbild ist die Grundlage seiner pädagogischen Konzeption. Diese ist nicht ohne Weiters auf die heutige Regelschule übertragbar.
Inhaltsverzeichnis:
Teil I: Die Reformpädagogische Bewegung
1. Zum Begriff reformpädagogische Bewegung
2. Vorläufer der Reformpädagogischen Bewegung
3. Die Jugendbewegung
4. Die Bewegung „vom Kind aus“
Berthold Otto
5. Bewegungen und Strömungen der reformpädagogischen Bewegung
5.1. Die Landerziehungsheimbewegung
5.2. Die Kunsterziehungsbewegung
5.3. Die Arbeitsschulbewegung
Teil II: Die Pädagogik Peter Petersens
1. Leben und Werk
2. Petersens Konzept der realistischen Erziehungswissenschaft
und seine anthropologischen Voraussetzungen
3. Pädagogische Tatsachenforschung
4. Die Führungslehre des Unterrichts
Führung im Unterricht - Führung des Unterrichts
5. Der Jena Plan
6. Fazit
Teil I Die Reformpädagogische Bewegung
1. Zum Begriff Reformpädagogische Bewegung
Die Zeit um 1900 war geprägt von Strömungen, die sich generell gegen das Alte wendeten. Es galt, eine Veränderung der bisherigen Lebensauffassung zu schaffen, weg von der Kultur und hin zu Naturalismus und Materialismus. Infolgedessen entstanden verschiedene Bewegungen, die für eine Gleichberechtigung der Unterdrückten eintraten, wie z. B. die soziale Bewegung, die Frauen- und Jugendbewegung. In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts traten ebenso pädagogische Strömungen in Erscheinung, die als Reformpädagogische Bewegung bezeichnet werden können.
Der Begriff Reform war in den Vorkriegsjahren ein Schlagwort, das für die Ablehnung tradierter Formen stand, die als erstarrt, künstlich und unecht empfunden wurden. So gab es eine Ernährungsreform und eine Kleidungsreform. Der Begriff Lebensreform war der allgemeine Ausdruck dafür, dass man generell versuchte sich vom Tradierten abzuwenden um natürlichere, echtere Lebensformen anzustreben.
Das Wort Bewegun g verdeutlicht einerseits die „Dynamik gleicher Gesinnungen, Überzeugungen und Willensrichtungen aufgrund bestimmter geistiger Entscheidungen“[1] und andererseits die Ambitionen der Menschen, die diese Ideen in die Tat umsetzen und ausbreiten möchten.
Der Begriff Reformpädagogische Bewegung ist seit Hermann Nohl gebräuchlich. Er stellte in seinem Werk „Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie“[2] erstmals die Vielzahl der pädagogischen Bewegungen als Gesamtheit dar. Er nennt die verschiedenen Teilrichtungen Bewegungen, so spricht er von der Kunsterziehungs-, Landerziehungsheim-, Arbeitsschulbewegung. Der Begriff Reformpädagogik ist daher eine Bezeichnung für unterschiedliche Teilströmungen, die sich in einigen Ansatzpunkten jedoch widersprachen. Die Reformpädagogische Bewegung ist kein deutsches, sondern internationales Phänomen; so entstanden Wechselwirkungen zwischen deutschen, amerikanischen oder skandinavischen Strömungen. Den Beginn der Bewegung markiert Wolfgang Scheibe mit Ellen Keys Veröffentlichung „Das Jahrhundert des Kindes“ (1900). Mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus 1932/33 sieht er das Ende.
Vehemente Kritik hinsichtlich des von Nohl geprägten Begriffs einer reformpädagogischen Bewegung äußerte Oelkers. Er wendet sich gegen die historische Fixierung und Eingrenzung der Reformpädagogik als eine historische Epoche. Die pädagogische Ideen dieser Zeit seien vielmehr die praktische Umsetzung älterer theoretischer Überlegungen und nicht aus einer neuen Theorie entstanden. Für Oelkers ist Pädagogik im modernen Sinne IMMER Reformpädagogik, da eine Veränderung von Erziehungskonzepten schon mit dem Prinzip pädagogischen Denkens begründet werden kann: „Die Erziehungsreflexion reagiert positiv auf Defizite, die sie bearbeiten und moralisch codieren kann. Jedes Übel kann zum Defizit erklärt und Objekt von Erziehungsreformen werden, das heißt ‚Reformpädagogik’ ist ein perennierendes Thema.“[3] Reformpädagogik ist somit für ihn keine abgeschlossene historische Phase und damit keine Epoche.
2. Vorläufer der Reformpädagogischen Bewegung
Trotz der Erfolge des 19. Jahrhunderts, des Fortschrittsbewusstsein und dem Gefühl des Stolzes in der Bevölkerung kam es gegen Ende des Jahrhunderts zu einer geistigen Selbstkritik, zur Kulturkritik. Als wesentliche Vertreter sind hier Julius Langbehn, Friedrich Nietzsche und Paul de Lagarde zu nennen, die den Rationalismus, Intellektualismus und die Verwissenschaftlichung der Bildung ablehnten und durch die Erziehung einen besseren Menschen und damit eine bessere Zukunft anstrebten.
Julius Langbehn (1851-1907) war Kunsthistoriker, Kulturreformer und Schriftsteller. Scheibe sieht in ihm einen der großen Initiatoren eines neuen Bildungsdenkens, der mit seinem Werk lange das deutsche Geistesleben beeinflusst und die pädagogische Bewegung geprägt hat.[4]
Langbehn ist vor allem durch seine Schrift „Rembrandt als Erzieher, von einem Deutschen“ von 1890 bekannt: Hier setzt er sich polemisch mit dem deutschen Volk auseinander und prangerte den geistigen Verfall der Deutschen an sowie den Verfall der Bildung überhaupt. In der Gegenwart sieht er einen Zustand geringer kultureller Bedeutung und eines geringen Bildungsniveaus. Vor allem fehlt es ihm an herausragenden Persönlichkeiten und kunstschaffenden Individuen: „Musiker sind selten, Musikanten zahllos.“[5] Schuld an diesem Mangel seien die Zunahme der Rationalität und das Verflochtensein der Bildung mit der Wissenschaft. Er übt harsche Kritik an der Wissenschaft aus, besonders in Hinblick auf die folgenden Aspekte: Langbehn setzt dem „kalten“, einseitigen Verstand der Wissenschaften die „warmen“, vielfältigen Emotionen gegenüber und spricht sich für die Hinwendung zum gefühlsbetonten Leben und für mehr Herzensbildung aus.[6] Er kritisiert die Abstraktheit der Wissenschaft. Lange Zeit sei die deutsche Bildung hinaufgegangen zum Abstrakten, nun solle sie wieder „herunterkommen“. Die Bildung soll schlicht und einfach werden, wie die Volksbildung, die er als erstrebenswert ansieht. Langbehn verurteilt die Zergliederung der Wissenschaft und die Zerstückelung der Bildung und spricht sich hingegen für eine ganzheitliche Bildung aus, die vor allem in der Kunst und im Volk vorzufinden sei. Weiterhin kritisiert er die Tendenz der Wissenschaft, aufgrund der gefundenen Ergebnisse allgemeingültige Aussagen zu treffen. Indem sich die Bildung an der Wissenschaft orientiere und nicht an der Kunst, verliere sie die Individualität. Eine Orientierung des Volkes an der Individualität hält er jedoch für die Voraussetzung und Bedingung für große, außergewöhnliche Leistungen. Daher sieht er in der Erziehung zur Individualität ein wesentliches Bildungsziel.
Nach Langbehn sei das wichtigste Ziel die Überwindung der großen Kluft zwischen Gelehrten und Volk. Die deutsche Bevölkerung sei gespalten in eine gebildete Oberschicht und ein wenig gebildetes Volk. Darin sieht er das größte Problem der Gegenwart. Die Überwindung dieser Spaltung kann nicht von der wissenschaftlichen Bildung her erfolgen, sondern von unten, aus dem „Volksboden“.
Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) kritisierte in seinem Werk „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ die Bildung seiner Zeit. Er analysiert besonders die Auswirkungen einer übertriebenen Geschichtswissenschaft und die Bedeutung der Geschichte für das Leben und die Bildung. Kritisch sieht er vor allem die Art und Weise wie die Geschichte in der gegenwärtigen Bildung repräsentiert ist: Sie sei im Übermaß und ohne Bezug zum tätigen Leben vorhanden, so dass die Übersättigung mit Geschichte dazu führt, dass das Leben darunter leidet.
Eine Bildung, die nicht aus Bedürfnissen hervorgeht und aus den notwendigen Aufgaben motiviert ist, diene jedoch nicht dem Leben. Für Nietzsche ist die zeitgenössische Bildung deshalb nicht Bildung im eigentlichen Sinne, „ sondern nur eine Art Wissen um die Bildung, es bleibt in ihr beim Bildungs-Gedanken, bei dem Bildungs-Gefühl, es wird kein Bildungs-Entschluß daraus“.[7]
Eine übertriebene geschichtliche Bildung habe nach Nietzsche die Auswirkung, dass sie die geistigen Kräfte gefährde: In dem Maße wie z.B. die Musik oder die Religion Gegenstand der Wissenschaft werden, geht ihre Lebendigkeit zurück, so „dass es aufhört zu leben, wenn es zu Ende seziert ist und schmerzlich und krankhaft lebt, wenn man anfängt, an ihm die historischen Sezierübungen zu machen“[8]. Deshalb brauche alles eine „Athmosphäre“, einen geheimnisvollen Dunstkreis, der nicht durch die Wissenschaft zerstört werden solle. Weiterhin führe die Rückgewandtheit der historischen Bildung dazu, dass lediglich zurückgeschaut, abgeschlossen und Trost in der Vergangenheit gesucht anstatt in die Zukunft zu blicken. Eine weitere Folge sei das Aufkommen von Stimmungen wie Ironie oder Zynismus, die dazu führen, dass eine egoistische Praxis entsteht, durch die Lebenskräfte zerstört werden.[9]
Nietzsche kritisiert die Universitäten, die er als „wissenschaftlichen Fabriken“[10] bezeichnet, die Schulen und die historische Schulbildung. In der Jugend sieht er eine Chance, die gegenwärtige Krise zu überwinden und erhofft sich durch eine entsprechende Erziehung der Jugendlichen eine bessere Zukunft zu schaffen.
Paul de Lagarde (1827—1891) war Lehrer, Sprachforscher, Kulturpolitiker und –philosoph. Er gilt als einer der schärfsten Kritiker des deutschen Bildungswesens und machte das Berechtigungswesen des damaligen Schulsystems für die in Deutschland herrschende „Bildungsbarbarei“ verantwortlich.[11]
In seiner Kritik wirft er zum einen Deutschland und der deutschen Jugend mangelnden Idealismus vor: Deutschland hätte eine Vielzahl von Idealen, die sich zum Teil widersprechen und gegenseitig aufheben. Die Folge daraus ist, dass die Jugend selbst entscheiden muss, nach welchen Idealen sie lebt. Zum anderen wendet sich Lagarde ebenso gegen den übertriebenen Historismus jener Zeit: So würden vor allem geschichtliche Ideale eine Bedeutung haben und nicht die Ideale der Gegenwart, die dem heutigen Menschen jedoch eher entsprechen würden. Lagarde fehlt der unmittelbare Bezug zur Realität und wirklichem Dasein. Sie müssen nach seiner Vorstellung jedoch vorhanden sein, damit das Ideal auch in der Gegenwart wirksam sein kann. Um der Jugend eine Orientierung zu geben, sollen ihre Ideale auch aus der Gegenwart und dem Alltag schöpfen und nicht ausschließlich geschichtlich motiviert sein.[12]
Scheibe erkennt trotz der Unterschiedlichkeit der drei aufgeführten Persönlichkeiten folgende gemeinsame Grundhaltung: Alle drei zeigen eine Skepsis gegenüber dem Totalanspruch der Wissenschaft an die Bildung. Kritisch bewertet wird die Intellektualisiserung der Bildung, die zur Vereinseitigung, zur Leere und Lebensfremdheit führe. Der historische Charakter der Bildung wird kritisiert sowie die Schulen als die Stätte einer solchen Bildung. In der Jugend sahen Langbehn, Nietzsche und de Lagarde eine Chance zur Veränderung. Daher forderten sie neue Wege für eine Erziehung der Jugend, um einen besseren Menschen zu schaffen. Scheibe sieht in ihnen daher wichtige „Initiatoren der Pädagogischen Bewegung“[13].
3. Die Jugendbewegung
Die Jugendbewegung und die pädagogische Reformbewegung hatten großen Einfluss aufeinander. Die Jugendbewegung war eine eigenständige Strömung, kann aber zugleich als Bestandteil der Pädagogischen Bewegung gesehen werden und soll daher gesondert dargestellt werden.
Die Jugendbewegung hat ihren Ursprung in Jugendeinrichtungen und -vereinen wie z.B. den Pfadfindern und den Wandervögeln. Sie begann etwa um 1900, endete 1933 und wurde von Gustav Wyneken angeführt. Er sprach auf dem Freideutschen Jugendtag 1913 auf dem Hohen Meißner folgende Worte:
„Die freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden freideutsche Jugendtage abgehalten. Als Grundsatz für gemeinschaftliche Veranstaltungen: Alle gemeinsamen Veranstaltungen der freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei“.[14]
Die Äußerung wurde als Meißner- Formel bezeichnet und fasst das Programm der Bewegung zusammen. Ein größeres Dokument oder eine allgemein anerkannte Abhandlung, die über die Wesenszüge der Jugendbewegung Aufschluss geben, gibt es hingegen nicht. Die Jugendbewegung bestand vielmehr aus verschiedenen Vereinigungen und Bündnissen mit zahlreichen Proklamationen und Bekenntnissen. Allen gemeinsam ist die Forderung, nicht mehr als Vorstufe zum Erwachsenensein angesehen zu werden, sondern eine Anerkennung der Jugend als eigenständige Phase im Leben des Menschen[15]. Die Jugendlichen möchten über ihr Handeln selbst bestimmen und sich nicht mehr ausschließlich nach den Erwartungen der Erwachsenenwelt richten. Die Jugendbewegung strebt nach einer Lebensführung, die dem jugendlichen Wesen entspricht und hatte den Anspruch, ein besonderer Faktor in der allgemeinen Kulturarbeit zu sein. Sie möchte damit ihren eigenen Teil zur Gesellschaft und Kultur beisteuern.
In Kundgebungen und Treffen, Fahrten und Lagern sowie in der Herausgabe von Zeitschriften organisierte sich die Bewegung. Ihr gemeinsamer Grundsatz der Abstinenz gründete im Protest gegen die gängigen Gesellschaftsbräuche und Konventionen ,gegen alles Unnatürliche und Unechte des bürgerlichen Lebens, wie zum Beispiel die ständischen Vorurteile, der übersteigerte Ehrbegriff, Sitten und Gepflogenheiten und der bürgerliche Stil des Wohnens und der Kleidung.
Ziel ist es, Mensch im „wesentlichen Sinne“ zu sein. Das Wort Mensch hatte einen neuen Klang, eine neue Bedeutung. Abgelehnt wurden alle Arten von Verfremdung des Menschen, wie zum Beispiel Rationalität, Konventionalität, Berufsbestimmtheit und Massendasein. Als wichtig wurden Ganzheit, innere Erfülltheit, Emotionalität, Tiefe, Innerlichkeit, das Schöpferische und die Tat angesehen. Die Jugendbewegung erstrebte ein freies Jugendleben mit eigentümlichen Lebensformen und der Bruderschaft sowie einer sittlichen Selbstbestimmung. Wichtig war der einzelne, also Individualität. Der tragende Faktor der Bewegung war jedoch das Gemeinschaftserlebnis. Der Weg zur Verwirklichung führte über die selbst erlebte und gestaltete Jugendgemeinschaft als Vorbild neuerer Lebensformen der Gesellschaft. Als häufigste Beschäftigung kann wohl das Wandern angesehen werden. Auf ihren Fahrten und Wanderungen durch die Dörfer trafen die Jugendlichen auf die Bauern, deren Lebensweise sie schätzten.
In welchem Verhältnis stand die Jugendbewegung zur reformpädagogischen Bewegung?
Es kann davon ausgegangen werden, dass ein enger Zusammenhang zu den Idealen der Pädagogischen Reformbewegung bestand. Die Jugendbewegung verstand ihre Gruppen und Bünde zunehmend als Erziehungsgemeinschaften: Die Gemeinschaften der Jugendlichen sollte sich selbst erziehen; Erziehung sollte im Kontakt zum anderen stattfinden. In mehrfacher Richtung hatte die Jugendbewegung einen Einfluss auf die Erziehung und Bildung und damit auf die neuere Pädagogik:
Mit der Jugendbewegung entstand erstmals die Jugendarbeit als eigener pädagogischer Bereich. Das Gesetz der Selbsterziehung und die Freizeit als eigenes pädagogisches Feld waren hierbei kennzeichnende Merkmale. Weiterhin konnte eine Verbindung zwischen Jugendbewegung und Schule entstehen, obwohl diese der Schule eher abgeneigt gegenüber stand: es wurden Landerziehungsheime geschaffen. Außerdem gibt es eine enge Verbindung mit der Kunsterziehungsbewegung und eine größere Gewichtung auf die musische Bildung gegenüber den intellektuellen und beruflich orientierten Bildungsvorstellungen der „alten“ Schule.
4. Die Bewegung „vom Kind aus“
Als Beginn der reformpädagogischen Strömungen kann die Bewegung „vom Kinde aus“ gesehen werden, die ein neues erzieherisches Denken in der Familie, sowie in der Schule anstrebte. Das Kind wurde hierbei zum Ausgangspunkt von Erziehung und Bildung, eine Orientierung, die ein kennzeichnendes Merkmal der gesamten Reformbewegung blieb.
Die Pädagogik vom Kinde aus wurde mit einem neueren Bild vom Kind begründet, das von der gängigen gesellschaftlichen Vorstellung abwich. Während es früher wenig Beachtung fand und es in der Erziehung allein wichtig war, das Kind in die Erwachsenenwelt einzugliedern, wird der Kindheit eine wichtigere Stellung eingeräumt: Sie wird nun als eine eigenständige Lebensphase anerkannt. Das Kind ist anders als der Erwachsene und hat seine eigene Welt mit eigenen Sichtweisen und Fragen, eigenen Werten und Erwartungen. Jedes Kind wird dabei als Individualität angesehen, die geachtet und akzeptiert werden muss. Auch wurde das Kind als grundsätzlich gut angesehen, im Gegensatz zur früheren Pädagogik, die im Kind etwas Böses, Egoistisches sah, dem man erzieherisch entgegen wirken muss.
Aus dieser neuen Sicht des Kindes ergaben sich Forderungen an die Erwachsenen und Erzieher: Sie sollten ihre bisherige überhöhte Position aufgeben und die Individualität und den Entwicklungsstand des Kindes in der Erziehung berücksichtigen. So wurde eine „negative Erziehung“ als entwicklungsfördernd betrachtet, die sich vor allem gegen das ständige Einwirken des Erziehers richtete. Das Kind soll stattdessen beobachtet, ergründet und verstanden werden und die gewonnenen Erkenntnisse werden dann zur Grundlage des erzieherischen Handelns gemacht. So setzte sich die Ansicht durch, dass im Kind schon alles wichtige zur Entwicklung angelegt ist, dass sich ein Prozess der Selbstbildung vollzieht, wenn man das Kind „wachsen lässt“[16], also in seine Entwicklung nicht eingreift. Es wird lediglich vor allen Einflüssen geschützt, die seine Entwicklung gefährden könnten. Es galt der Grundsatz: „Alle Kräfte werden gelöst, gepflegt und entwickelt.“[17] Der Lehrer ist dabei eine Kraft, die lösend wirkt, eine leichte Führung und Anregung gibt.
Daher wurde die „alte Schule“, wie sie genannt wurde, heftig kritisiert und eine grundlegende Erneuerung des Schulwesens angestrebt. Es ging um die Gesamtwirkung der Schule auf die Schüler, die physische und psychische Qualen zu erleiden hatten. Ellen Key sprach von „Seelenmorden in der Schule“[18] Die Schule galt unter den Kritikern als ein Ort mit Zwangscharakter. Besonders kritisch wendeten sich einige Vertreter, wie z.B. Ellen Key gegen die Prügelstrafe und gegen die Strafe überhaupt. Unter den Schlagwörtern der „Stoffschule“, „Buchschule“ und „Lernschule“ wurden weitere Aspekte kritisiert: Man sah sich einem Übermaß an zu bewältigenden Lehrstoff gegenüber – mit einem Stoff, welcher der Lebenswelt der Kinder fern und wenig zugänglich war. Auch wurde die Lernmethode der „Herbartianer“[19] kritisiert: diese Pädagogik bestand aus mechanischem Lernformen, wie z.B. dem Vorsprechen und Nachsagens. Von einigen Reformern wurde die Autorität an sich kritisiert und die Ideale und Werte in Frage gestellt.
Aus dieser Kritik ergab sich die Forderung nach einer zwanglosen, straffreien, lebendigen, einer „freien Schule“. Die Schule sollte neu konzipiert und von Grund auf reformiert werden, so dass neue Inhalte, Methoden und Organisationsformen angewendet werden. Kennzeichnende Merkmale dieser „neuen Schule“ waren Freiheit, die einerseits dem Kind gewährt wurde, um sich selbständig entwickeln zu können. Andererseits konnte damit die Lehrperson gemeint sein, die äußerlich frei und nicht zu engen Bestimmungen von Lehrplänen unterworfen und außerdem innerlich frei ist, um auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen zu können. Die Schule wurde außerdem als Lebensgemeinschaft organisiert sein, die durch eine persönliche, familiäre Atmosphäre und nahes Lehrer-Schüler-Verhältnis sowie einer Nähe zum Elternhaus gekennzeichnet ist. Der Unterricht sollte natürlich sein, d.h. den Interessen und Gedankengängen des Kindes folgen, anstatt Zwang auszuüben, so dass Themen, die vorher vermieden wurden, nun behandelt werden, insofern sie den Interessen des Kindes entsprechen. Eine aktive Beteiligung des Schülers und ein Unterricht vom Kinde aus, der die aktiven Kräfte der Kinder weckt und fördert, waren eine weiteres Merkmal.
Berthold Otto
Als bedeutendster Vertreter der Bewegung vom Kinde aus kann Bernhold Otto gesehen werden[20]. Einige seiner Ideen in der Unterrichtsgestaltung weisen Ähnlichkeiten zu Ansätzen Peter Petersens auf und werden daher vorgestellt.[21]
Berthold Otto fand als Hauslehrer und besonders als Leiter seinen eigenen „Hauslehrer-Schule“[22] viel Anerkennung. Die Grundlage seiner pädagogischen Erneuerungen aber auch politischen und volkswirtschaftliche Reformvorhaben war eine neue Art und Weise des Denkens, das „volksorganische Denken“[23].
Seine Einstellung zum Kind war geprägt von der Annahme, dass Pädagogik angewandte Psychologie sein muss; Grundlage war die psychologische Beobachtung des Kindes.[24] Die geistigen Entwicklungsprozesse sieht er als analog zum körperlichen Wachstum des Kindes, sie erfolgen somit von innen heraus; Otto spricht hier auch von einer ausgesprochenen geistigen Wachheit des Kindes sowie einem „erstaunlichen Drang nach Erkenntnis[25] “. Allerdings übertrug er das biologische Wachstum nicht gänzlich auf das geistige. Vielmehr vertritt er die Einstellung, dass sich jedes organische Wesen das heraussucht, was er zum Wachstum benötigt. Somit ist die geistige Entwicklung des Kindes ein aktiver Prozess. Um ein ideales Wachstum der Kinder zu erzielen, fordert Otto den „geistigen Verkehr mit Kindern“[26]. Dieser geistige Verkehr bildet und lehrt das Kind, sein Zentrum sieht er im täglichen Gespräch am Familientisch, aber auch in anderen tieferen und erklärenden Gesprächen zwischen Eltern und Kindern. Eine besondere Bedeutung misst Otto dabei der Kinderfrage zu, er sieht sie als Instrument des Kindes beim Streben nach Erkenntnis, und in ihr zeigen sich seine geistigen Interessen. In Ottos Pädagogik nimmt die Familie eine besondere Rolle ein und er geht so weit, dass er der Mutter wesentliche unterrichtliche Aufgaben übertragen möchte.
Die Schule sollte bei ihm eine Erweiterung der Familie darstellen, „sie sollte das leisten, was in einer Familie einem Hauslehrer, bzw. einem Mitglied der Familie als Hauslehrer zu tun aufgegeben ist. Daher nannte er seine Schule Hauslehrerschule.“[27] In seiner eigenen Schule wandte er eine Vielzahl pädagogischer Neuerungen an wie z. B. die Organisation der Schüler in Unter, Ober- und Mittelkurse und nicht in Klassen. Anstelle von Zeugnissen gab es alljährliche Charakterisierungen. Der Unterricht wurde in Form von Blockunterricht abgehalten und Teilnahme daran erfolgt auf freiwilliger Basis. Außerdem gab es Lehrplanfreiheit und die Interessen der Schüler bildeten die Grundlage des Unterrichts. Seine bedeutendste Schöpfung war der Gesamtunterricht, der drei- bis viermal pro Woche jeweils in der letzten Stunde stattfand und alle Schüler und Lehrer beteiligt waren. Persönliche Erlebnisse, Erfahrungen oder Sachfragen der Schüler wurden hier besprochen.
Mit vier pädagogischen Motiven begründet er seinen Gesamtunterricht:
1. Das Gespräch gilt als oberste Bildungsform.
2. Die Unterrichtsthematiken sollen ungefächert und ganzheitlich sein
3. Der Gesamtunterricht soll besonders zu Toleranz und gegenseitiger Verständigung erziehen
4. Schülermitverwaltung und Schülergerichte: In „Volksversammlungen“, die im Gesamtunterricht stattfinden, werden Gesetze verabschiedet, Regelverstöße behandelt usw.
Die Lernmethoden Ottos gründeten sich im Wesentlichen auf die „natürliche Methode“[28]: Lernen sollte natürlich stattfinden, indem auf die geistigen Bedürfnisse und auf die Auffassungsgabe des Kindes eingegangen wird. Die Schulfreudigkeit sah er als Motiv allen Lernens u. der Arbeit überhaupt. Das Spiel, der Wetteifer und das didaktische Prinzip der Isolierung von Schwierigkeiten sah er als Lernhilfen vor.
[...]
[1] Scheibe: 1.
[2] Nohl, Hermann: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, 1935
[3] Oelkers 1996: 15.
[4] Langebehns Werk hatte auch großen Einfluss auf die Kunsterziehungsbewegung
[5] Langbehn, Hier zitiert nach: Scheibe: 7.
[6] Vgl. Scheibe: 8-12.
[7] Nietzsche, hier zitiert nach: Scheibe 1994: 17.
[8] Ebd.
[9] Vgl. Ebd.
[10] Scheibe 1994: 18.
[11] Sein wichtigstes Werk hierzu: „Deutsche Schriften“ (1878).
[12] Vgl. Scheibe 1994: 22f.
[13] Scheibe 1994: 24.
[14] Ebd. 40.
[15] Man spricht auch von einer „Emanzipation der Jugend“, vgl. Frauenbewegung.
[16] Vergleich Samenkorn-Pflanze, so sei auch im Kind bereits sein späteres Sein enthalten, welches sich von seinem inneren Kräften heraus von selbst richtig entfaltet. Ein Prozess der Selbstbildung vollzieht sich, weil im Kinde schon alles angelegt ist und von selbst hervordrängt.
[17] Lottig, hier zitiert nach: Scheibe 1994: 65.
[18] Ellen Key, hier zitiert nach Scheibe 1994: 52.
[19] Herbart gilt als einer der bedeutendsten Mitbegründer neuzeitlicher Pädagogik. Er entwickelte eine komplexe Methodenlehre, die sogenannte Formalstufentheorie, nach der Schüler in ihrem Lernprozess bestimmte Stufen „emporsteigen“. An seine Pädagogik anknüpfend entwickelten die Herbartianer eine Schulpädagogik, die vor allem durch die vom Lehrer erteilten Unterweisung geprägt ist. Aus ihr sollte eine entsprechende Gesinnesbildung entstehen. Alle reformpädagogischen Strömungen richteten sich gegen diesen Unterricht und die Vernachlässigung der aufs Handeln gerichteten Aufgabe.
[20] Weiterhin Vertreter waren Ellen Key, Ludwig Gurlitt, Fritz Gansberg und Heinrich Scharrelmann sowie Maria Montessori.
[21] In der Auffassung „vom Kinde aus“ unterschieden sich jedoch grundlegend.
[22] Bernhard Otto unterrichtete seine Kinder selbst, anstatt sie auf eine öffentliche Schule zu schicken. Auch begann er, Kinder seiner Bekannten zu unterrichten. Der Schülerkreis wurde so groß, dass er 1906 seine eigene „Hauslehrer-Schule“ gründete, die Bernhard-Otto-Schule. Auch andere Volksschulen übernahmen seinen Unterrichtsstil. In Magdeburg wurde eine höhere Schule eröffnet, die nach seinen Prinzipien arbeitete.
[23] Vgl. Scheibe 1994: 85.
[24] Nach heutigem Sprachgebrauch würde man von einer pädagogischen Anthropologie sprechen. Vgl. Ebd. 86.
[25] Ebd. 87.
[26] Ebd. 89.
[27] Ebd. 90.
[28] Otto stützt sich hier auf den Begriff der Natürlichkeit, wie er bereits bei Rousseau zu finden ist. Die Natürlichkeit wurde zum Leitwort für die Kennzeichnungen der neuen Methoden der Erziehung und des Unterrichts.
- Citar trabajo
- Julia Hecht (Autor), 2009, Die reformpädagogische Bewegung unter besonderer Betrachtung Peter Petersens, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/137046
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