Diese Arbeit setzt sich mit dem literarischen Text "Du fährst zu oft nach Heidelberg" von Heinrich Böll aus dem Jahr 1977 auseinander. Hierbei wird vor allem eine erzähltheoretische Analyse nach der Kategorie "Zeit" vorgenommen. Dabei werden unterschiedliche Erzählelemente, aber auch die philosophischen und sozialen Implikationen von Bölls Geschichte näher untersucht. Orientiert wird sich hier an Gerard Genettes dreigliedrigem Erzähltextmodell, welches zu analytischen Zwecken herangezogen wird.
Inhalt
1. Einführung
2. Hintergrund der Erzählung
2.1 Der Autor Heinrich Böll
2.2 Zeithistorischer Hintergrund
3. Erzähltheoretische Analyse zur Kategorie „Zeit“
3.1 Ordnung
3.2Dauer
3.3 Frequenz
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einführung
Setzt man sich näher mit Literatur und Prosa auseinander, so kommt man nicht an Elementen der erzähltheoretischen Analyse vorbei. Diese ist ein Ansatz, welcher sich mit den zugrunde liegenden narrativen Elementen und Strukturen literarischer Texte befasst und darauf abzielt, deren Komplexität und Bedeutung zu entschlüsseln. Es handelt sich um ein interdisziplinäres Feld, welches auf Literaturtheorie, Narratologie und anderen verwandten Disziplinen basiert, um die komplexen Funktionsweisen von Erzählungen näher zu erforschen. Durch die Untersuchung der von Autoren verwendeten Erzähltechniken und zugrunde liegenden Mechanismen des Geschichtenerzählens versuchen Erzähltheoretiker zu verstehen, wie Geschichten genau konstruiert werden und wie sie unser Lese- als auch Weltverständnis prägen können. Im Kern geht es darum, dass erkannt wird, dass literarische Erzählungen nicht nur linear zu verstehen sind, sondern sich aus vielen unterschiedlichen komplexen Bedeutungssystemen zusammensetzen, die mithilfe spezifischer Techniken konstruiert werden. Dadurch soll es ermöglicht werden, die tieferen Schichten eines Textes aufzudecken. Neben den literarischen Bestandteilen, gehört das Erzählen auch als Form der Kommunikation, zu einem wichtigen und festen Bestandteil des Lebens.1 Damit eine Erzählung unter erzähltheoretischen Aspekten näher beleuchtet werden kann, sind drei wichtige Aspekte von Belang: der Modus oder auch die Darstellung, die Stimme und die Zeit.2 Wiederfinden lassen sich diese als wichtige Bestandteile innerhalb des Modells der Narratologie nach Genette. Hierbei unterteilt er in drei relevante Kategorien, nämlich die „histoire“, die „recit“ und die „narration“, die sich mithilfe der zuvor genannten Aspekte näher untersuchen lassen.3 Die Kategorie der „Zeit“, welche für diese Ausarbeit besonders relevant sein wird, findet sich zusammen mit dem Modus zwischen dem Bereich der „histoire“ und „recit“ wieder.
Ein Text, der sich besonders für eine solche erzähltheoretische Analyse der Kategorie „Zeit“ anbietet, wäre die 1977 erschienene Kurzgeschichte von Heinrich Böll mit dem Titel „Du fährst zu oft nach Heidelberg“. Durch eine solche Analyse soll untersucht und näher herausgearbeitet werden, wie Böll sprachliche und erzähltheoretische Elemente einsetzt, um die Kategorie der Zeit in seine Geschichte zu implementieren, sowie weitergehend auch, wie dies sich auf die Handlung und den Protagonisten dieser, sowie zusätzlich auch den Rezipienten, auswirkt. Neben der erzähltheoretischen Analyse sollte auch zu einem gewissen Grad eine thematische Analyse vorgenommen und für ein besseres Verständnis in den zeithistorischen Kontext eingeordnet werden. Dadurch soll es ermöglicht werden, ein tieferes Verständnis der philosophischen, psychologischen oder auch sozialen Implikationen von Bölls Geschichte zu gewinnen. Hierzu zählt auch eine Fokussierung auf vereinzelte Erzählelemente wie die Handlungsstruktur, Charaktere oder Thematiken, wodurch die komplexe Funktionsweise des Textes aufgedeckt werden soll. Dadurch soll auch die zuvor genannte Kategorie der „Zeit“ im Rahmen derNarratologie nähergehend erläutert werden können. Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass die erzähltheoretische Analyse durch den Aspekt „Zeit“ nicht nur eine nähere Analyse der Erzählstruktur bietet, sondern zusätzlich einen Rahmen für ein besseres Verständnis der narrativen Elemente und Strukturen in Bölls Text liefert. Dadurch sollen auch die tieferen Bedeutungen und Komplexitäten des Textes aufgedeckt werden, die sich auf die Thematik und den Protagonisten der Erzählung auswirken.
2. Hintergrund der Erzählung
2.1 Der Autor Heinrich Böll
Bevor es an den konkreten zeithistorischen Kontext und die eigentliche erzähltheoretische Analyse nach der Kategorie „Zeit“ geht, sollte ein kurzes Profil des Autors des Textes „Du fährst zu oft nach Heidelberg“ erstellt werden. Heinrich Böll wurde 1917 in Köln geboren und verstarb 1985 in Kreuzau-Langenbroich. Er war ein deutscher Autor, der sich oftmals mit sozialen und politischen Thematiken auseinandersetzte. Seine Arbeit verkörpert eine kritische und emphatische Perspektivierung auf das Deutschland der Nachkriegszeit und behandelt deshalb oftmals als Thematik die Folgen des Krieges, die Komplexität der menschlichen Natur und die moralischen Dilemmas der Gesellschaft.4 Demnach schildern Bölls Texte oft die Kämpfe und die Desillusionierung gewöhnlicher Menschen der Arbeiterklasse, die sich mit einer verändernden Welt konfrontiert sehen. Dies ist auch der Fall in dem in dieser Ausarbeit behandelten Text, worauf im weiteren Verlauf näher eingegangen wird. Anhand dessen wird auch deutlich, dass die Werke Bölls intraperspektivische und psychologisch komplexe Charaktere aufweisen, die in der Realität verankert sind. Der Schreibstil ist geprägt von scharfen Beobachtungen gesellschaftlicher Dynamiken, teilweise der ironischen Beobachtung dieser und die Fähigkeit, die menschliche Verfassung mit Einfühlungsvermögen und Sensibilität darzustellen. Zu Heinrich Bölls bekanntesten Werken zählen „Ansichten eines Clowns“, „Der Mann mit den Messern“ oder „Gruppenbild mit Dame“. Diese Auswahl an Werken macht besonders die Zugehörigkeit zum Stil der Trümmerliteratur deutlich, die als häufige Thematiken die Zerstörung der Stadt, Hunger, Not, sowie Heimkehr und Desillusionierung behandeln.5 All diese Punkte verdeutlichen, weshalb Bölls Literatur bis heute mit Lesern resoniert, da sie Einblicke in die menschliche Natur liefern und versuchen die Komplexität von Krieg und Gesellschaft, sowie dessen Folgen zu verstehen und zu verarbeiten.
2.2 Zeithistorischer Hintergrund
Nachdem sich nun näher mit dem Autor der Kurzgeschichte auseinandergesetzt wurde, gilt es nun den zeithistorischen Hintergrund, der für ein besseres Verständnis, wenn nicht das Grundverständnis der Handlung, benötigt wird. Bölls Kurzgeschichte „Du fährst zu oft nach Heidelberg“ gehört zu einem Sammelband mit dem gleichnamigen Titel, welcher insgesamt 18 Kurzgeschichten umfasst. Diese wurden teilweise ab 1974 veröffentlicht, der Text mit dem sich hier auseinandergesetzt wird allerdings erst im Jahr 1977. Die Handlung spielt sich im Deutschland in der Nachkriegszeit wieder, während das Land noch dabei ist sich von den Folgen des Krieges zu erholen. Die Bevölkerung, als auch Regierung Deutschlands fanden sich nach dem Krieg in einem Zustand der Erschütterung, sei es mental als auch physisch. Innerhalb dieses Geflechts findet sich der namenslose Protagonist Bölls. Infolge dieser gesellschaftlichen Veränderungen sah sich die Bevölkerung mit weiteren sozialen Dilemmas und Schwierigkeiten konfrontiert. Eine dieser Änderungen war die politische Stimmung der 1970er Jahre. Besonders zu nennen sind hier die Aktivitäten der extrem linken Bewegung. Die wahrscheinlich prägnantesten Beispiele sind die Baader-Meinhof Gruppe oder die Rote-Armee-Fraktion, auch als RAF bekannt, die das Nachkriegsdeutschland mit Anschlägen in einen nahezu paranoiden Zustand versetzten.6 Als Reaktion auf diese damaligen Ereignisse, ist besonders die faktuale, repressive Reaktion der damaligen Bundesrepublik Deutschland für Bölls Kurzgeschichte wichtig. Zu den unterdrückenden Maßnahmen gehörte auch der sogenannte Radikalenerlass, der alljene, die Verbindungen zu linken Organisationen hatten oder auch bereits nachweislich eine zu linke Gesinnung vertraten, von einigen Stellen des öffentlichen Dienstes ausgeschlossen wurden.7 Dazu gehörte somit auch, dass eine Person mit einem solchen Hintergrund, auch wenn es sich hierbei nur um vage Vermutungen handelte, nicht als Lehrkraft beim deutschen Staat eingestellt wurde. Dies betrifft nun vor allem den anonymen Protagonisten von Bölls Erzählung, der gerne als Lehrer arbeiten wollen würde und bereits kurz vor diesem Ziel steht.
Allerdings pflegt dieser Kontakt zu chilenischen Flüchtlingen, denen er regelmäßig in Heidelberg Nachhilfe gibt. Über einen dieser Chilenenliegt ein Bericht [...] vor, der nicht sehr günstig ist.“8 Was dies genau bedeutet, führt Böll nicht weiter aus, vielmehr bleibt dies dem Leser überlassen. Was dem Leser aber deutlich wird ist, dass diese Verbindungen zum Ausschluss des Protagonisten aus dem öffentlichen Dienst führen. Dadurch entstand letztendlich auch der Titel „Du fährst zu oft nach Heidelberg“, da alle Personen im näheren Umfeld der Hauptfigur in indirekt auf dieses aktuelle politische „Makel“ hinweisen und ihn so vor einem Ausschluss aus dem Lehrerberuf bewahren möchten. Da sich dieser allerdings dafür entscheidet weiter Nachhilfe in Heidelberg zu geben, ist er sich seines Schicksals zum Ende der Erzählung bewusst. Hierbei ist abschließend zu nennen, dass Böll als Hintergrund oder womöglich auch als Inspiration für diese Geschichte das politische Schicksal seines Freundes Klaus Staeck nutzte, der unter der kulturellen und politischen Zensur der damaligen Regierung zu leiden hatte.9 Somit lässt sich der Text nicht nur als Kritik des damaligen Radikalenerlasses, sondern auch der Zensur der Kunst oder auch der Literatur im weiteren Sinn verstehen und muss im Rahmen seiner damaligen, politischen Situation gelesen werden.
3. Erzähltheoretische Analyse zur Kategorie „Zeit“
Ist man sich nun der jeweiligen Hintergründe bewusst, sei es mit denen des Autors, als auch den zeithistorischen Aspekten, so lässt sich nun auf Basis dieser fundierten Grundlage die erzähltheoretische Analyse der Kategorie „Zeit“ durchführen. Hierbei wird sich an dem bereits erwähnten dreigliedrigen Erzähltextmodell von Gerard Genette orientiert, welches die „histoire“, „narration“ und „recit“ umfasst.10 Nebst den Unterpunkten Modus und Stimme findet sich als dritte Instanz auch die Zeit wieder, die für diese Ausarbeit durchgehend relevant bleiben wird. Diese beschreibt innerhalb der „recit“ entweder auf der einen Seite das Zusammenspiel von der Zeit der Erzählung beziehungsweise der Zeit des Geschehens, oder die Diskrepanz zwischen den Geschehnissen der sogenannten „histoire“, der Geschichte nach Genette, und der „recit“.11 Bevor es an die drei Unterpunkte der Kategorie der Zeit in Bölls Kurzgeschichte geht, sollte vielmehr vorweg die erzählte Zeit, als auch die Erzählzeit des Werks untersucht werden.
[...]
1 Vgl. Matías Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 26 ff.
2 Vgl. Gerard Genette: Die Erzählung: S. 16 ff.
3 Vgl. ebd., S. 16 ff.
4 Vgl. HelmutBemsmeier: HeinrichBöll, S. 18.
5 Vgl. HelmutBemsmeier: HeinrichBöll, S. 34 ff.
6 Vgl. Susanne Stöffel: Die Wechselwirkung von Terrorismus und innerer Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland der 70er Jahre, S. 22 ff.
7 Vgl. ebd., S. 5 ff.
8 Vgl. Heinrich Böll: Du fährst zu oft nach Heidelberg, S. 6.
9 William Webster: Heinrich Böll: Du fährst zu oft nach Heidelberg, S. 5.
10 Vgl. Gerard Genette: Die Erzählung: S. 16 ff.
11 Vgl.ebd.,S. 16ff.
- Citar trabajo
- Jonas Kandylakis (Autor), 2023, Erzähltheoretische Analyse nach der Kategorie "Zeit" anhand von Heinrich Bölls "Du fährst zu oft nach Heidelberg", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1367413
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