Ziel dieser Arbeit ist die inhaltliche Erarbeitung und vergleichende Gegenüberstellung von unterschiedlichen Konzepten der Dingtheorie bezugnehmend auf die Frage: Wie wirken die Dinge? Unter dem Gesichtspunkt der Komplementarität, der sich sowohl auf die zugrundeliegende erkenntnistheoretische Haltung bezieht, als auch auf ausgewählte Aspekte der Wechselwirkung in den Beziehungen zwischen Menschen und Dingen, wird der Versuch unternommen, einem ganzheitlichen, widerspruchsfreien Verständnis für das Verhältnis von Mensch und Ding näherzukommen.
Dinge sind allgegenwärtig. Ihr Vorhandensein bestimmt unser Denken und Handeln immerzu und auf ganz selbstverständliche Weise. Dinge ermöglichen, das Leben in gewohnter Weise zu leben, ständig richten wir unsere Aufmerksamkeit auf Dinge. Unser Sicherheitsgefühl, Wohlbefinden und unser Selbstwert hängen ganz entscheidend von Dingen ab, die wir besitzen oder besitzen wollen, das Gefühl der Freiheit ebenso. Dinge machen uns zu dem, was wir sind, sie konstituieren auf vielfältige Weise unsere Identität. Dinge in ihrer Verfügbarkeit und Nichtverfügbarkeit sind ein, wenn nicht der maßgebliche Faktor menschlicher Sinngebung und stehen daher auch nicht zufällig nach wie vor im Zentrum philosophischer Reflexion.
Zumeist werden die Dinge jedoch als Gegenüber thematisiert, als verfügbares Inventar der Umwelt, was ja zweifellos auch zutrifft. Allerdings wird das Wesentliche, nämlich die Wechselwirkung zwischen Menschen und Dingen, oft übersehen und wenig konkret erforscht.
Die Soziologie beschäftigt sich mit sozialem Verhalten und untersucht die Voraussetzungen, Abläufe und Folgen des Zusammenlebens von Menschen. Auch hier scheinen Dinge kaum Berücksichtigung zu finden. Der Umstand, dass Verhalten so gut wie immer auch dingbedingt ist, bleibt zumeist außen vor. Auch in der Psychologie ist es nicht viel anders.
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Kultur und Materielle Kultur
Allgemeine Dingbegriffe
Ding und Sache
Gerät und Werkzeug
Gegenstand und Objekt
Ding, Werk und Zeug bei Martin Heidegger
Zur Komplementarität von Mensch und Ding
Warum Komplementarität?
Aspekte des Wahrnehmens der ‚Ding-Welt‘
Die Theorie der Angebote von James J. Gibson
Aspekte ‚ding-vermittelter‘ Bedeutung
Dingbeseelung und Dingbedeutsamkeit nach Karl-Sigismund Kramer
Dingbeseelung nach Otto Höfler
Dingbeseelung in der Deutung von Karl-S. Kramer
Stoffheiligkeit und Gestaltheiligkeit nach Leopold Schmidt
Stoffheiligkeit und Gestaltheiligkeit in der Deutung von
Karl-S. Kramer
Dingbedeutsamkeit nach Karl-S. Kramer
Resümee
Aspekte ‚ding-orientierter‘ Aufmerksamkeit und Intention
‚Der Sinn der Dinge‘ von Mihaly Csíkszentmihályi u. Eugene
Rochberg-Halton
Exkurs in die Psychologie: Woher kommt das ‚Wollen‘?
Aspekte der Zeichenhaftigkeit von Dingen
Dinge als Zeichen
Die Theorie der Bedeutung von Lady Welby
Die Theorie der Zeichen von Charles S. Peirce
Aspekte ‚ding-bedingter‘ Wertzuschreibung
Exkurs: Der ‚ materielle ‘ Wert von Dingen
Dinge als Semiophoren nach Krzysztof Pomian
Die Schaffung und Vernichtung von Werten nach Michael Thompson
Exkurs: Die Theorie des additionalen Elements von Kasimir
Malewitsch
Aspekte ‚dinglicher‘ und ‚ding-vermittelter‘ Handlungsweisen
Dinge als Akteure nach Bruno Latour
Resümee und Ausblick
Quellenverzeichnis
Abbildungverzeichnis
Abstract
Ziel dieser Arbeit ist die inhaltliche Erarbeitung und vergleichende Gegenüberstellung von unterschiedlichen Konzepten der Dingtheorie bezugnehmend auf die Frage: Wie wirken die Dinge?
Unter dem Gesichtspunkt der Komplementarität, der sich sowohl auf die zugrundeliegende erkenntnistheoretische Haltung bezieht, als auch auf ausgewählte Aspekte der Wechselwirkung in den Beziehungen zwischen Menschen und Dingen, wird der Versuch unternommen, einem ganzheitlichen, widerspruchsfreien Verständnis für das Verhältnis von Mensch und Ding näherzukommen.
Schlüsselwörter: Ding, Dingtheorie, Mensch-Ding-Beziehung, Komplementarität
The aim of this Master's thesis is to elaborate and compare the content of different concepts of thing theory with reference to the question: How do things work/act ?
In a complementary approach, which refers both to the underlying epistemological stance and to selected aspects of interacting relationships between humans and things, an attempt is made to come closer to a holistic, non-contradictory understanding of the relationship between humans and things.
Keywords: Things, Thing theory, Human-Thing Relation, Complementarity
Wenn die Zukunft konkret und individuell existierte, als etwas, das einem überlegenen Hirn erkennbar wäre, dann vielleicht wäre die Vergangenheit nicht so verlockend: Ihre Ansprüche würden von denen der Zukunft aufgewogen. Jede Person könnte dann mit gespreizten Beinen auf dem Mittelteil der Wippe stehen und kippeln, um diesen oder jenen Gegenstand in Augenschein zu nehmen. Es könnte Spaß machen. Doch die Zukunft hat keine solche Realität (wie sie die erinnerte Vergangenheit und die wahrgenommene Gegenwart besitzen); die Zukunft ist nur eine Redensart, ein Gedankenphantom. [...]
Wenn wir uns auf einen materiellen Gegenstand konzentrieren, wo auch immer er sich befindet, so kann der bloße Akt der Aufmerksamkeit dazu führen, dass wir unwillkürlich in die Geschichte dieses Gegenstands versinken. Anfänger müssen lernen, über die Materie dahinzugleiten, wollen sie genau auf der Höhe des Augenblicks bleiben. Durchsichtige Dinge, durch welche die Vergangenheit schimmert!
Bei Gegenständen, egal ob Werk des Menschen oder Werk der Natur, die in sich starr, doch vom gedankenlosen Leben stark frequentiert worden sind (es ließe sich, und das durchaus mit Recht, an einen Stein auf einem Hang denken, über den im Laufe unzähliger Jahreszeiten eine Vielzahl kleiner Tiere gekrabbelt sind), lässt sich die Oberfläche besonders schwer scharf im Blick behalten: Anfänger fallen glücklich vor sich hin summend durch die Oberfläche hindurch und vergnügen sich alsbald mit kindlicher Hingabe an der Geschichte des Steins, jener Heide. Ich erkläre es noch. Ein dünner falscher Glanz unmittelbarer Realität breitet sich über die natürliche und künstliche Materie, und wer in der Gegenwart, bei der Gegenwart, auf der Gegenwart zu bleiben wünscht, der sollte ihre Spannungsschicht besser nicht beschädigen. Sonst nämlich wird der unerfahrene Wundermann feststellen, dass er nicht länger auf dem Wasser wandelt, sondern aufrecht inmitten starrender Fische versinkt. Gleich mehr. (Nabokov 1980, S 7f)
Vorwort
Es gibt Fragen, die entziehen sich ihrer Beantwortung, wie die Quadratur des Kreises ihrer geometrischen Lösung. Die Frage ‚Wie wirken die Dinge?‘ ist so eine Frage und ihr gilt hier mein Erkenntnisinteresse. Nachdem ich mich über einen längeren Zeitraum gedanklich mit den Dingen beschäftigt habe, wird mir zunehmend klar, dass ein absolutes Verständnis der Dinge nur schwer erreichbar sein wird, kein Grund aber, es nicht trotzdem zu versuchen.
Ausgehend von den Vorsokratikern habe ich in den letzten Monaten eine Gedankenreise durch die Philosophiegeschichte unternommen, um schließlich in den Verstrickungen der Sprachphilosophie und den Paradoxien der Quantenphysik hängenzubleiben. Es wäre vielleicht klüger und produktiver, den Wunsch, die Dinge verstehen zu wollen, aufzugeben und ihre Nichtverstehbarkeit auf meditative Weise zu ergründen. Das fällt allerdings schwer, denn mein Denken versucht bei jeder Gelegenheit, diesen Vorsatz zu unterwandern.
Das Dilemma an der Frage ‚Wie wirken die Dinge?‘ ist, dass sie scheinbar nur gemeinsam mit der Frage ‚Wie erzeugt Wahrnehmung Bewusstsein? ‘ beantwortet werden kann. Das ist „The hard problem of consciousness“ (Chalmers 1995), wie es der Sprachphilosoph David Chalmers bezeichnet. Aber muss diese Frage nach dem Bewusstsein überhaupt gestellt werden?
Ich muss mir diese Frage nicht stellen, denn wenn ich davon ausgehe, dass die materiellen Dinge real sind, kann ich ebenso gut davon ausgehen, dass mein Bewusstsein real ist und mit meinen Wahrnehmungen übereinstimmt. Wenn ich den Satz formuliere ‚Ich bin mein Bewusstsein’, dann bin ich das, was ich wahrnehme. Daraus folgt: Meine Wahrnehmung ist mein Bewusstsein. Nur selten kam mir eine Aussage gleichzeitig so logisch und intuitiv wahr vor. Von dieser Prämisse kann ich also guten Gewissens ausgehen.
Eine kulturwissenschaftliche Masterarbeit ist aber keine philosophische Abhandlung. Sie muss spezifischen akademischen Kriterien entsprechen und sich nachvollziehbar und systematisch auf vorhandene Quellen beziehen. Das interdisziplinäre Forschungsfeld der Materiellen Kultur bietet dennoch reichlich Spielraum für philosophische Überlegungen.
Während der Recherchen, Gedankenspiele und Kritzeleien im Vorfeld hat sich ein Modell herauskristallisiert, das ich lediglich als Hilfskonstruktion verstehe, sozusagen als Teil einer persönlichen ‚Theory of Everything‘. Ich wollte mich vom Dingbegriff lösen, weil er eine negative Konnotation in der Anwendung auf Lebewesen hat. Die Eigenschaft stand mir beim Verstehen gewisser Texte wie z. B. Latours Akteur-Netzwerk-Theorie gedanklich im Weg.
Was ist ein Ding im weitesten Sinn? Wovon kann man gesichert ausgehen? Mit diesen Fragen machte ich mich auf die Suche nach einem Synonym für Ding, das frei von negativen Bewertungen und vollkommen bedeutungsoffen sein sollte. Die erste Idee war ‚ein Ganzes‘, das erschien mir in der Anwendung sprachlich problematisch und etwas zu esoterisch. Mit der Übersetzung ins Englische entdeckte ich den Begriff ‚Entity‘ der eine Vielzahl von Bedeutungen trägt, die jeweils von unterschiedlichen Kontexten abhängen, z. B. Einheit, Singularität, Wesen, Gebilde, Dasein, ein Ganzes und nicht zuletzt – Ding. Für brauchbar befunden, legte ich meinen vorläufigen Ersatzbegriff mit der Rückübersetzung ins Deutsche fest. Er lautet Entität. So wurde aus der Theory of Everything eine Theorie der Entitäten, die ich kurz vorstellen möchte, da sich aus diesem vorläufigen Verständnis heraus meine gedankliche Herangehensweise an diese Masterarbeit entwickeln wird.
Entitäten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Entität ohne Bewusstsein [EOB]M Gegenstände der Wahrnehmung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Entität mit Bewusstsein [EMB] Wahrnehmung des Gegenständlichen
Man kann zwischen Entitäten ohne Bewusstsein und Entitäten mit Bewusstsein unterscheiden. Ich gehöre zur zweiten Gruppe, ebenso mein Hund. Die entscheidenden Unterschiede zwischen mir und ihm – meinem und seinem Bewusstsein – sind, dass er sich über sich selbst vermutlich kaum Gedanken macht und nicht in meiner Sprache spricht. Seine Interessen sind eher beschränkt. Dennoch verstehen wir uns: Ich durchschaue ihn und er mich.
Der Baum vor meinem Fenster optimiert seine Existenz zwar auch aus eigenem Antrieb, was ihn zweifellos von toten Dingen unterscheidet, aber ein Bewusstsein anzunehmen, scheint auf den ersten Blick abwegig. Bei näherer Betrachtung und Nachfühlung kann ich aber auch dem Baum ein strukturell anderes, baumhaftes Bewusstsein nicht absprechen. Meine Wahrnehmung stützt diese Annahme, denn oft genug schon hatte ich das Gefühl, dass die Pflanzen in meinem Garten mitunter auf subtile Weise mit mir kommunizieren.
Die Kaffeetasse auf meinem Schreibtisch ist eindeutig eine Entität ohne Bewusstsein, so wie alle materiellen Dinge in meinem Blickfeld. Dennoch kommuniziert auch meine Kaffeetasse mit mir. Ich verwende immer diese eine Kaffeetasse. Ihre Anwesenheit trägt zu meinem Wohlbefinden bei, wenn ich vor dem Bildschirm sitze und schreibe. Einmal ermuntert sie mich, doch noch angestrengter nachzudenken, ein anderes Mal schlägt sie vor, mir eine Pause zu gönnen. Meine Kaffeetasse und ich haben eine lange gemeinsame, sehr persönliche Erfolgs- und Leidensgeschichte. Um diese Art von Kommunikation oder Beziehung, wird es gehen.
Allgemein lässt sich über beide Arten von Entitäten sagen, dass sie materiell sind, durch ihre Existenz realen Raum erzeugen, über physikalische Kräfte, thermische Energie und Licht wechselwirken und mit sprachlichen Begriffen bezeichnet werden können.
Wenn Bewusstsein Wahrnehmung ist, stellen sich die Fragen, wie das Denken zu verstehen ist, welche Rolle die Sprache spielt und wie sich Denken und Sprache im Bewusstsein verorten. Der Rechtsphilosoph Peter Strasser deutet es ironisch an: „Zuerst machen die Leute Begriffe, und dann machen die Begriffe Leute.“ (Strasser 2013, S 71)
Naheliegend ist, das Denken als eine Fähigkeit des Bewusstseins aufzufassen, Sprache als eine Methode zur Umsetzung dieser Fähigkeit sowie als praktisches Verständigungsmittel im Alltag. Grafisch lässt sich das für Entitäten näherungsweise darstellen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Fühlen, Denken, Handeln
Die Operationen des Denkens finden im Bewusstsein statt. Vorstellungen sind das Denkinventar, die Elemente der Sprache sind Instrumente zur Vermittlung und Speicherung von Gedanken, als kausale Verbindungen von Vorstellungen. Die Fähigkeit zu Denken reicht aber nicht aus, um konkretes Handeln, Wollen oder Denken zu begründen. Dazu braucht es Intentionen, welche sich aus der Verbindung von Gedanken mit Gefühlen, Affekten und Instinkten temporär ergeben.
Gefühle und Gedanken beeinflussen die Wahrnehmung – sie verändern das Bewusstsein. Intentionen, die in Sprache, Handlungen und die Produktion von neuen Dingen umgesetzt werden, verursachen Reaktionen und Ereignisse in der Umwelt, die ihrerseits – sofort oder verzögert ins Bewusstsein treten.
Das Fühlen ist nicht wie das Denken eine Fähigkeit, sondern eher ein temporärer Zustand des Bewusstseins. Gefühlszustände können auch erinnert werden. Gefühle lassen sich zwar begrifflich erfassen, aber nicht als abstrakte Vorstellungen vom Bewusstsein ablösen. Sie sind oft an Vorstellungen und Dinge gebunden. Begriffe, die aus einer Subsummierung vergangener Gefühlszustände hervorgehen, wie z. B. Glück, Liebe, Angst, etc. sind leere Abstraktionen. Unter diesen Annahmen lässt sich behaupten, dass Bewusstsein und Umwelt sich systematisch wechselwirkend hervorbringen. Es gibt einen dynamisch ontologischen Zusammenhang von vorhandenen Dingen, Lebewesen, ihren Sinn- und Bedeutungskonstitutionen und dem Raum (Umwelt), den sie durch ihr Vorhandensein erzeugen und gestalten. Dieser Zusammenhang wäre rekonstruierbar und vorhersagbar – gäbe es den Zufall nicht. Wie das allerdings funktioniert, ist damit natürlich nicht beantwortet. Die Suche nach möglichen Antworten ist Gegenstand dieser Masterarbeit.
Sprache
Sieht man von graphischen Darstellungen ab, erfolgt die Vermittlung meiner Überlegungen durch Sprache. In den Begriffen, Formulierungen und Strukturen der Sprache verbergen sich jedoch Vorannahmen, die das Denken unbemerkt leiten. Zum Beispiel konnotiert die Substantivierung von Verben eine scheinbare Gegenständlichkeit und bewirkt eine Distanzierung und Entfremdung von den Handlungsträgern, was insbesondere dann ein Problem ist, wenn es sich dabei um Lebewesen handelt. Die Substantivierung von Verben verzerrt den Blick auf die tatsächlichen Beziehungen und Vermittlungen zwischen Entitäten. Es ist ein qualitativer Unterschied, ob ich über die Wirkung der Dinge nachdenke oder darüber, ob und wie sie wirken. Ein Beispiel: Dass eine Kopfwehtablette wirken kann, wird wohl kaum jemand bezweifeln. Die Behauptung, dass auch Besen wirken können, wird hingegen von den meisten zurückgewiesen werden. Aber sowohl die Kopfwehtablette, als auch der Besen entfalten ihre Wirkungen nur in der Wechselwirkung mit ihren Anwender*innen. Was in der Anwendung einer Kopfwehtablette unhinterfragt als Wirkung hingenommen wird, weil man die biochemischen Vorgänge des eigenen Körpers automatisch ausblendet, wird dem Besen mit der ebenso unhinterfragten Annahme, dass nicht der Besen kehrt, sondern der Mensch, vorenthalten. Das alte Sprichwort ‚Neue Besen kehren gut.‘ weist den Besen hingegen als den Handlungsträger aus, der er tatsächlich auch ist. Es kommt in beiden Fällen auf die Kooperation der beteiligten Entitäten an.
Es gibt auch Sätze, die den Anschein erwecken, neutrale Aussagen zu sein, bei deren näherer Betrachtung Vorannahmen, Werturteile und Imperative zum Vorschein kommen. Das macht es erforderlich, die Strukturen der verwendeten Sprache und ihr Vokabular in den Texten hinsichtlich möglicher Implikationen zu reflektieren.
Ich habe diese gedanklichen Grundlegungen nicht zufällig im Vorwort verortet. Es war mir wichtig, sie als vorläufigen Umriss meiner Vorannahmen so knapp als möglich darzustellen. Für diese Masterarbeit sind sie nur indirekt von Bedeutung.
Einleitung
Dinge sind allgegenwärtig. Ihr Vorhandensein bestimmt unser Denken und Handeln immerzu und auf ganz selbstverständliche Weise. Dinge ermöglichen, das Leben in gewohnter Weise zu leben, ständig richten wir unsere Aufmerksamkeit auf Dinge. Unser Sicherheitsgefühl, Wohlbefinden und unser Selbstwert hängen ganz entscheidend von Dingen ab, die wir besitzen oder besitzen wollen, das Gefühl der Freiheit ebenso. Dinge machen uns zu dem, was wir sind, sie konstituieren auf vielfältige Weise unsere Identität. Dinge in ihrer Verfügbarkeit und Nichtverfügbarkeit sind ein, wenn nicht der maßgebliche Faktor menschlicher Sinngebung und stehen daher auch nicht zufällig nach wie vor im Zentrum philosophischer Reflexion.
Zumeist werden die Dinge jedoch als Gegenüber thematisiert, als verfügbares Inventar der Umwelt, was ja zweifellos auch zutrifft. Allerdings wird das Wesentliche, nämlich die Wechselwirkung zwischen Menschen und Dingen, oft übersehen und wenig konkret erforscht. (Vgl. Korff 2005, S 29ff)
Die Soziologie beschäftigt sich mit sozialem Verhalten und untersucht die Voraussetzungen, Abläufe und Folgen des Zusammenlebens von Menschen. Auch hier scheinen Dinge kaum Berücksichtigung zu finden. Der Umstand, dass Verhalten so gut wie immer auch dingbedingt ist, bleibt zumeist außen vor. Auch in der Psychologie ist es nicht viel anders.
In den Natur- und Technikwissenschaften richtet sich der Blick hingegen fast immer nur auf die Erforschung vorhandener Dinge sowie die Erfindung und Produktion von immer komplexeren, neuen Dingen, die das Leben einfacher, angenehmer, sinnvoller, sicherer und effizienter machen und immer mehr Kontrolle verheißen sollen. Die Faszination für die Technik macht blind für fragwürdige Sinnhaftigkeiten und mögliche Implikationen der Dinge. Soziale und zwischenmenschliche Aspekte der Dingnutzung finden in den Technik- und Naturwissenschaften oft nur Beachtung, wenn es unvermeidbar ist oder strategischen und wirtschaftlichen Interessen dient. Bedürfnisse werden nach allen Regeln der Manipulationskunst erzeugt und in vermarktbare Dinge umgesetzt, angeblich auf Wunsch und zum Wohle der Konsument*innen. Alles was irgendwie vorstellbar und denkbar ist, muss fast zwanghaft realisiert werden. Schneller denn je werden neue Dinge ganz selbstverständlich in die Realität geworfen und kritiklos integriert, ungeachtet ihrer Wirkungen und Folgewirkungen. Unsere Abhängigkeit von Dingen ist gigantisch. Schon 1915 hat Ernst Mach in ‚Kultur und Mechanik‘ auf diese Abhängigkeit verwiesen:
„Stellen wir uns nur einmal vor, es würde im Laufe einer Nacht der ganze Besitz verloren gehen: Wissen, Kenntnisse, Erfahrungen wären ja geblieben, aber jede Verbindung von gestern auf heute fehlte, nichts, absolut nichts wäre da – wir wären in bitterster Notlage! Müssten wir nicht da, wie einst zur Kinderzeit, uns den Hammer aus einem Stein improvisieren, und wären wir nicht trotz unserer Kenntnis in einem Ring trostloser Verlegenheiten? Wir müssten von Anfang beginnen! [...] Mit unserer Holzschraube in der Hand würden wir, trotz des ungeheuren Vorsprunges, den die genaue Kenntnis alles dessen, was wir zielbewusst und programmmäßig nacheinander zu tun haben, uns auch gewährte, nun die durch keinerlei Witz oder Kniff zu überbrückende reale und unerbittliche Kontinuitätsforderung sehen, die zwischen dem primitiven Anfang, der Steigerung, der Verfeinerung und endlichen Vollendung liegt. Maschine müssten wir auf Maschine bauen, in langer, lückenloser Kette, eine die andere vervollkommnend und ergänzend, jede müsste eine gewisse Zeit arbeiten und produzieren, um ihren Platz in dieser Kette ausfüllend die Erreichung des Endzieles herbeizuführen.“ (Mach 1915, S 84f)
Ein solches Szenario wirft in der Tat interessante Fragen auf. Mach ist überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, den Status quo des aktuellen Kulturzustandes wieder herzustellen. Aber wäre das wirklich so? Wären nicht die Voraussetzungen so grundlegend andere, dass es geradezu unmöglich wäre, dort irgendwann wieder anzukommen, wo man einmal war?
Und wäre das überhaupt erstrebenswert? Stünde nicht am Anfang einer solchen Neuentwickelung der Dinge neben der Frage des Überlebens auch die Frage, wie zukünftig Mensch-Ding-Beziehungen nachhaltig sinnvoll gestaltet werden können? Stünde im Rückblick auf die verlorene Vergangenheit nicht die Frage an, welche Dinge überhaupt wieder entwickelt werden sollten ?
Die Komplementarität von Mensch und Ding ist offensichtlich, doch schwer zu erfassen und noch schwerer zu beschreiben: Welche Wechselwirkungen existieren zwischen Dingen und Menschen? Kann man diese Wechselwirkung als Mechanismus oder modellhaft darstellen? Kann man sie so darstellen, dass daraus resultierendes Wissen effektiv Einfluss auf die Dingproduktion und den Dinggebrauch im Sinne einer ethisch vertretbaren, ökologisch nachhaltigen, kulturellen Entwicklung nehmen kann?
Es sind einerseits gewachsene Strukturen und Beziehungen, die sich in Dingpräsenz, Dinggebrauch und Dingbesitz äußern, andererseits entstehen immerzu und unkontrollierbar neue Dinge, Beziehungen und Umgangsformen, die Welt und Menschen verändern. Auch die Beziehungen zwischen Menschen und Menschen erweisen sich bei genauerer Betrachtung sehr häufig durch Dinge vermittelt. Es ist so gesehen kein Zufall, dass das Mensch-Ding-Verhältnis zunehmend Beachtung findet und aufgrund der Wahrnehmung beunruhigender Veränderungen in Umwelt und Gesellschaft auch eine existenzielle Notwendigkeit zu sein scheint.
Das Verhältnis von Mensch und Ding wurde in unterschiedlichen theoretischen Ansätzen herausgestellt und zu erfassen versucht. Am weitesten in diese Richtung gehen Konzepte, die Dinge als dem Menschen ebenbürtige Akteure in Netzwerken bzw. Handlungssystemen begreifen, wie z. B. die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bruno Latour.
Solche Beschreibungen könnten jedenfalls dazu beitragen, durch das Sichtbarmachen von Zusammenhängen das Ausmaß unserer Abhängigkeit und die Konsequenzen unserer Handlungsweisen zu erkennen und zu reflektieren, was die Voraussetzung für eine Neubewertung im Umgang mit gewohnten Dingen sein dürfte.
Ziel dieser Masterarbeit ist in erster Linie der persönliche Erkenntnisgewinn durch die Erarbeitung von ausgewählten Konzepten der Dingtheorie aus den Bereichen Volkskunde/Ethnologie, Psychologie, Soziologie und Philosophie in Bezug auf die Komplementarität von Mensch und Ding.
Methodisch handelt es sich um eine Literaturarbeit. Einer allgemeinen Bezugnahme auf die Begriffe Kultur und Materielle Kultur folgt ein Überblick über verbreitete Begriffe und Definitionen der Materiellen Kultur. Anschließend werden ausgewählte Konzepte der Dingtheorie, bezogen auf die Forschungsfrage ‚Wie wirken die Dinge‘? anhand von Primärliteratur erarbeitet und wesentliche Aspekte und Leitgedanken herausgestellt.
Auf Basis der gewonnenen Einsichten soll eine vergleichende Gegenüberstellung der Konzepte vorgenommen werden, die sich an Fragen nach Unterschieden, Gemeinsamkeiten und Analogien orientiert. Die Diskussion der Ergebnisse erfolgt unter Einbindung von Sekundärliteratur. In einem abschließenden Resümee wird eine Erkenntnisbilanz gezogen und die Ergebnisse in Bezug auf eigene Vorannahmen reflektiert.
Kultur und Materielle Kultur
Kultur
Kultur ist ein Wort, das im Alltag, vor allen in den Medien, sehr geläufig ist und den Anschein erweckt, als bezeichne es etwas Konkretes. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Ethnologen Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn veröffentlichten 1952 ein Buch mit dem Titel ‚Culture. A Critical Review of Concepts And Definitions‘, in dem sie auf 217 Seiten 175 bis dato differenzierbare Konzepte und Definitionen des Kulturbegriffs vorstellten. (Vgl. Linska 2001, S 2) Die Vielzahl wird nach Definitions-Typen und Schwerpunkten gelistet. Schon der erste Satz der Einleitung zum Part II: Definitions lässt die Komplexität von Kultur und die Abstraktheit des Begriffs erahnen:
„It is impossible, without an enormous number of categories and great artificiality, to group definitions of culture with complete consistency.“ (Kroeber/Kluckhohn 1952, S 41)
Kroeber und Kluckhohn unterscheiden zwischen aufzählend-deskriptiven, historischen, normativen, psychologischen, strukturellen und genetischen Kulturdefinitionen, die ihrerseits nach Schwerpunkten untergliedert werden: Ideale und Werte, Verhalten, Regelbezogenheit, Anpassung im Sinne von Kultur als Problem-Solving-Device, Traditionen, Lernen, Gewohnheiten, Ideen, Symbole sowie die Abgrenzung zu allem, was Kultur nicht ist. (Vgl. Kroeber/Kluckhohn 1952, S 40)
Seit dem Erscheinen dieser Abhandlung sind noch zahlreiche Konzepte und Definitionen dazugekommen. (Vgl. Linska 2001, S 2) Wie die beiden Autoren in ihrem Werk eindrücklich vermitteln, erzwingt die Frage ‚Was ist Kultur?‘ notwendigerweise einige Spezifizierungen: Wer versteht was wann und in welchem Kontext unter Kultur und welche Absichten stecken dahinter?
Im gegenwärtigen alltäglichen Sprachgebrauch taucht der Begriff Kultur oft im Zusammenhang mit dem Begriff Kunst auf. Das Begriffspaar Kunst&Kultur steht dabei im Wesentlichen für die Gesamtheit aller Angebote und Aktivitäten, die der Unterhaltung und Bildung dienen. Auch wird Kultur im Sinne von Bildung und Kultiviertheit nach wie vor zur Distinktion und Bewertung herangezogen: Kultur hat man, oder auch nicht. (Vgl. Beer/Fischer 2012, S 54)
Das Alltagsverständnis von Kultur geht im Allgemeinen über zweckdienliche, rudimentäre Interpretationen von relativistischen Kulturdefinitionen nicht hinaus. Kultur wird landläufig als etwas Spezifisches gedeutet, das sich auf bestimmte Gruppen von Menschen, äußerliche Merkmale wie Kleidung und Dingbesitz, Handlungsweisen, Sprache und Sprachgebrauch oder Abstammung bezieht, als etwas, das sich in Kulturkreisen realisiert, die man einander gegenüberstellen, miteinander vergleichen und bewerten kann. Hinzu kommt, dass kultureller Wandel als linearer Entwicklungsprozess imaginiert wird, welcher darin besteht, dass kohärente Gruppen von Menschen die Stufen des Fortschritts kollektiv emporklettern, um – besser früher als später – auf der vermeintlich höchsten Stufe der Kulturentwicklung im Hier und Jetzt der westlichen Kultur mit ihren gesellschaftlichen und technischen Errungenschaften anzukommen. (Vgl. Hahn 2013, S 22) An diesem allgemeinen Kulturverständnis ist problematisch, dass es unter Einbindung von unreflektierten Bewertungen dem Missbrauch des Begriffs Kultur als ideologischem Kampfbegriff im Sinne eines kulturellen Rassismus Vorschub leistet. (Vgl. Beer/Fischer 2012, S 54)
Im wissenschaftlichen Gebrauch steht der Begriff Kultur für eine Vielzahl unterschiedlicher Auffassungen, die entweder idealistischen oder materialistischen Denkrichtungen zugerechnet werden können. Gemeinsame Grundannahmen aller sind zum Beispiel, dass kulturelles Verhalten und Wissen erlernt ist sowie Kultur überindividuell und nicht völlig homogen ist. Kultur wird sowohl als Prozess wie auch als strukturierte Gesamtheit aufgefasst, deren Grenzen nicht eindeutig bestimmbar sind. (Vgl. Beer/Fischer 2012, S 55-57)
Materielle Kultur
Bei der Lektüre von ‚Culture. A Critical Review of Concepts And Definitions‘ fällt schnell auf, dass den materiellen Dingen und ihrem Wirken in den Konzepten generell wenig bis keine besondere Aufmerksamkeit zuteilwird. Die Dinge – könnte man meinen – waren lange Zeit ‚der Wald, den man vor lauter Bäumen nicht gesehen hat‘. Kroeber und Kluckhohn verweisen auch auf diesen Umstand in einem Kommentar zu den genetischen Kulturdefinitionen. Bezugnehmend auf F-III: Emphasis on Ideas merken sie an:
„While this concept seems unnecessarily restricted, it does aim at what certain authors have thought cardinal. The underlying point is often expressed in conversation somewhat as follows: Strictly speaking. there is no such thing as ‘material culture’. A pot is not culture – what is culture is the idea behind the artifact.“ (Kroeber/Kluckhohn 1952, S 67)
Materielle Kultur in einen Gegensatz zu immaterieller Kultur zu stellen, macht keinen Sinn. Die Dinge wären in ihrem Schweigen lediglich präsent. Man könnte bestenfalls feststellen, dass sie da sind und ihr Erscheinungsbild und ihre Funktionen beschreiben. Materielle Kultur bedeutet daher, den umgekehrten Weg zu gehen, die Dinge im unverzichtbaren Kontext immaterieller Kultur anzusiedeln (Vgl. Hahn 2014, S 10), die Präsenz der materiellen Dinge als wirkungsmächtige Tatsachen kulturellen Seins anzuerkennen und voranzustellen um „ihre Rolle im Alltag und in der Konstitution der Gesellschaft als Raum sozialen Handelns oder als Struktur der Bedeutungszuweisung“ (Hahn 2014, S 11) zu klären. Das macht Materielle Kultur zu einem interdisziplinären Querschnittsthema, in dem der Wahrnehmung als Instrument der Erfassbarkeit von Dingen eine Schlüsselrolle zukommt. (Vgl. ebd. S 12)
Der schwedische Ethnologe Nils Arvid Bringéus nimmt indirekt auf die Wahrnehmung Bezug, wenn er feststellt: „Wir werden trotz allem in eine dingliche Welt hineingeboren, in der neue Dinge ständig wieder neue hervorbringen.“ (Bringeus 1986, S 160)
Die Dingwelt, die schon vor uns da war, ist unsere Umwelt. In ihr gehen Natur und Kultur mittlerweile vollständig ineinander auf. Eine Unterscheidung macht keinen Sinn mehr. Wo wäre reine Natur denn noch auffindbar? Bestenfalls in unbeachteten Zwischenräumen, unvorhersehbaren Naturereignissen und in den irrationalen Bereichen individuellen Seins. Kultur ist kein Filter, durch den wir eine natürliche Außenwelt wahrnehmen, sie ist in der vorhandenen Dingwelt als Umwelt bereits eingeschrieben – sie ist die dingliche Außenwelt selbst. Materielle Kultur ist so gesehen Kultur at its best.
Ausgehend von den Dingen lässt sich ergründen und rekonstruieren, was die Menschen zu dem gemacht hat, was sie sind: ihre Entwicklung und Existenz, ihre Lebens- und Gesellschaftsformen, ihr Lebensraum, ihr Denken, Handeln, Wünschen und sogar ihr Fühlen. Die Erforschung der Dinge, die uns umgeben, ist in letzter Konsequenz ein Selbstfindungsprojekt, in dem man nicht zuletzt eigene Werthaltungen radikal zu hinterfragen hat. Bezogen auf definierte Kontexte können Dinge daher betrachtet werden als Verhalten und Handlungen (Vgl. Bringeus, S 167), Symbole, Bedeutungs- und Erinnerungsträger, Texte und Kommunikations-mittel, Werte, Waren und Konsumgüter. In Bezug darauf lassen sich Transformationsprozesse, Aneignungs- und Vernetzungsprozesse von Menschen & Menschen sowie von Menschen & Dingen sichtbar machen und untersuchen.
Alle Dinge haben, abgesehen von ihren unhinterfragten Bedeutungen und Funktionen, in ihrer materiellen Präsenz und Verfügbarkeit auch eine Unbestimmtheit und Unberechenbarkeit, die als „Eigensinn der Dinge“ (Hahn 2014, S 47), Eigenlogik, Eigenleben, Eigenmacht der Dinge oder als „die Tücke des Objekts“, ein Begriff, der auf den Literaturwissenschaftler Friedrich T. Vischer (1807-1887) zurückgeht, bezeichnet werden. Vischer unterstellt den Dingen literarisch gefährlich subversive Absichten:
„Von Tagesanbruch bis in die späte Nacht, solang irgend ein Mensch um den Weg ist, denkt das Objekt auf Unarten, auf Tücke. Man muß mit ihm umgehen, wie der Tierbändiger mit der Bestie [...], wenn er sich in ihren Käfig gewagt hat; er läßt keinen Blick von ihrem Blick und die Bestie keinen von seinem; [...]
So lauert alles Objekt, Bleistift, Feder, Tintenfaß, Papier, Zigarre, Glas, Lampe – alles, alles auf den Augenblick, wo man nicht acht gibt. Aber um Gottes willen, wer kann's durchführen? Wer hat Zeit? Und wie der Tiger im ersten Moment, wo er sich unbeobachtet sieht, mit Wutsprung auf den Unglücklichen stürzt, so das verfluchte Objekt; plumper oder feiner, wie es kommt, diabolisch fein zum Beispiel das Eisenfeilstäubchen, das mir ins Auge flog am Morgen [...]. (Vischer 1897, o. S.)
Das aus dem Mittelhochdeutschen (mhd. Tuc – Schlag, Stoß) stammende Wort ‚Tücke‘ ist seit dem Hochmittelalter belegt und steht für eine, nicht auf den ersten Blick erkennbare, arglistige oder hinterhältige Natur oder Gesinnung eines Menschen oder Tieres, oder auch für eine unerwartete, den Gebrauch erschwerende oder vereitelnde Eigenschaft eines Gegenstands. (Vgl. Wortbedeutung.info 2021, o. S.) Seit dem 16. Jahrhundert werden solcherart dubiose und querulantische Gesinnungen oder Absichten Tieren, Naturphänomenen, anonymen Mächten, z. B. der Tücke des Schicksals, oder personifizierten Gegenständen unterstellt (Vgl. Redensarten-Index 2021, o. S.), was als eine Art Dingbeseelung interpretiert werden kann. Heute verwendet man den Begriff Tücke zumeist in Bezug auf Probleme mit der Handhabung von Gegenständen oder bei der Verwendung und Bedienung von technischen Geräten. Die Tücke der Dinge ist naturgemäß und per definitionem nicht beherrschbar.
Hans Peter Hahn spekuliert darüber, „ [...], dass Vorstellungen über den Eigensinn der Dinge möglicherweise eher in Gesellschaften artikuliert werden, die von den normativen Erwartungen der Moderne weniger durchdrungen sind [...] “ (Hahn 2014, S 48), eine Annahme, die nahelegt, dass die Dinge an Eigensinn verlieren, je mehr Wissen und Kontrolle man über sie zu haben glaubt. Der Eigensinn kann jedoch umso stärker zum Vorschein kommen, je komplexer die Dinge und je höher die normativen Erwartungen an sie sind – immer dann nämlich, wenn diese Erwartungen nicht oder nicht gänzlich erfüllt werden. Der Eigensinn der Dinge wird von Hahn nicht als Eigenschaft der Dinge, sondern als Aspekt der Wahrnehmung betrachtet, der im Aneignungsprozess, d. h. im persönlichen Umgang mit den Dingen dort erfahrbar wird, wo die Dinge den Erwartungen und Handlungen Grenzen setzen. (Vgl. ebd. S 49) Aus dieser Verweigerung der Dinge ergibt sich ein chaotisch-kreativer Handlungsspielraum, in dem erwartbare Kausalitäten und Determinierungen aufgehoben werden. Der ‚Eigensinn der Dinge‘ verweist somit auf einen unbezähmbaren, vor seiner Vereinnahmung fliehenden Rest Natur, der jedem Ding ebenso innewohnt, wie seinen Betrachter*- und Benutzer*innen selbst.
Der Ethnologe Christian F. Feest fasst Materielle Kultur zusammen als Gesamtheit der Gegenstände, „ [...] mit denen [ Menschen ] in ihren Lebensraum eingreifen, um ihn ihren Bedürfnissen entsprechend zu nutzen und zu verändern“ (Feest 2012, S 256), einschließlich ihrer Herstellung, ihres Gebrauchs, dem damit verbundenen Wissen sowie auch ihrer Werte und Bedeutungen. (Vgl. ebd. S256) Die Begriffe Materielle Kultur und Sachkultur verwendet er synonym. Hahn geht noch einen Schritt weiter:
„Zur Materiellen Kultur gehören alle berührbaren und sichtbaren Dinge, die den Menschen umgeben, wobei der Umgang mit diesen Dingen eine hervorgehobene Rolle spielt“. (Hahn 2014, S 19)
Allgemeine Dingbegriffe
Die elementaren Begriffe der Materiellen Kultur werden zumeist unter wechselseitiger Bezugnahme definiert. Dazu gehören die Wörter Ding, Sache, Gegenstand und Objekt.
Ding und Sache
Als Dinge werden alle erfassbaren materiellen Gegenstände bezeichnet, als Sachen ausschließlich vom Menschen geschaffene, „naturgegebene Dinge“ und „gemachte Sachen“ nach der Unterscheidung des Soziologen Hans Linde. (Vgl. Linde 1972, S 12)
Kulturphilosophisch betrachtet, betonen „Sachen und ‚Sachlichkeit“ die Verfügbarkeit von Dingen im Sinne eines technokratischen Zugangs, „Dinge und ‚Dinglichkeit‘“ ihre Unverfügbarkeit im Sinne einer Eigenlogik der Dinge (Vgl. Hahn 2014, S 19), kurz gesagt: Sachen sind zweckmäßig verfügbar und nützlich, Dinge sind einfach vorhanden und unbestimmt.
Feest präzisiert den Begriff Sache, indem er zwischen „Artefakten“ und „Naturfakten“ unterscheidet. Artefakt bezeichnet ein künstliches d. h. direkt oder indirekt vom Menschen hergestelltes Ding, Naturfakt ein unbearbeitetes materielles Ding aus der Natur, das von Menschen oder kulturfähigen Tieren zu einem Zweck verwendet wird, z. B. der Stein, mit dem man eine Nuss zerklopft. Ein Naturfakt wird erst durch Bearbeitung zum Artefakt, z. B. der Stein wird zum Faustkeil zurechtgehauen, etc. (Vgl. Feest 2012, S 256f )
Ein weiteres Begriffspaar Feests zur Beschreibung von materiellen Dingen ist „Exofakt“ und „Endofakt“. Exofakte sind Artefakte, die innerhalb der Gesellschaft, in der sie Verwendung finden, nicht selbst erzeugt werden (können), Endofakte werden innerhalb einer Gesellschaft selbst erzeugt. (Vgl. Feest 2012, S 256f )
Diese auf den Herstellungsort bezogene Unterscheidung ist insofern interessant, als sie auf einen Gesellschafts- bzw. Kulturbegriff verweist, der sich auf die relative Abgeschlossenheit von Kultur(en) und ihre Gesellschaft(en) bezieht. In einer globalisierten Weltgesellschaft macht diese Unterscheidung immer weniger Sinn. Feest verweist darauf, dass Exofakte zu Abhängigkeitsverhältnissen ihrer Benutzer*innen von den Lieferant*innen führen und dass in Gesellschaften mit hoher Arbeitsteiligkeit solche Abhängigkeitsverhältnisse aufgrund der zunehmenden Komplexität der Dinge, zwangsläufig für alle Individuen bestehen, ungeachtet dessen, ob es sich um Exofakte oder Endofakte handelt. (Vgl. Feest 2012, S 257)
Das Fortschreiten der Globalisierung lässt beide Begriffe ineinander aufgehen. Sie lassen sich durch Begriffe ersetzen, die sich auf Handel und Erwerb beziehen: Dinge als Waren und Güter. Bestenfalls Produkte regionaler Erzeugung in regionaler Verwendung oder selbstgemachte Dinge, die nicht auf die Verwendung von Exofakten zurückgreifen, wären dann noch als Endofakte zu bezeichnen.
Zur Etymologie von Ding und Sache
Die etymologische Entwicklung des Begriffs Ding scheint nicht ganz geklärt. Schlägt man im 1793 erschienenen ‚Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart‘ von Johann Christoph Adelung nach, finden sich zwei separate Einträge. Der erste Eintrag bezieht sich auf damals schon aus dem Sprachgebrauch verschwundene Bedeutungen: Rede, Gespräch, feierliche Unterredung bei einer Zusammenkunft; fig. was in einer solchen Unterredung beschlossen wird, eine Bedingung, ein Vertrag; Wortwechsel, Wortwechsel vor Gericht; fig. eine strittige Sache, eine Rechtssache, ein Gerichtsprozess sowie Thing als Gerichtsversammlung, ein Gericht sowie der Gerichtsort. (Adelung 1793, Bd. 1: S 1496ff)
Der zweite Eintrag „Das Ding, des -es, plur. die -e, und in einigen Fällen auch die -er“ ist insofern interessant, als Adelung zu Beginn darauf verweist, dass die eigentliche und mutmaßlich erste Bedeutung von Ding als „Hausrat, Werkzeug, körperlichem Hilfsmittel etwas zu verrichten“ eine Verbreiterung erfahren hat, so dass es das „ [...] Schicksal des Wortes [ist,] die Bedeutung überhaupt einer jeden Sache bekommen zu haben.“ (Ebd. S 1498).
Ding kann weiters eine Arbeit oder ein Geschäft bedeuten, eine Sache, aber auch eine Person oder sogar mehrere Personen, sowohl männliche als auch weibliche und bei Letzteren im damaligen Gebrauch auch abwertend gemeint sein. Darüberhinaus kann es als Ersatzbegriff für alles, was man nicht benennen kann oder will, für alles was wirklich vorhanden ist und überhaupt für alles, wovon man einen Begriff haben kann, egal ob wirklich oder möglich, dienen. Abschließend merkt Adelung an, dass das Wort in den meisten Fällen, besonders aber „ [...] in seiner weitesten Bedeutung, nur den gemeinen Sprecharten eigen ist.“ (Ebd. S 1498). Auf die in der damaligen Umgangssprache fallweise abwertende Bedeutung verweist auch Adelungs abschließende Bemerkung, dass der Theologe und Schriftsteller Gottfried Zeidler „die Ontologie [auf die Scholastik bezogen] aus Verachtung ‚die Dingerlehre’ [nannte] , womit er auf eine schmutzige Bedeutung des Wortes Ding unter dem Pöbel anspielete.“ (Ebd. S 1500). In der philosophischen Fachsprache taucht erst mit Immanuel Kant (1724-1804) der Begriff des Dings an sich auf, das den Phänomenen und Gegenständen der Erfahrung zu Grunde liegt, sinnlich jedoch nicht wahrnehmbar ist. (Vgl. ebd. S 1500)
Auch „die Sáche“ ist nach Adelung „ein sehr altes Wort von weitem Umfange“ (Adelung 1793, Bd. 1, S 1235) das, ausgehend von seiner Verwendung im Rechtskontext, eine ähnliche Entwicklung genommen hat, wie das Ding.
Ebenso hat es eine konkret-materielle und eine abstrakt-immaterielle Bedeutungsdimension. Im Unterschied zu Ding scheint es jedoch weit weniger beliebig einsetzbar (gewesen) zu sein. Es wurde nicht als Bezeichnung für Personen herangezogen und war umgangssprachlich auch nicht abwertend in Gebrauch. Adelung schreibt ‚zur Sache‘:
Sehr oft gebraucht man dieses Wort auch als eine allgemeine Benennung von körperlichen beweglichen Dingen, wenn man sie mit keinem andern allgemeinen Nahmen zu benennen weiß. Was sind das für Sachen? Spielsachen, Zuckersachen, Zuckerwerk. Es fehlen mir noch die nöthigen Sachen zu dieser Arzeney. Allerley schöne Sachen. Besonders Geräthschaften, Kleidungsstücke u. s. f.“ (Ebd. S 1237)
Gerät und Werkzeug
Unter Geräten werden in der Ethnologie Sachen verstanden, die dazu dienen, menschliches Dasein zu optimieren: alle Dinge, die einen Zweck oder Nutzen aufweisen, einschließlich Behausungen und Bekleidungen. Werkzeuge sind spezielle Geräte, die ausschließlich zur Herstellung anderer Geräte erzeugt und verwendet werden. Gerätenutzung ist kein menschliches Alleinstellungsmerkmal, Werkzeugnutzung wird bis dato so eingeschätzt. (Feest 2012, S 256)
Gegenstand und Objekt
Etymologisch betrachtet ist die Entwicklung der Bedeutung des Begriffs Gegenstand zu dem, was heute ganz selbstverständlich darunter verstanden wird, nämlich etwas materiell Vorhandenes, geradezu abenteuerlich. Es lohnt sich, darauf näher einzugehen, da die Problematik der (philosophischen) Sprache in Bezug auf das Verhältnis von direkter Wahrnehmung und reflexivem Denken veranschaulicht werden kann. Der Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), ein Zeitgenosse von Adelung, hatte dazu den folgenden, wegweisenden Geistesblitz:
„Was ist außen? Was sind Gegenstände praeter nos? Was will die Präposition praeter sagen? Es ist eine bloß menschliche Erfindung…. Äußere Gegenstände zu erkennen ist ein Widerspruch; es ist dem Menschen unmöglich, aus sich herauszugehen…. Man sollte sagen praeter nos, aber dem praeter substituieren wir die Präposition extra, die etwas ganz andres ist…. Ist es nicht sonderbar, dass der Mensch absolut etwas zweimal haben will, wo er an einem genug hätte und notwendig genug haben muss, weil es von unseren Vorstellungen zu den Ursachen keine Brücke gibt?“ (Lichtenberg zit. n. Mauthner 1923, S 552)
Adelung und Lichtenberg lebten in der Zeit, als der Begriff Gegenstand im Sprachgebrauch einen Bedeutungswandel erfuhr, was für Irritationen sorgte. Die Umdeutung vollzog sich von einer ursprünglich immateriell-abstrakten zur materiell-konkreten Auslegung des Begriffs.
Der „ Gêgenstand, des -es, plur. die -stände“ (Adelung, S 486): Bereits veraltet waren in Adelungs Zeit die Bedeutungen von Gegenstand (im Sinne von Hindernis), Widerstand, Resistenz, Gegensatz und Gegenteil. ‚Gegenstand‘ bezeichnet „nur noch figürlich, ein Ding, auf welches eine Veränderung gerichtet ist, von welchem man etwas saget oder behauptet, und oft ein jedes Ding außer uns überhaupt.“ (Adelung, S 486) Diese neue Bedeutung missfällt Adelung offensichtlich:
„‚Gegenstand‘ bedeutet in dieser Bedeutung eigentlich ein Ding, welches uns gegen über stehet, und ist freylich besser als Gegenwurf und Vorwurf, welches andere dafür einführen wollen; obgleich das Wort Stand, welches in dieser Bedeutung wider den Sprachgebrauch ein Ding bedeutet, welches stehet, hier eben nicht zum Besten gewählet ist.“ (Adelung, S 552)
Die Irritationen, die um die Bedeutung des Begriffs in dieser Zeit entstanden, waren der „nicht ganz glücklichen Lehnübersetzung“ des philosophischen Begriffs Objekt (lat. Obiectum, obicere – entgegenstellen, vorstellig machen), ins Deutsche geschuldet. (Mauthner 1923, S 547)
Die eigentliche Ursache dieser Sprachverwirrung aber liegt schon in der Antike. Damals gab es zwei Begriffe, die sich gefährlich nahestanden, aber nicht miteinander ident waren: Das hypokeimenon und die ousia. Das hypokeimenon (griech. das Zugrundeliegende) war das, was etwas (über sich selbst) aussagt. Es wurde daher schon in der Antike mit Subiectum ins Lateinische übersetzt. Es ist nicht möglich, sich in die antike Welt hineinzudenken, sich in das Selbstverständnis und Lebensgefühl der Menschen dieser Zeit hineinzufühlen, aber man kann es sich vielleicht so vorstellen, dass in der antiken Welt die Dinge noch für sich selbst sprachen, sprechen durften, und was sie sagten auch noch verstanden wurde. Das änderte sich aber schon bei Plato. Spätestens aber, als René Descartes sich selbst zum Gegenstand seiner eigenen Anschauung machte und seine Existenz auf der Erkenntnis seines Zweifels über dieselbe begründete, gingen die Subjekte im antiken Sinn der Welt verloren und wurden durch das betrachtende Ich als Subjekt ersetzt, dem von da an alle Dinge der realen Welt als Objekte der Anschauung und Ziel der Handlung verfügbar gegenüberstanden. So wandelte sich auch das lateinische Subiectum zum Obiectum, welches später mit Gegenstand ins Deutsche übersetzt wurde.
Für Aristoteles war das Hypokeimenon einerseits Hyle (Stoff, Materie), andererseits Morphe (Gestalt) und schließlich das aus beiden Zusammengesetzte, als Grundlage weiterer Formung und Bestimmung. (Vgl. Metzler, Lexikon der Philosophie, o. S.)
Der zweite antike Begriff war ousia. Die Ousia wurde später mit Wesen (essentia), dann auch mit Substanz (substantia) ins Lateinische übersetzt. In der antiken Welt bedeutete Ousia „ das, was etwas zu dem macht, was es ist“, das ureigendste Wesen einer seienden Entität. Ousia hatte daher einen direkten Bezug zum Sein, der in den Übersetzungen später verlorenging. Daraus resultiert die bis heute offene Schlüsselfrage der Metaphysik, was unter Substanz eigentlich zu verstehen ist, wenn damit nicht Materie gemeint sein soll. Über den Begriff Ousia gab es allerdings schon in der Antike geteilte Meinungen. Aristoteles dachte Ousia als etwas, von dem abstrahiert werden kann, vom Wesen des Einzelnen zum Wesentlichen einer Art. Auf diesem Pfad wurden seine Nachfolger buchstäblich in die Irre geleitet. (Vgl. Mauthner 1923, S 548)
Der Philosoph und Literaturhistoriker Friedrich Kirchner definiert im Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe 1886 das Objekt als „Gedankending“, etwas womit sich ein Subjekt geistig beschäftigt (Kirchner/Michaëlis 1907, S 402) und erklärt den problematischen Sachverhalt wie folgt:
„Ursprünglich von Duns Scotus (1265-1308) ab bis in das 18. Jahrhundert hieß es [das Objekt] auch das, was ‚im Vorstelligmachen liegt und hiermit auf Rechnung des Vorstellenden fällt‘. Objekt bedeutet aber jetzt, seit Kant (1724-1804), im engeren Sinne den dem Bewusstsein durch die Wirklichkeit gegebenen Gegenstand, mithin das Reale in seinem Verhältnisse zum Subjekte. Ohne das Subjekt ist also auch das Objekt in diesem engeren Sinne nicht vorhanden. [...] Gegenstand der Betrachtung ist ein Ding nur unter der Voraussetzung von einem Betrachtenden. Daher muss von dem Objekt das Reale an sich geschieden werden, da es für unser Wissen keine Rolle spielt (vgl. Ding an sich). Vielfach wird jedoch, was nur Verwirrung hervorrufen kann, das Reale unabhängig von unserem Bewusstsein auch Objekt genannt. Es ist empfehlenswert, diesem verwirrenden Sprachgebrauche nicht zu folgen.“ (Kirchner/Michaëlis 1907, S 403)
Adelung sträubte sich dagegen, jedes materielle Ding einen Stand zu nennen. Kirchner sträubte sich im philosophischen Sinn dagegen, jedes materielle Ding ein Objekt zu nennen. Die Dichterin Friederike Kempner (1828-1904) brachte die ungewohnte Wortverwendung in einem ihrer Verse beim Anblick einer Blumenwiese ironisch auf den Punkt : „Rechts am Ende, links am Ende – lauter Frühlingsgegenstände.“ (Kempner zit. n. Mauthner 1923, S 547)
Die Übersetzung des lateinischen Obiectum ins Deutsche, brachte den Gegenstand als Gegenwurf zu Fall und materialisierte ihn in eine „sichtbare und tastbare Form“. In diesem Sinn werden die Begriffe auch in der Materiellen Kultur verwendet, mit dem Verweis, dass ihre impliziten Nebenbedeutungen im Gebrauch der Wörter mitschwingen. (Hahn 2014, S 20)
Ding, Werk und Zeug bei Martin Heidegger
Martin Heidegger hat wie kaum ein anderer versucht, den Dingen gedanklich auf den Grund zu gehen. Er unterscheidet zwischen Ding, Zeug und Werk.
Das Ding
Zunächst hält Heidegger fest, dass in der philosophischen Sprache „jegliches ein Ding ist, was nicht schlechthin nichts ist“ (Heidegger 1977, S 55), so auch das Kunstwerk (im Sinne bildender Kunst) und stellt fest, dass dieser Dingbegriff nicht hilfreich ist, die „Seinsart des Dinges gegen die Seinsart des Werkes abzugrenzen.“ (Ebd. S5) Davon ausgehend beginnt er, den Dingbegriff zu präzisieren: Gott, Menschen, Tiere, Pflanzen schließt er vom Dingsein aus. Naturdinge (z. B. ein Stein) und Gebrauchsdinge (z. B. ein Hammer) sind im Allgemeinen die sogenannten Dinge. Da die Gebrauchsdinge aufgrund ihrer Zweckhaftigkeit aber irgendwie doch mehr sind, als bloß Dinge, sind sie von den eigentlichen, bloßen Dingen zu unterscheiden. (Ebd. S6)
„Worin besteht nun das Dinghafte dieser [eigentlichen, bloßen] Dinge?“ (Heidegger 1977, S6)
Diese Frage versucht Heidegger zunächst mit drei allgemein gebräuchlichen Definitionen zu beantworten: Das Ding ist Träger seiner Merkmale; das Ding ist eine sinnlich erfassbare Einheit; das Ding ist die Synthese von Form und Stoff. (Vgl. ebd. S7ff)
Die ersten beiden Definitionen hält Heidegger wohlbegründet für die Wesenserfassung des bloßen Dings für unzulänglich: Die erste trifft nicht das Dinghafte der bloßen Dinge, ihr Eigenwüchsiges (Vgl. Heidegger 1977, S 14), Insichruhendes (Vgl. ebd. S 9) oder Zunichts-gedrängtsein (Vgl. ebd. S 14 und 17). Als Träger seiner Merkmale wäre das Ding zu sehr im rationellen Denken angesiedelt. Obendrein wäre diese Definition zu allgemein und auf alle Dinge zutreffend. (Vgl. ebd. S 9) Die Beschreibung des Dings als sinnlich erfassbare Einheit dient nach Heidegger dem übersteigerten Versuch, das Ding in größtmögliche Unmittelbarkeit zu bringen, was zwangsläufig aber scheitern muss, solange man ihm das Empfundene als sein Dinghaftes zuweisen möchte. (Vgl. ebd. S 11):
„Während die erste Auslegung des Dinges uns dieses gleichsam vom Leibe hält [...], rückt die zweite es uns zu sehr auf den Leib. In beiden Auslegungen verschwindet das Ding. Darum gilt es wohl, die Übertreibungen beider Auslegungen zu vermeiden. Das Ding selbst muss bei seinem Insichruhen belassen bleiben. Es ist in der ihm eigenen Standhaftigkeit hinzunehmen.“ (Heidegger 1977, S 11)
Die dritte Definition, das Ding als geformter Stoff, hält er zumindest für geeignet, die Frage nach der Dinghaftigkeit im Werk zu beantworten. Form und Stoff sind aber keine Bestimmungen der Dinghaftigkeit des bloßen Dinges. (Ebd. S 11) Alle drei Dingauslegungen sind der Dinghaftigkeit des Dings nicht angemessen und erweisen sich somit für Heidegger als Überfälle auf das Ding. (Vgl. S 10)
„Das unscheinbare Ding entzieht sich dem Denken am hartnäckigsten. Oder sollte dieses Sichzurückhalten des bloßen Dinges, sollte dieses in sich beruhende Zunichtsgedrängtsein gerade zum Wesen des Dinges gehören?“ (Heidegger 1977, S 17)
Das Zeug
Auch Gebrauchsdinge (z. B. ein Krug, ein Hammer) sind geformter Stoff. Die Form bestimmt bei ihnen die Anordnung des Stoffes, im Gegensatz zum Naturding, dessen Form sich aus der zufälligen Anordnung des Stoffes ergibt. Bei Gebrauchsdingen ist die „Verflechtung von Form und Stoff“ nach Heidegger durch ihre „ Dienlichkeit“ bedingt. Alles, was der Dienlichkeit untersteht, ist immer das Erzeugnis einer Anfertigung und ist somit ein Zeug „zu etwas“, ein zu einem Gebrauch Hergestelltes. Dadurch ist der Gebrauchskontext entscheidend für die Bestimmung des „Zeughaften im Zeug“. (Heidegger 1977, S 13):
„Das Zeugsein des Zeuges besteht in seiner Dienlichkeit. […] Fassen wir mit ihr schon das Zeughafte des Zeuges? Müssen wir nicht, damit das gelingt, das dienliche Zeug in seinem Dienst aufsuchen? Die Bäuerin auf dem Acker trägt die Schuhe. Hier erst sind sie, was sie sind. Sie sind dies um so echter, je weniger die Bäuerin bei der Arbeit an die Schuhe denkt oder sie gar anschaut oder auch nur spürt. Sie steht und geht in ihnen. So dienen die Schuhe wirklich. An diesem Vorgang des Zeuggebrauches muss uns das Zeughafte wirklich begegnen.“ (Heidegger 1977, S 18)
Die Dienlichkeit allein ist Heidegger noch zu wenig, um das Zeughafte des Zeugs zu begründen:
„Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. [...] Das Zeugsein des Zeuges besteht zwar in seiner Dienlichkeit. Aber diese selbst ruht in der Fülle eines wesentlichen Seins des Zeuges. Wir nennen es die Verlässlichkeit.“ (Heidegger 1977, S 19)
Was Heidegger hier Verlässlichkeit nennt, meint, die Verfügbarkeit der Sachen, sowohl im Sinne der Notwendigkeit ihres Vorhandenseins, als auch in der Gewissheit über ihr zweckdienliches Funktionieren, ihre „Zuhandenheit“. (Heidegger 1967, S 69):
„Kraft ihrer [der Verlässlichkeit] ist die Bäuerin durch dieses Zeug eingelassen in den schweigenden Zuruf der Erde, kraft der Verlässlichkeit des Zeuges ist sie ihrer Welt gewiss. Welt und Erde sind ihr und denen, die mit ihr in ihrer Weise sind, nur so da: im Zeug.“ (Heidegger 1977, S 19f)
Hier zeigt sich der konstituierende existenzielle Zusammenhang zwischen Menschen, Sachen und ihren Umwelt- und Gebrauchskontexten. Das Zeug hat für Heidegger eine „eigentümliche Zwischenstellung “ (Heidegger 1977, S 14) zwischen Ding und Werk:
„So ist das Zeug halb Ding, weil durch die Dinglichkeit bestimmt, und doch mehr; zugleich halb Kunstwerk und doch weniger, weil ohne die Selbstgenügsamkeit des Kunstwerkes.“ (Heidegger 1977, S 14)
Über die Bestimmung des Zeugs versucht er näher an das bloße Ding heranzukommen, aber auch dieser Versuch scheitert:
„Das »bloß« meint doch die Entblößung vom Charakter der Dienlichkeit und der Anfertigung. Das bloße Ding ist eine Art von Zeug, obzwar das seines Zeugseins entkleidete Zeug. Das Dingsein besteht in dem, was dann noch übrigbleibt. Aber dieser Rest ist in seinem Seinscharakter nicht eigens bestimmt. Es bleibt fraglich, ob auf dem Wege des Abzugs alles Zeughaften das Dinghafte des Dinges jemals zum Vorschein kommt.“ (Heidegger 1977, S 15)
Das Werk
Die grundsätzliche Dinghaftigkeit von Werken steht außer Zweifel:
„Die Werke werden verschickt wie die Kohlen aus dem Ruhrgebiet und die Baumstämme aus dem Schwarzwald. Hölderlins Hymnen waren während des Feldzugs im Tornister mitverpackt wie das Putzzeug. Beethovens Quartette liegen in den Lagerräumen des Verlagshauses wie die Kartoffeln im Keller.“ (Heidegger 1977, S 3)
Werke und Dinge bezeichnet Heidegger als das „nicht zeughaft Seiende“, was bedeutet, dass beide, ihrem Wesen nach, keine Dienlichkeit aufweisen d.h. keinen unmittelbaren Zweck erfüllen. Das Werk ist aber so wie das Zeug auch vom Menschen gefertigt, wobei seine Dinghaftigkeit auf seiner Stofflichkeit beruht:
„Das Dinghafte am Werk ist [...] der Stoff, aus dem es besteht. Der Stoff ist die Unterlage und das Feld für die künstlerische Formung“ (Heidegger 1977, S 11)
Die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerks beantwortet Heidegger schon im ersten Absatz der Abhandlung:
„Das Werk ist der Ursprung des Künstlers, der Künstler ist der Ursprung des Werkes. [...] Künstler und Werk sind je in sich und in ihrem Wechselbezug [...] durch die Kunst.“ (Heidegger 1977, S 1)
Zumindest für das Kunstwerk konstatiert Heidegger demnach ein komplementäres Verhältnis von Mensch und Ding. Kunst ist für Heidegger zunächst aber nur ein abstrakter Sammelbegriff. Was Kunst ist oder wie „das Rätsel, das die Kunst selbst ist“, (Heidegger 1977, S 66) zu lösen ist, erschließt sich aus der Abhandlung nicht. Fest steht nur: „Die Kunst west im Kunstwerk“. Daraus ergibt sich die vordringliche Frage: „Was und wie ist ein Werk der Kunst?“ (Ebd. S 2), Was im Werk am Werk ist, ergibt sich schließlich rückbezüglich aus dem „Auffinden des Zeugseins des Zeuges“ (Ebd. S 17), in der Rezeption von Vincent van Goghs Gemälde ‚Ein Paar Schuhe‘ aus dem Jahr 1886:
„Van Goghs Gemälde ist die Eröffnung dessen, was das Zeug, das Paar Bauernschuhe, in Wahrheit ist. Dieses Seiende tritt in die Unverborgenheit seines Seins heraus. [...] Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt. (Heidegger 1977, S 21)
„Die Besinnung darauf, was die Kunst sei, ist ganz und entschieden nur aus der Frage nach dem Sein bestimmt.“ (Heidegger 1977, S 73)
Aus der Frage, was das bloße Ding sein soll, ergeben sich für Heidegger auf Umwegen Definitionen für Zeug und Werk. Bloße Dinge im Sinne Heideggers sind ein existenzphilosophisches, gedankliches Problem, dessen Auflösung der eines Kōans gleichkommt. Ein Kōan ist in der buddhistischen Tradition des Zen eine paradoxe Frage oder Aussage, die durch meditative, intuitive Auseinandersetzung überwunden werden kann. Ziel der Kōan-Praxis ist die ultimative Erkenntnis der Einheit, die Klarheit darüber, dass das Ich keine abgegrenzte Existenz darstellt. (Vgl. Wikipedia: Kōan, o. S.)
Der Sinn eines Kōans erschließt sich nicht rationell. Ein bloßes Ding ist nicht erfassbar, es hat keine konkreten Eigenschaften. Es verliert sofort seine Eigenschaftslosigkeit, wenn ihm Aufmerksamkeit zuteilwird. Bloße Dinge werden (wenn überhaupt) nur im Nebenstrom der Aufmerksamkeit wahrgenommen. Aufmerksamkeit ist jedoch die Voraussetzung für das Erkennen und Zuweisen von Bedeutung und Sinn. Dinge wären demnach nebensächliche Gegenstände, denen keine Beachtung zukommt. Der Begriff Ding scheint unter dieser Deutung für eine weitere Verwendung weitgehend unbrauchbar. Die Frage ‚Wie wirken die Dinge?‘ müsste mit gar nicht beantwortet werden.
Aus einer völlig anderen, persönlichen Perspektive ist der Begriff ‚Ding‘ ein vielseitiges, bedeutungsoffenes, sympathisches und fröhlich gestimmtes Wort. Es erinnert an einen Glockenschlag und erweckt durch seine Unbestimmtheit die Neugier.
Zur Komplementarität von Mensch und Ding
Warum Komplementarität?
Warum Komplementarität und nicht Dualität, Dichotomie, Kausalität etc.?
Es gibt eine Reihe von verwandten Begriffen, die in verschiedenen Kontexten auch synonym verwendet werden. Man könnte meinen, dass definitorische Eindeutigkeit der Grundintention des Begriffs abträglich ist, denn auch die bekannteste Auslegung des dänischen Physikers und Philosophen Niels Bohr (1885-1962) ist nicht eindeutig. Bohr begründet das so:
„Schon die Forderung der Mitteilbarkeit der Versuchumstände und der Messergebnisse bedeutet ja, dass wir nur im Rahmen der gewöhnlichen Begriffe von wohldefinierten Erfahrungen sprechen können. Insbesondere dürfen wir nicht vergessen, dass der Kausalbegriff schon der Deutung jedes einzelnen Messergebnisses zugrundeliegt. Auch bei der Zusammenfassung von Erfahrungen kann es sich der Natur der Sache nach niemals um wohldefinierte Brüche in einer Kausalkette handeln; der uns aufgezwungene Verzicht auf das Kausalitätsideal in der Atomphysik ist begrifflich ja auch allein darin begründet, dass wir infolge der unvermeidbaren Wechselwirkung zwischen den Versuchsobjekten und den Messinstrumenten – der prinzipiell nicht Rechnung getragen werden kann, wenn diese Instrumente zweckmäßig die eindeutige Anwendung der zur Beschreibung der Erfahrungen nötigen Begriffe erlauben sollen – nicht länger imstande sind, von einem selbstständigen Verhalten der physikalischen Objekte zu reden. Letzten Endes dient ja ein künstliches Wort wie ‚Komplementarität‘, das nicht zu den alltäglichen Begriffen gehört und dem daher kein anschaulicher Inhalt mit Hilfe der gewöhnlichen Vorstellungen gegeben werden kann, nur dazu, an die vorliegende jedenfalls in der Physik gänzlich neue erkenntnistheoretische Situation zu erinnern [...].“ (Bohr 1936, S 297f)
Der erkenntnistheorethische Begriff ‚Komplementarität‘ verweist – nach meiner Auffassung und in Anlehnung an Bohr – auf die Annahme, dass grundsätzlich nur mehrere unvergleichbare und als gleichwertig anerkannte Beschreibungsweisen oder Versuchsanordnungen ein ganzheitliches Verständnis von Phänomenen der Wirklichkeit ermöglichen. (Vgl. Fahrenberg, Komplementaritätsprinzip) Verständnis meint hier jedoch einen Zustand kognitiven Verstehens bei gleichzeitig gefühlter Widerspruchsfreiheit. Für diesen Zustand gilt: Je mehr (vorerst scheinbar) widersprüchliche Aspekte zu einem Ganzen integriert werden können, desto näher kann man sich an die Wirklichkeit herangerückt wähnen. Insofern unterscheidet sich die vorliegende Auffassung auch von den gängigen dualen Definitionen des Begriffs, die zumeist eine wechselseitige Bezogenheit von Gegensätzen hinsichtlich einer definierten Ganzheit zum Ausdruck bringen – was im Wesentlichen auch auf die Begriffe Dualität und Dichotomie zutrifft. Begründen lässt sich diese Auslegung von Komplementarität einerseits etymologisch: Der Wortstamm kommt vom lateinischen Verb complere, das mit anfüllen, ausfüllen, ergänzen oder auch vervollständigen übersetzt werden kann. Andererseits liegt kein schlüssiger Grund vor, der es notwendig erscheinen lässt, noch ungeahnte Möglichkeiten zur Beschreibung von Phänomenen der Wirklichkeit in ein ideeles Vakuum zwischen zwei, als Gegensätze definierte Begriffe oder Vorstellungen zu pressen. Es gelte vielmehr die Annahme: Tertium, (quartum, quintum ...) datur. Komplementarität meint in dieser Deutung nicht nur ein sowohl als auch, sondern ein und. Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit sind demnach solange auszuhalten, bis sich auf der Erkenntnissuche ein Zustand von umfassender Widerspruchsfreiheit einstellt. Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen, z. B. können sich Fragestellungen unter konsequenter Anwendung des Komplementaritätsprinzips wandeln und so vormals scheinbar unlösbare Problemstellungen verändern oder auflösen. In diesem Anspruch unterscheidet sich Komplementarität von Perspektivität oder Multiperspektivität, welche dazu verleiten können, in unangebrachten Relativismus zu verfallen. Im Unterschied zu dualen Auffassungen, liegt bei komplementären Auffassungen kein kausal oder zeitlich gerichtetes Verhältnis zwischen den Beschreibungen oder Phänomenen vor. ‚Blitz und Donner‘, ‚Anfang und Ende‘ wären gemäß dieser Auffassung kausale dualistische Phänomene, Schwarz und Weiß einfach nur schlichte Gegensätze. Im strengen, wissenschaftlichen Sinn sind Farbreize nur dann komplementär, wenn ihre Summe das volle Spektrum der weißen Lichtquelle ergibt, zwei Körperfarben dann, wenn die Summe ihrer Remissionskoeffizienten bei jeder Wellenlänge gleich 1 ist. (Wikipedia 2021, Komplementärfarbe, o. S.) Zur Beschreibung des Verhältnisses von Leib und Seele, Körper und Bewusstsein, Physis und Psyche werden zumeist die Begriffe Dualität und Dichotomie aber auch der Komplementaritätsbegriff herangezogen. Naheliegend scheint, dass bestimmte Auffassungen des psychophysischen Problems die Theoriebildung und Forschungsmethodik, und fallweise auch die Praxis, beeinflussen (Fahrenberg 2000, Leib-Seele-Problem, o. S.), was für eine komplementäre Grundhaltung spricht. Dichotomie bedeutet Spaltung eines Ganzen in zwei Teile, die per definitionem keine Schnittmenge aufweisen dürfen und zusammenaddiert wieder genau das Ganze ergeben müssen. (Vgl. Wikipedia 2021, Dichotomie, o. S.) Für eine komplementäre Auffassung hingegen macht die bloße Addition von Teilen wenig Sinn: Das Ganze ist unter dem Komplementaritätsgesichtspunkt etwas anderes als eine Summe von definierten Teilen. Komplementäres Denken setzt eine optimistische Grundhaltung, den ‚Mut zur Lücke‘, Offenheit, Geduld, Beharrlichkeit sowie die uneingeschränkte Zuversicht, dass Erkenntnis irgendwann möglich ist, voraus.
Bohr präzisierte 1936 in einem Vortrag mit dem Titel ‚Kausalität und Komplementarität‘ vor wissenschaftlichem Publikum sein Verständnis des von ihm bereits1927 in Bezugnahme auf die von Werner Heisenberg veröffentlichte Arbeit ‚Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik‘ geprägten Begriffs der Komplementarität, in der Absicht, den Vorwurf zu entkräften, dass es sich dabei um einen „ [...] dem Geiste der Wissenschaft zuwiderlaufenden Mystifizismus “ (Bohr 1936, S 293) handelt. Seine ursprüngliche Verwendung und Version bezog sich auf die neue erkenntnistheoretische Situation, die sich aus den aktuellen Forschungen der Quantenphysik ergeben hatte – paradoxe Phänomene, die in den Begriffen und Prämissen der klassischen Physik nicht mehr greifbar und erklärbar waren, wie der Umstand, dass Licht physikalisch gleichzeitig als Welle und Teilchen beschrieben werden kann, oder wie die Heisenberg‘sche Unbestimmtheitsrelation zum Ausdruck bringt, dass Ort und Impuls eines Teilchens nicht gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit erfassbar sind. Da Welle und Teilchen elementare Konzepte der Physik repräsentieren, handelt es sich dabei um ein komplementäres Verhältnis von Beschreibungen ein und desselben Phänomens auf derselben KategoriVersion von Komplementarität. (Vgl. Fahrenberg 2019, o. S.)
Die zweite, umfassendere Version beschreibt den Begriff als „mehrstelligen (komplexen) Ebenen-übergreifenden Relationsbegriff“ (Fahrenberg 2019, o. S.) mit explizitem Verweis auf die wissenschaftliche Unverzichtbarkeit des Kausalitätsideals. An mehreren Stellen im Text bemüht sich Bohr, sich vom Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit abzugrenzen:
„Ich habe mich bemüht klarzustellen, dass es sich bei einer solchen Auffassung keineswegs – wie von Philosophen und Biologen befürchtet worden ist – um sogenannte rein metaphysische Spekulationen handelt oder um einen willkürlichen Verzicht auf die Möglichkeit, durch fortgesetzte Untersuchungen immer mehr über das Funktionieren der Organismen zu erfahren. Es handelt sich vielmehr darum, inhaltslose Streitfragen durch Analyse der Voraussetzungen und der Zweckmäßigkeit der in Betracht kommenden Begriffsbildungen zu vermeiden. Während der Komplementaritätsgesichtspunkt jeden Kompromiss mit irgendeinem antirationalistischen Vitalismus ablehnt, dürfte er gleichzeitig geeignet sein, gewisse Vorurteile in der sogenannten mechanistischen Auffassung zu entschleiern. [...] (Bohr 1936, S 301)
sowie
„Infolge der Tendenz, innerhalb der zur Beschreibung materieller Systeme angepassten Begriffsbildungen für die Lebenserscheinungen Platz zu schaffen, steht die angedeutete Einstellung ganz fern von jedem Versuch, dass Versagen der Kausalbeschreibung in der Atomphysik in spiritualistischem Sinn auszuwerten.“ (Bohr 1936, S 302)
Bohrs Vorschlag zur Anwendbarkeit des Begriffs bezieht sich zunächst auf die Biologie und er vergisst nicht zu erwähnen, dass die wissenschaftliche Untersuchung der Erscheinungsformen und Ursachen des Lebens selbst letztlich in den Paradoxien der Quantenmechanik seine Grenzen findet, da alles Belebte sich nur materiell verwirklichen kann. (Vgl. Bohr 1936, S 300f) Insofern ist es nicht verwunderlich, dass seine gleichermaßen strikte wie offene Begriffsgestaltung die Übertragung auf andere Wissenschaftsdisziplinen begünstigt hat, wie z. B. auch in die Psychologie und die Erkenntnis- und Sprachphilosophie:
„Im Gegensatz dazu dürfte aber der soeben erwähnte Standpunkt gegenüber den biologischen Grundfragen geeignet sein, das alte Problem des psycho-physischen Parallelismus in ein neues Licht zu rücken. Die Betrachtungen, die ich bei früheren Gelegenheiten [...] in Verbindung mit atomphysikalischen Problemen über Fragen der Psychologie angestellt habe, verfolgten im übrigen zwei wesentlich verschiedene Zwecke. Der eine war, durch wohlbekannte Beispiele der mit der Selbstbeobachtung verbundenen Schwierigkeiten der Analyse und Synthese psychischer Erlebnisse daran zu erinnern, dass man auf diesem Gebiet der Erkenntnis schon gezwungen war, eine Situation ins Auge zu fassen, die in mehrfacher Hinsicht formale Ähnlichkeit mit derjenigen aufweist, welche wir zur größten Beunruhigung vieler Physiker und Philosophen in der Atomphysik angetroffen haben. Der andere Zweck war, der Hoffnung Ausdruck zu geben, dass die erkenntnistheoretische Einstellung, die zur Klärung der viel einfacheren Probleme auf letzterem Gebiet geführt hat, sich auch bei der Diskussion von psychologischen Fragen behilflich erweisen könnte. In der Tat verweist ja schon der Gebrauch von Worten wie „Gedanke“ und „Gefühl“ oder „Instinkt“ und „Vernunft“ zur Beschreibung verschiedenartiger, psychischer Erlebnisse auf das Vorhandensein von charakterlichen, durch die Besonderheit der Selbstbeobachtung bedingten Komplementaritätsverhältnissen hin. Vor allem dürfte eben in der prinzipiellen Unmöglichkeit, bei der Selbstbeobachtung, zwischen Subjekt und Objekt im Sinne des Kausalitätsideals scharf zu unterscheiden, das Willensgefühl seinen natürlichen Spielraum finden.“ [...] (Bohr 1936, S 302f)
[...] letzten Endes [muss] der unmittelbare Gebrauch jedes Wortes in einem komplementären Verhältnis zur näheren Analyse seiner eigenen Bedeutung stehen. (Bohr 1936, S 303)
In seiner dritten und letzten Version plädiert Bohr dafür, die Idee der Komplementarität als notwendiges Grundprinzip aller wissenschaftlichen Erkenntnissuche zu betrachten, mit dem Ziel, „ [...] durch die Bekämpfung von Vorurteilen auf jedem Forschungsgebiet eine möglichst große Einheit der Wissenschaft zu erreichen.“ (Bohr 1936, S 303)
Ein umfassenderes Verständnis der Wirklichkeit in allen Bereichen der Wissenschaften ergibt sich für Bohr aus der Überwindung der methodischen Blindheit und dem Bewusstsein der Abhängigkeit aller (scheinbar) gesicherten Erkenntnis von der jeweiligen Begriffs-, Methoden- und Perspektivenwahl. Eine komplementäre Sichtweise führt nicht notwendiger Weise und in jedem Fall zu einer Synthese von These und Antithese und ist auch kein methodischer Lösungsansatz – sondern vielmehr eine ideele und wissenschaftsethische Grundhaltung.(Vgl. Fahrenberg 2019, o. S.) Dieser Grundhaltung folgend lautet der Subtitel dieser Masterbeit ‚Zur Komplementarität von Mensch und Ding‘ – auch wenn Formulierungen wie ‚Zu den komplementären Verhältnissen von Mensch und Ding‘ oder ‚Versuch einer komplementären Betrachtung des Verhältnisses von Mensch und Ding‘ vermutlich zutreffender wären. Die Voranstellung und Behauptung der komplementären Natur von Mensch und Ding soll der steten Erinnerung an den oben vorgestellten Anspruch dienen.
Ganz allgemein lassen sich in unterschiedlichen Dingtheorien folgende Aspekte im Verhältnis von Mensch und Ding ausfindig machen (Vgl. Joerges 1979, S 125-137):
- Aspekte des Wahrnehmens der ‚Ding-Welt‘
- Aspekte ‚ding-vermittelter‘ Bedeutung
- Aspekte ‚ding-orientierter Aufmerksamkeit und Intention
- Aspekte der Zeichenhaftigkeit von Dingen
- Aspekte ‚ding-bedingter Wertzuschreibung
- Aspekte ‚dinglicher‘ und ‚ding-vermittelter‘ Handlungsweisen
Die zentrale Frage ist, wie im Zusammenspiel dieser Aspekte Realität ‚erzeugt‘ wird.
Vorhandene Dinge werden häufig als Materialisierungen menschlicher Intentionen aufgefasst. Der Soziologe Bernward Joerges verdeutlicht diesen Sachverhalt folgendermaßen:
„Wenn immer Leute etwas wollen, also bestimmte Soll-Lagen anstreben und zugleich Informationen darüber haben, wie eine Sache aufgrund bestimmter Eigenschaften zur Realisierung dieser Soll-Lagen beitragen kann, werden sie mit dieser Sache entsprechend umgehen, sie also in bestimmter Weise in ihren Handlungsentwurf und die Realisierung dieses Entwurfs einbauen.“ (Joerges 1979, S 15)
Er stellt aber unmittelbar die Frage, inwieweit diese Formulierung im Aktiv berechtigt ist, angesichts der Tatsache, dass vorhandene Dinge häufig Soll-Lagen bereits vorgeben und thematisiert damit die sogenannte Sachzwangproblematik. (Vgl.ebd. S 15 )
Er formuliert deshalb um:
„Wenn immer Leute sich zu etwas gezwungen sehen, also von außen Soll-Lagen vorgegeben bekommen und zugleich das Wissen vermittelt bekommen, dass eine Sache aufgrund bestimmter Eigenschaften geeignet ist, sie diesen Soll-Lagen näherzubringen, dann sehen sie sich zu einer bestimmten Art des Umgangs mit dieser Sache gezwungen.“ (Joerges 1979, S 15)
Da Dinge immer auf mehrfache Weise in die Lebenswelt integriert sind, stellt Joerges die These auf:
„Wir können [...] von vornherein annehmen, dass die Bedeutsamkeit von Sachen mit der Anzahl und der Konfiguration ihrer Integrationen in personale und soziale Handlungssysteme zusammenhängt.“ (Joerges 1979, S 16)
Joerges unterscheidet zwischen „ technischer“ und „ nicht-technischer Sachintegration“. (Vgl. ebd. S 19) Technische Sachintegration orientiert sich an allgemeinen „übergreifenden Soll-Lagen“, die zur Reorganisation normativer und informationeller Strukturen von determinierten und somit berechenbaren Handlungssystemen dienen (Joerges 1979, S 21):
„Nur Verkehrsverhalten, in das Verkehrsanlagen in einem technischen Modus integriert sind, nur Gesundheitsverhalten, in das Medikamente und andere medizinische Hilfsmittel in einem technischen Modus integriert sind, nur Konsumverhalten, in das Waren in einem technischen Modus integriert sind, nur Arbeitsverhalten, in das Maschinen in einem technischen Modus integriert sind, ist planmäßiger Verfügung zugänglich. In diesem Sinn kann das Interesse an der Planbarkeit gesellschaftlicher Prozesse, der Wunsch, Unsicherheit über die Folgen unseres Handelns zu reduzieren, als die übergreifende Soll-Lage begriffen werden, der technische Integrationen von Sachen in das Handeln dienen.“ (Joerges 1979, S 21)
Übergreifende Soll-Lagen sind als kollektive Ziele interpretierbar. Dinge werden immer auf mehrfache Weise in die Lebensrealität von Menschen integriert. Dabei kommt es zu Konflikten und Konkurrenzen zwischen den Arten und Ebenen von Integrationen. (Joerges 1979, S 16)
Wer aber legt aus welchen Gründen und wie übergreifende Soll-Lagen fest? Die „vollzogene technische Integration der dinglichen Welt“ (Ebd. S 22) sieht Joerges als Voraussetzung für die erfolgreiche Konstruktion empirisch-analytischer Theorien im Bereich der Sozialwissenschaften. (Vgl. ebd. S 22) Die technische Integration der Dinge kennzeichnet einen Aspekt dessen, was als ‚Macht der Dinge‘ bezeichnet werden kann. Diesem Aspekt entspricht im Umkehrbild die zunehmende ‚Ohnmacht des Menschen‘ angesichts seines tatsächlichen und scheinbaren Ausgeliefert-Seins an eine immer komplexer werdende – bestimmte Handlungsweisen erzwingende – Dingwelt. Ein aktuelles Beispiel dazu ist die neuentwickelte Impftechnologie gegen das aktuell pandemische Virus SARS-CoV-2 . Hier zeigt sich, dass die, einer übergreifenden Soll-Lage geschuldete, technische Integration von Dingen an Grenzen stoßen kann. Aus sehr unterschiedlichen – auch intuitiven – Gründen ziehen viele Menschen die unbestimmbare, nicht-technische Integration des SARS-CoV-2 Virus der technischen Integration einer neuartigen, gentherapeutischen Behandlung vor. Die ‚übergreifende Soll-Lage‘ wird dadurch in Frage gestellt. Abseits von offiziell legitimierten wissenschaftlichen Narrativen, die mantraartig medial Verbreitung finden, hat sich in privaten Medien und sozialen Netzwerken eine Unzahl von wirkungsmächtigen Gegennarrativen entwickelt. Einige dieser, in den Mainstreammedien hintangehaltenen Narrative werden vermutlich zurecht als Verschwörungstheorien gedeutet. Alle aber bringen vorhandene individuelle und kollektive Bedürfnisse und Absichten zum Ausdruck.
Die nicht-technische Integration der dinglichen Welt bezieht sich darauf, was in der technischen Integration und der Anerkennung von übergreifenden Soll-Lagen nicht widerspruchsfrei aufgeht. Sie geschieht dort, wo der Versuch unternommen wird, übergreifende Soll-Lagen durch abweichende individuelle Soll-Lagen zu ersetzen. (Vgl. Joerges 1979, S 22f)
Wo die Grenzen technischer Integration erreicht werden,
„[...] schlagen [technische Sachintegrationen] in nicht-technische um und es kommt zu [...] Versuchen der Befreiung von eingeschränkten Beziehungen zu den Dingen. Die Welle der Alternativ-Bewegungen, in denen die Vokabel ‚Selbst‘ eine so gewichtige Rolle spielt (Selbstbestimmung, Selbsthilfe, Selbstentdeckung, Selbstuntersuchung, Selbstversorgung, Selbstmedikamentierung und so fort) ist zugleich eine Welle der Wiederentdeckung alternativer Herstellungs-, Verwendungs- und Wiederverwendungsweisen von Dingen: Häusern, Straßen, Geräten, Landschaften, Kleidern, Transportmitteln.“ (Vgl. Joerges 1979, S 22f)
Joerges folgert daraus, dass technische Integration nicht-technische zwar gefährden, nicht aber verdrängen kann und eine Soziologie der Sachverhältnisse versuchen muss, diesen Umstand auf den Begriff zu bringen, auch wenn nicht-technische Integrationen sich einer empirisch-wissenschaftlichen Rekonstruktion tendenziell entziehen. (Vgl. Joerges 1979, S 23)
Eine Soziologie, die sich in ihrer Theoriebildung ausschließlich an der technischen Integration von Dingen orientiert, kann der Realität offenbar nicht gerecht werden. Der Sinn individueller menschlicher Existenz lässt sich nicht auf effiziente Handlungsweisen unter normativen Vorgaben in technisch integrierten Dingwelten reduzieren. Die unbestimmbaren, nicht-technischen Integrationen der Dingwelt stellen vielmehr die eigentliche, unhintergehbare Ausgangsbasis dar, auf der sich technische Integrationen erst realisieren können. Die Macht der Dinge reicht scheinbar nur soweit, als Menschen bereit sind, sich ihr zu unterwerfen. Sie reicht bis zu dem Punkt, an dem hinterfragt wird, in welchem Auftrag Dinge Handlungen einfordern und welchen Interessen individuelle und kollektive Unterwerfungen wirklich dienen. Die kollektive Unterwerfung erfolgt anscheinend nur solange reibungslos, als die vorhandene Dingwelt mehrheitlich Selbsterfahrungen ermöglicht, die individuellen Sinn stiften und Problemlösungen versprechen. Mittlerweile aber ist die vorhandene Dingwelt und ihre Implikationen in ihrer Komplexität selbst zum Problem geworden, was dazu führt, dass auch die in ihr eingeschriebenen Machtverhältnisse zunehmend hinterfragt werden.
Im Weiteren soll es darum gehen, herauszufinden, wie die vorhandene Dingwelt als Umwelt die (Selbst-)Wahrnehmung als (Selbst-)Bewusstsein konstituiert und vice versa. Mit anderen Worten: Wie wird die Komplementarität von Mensch und Ding in den verschiedenen Konzepten der Dingtheorie zum Ausdruck gebracht?
Aspekte des Wahrnehmens der ‚Ding-Welt‘
„Useful theorems from old theories. [...]
What can be borrowed (salvaged) from them?
Empiriscism: All knowledge comes through the senses.
Associationism: Associations between events are detected
Gestalt theory: Relations make higher order units.
Nativism: Meaning is an intrinsic to perception.
Transactionalism: We achieve perception of the environment by activities (but we do not have to construct it).“
(Gibson zit. n. Reed 1988, S 8f)
Die Theorie der Angebote von James J. Gibson
James J. Gibson – Biographisches
James J. Gibson wurde im Januar 1904 in Mcconnelsville, Ohio, als ältester Sohn eines Bahnbeamten und einer Lehrerin geboren - einen Monat, nachdem die Gebrüder Wright in einem selbstkonstruierten Flugapparat an einem Strand nahe Kitty Hawk, North Carolina, den ersten kontrollierten Motorflug absolviert hatten. Mit seinem Vater war er als Kind viel mit der Bahn unterwegs und damals schon fasziniert von der Art und Weise, wie sich die Welt im Vorüberziehen verändert. Er schreibt später, dass er dadurch schon lernte „what the world looked like from a railroad train and how it seemed to flow inward when seen from the rear of the platform and expand outward when seen from the locomotive“. (Reed 1988, S 16)
Gibson wuchs mit der Bahn und dem Flugzeug auf und seine akademische Karriere ist auf seltsame Weise damit verflochten. Vor allem das fliegende Ding machte ihm ein unwiderstehliches Angebot – einen völlig neuen Blick auf die Welt. (Vgl. Reed 1988, S 21) Edward S. Reed hat Gibson und seiner wissenschaftlichen Vision in einer sehr ausführlichen Biographie ein literarisches Denkmal gesetzt.
Auch wenn Gibson mit seiner ‚Theory of Affordances‘ ein neues Kapitel der Wahrnehmungstheorie aufgeschlagen hat, er hatte wichtige Wegbereiter*innen. Dazu gehören Vertreter der ‚Berliner Schule‘ der Gestalttheorie, die aus dem Berliner Institut für experimentelle Psychologie der Universität Berlin hervorging. Die Institutsgründung geht auf den Philosophen, Psychologen und Musikwissenschafter Carl Stumpf (1848-1936) zurück, ihn kann man als den eigentlichen Begründer der Gestalt- und Ganzheitspsychologie ansehen. (Vgl. Stangl 2020, Gestaltpsychologie, o. S.) In einer Autobiographie aus dem Jahr 1924 schreibt Stumpf zum „Ursprung der Grundbegriffe“:
„Diese einfach als apriorisch vorauszusetzen heißt den Knoten zerhauen. Man muss doch immer wieder versuchen, die Urphänomene zu finden, die ihre Wahrnehmungsgrundlage bilden. So lässt sich in Hinsicht des Ding- und Substanzbegriffes darauf hinweisen, dass wir in bestimmten Anschauungen die innige Durchdringung von Teilen eines Ganzen direkt wahrnehmen. Schon in jeder Sinnesempfindung bilden die ‚Attribute‘: Qualität, Intensität, Ausdehnung usw. nicht eine Summe, sondern ein Ganzes, ja die Teile sind nur nachträgliche Abstraktionen. Im Gebiete der psychischen Funktionen sind intellektuelle und emotionelle Funktionen und überhaupt alle gleichzeitig gegebenen Bewusstseinszustände innerlichst verknüpft (Einheit des Bewusstseins) und werden in dieser Einheitlichkeit direkt wahrgenommen. Humes Forschungsprinzip war also nicht falsch, aber er hat nicht sorgfältig genug beobachtet, sonst hätte er die Substanz nicht als ein Bündel, sondern als ein Ganzes von Eigenschaften oder Zuständen definieren müssen. (Stumpf 1924, S 235-236)
Stumpf erlangte seine allgemein-psychologischen Erkenntnisse und Schlussfolgerungen durch die Erforschung der auditiv-musikalischen Wahrnehmung. (Vgl. Stangl 2020, Gestalt-psychologie, o. S.) Zu seinen Schülern zählten Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Köhler und Kurt Lewin, die Hauptvertreter der Berliner Schule. Diese legte ihren Fokus, ebenso wie später Gibson, auf die visuelle Wahrnehmung. Einer der Grundgedanken der Berliner Schule war, dass die Gestalt eines Objekts eine unablösbare Systemqualität ist. Koffka prägte den Begriff „ Forderungscharakter“.
Auf Kurt Lewin geht der Begriff „ Aufforderungscharakter “ zurück, der mit „ invitation character“ und „ valence“ ins Englische übersetzt wurde. Im Deutschen wurde auch der Ausdruck Valenz verwendet. Unter Valenz verstand man den zu einem bestimmten Verhalten auffordernden, phänomenalen Charakter eines Gegenstandes als ‚Verhaltensobjekt‘. Ein Objekt bekommt seine Valenz(en) vom Betrachter ‚verliehen‘, sofern diese seinen Bedürfnissen entsprechen, was aber bedeutet: Keine Bedürfnisse – keine Valenz. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu Gibsons späteren ‚Angeboten‘ (Vgl. Gibson 1982, S 150):
„Ein Angebot wird einem Objekt nicht aufgrund eines Bedürfnisses des Beobachters und vermittels des Wahrnehmungsaktes verliehen. Was ein Objekt anbietet, bietet es an, weil es das ist, was es ist.“ (Gibson 1982, S 150)
Die Entwicklung der Theorie der Angebote
Schon in den 1930er Jahren erlangte Gibson Bekanntheit durch seine Entdeckungen auf dem Gebiet der Raum- und Distanzwahrnehmung. (Vgl. Reed 1988, S 1) Die Forschungen auf diesem Gebiet gewannen mit Beginn des zweiten Weltkrieges für das Flugwesen an Bedeutung, da die mitunter fehlerhafte Einschätzung der Entfernung des Flugzeuges vom Boden beim Landeanflug von auf Sicht fliegenden Piloten ein erhebliches Risiko darstellte und wissenschaftlich bis dato nicht erklärt werden konnte. (Vgl. Gibson 1973b, S 24)
Gibson entwickelte eine Bodentheorie der Raumwahrnehmung, die das Phänomen erklären konnte. Er ging davon aus, dass es keine Raumwahrnehmung ohne eine kontinuierliche Oberfläche im Hintergrund geben kann. (Vgl. ebd. S 25) Diese Bodentheorie bildete die Basis für alle weiteren Arbeiten. (Vgl. ebd. S 26)
[...]
- Citation du texte
- Hillary Plasch (Auteur), 2021, Wie "wirken" die Dinge?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1366994
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