Die Fragestellung der Arbeit lautet: Wie unterrichte ich inklusiven Sportunterricht mit dem Bewegungsthema Turnen in der Grundschule?
Die Arbeit stellt zunächst anhand des verbreiteten Bewegungsverständnisses des Sich-Bewegens heraus, wie soziale Begegnungen im Zusammenhang mit inklusiven Erfahrungen stehen können. Diese Herleitung zeigt, welches Potenzial sich hinter dem Sport für die Inklusion verbirgt und wieso Bewegung in besonderem Maße zum inklusiven Miteinander beiträgt. Das grundsätzliche Verständnis der Inklusion in schulpädagogischer Hinsicht soll erörtert werden. Das Bewegungsfeld Turnen und Bewegungskünste wird, zunächst reduziert auf das allgemeine Turnen und seiner Herkunft - dann auf seine Bedeutung sowie auf sein Potenzial, in einem inklusiven Sportunterricht behandelt zu werden, geprüft. Ob und wie sich der Umgang mit dem Bewegungsfeld "Turnen und Bewegungskünste" sich wandeln muss, um allen Lernenden einen Zugang nach dem Inklusionsverständnis zu ermöglichen, baut auf den vorherigen Erkenntnissen auf. Daran angeschlossen sind die Frage nach sowie die Erschließung fachlicher Hilfen, die die Gestaltung des inklusiven Unterrichts in Hinblick auf die Rahmenbedingungen, Aufgabenstellungen, Kommunikation etc. mit der inklusiv beschulten Schülerschaft klären. Die konzeptionellen Hilfen der Fachdidaktik werden anschließend mit den Indikatoren für erfolgreichen, inklusiven Unterricht verglichen und systematisiert.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Grundlegendes Bewegungsverständnis
3. Der Begriff “Inklusion” und seine Bedeutung
3.1. Gesellschaftliche und politische Prozesse hin zu inklusiver Bildung
3.2. Inklusion und Integration
3.3. Das allgemeine Inklusionsverständnis in den Bildungswissenschaften
3.4. Das Verständnis inklusiver Vermittlung in den Bildungswissenschaften
3.5. Der Inklusionsbegriff in der niedersächsischen Schulpolitik
4. Umsetzung der Inklusion: Inklusive Schulen
5. Der inklusive Sportunterricht
5.1. Die veränderte Zielgruppe im inklusiven Sportunterricht
5.3. Konzepte und Modelle für den inklusiven Sportunterricht
6. Turnen allgemein
6.1. Schulisches Turnen
6.2. Vorgaben für eine (inklusive) Vermittlung des Bewegungsfeldes
6.3. Modelle und Konzepte für das Bewegungsfeld Turnen und Bewegungskünste
6.4. Indikatoren für die Gestaltung und Reflexion des inklusiven Unterrichten nutzen
6.5. Beurteilungen im Bewegungsfeld Turnen & Bewegungskünste
7. Analyse eines Unterrichtsentwurfes für das Bewegungsfeld “Turnen und Bewegungkünste”
8. Fazit
9. Literaturverzeichnis
Eidesstattliche Erklärung
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Exklusion, Separation, Integration und Inklusion
Abb. 2: Von der Homogenität zur Diversität
Abb. 3: Dimensionales Kompetenzmodell
Abb. 4: Heterogenitätsdimensionen im Schulsport
Abb. 5: 6+1 Modell
Abb. 6: Handlungsmodell des inklusiven Sportunterrichts
Abb. 7: Überblick Sportunterricht inklusiv
Abb. 8: Die Aufgabe ist für alle gleich
1. Einleitung
Donnerstagmorgen, 08:20 Uhr, GHR 300 Praktikum innerhalb des Lehramtsstudiums an einer niedersächsischen Grundschule. Ich sitze in Beobachterposition auf der Turnbank an der Seite, während meine Mentorin die Sportstunde beginnt. Der Stundenbeginn eröffnet den Schüler*innen ein neues Bewegungsthema: sie werden wieder turnen. Den meisten Kindern, die meisten sind Mädchen, kann ich von meinem Sitzplatz am Rande der Halle ansehen, dass sie sich freuen. Etwa fünf Jungen machen eher einen reservierten Eindruck. Von den Reaktionen unbeeindruckt erklärt die Lehrkraft, dass es in der heutigen Stunde auf die Sprünge über den Kasten und das Pferd geht, die in der nächsten Stunde dann benotet werden. Die Lehrkraft fordert die Klasse auf, aufzubauen. Drei hohe Kästen, ein Pferd und vier Weichbodenmatten, ein Mini-Tramp sowie drei Sprungbretter werden gebraucht. Die Aufgabe: springe mit unterschiedlichen Sprüngen über den hohen Kasten und das Pferd. An den vier Bahnen wird gleichzeitig geübt. Mein Blick fällt auf einen Schüler, dessen Bewegungen schon allein beim Anlaufen auffällig unkoordiniert und wackelig sind. Er zieht sich während der Stunde immer mehr zurück, hofft vielleicht, nicht aufzufallen. Eine Schülerin hat Probleme, den Zeitpunkt des Abspringens zu finden. Sie nutzt die Rückfederung des Mini-Tramps deutlich zu spät und kommt daher nicht zum Überspringen des Kastens. Sie möchte das Sprungbrett gar nicht erst ausprobieren. Einige Mitschülerinnen probieren ihr zu helfen, wissen jedoch nicht, wie sie das genau anstellen sollen. Die Laune wird schlechter. Die Lehrkraft ist voll und ganz mit der Hilfestellung bei den Kindern beschäftigt, die einen Handstandüberschlag turnen, weil sie “das schon können". Die Stunde endet mit dem Abbau der Geräte. Als alle Kinder die Turnhalle verlassen haben, zieht meine Mentorin mir gegenüber ein Fazit: „Das war doch eine klasse Stunde, so viel Bewegung in der Klasse.“ Aber war es eine „klasse Stunde“, wenn zumindest zwei Kinder mit dem Absprung und der Überwindung des Kastens überfordert waren?
Das Beispiel zeigt, dass nicht alle Schülerinnen dem Anspruch, den die Lehrerin festgelegt hat, gerecht werden können. Dieses Problem zeigt sich in der Schule und im Sportunterricht umso mehr, je heterogener eine Lerngruppe ist. Heterogenität bezieht sich auf die Vielfalt oder Unterschiedlichkeit innerhalb einer Gruppe. In Bezug auf Menschen kann Heterogenität in verschiedenen Aspekten auftreten, wie zum Beispiel Geschlecht, Ethnie, Sprache, Religion, Bildungsstand. Eine Übersicht macht das Spektrum der Heterogenitäten sichtbar (Abbildung 1). Diese Aspekte der Heterogenität können sich auf die Identität, die Wahrnehmung, die Einstellungen, das Verhalten und die Interaktionen von Menschen auswirken. In den Sportklassen kommen weitere Dimensionen hinzu: ob sich viel/wenig bewegt wird, das Leistungsniveau und die Motivation, Sport zu treiben (vgl. Neuber, 2020, S. 96). Mit der Aufnahme von Kindern, die mit einer Behinderung leben, hat sich die Vielfalt noch weiter vergrößert. Dieser Vielfalt nimmt sich die inklusive Didaktik an und nimmt sie als Norm für eine “Pädagogik der Vielfalt” (Prengel, 2006, S. 3). Was sich dahinter verbirgt und wie die, mittlerweile in allen Schulen festgeschriebene, inklusive Beschulung gestaltet wird (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium, 2016, S. 10) klärt die vorliegende Abschlussarbeit. Für Lehramt-Studierende, die später als Sportlehrkräfte arbeiten, stellt die Aufgabe, den schulischen Sportunterricht inklusiv zu gestalten, eine Herausforderung dar (vgl. u.a. Tiemann 2016; Neumann, 2020; Reukeretal. 2016). Auf einer schwachen bis nicht existierenden Wissensbasis ist es herausfordernd, geeignete Formen inklusiven Unterrichts zu realisieren. Von Studierenden wird auf die zentrale Bedeutung praktischer Lernerfahrungen zur Vorbereitung auf inklusiven Sportunterricht hingewiesen, die sie jedoch kaum in ihrer Ausbildung machen konnten (vgl. Reuker et al. 2016). Um diesen Herausforderungen zu trotzen, muss die Frage nach Hilfestellungen in Form von Modellen, Konzepten und Strategien im Studium daher mit besonderem Augenmerk behandelt werden, um eine Grundlage an Wissen für einen inklusiven Unterricht aufzubauen. Darüber hinaus haben nur wenige in einer Schule tätige Menschen in ihrer schulischen Karriere oder selbst Erfahrungen mit inklusiven oder integrativen Inszenierungen sammeln können (vgl. Ziemen, 2015, S. 30), sodass die Referendarinnen und die neuen Lehrkräfte in der Berufspraxis unter Umständen auf kein erfahrenes und helfendes Netzwerk treffen. Diese Problemstellung ist der Antrieb, sich in der vorliegenden Arbeit mit der Thematik Inklusion im Schulsport theoretisch auseinanderzusetzen und den Anspruch zu erheben, so einen Beitrag zum Wissen über einen gelungenen, inklusiven Sportunterricht zu leisten.
Der Sportunterricht bietet vielfältige Möglichkeiten, Erfahrungen in sozialen Interaktionen zu sammeln und damit Berührungsängste, unter anderem zu Menschen mit Behinderung, zu verringern. Um der schulischen Praxis näher zu kommen, wird für die vorliegende Arbeit ein kompetenzorientiertes Bewegungsfeld herangezogen: Turnen und Bewegungskünste (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium, 2020, S. 24-25). Dieses zeichnet sich im sportiven Verständnis durch hohe Anforderungen an den Körper aus, kann jedoch auch als umgestaltbar und erlebnisorientiert erfahren werden. Das Bewegungsfeld wird auf die Möglichkeiten, die es für einen inklusiven Unterricht bietet, geprüft.
Die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit lautet: Wie kann der Unterricht dem inklusiven Anspruch genügen und durch welche Bedingungen zeichnet sich dieser aus? Welche theoretischen Ansätze, Modelle und Konzepte sowie Indikatoren bieten sich an, um eine Modellierung entsprechend der Zielsetzung vorzunehmen? Welche Rolle nimmt die Lehrkraft in diesem Zusammenhang ein?
Da diese Fragestellung komplex ist und mehrere Bereiche gleichzeitig berührt, wurde zur Strukturierung der Arbeit ein Modell hinzugezogen. Es bedarf auf Seiten der Lehrkräfte Kompetenzen, die den Anforderungen inklusiven Unterrichtens gerecht werden. Welche Kompetenzen dabei gemeint und gefordert sind, lässt sich durch das “dimensionale Kompetenzmodell” für Sportlehrkräfte von Nils Neuber (2020), das auf dem Kompetenzmodell für Lehrkräfte von Ewald Terhart basiert (vgl. Terhart, 2007, S. 50) strukturieren (siehe Abbildung 3). Dabei ergeben sich diese Kompetenzen gleichermaßen aus moralischen (Haltung), kognitiven (Wissen) und praktischen (Handlungs-)Aspekten (vgl. Terhart, 2007, S. 49-50). Das Modell besteht aus drei Dimensionen. Zum einen werden die Kenntnisse und das Wissen über die Sache (Schule, Unterricht, Akteure) angesprochen. Eine weitere Kompetenzdimension betrifft das Selbstverständnis und die pädagogische Haltung der Lehrkraft. Die dritte Dimension bezieht sich auf die didaktische Handlungsfähigkeit und das didaktische Denken. Die Dimensionen bilden die Grundlage und Qualifikation für das pädagogische Handeln der Lehrperson, auch im inklusiven Unterricht. Sie bieten daher im Folgenden eine geeignete Struktur.
Die Beantwortung der Fragestellung unter Berücksichtigung des Modells stellt sich kapitelweise wie folgt dar. Die Arbeit stellt zunächst anhand des verbreiteten Bewegungsverständnisses des Sich-Bewegens heraus, wie soziale Begegnungen im Zusammenhang mit inklusiven Erfahrungen stehen können. Diese Herleitung zeigt, welches Potenzial sich hinter dem Sport für die Inklusion verbirgt und wieso Bewegung in besonderem Maße zum inklusiven Miteinander beiträgt (nach Neuber: Kenntnisse und das Wissen über die Sache). Das grundsätzliche Verständnis der Inklusion in schulpädagogischer Hinsicht soll erörtert werden. Das Bewegungsfeld Turnen und Bewegungskünste wird, zunächst reduziert auf das allgemeine Turnen und seiner Herkunft - dann auf seine Bedeutung sowie auf sein Potenzial, in einem inklusiven Sportunterricht behandelt zu werden, geprüft (nach Neuber: Kenntnisse und das Wissen über die Sache). Ob und wie sich der Umgang mit dem Bewegungsfeld “Turnen und Bewegungskünste” sich wandeln muss, um allen Lernenden einen Zugang nach dem Inklusionsverständnis zu ermöglichen, baut auf den vorherigen Erkenntnissen auf (nach Neuber: didaktische Handlungsfähigkeit). Daran angeschlossen sind die Frage nach sowie die Erschließung fachlicher Hilfen, die die Gestaltung des inklusiven Unterrichts in Hinblick auf die Rahmenbedingungen, Aufgabenstellungen, Kommunikation etc. mit der inklusiv beschulten Schülerschaft klären (nach Neuber: didaktische Handlungsfähigkeit). Die konzeptionellen Hilfen der Fachdidaktik werden anschließend mit den Indikatoren für erfolgreichen, inklusiven Unterricht verglichen und systematisiert (nach Neuber: didaktische Handlungsfähigkeit).
Aus der Zusammenführung wird auf Faktoren geschlossen, die einer Lehrkraft bei der Gestaltung des Unterrichts helfen, sodass er den Bedürfnissen aller Schülerinnen entgegenkommt. Diese Faktoren in Form von Anpassungen werden auf ein Unterrichtsbeispiel angewendet. Da der Prozess der Gestaltung eines inklusiven und damit diversitätssensiblen Unterrichts auf Grenzen stößt und sich Hürden ergeben, werden diese vor einem umfassenden Fazit aufgezeigt.
Die vorliegende Arbeit beschränkt sich dabei literaturbasiert auf den Aspekt der Vermittlung durch die Lehrkraft für die Zielgruppe der Primarstufe. Dabei wird sich in Bezug auf die Vorgaben durch das Kultusministerium auf Niedersachsen beschränkt (als Bundesland der Ausbildung).
2. Grundlegendes Bewegungsverständnis
Um sich der Thematik des inklusiven Unterrichtens zu nähern, stellt sich zunächst die Frage, wie Bewegung generell in der Pädagogik verstanden wird und wozu sie dient. Sich der Inklusion zu nähern, bedarf der Erklärung, wie Bewegung im Zusammenhang mit den sozialen Prozessen steht. Der Mensch erschließt sich durch Bewegung die Welt. Soll ein Lerngegenstand durch Bewegungen erschlossen werden, spricht man von Bewegungslernen. Körper und Bewegung bilden das menschliche Sein, ein Selbstkonzept und erschließen die Welt (Tamboer 1979, S.16). Der Mensch ist ein aktiv lernendes Subjekt. Auf dieser Grundlage macht der Mensch erste auf seinen und andere Körper und Sinne bezogene Erfahrungen. Das „Sich-Bewegen“ (als anthropologische Grundtatsache des Weltverstehens und soziokulturelles Phänomen) führt zu leiblich-sinnlichen Erfahrungen, die wiederum Bildsamkeit und Selbstbildung des Menschen erst ermöglichen. Jeder Mensch folgt dabei dem eigenen Sinn und seinem individuellen Interesse an einem Gegenstand (vgl. Laging & Kuhn, 2017, S. 3). Leiblich bedeutet in diesem Zusammenhang einen Körper, der beseelt und mit Emotionen ausgestattet subjektive Erfahrungen macht (vgl. Neuber, 2021, S. 36). Dieser Grundsatz betrifft auch die Begegnungen mit seinen Mitmenschen. Unter anderem vollzieht sich ein Vergleich der Bewegungen und Unterschiede werden deutlich. Bewegungsdialoge finden statt, wenn ein Individuum über die Bewegung in eine Beziehung mit seiner sozialen und materialen Umwelt tritt (vgl. Beckmann et al., 2017, S. 6), wie es beispielsweise im Sportunterricht der Fall ist. Im Prozess des Bewegungslernens nimmt sich der Mensch eine Bewegungsaufgabe oder ein Bewegungsproblem vor und findet eine Lösung. Bewegung wird im schulischen Kontext zu einer Bewegungsbildung. Schule ist ein Ort der Bildung und der Sportunterricht ein Raum für Bewegungserfahrung und -bildung im Sinne der für den Menschen bedeutsamen Lösungssuche (Prohl, 2006, S. 170).
Der Gegenstand ist im schulischen Bereich mit einem Lehrstoff (Inhalten) gleichzusetzen.
Der Bildungswert der Schüler*innen liegt darin, aus den Inhalten des Sportunterrichts einen Erfahrungszuwachs zu erreichen - diese Erfahrung unterliegt leiblichen Erfolgen oder Misserfolgen, beziehungsweise einem Können oder Nicht-Können (Prohl, 2006, S. 168). Ähnliche Differenzerfahrungen werden in der Auseinandersetzung mit anderen (zum Beispiel Mitschülerinnen) durch Bewegung gemacht: der Sich-Bewegende erfährt Zugehörigkeit oder Ausschluss. Die Bewegungsbildung an sich vollzieht sich in diesem Verständnis in der subjektiv sinnvollen Auseinandersetzung mit spezifischen Bewegungsproblemen (Neuber, 2021, S. 36). Ein Kind, das auf einem Trampolin-Großgerät springt, erhält nach jedem Sprung eine Rückmeldung durch das Gerät - je nachdem, wie mit welcher körperlichen Einstellung es vorher in das Tuch hineingesprungen ist. Es kann für sein Empfinden zu weit nach vorne oder zu niedrig aus dem Tuch gekommen sein. Diese Rückmeldung bildet das Bewegungsproblem. Das Ziel ist, das Problem zu lösen, also in der Mitte zu bleiben und höher zu springen. Das “wie?”, also die Art und Weise der Vermittlung und die Qualität des Lernens von Bewegungen, sind ebenso wichtig wie das “was?”, also der Inhalt des Lerngegenstandes. Nach Prohl (2006) wird Bewegungsbildung als “qualitativ strukturierter Erfahrungsprozess” ausgelegt - dabei steht aus Vermittlungssicht die bewegungsmäßige Beziehung eines Individuums mit der Welt im Fokus. Laging (2000) greift die Bewegungsbeziehungen auf. In pädagogischer Hinsicht bringt er den Begriff einer “Bewegungskultur” ein, die sich um die Wiederherstellung eines sozialen Erfahrungsraumes dreht. Dieser Raum ist ein Raum der Möglichkeiten, der den Drang nach “Teilhabe, Repräsentation des Alltags und Authentizität in der Kultur” berücksichtigt. Das Individuum und seine gesellschaftliche Teilhabe, die er durch Bewegungsdialoge erlangt, steht im Mittelpunkt (vgl. Laging, 2000, S. 45). Genau diese gesellschaftliche Teilhabe wird im nächsten Kapitel in den Kontext von Inklusion gesetzt. Weichert beschreibt, dass aus gemeinsamen Bewegungsdialogen eine Bewegungsbeziehung entsteht: diese Beziehung ist als „Dialog zwischen Menschen über Bewegung", welcher durch „gemeinsames Handeln in Bezug zueinander zustande kommt", zu verstehen (vgl. Weichert, 1997, S. 46). Das alleinige „Miteinander im Raum" (Weichert, 1997, S. 46) ist dabei nicht als gelungene Bewegungsbeziehung unter den Akteuren zu sehen. Eine gelungene Bewegungsbeziehung entsteht, wenn zwei Lernende über das Bewegungsthema hinaus voneinander und übereinander lernen (vgl. Hildebrandt-Stramann, 2017, S.17): “Wie lerne und handle ich und wie lernen und handeln andere?” (Hildebrandt-Stramann et al., 2017, S. 17).
3. Der Begriff “Inklusion” und seine Bedeutung
Inklusion ist eine der zentralen bildungs- und gesellschaftspolitischen Thematiken der heutigen Zeit geworden (vgl. Hunger et al., 2016, S. 7). Die offensichtliche Wichtigkeit kann nachvollzogen werden, indem die Bedeutung sowie die Herkunft des Begriffes, auch auf international politischer Ebene, untersucht wird. Zudem wird die Nähe zum Begriff der Integration versucht zu klären und die Frage, wie Inklusion mit Separation und Exklusion zusammenhängt.
Auf der Ebene der Wortbedeutung geht “Inklusion” auf das lateinische Wort “includere” zurück, was “einschließen” bedeutet. Übertragen auf eine Gesellschaft bedeutet es “eingeschlossen sein”, dass jemand zugehörig zu einer Gemeinschaft ist. “Exklusiv”, was “ausgegrenzt” oder “nicht für jedermann bestimmt” heißt, wird als Gegenstück des Wortes “inklusiv” behandelt.
Die ersten Versuche, die Begriffe Inklusion und sein Gegenteil, die Exklusion, wissenschaftlich zu beschreiben, fanden in der Soziologie statt (vgl. Hinz et al., 2012). Der Soziologe Talcott Parsons gebrauchte bereits 1971 den Inklusionsbegriff und definierte “Inklusion bezeichnet den Prozess, durch den bisher am Rande oder außerhalb eines Systems stehende Elemente in das System einbezogen werden.” (vgl. Brock et al., 2012, S. 209). Die Exklusion, das Gegenstück der Inklusion, fand in der sozialpolitischen Debatte ebenfalls statt und war auf von der Gesellschaft ausgeschlossene Personen bezogen (vgl. Brock et al., 2012). Diese soziologische Annäherung an den Begriff erklärt ihn lediglich systemtheoretisch. Wie kam es dazu, dass die Inklusion für die Gesellschaft eine Rolle spielte? Um dieser Frage nachzugehen, macht es Sinn, sich die internationalen Entwicklungen anzusehen. Anschließend wird der Begriff im Kontext der Bildungs- und Erziehungswissenschaften betrachtet. Inklusive Vermittlung wird anschließend definiert und auf inklusive Schulen übertragen.
3.1. Gesellschaftliche und politische Prozesse hin zu inklusiver Bildung
Erste gesellschaftliche Bewegungen, die die Rechte von Behinderten stärkten, sind zu ebenfalls in den 70er-Jahren in den USA zu verzeichnen. 1973 kam es zu einer ersten Gesetzgebung, dem “Rehabilitation Act” - gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. In den Folgejahren wurden weitere Gesetze auf pädagogischer Ebene erlassen, die den Weg hin zu einer inklusiven Beschulung ebneten. Bereits 1990 wurde das Recht auf eine Beschulung in Regelschulen für Menschen mit Behinderung durchgesetzt, der “Mainstream Education”. Der Umfang findet weitmöglich statt, nach dem Prinzip einer möglichst wenig exkludierenden Umgebung (vgl. Radtke, 2016, S. 17-18 nach Bürli, 2009, S. 22).
Neben den USA diskutierte die Bildungspolitik in Großbritannien seit den 1940er-Jahren über integrative (nach heutigem Verständnis inklusiven) “Einbeziehungskonzepte”, die Kinder mit “special education needs” in Regelschulen integrieren sollte. Dabei entschieden nach dem Bildungsgesetz von 1981 die Schulen, ob die Kinder regulär oder durch sonderpädagogische Angebote beschult werden sollen. Eine Vereinheitlichung dieses Integrationssystems wurde zu Anfang der 1990er-Jahre durch eine Reform des Schulsystems erwirkt. Die “special schools” wurden zum Ende der 1990er-Jahre in “maninstream schools” oder “mainstream education” benannt (vgl. Radtke, 2016, S. 17-20 nach Bürli, 2009, S. 98-101).
Die Diskussionen und Versuche, inklusive Schulen zu etablieren, reichen in Deutschland jahrzehntelang zurück (vgl. Giese, 2016, S. 30). An dieser Stelle sind exemplarisch einige Entwicklungen herangezogen, die markante Etappen darstellen. Eine Integrationsphase begann in Deutschland in den 60er-Jahren mit Diskussionen in Arbeitskreisen und auf Schulebene. In Deutschland öffneten sich seit den 1970er-Jahren vereinzelte Schulen der Integration von Kindern mit Behinderung, teilweise mit wissenschaftlicher Begleitung. Der deutsche Bildungsrat sprach sich daraufhin 1973 mit den Empfehlungen “Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher” für die Aufnahme von Schüler*innen mit und ohne Behinderung an der gleichen Schule aus (vgl. Giese, 2016, S. 30). Einen Umschwung in der deutschen Bildungspolitik bewirkte auch die viel erwähnte “Salamanca-Erklärung” ebenfalls nicht. Mit der Erklärung von 1994, die auf der Weltkonferenz beschlossen wurde (vgl. UNESCO 1994), soll Schule “Bildung für alle” und damit Unterricht nach den Bedürfnissen aller Schüler*innen angeboten werden (vgl. Meier, Ruin, 2018, S. 9). Die Salamanca-Erklärung markiert einen der Meilensteine hin zu einer Inklusion in den Schulen, denn in der Weltkonferenz wurde über den Wandel in der Bildungslandschaft der Länder diskutiert, um inklusive Bildung möglich zu machen (vgl. Radtke, 2016, S. 21). Politische Reformen blieben jedoch aus, sodass bis zur Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (vgl. UN, 2008, S. 15-16) am Sonderschulsystem festgehalten wurde (vgl. Radtke, 2016, S. 13-15). Erst mit der UN-Behindertenrechtskonvention führte das Umdenken, das in der Salamanca-Erklärung von 1994 festgehalten worden ist, zu Umstrukturierungen. Die Behindertenrechtskonvention wurde 2009 in Deutschland ratifiziert und trägt maßgeblich dazu bei, die Rechte von Menschen mit Behinderung im schulischen Kontext zu stärken. Die wichtigsten Aussagen, die auf die Rechte aller Menschen übertragbar sind, ob mit oder ohne Behinderung, sind dabei die Folgenden. Fachkräfte im Bildungs- und Erziehungssektor soll gezielt geschult werden. Inklusion kennt nach dem Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention keine Einschränkung in Hinsicht auf den Personenkreis, sie gilt auch für Menschen mit einer starken Beeinträchtigung. Es ist Sorge dafür zu tragen, dass alle Menschen einen diskriminierungsfreien Zugang zum kulturellen Leben und an Sportevents haben. Kooperationen mit Sportvereinen in Ganztagsschulen sind mit eingeschlossen (vgl. Seitz, 2012, S. 163-164).
Artikel 24 führte dazu, dass alle Schulen inklusive Schulen geworden sind: Artikel 24 bezieht sich explizit auf das Schul- und Bildungswesen und legt das Recht auf eine “volle und gleichberechtigte Teilhabe an der Bildung” fest (vgl. UN 2008, S. 15-16).
3.2. Inklusion und Integration
Im Kapitel über das Bewegungsverständnis ist bereits auffällig, dass die Verwendung der Begriffe Integration und Inklusion nah beieinander. Viele Autoren älterer Texte verwenden den Begriff Integration, der sich im aktuellen Diskurs als synonym mit dem aktuell verbreiteten Begriff Inklusion einstufen lässt. Per se sind jedoch klare Unterschiede der beiden Begrifflichkeiten zu berücksichtigen. Um einen erklärenden Überblick über den Unterschied zwischen den Begriffen zu erhalten, kann Inklusion im Zusammenhang verschiedener, unterordnender Modelle betrachtet werden. Diese teilen die Inklusion als Teil eines Prozesses (Sliwka 2010) und unabhängig betrachtet (Zimmer 2014, S. 25) ein. Sie ähneln sich jedoch stark in der Grundidee. Zimmer (2014, S. 24-32) sieht die Inklusion als Vielfaltsgruppe, in der im Gegensatz zur Integrationsgruppe keine Sondergruppen gekennzeichnet werden (vgl. Abbildung). Der zentrale Unterschied zur Integration besteht darin, dass eine mit einem Merkmal versehene Gruppe, nach einem Akt der Aussonderung, z.B. durch die Diagnostik, in eine Gruppe wieder integriert wird. Inklusion hingegen wird so verstanden, dass eine Unterschiedlichkeit der Menschen hingenommen wird und nicht als Sonderfall angesehen wird. Da eine vermeintlich besondere Gruppe nicht gesondert behandelt wurde, ist bei einer Inklusion eine Integration nicht notwendig. Exklusion und Separation nehmen eine Ausgrenzung vor: bei der Exklusion sind Personen aus der Gruppe ausgeschlossen und befinden sich als Einzelpersonen alleine außen vor. Bei der Separation bleibt eine definierte Gruppe außen vor.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Exklusion, Separation, Integration und Inklusion (vgl. Zimmer, 2014, S. 25)
Sliwka (2010) stellt die Begriffe als einen Prozess von der Homogenität über die Heterogenität hin zur Diversität dar (siehe Abbildung 2). In der Phase der Homogenität werden die Lernenden als vergleichbar und als gleich zu behandeln gesehen. Der Übergang zur Heterogenität geschieht, sobald die Lernenden als unterschiedlich wahrgenommen und der Befriedigung ihrer Lernbedürfnisse halber Modifikationen vorgenommen werden. Gleichzusetzen ist diese Phase mit der Integration. Zu einer Inklusion kommt es in der letzten Phase der Diversität. Die Unterschiedlichkeit der Lernenden wird als Ressource für individuelles und wechselseitiges Lernen genutzt. Die “Etappen” überlappen sich und folgen nicht aufeinander. Sie können unterschiedlich lange dauern (vgl. Sliwka, 2010, S. 205-217).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Von der Homogenität zur Diversität (vgl. Sliwka 2010, S. 205-217)
Der kennzeichnende Unterschied zwischen Integration und Inklusion, dem die genannten Modelle folgen, ist, dass in der Inklusion die Teilhabe aller im Vordergrund steht und keine merkmalbehafteten Gruppen eine Sonderstellung einnehmen.
3.3. Das allgemeine Inklusionsverständnis in den Bildungswissenschaften
Die personal verschiedenen Auffassungen von Inklusion und Integration zeigen, dass Differenzen in den Definitionen der Fachwissenschaftler*innen vorhanden sind. Beim Begriff der Inklusion hat sich eine Zweiteilung des Begriffes in den Bildungswissenschaften etabliert. So findet sich in der Fachliteratur oft eine Einteilung der Inklusion in zwei Begriffe gliedern: ein “enges” und “weites” Begriffsverständnis (vgl. Hunger et al. 2016, S. 7). Das “weite” Inklusionsverständnis bezieht sich auf einen breiten Heterogenitätsbegriff. Alle Menschen, ungeachtet ihrer soziodemographischen Merkmale, individueller Fähigkeiten oder Kompetenzen sowie Lebenseinstellungen oder -konzepten, sind hierbei einbezogen und haben das Recht auf umfassende Teilhabe. Das Gegenteil eines “weiten” Inklusionsverständnisses ist ein “enges“ Inklusionsverständnis, welches bedeutet, das sich auf nur eine Heterogenitätsdimension einer vulnerablen Gruppe, oft auf eine körperliche oder geistige Behinderung, bezogen wird (vgl. Hunger et al. 2016, S. 7).
Neben der Einteilung in ein enges und weites Inklusionsverständnis (vgl. Radtke, 2016, S. 7), finden sich weitere Versuche der Systematisierung dieser in der Fachwissenschaft. Nach Brodkorb (2014) können Unterschiede in puncto Reformtempo, endgültiges Ziel in Hinblick auf den Bestand oder Nicht-Bestand von Institutionen, in Bezug auf die Akzeptanz der Bildungsstandards sowie der Stellung zu Kategorisierungen festgestellt werden. Er nimmt eine Einteilung in totale, holistische, gemäßigte und approximative Verständnisse von schulischer Inklusion vor (vgl. Brodkorb, 2014, S. 422-447). Ahrbeck (2015) zeigt Unterschiede in den genannten Reichweiten der Inklusion auf, indem er exemplarische Beiträge zur Inklusion aufwirft: von dem Beginn eines neuen Zeitalters für die Welt des Zusammenseins (vgl. Dreher, 2012, S. 30) über eine “kopernikanische Wende der Behindertenpädagogik” (Wocken, 1990, S. 39) und einem Endzustand der Entwicklung (vgl. Wocken, 2012, S. 72) besteht keine einheitliche Auffassung. In der Fachwissenschaft existieren unterschiedliche Ausformulierungen zur schulischen Inklusion (vgl. Ahrbeck, 2015, S. 27-28). Dieses Ergebnis ist für die vorliegende Arbeit festzuhalten.
3.4. Das Verständnis inklusiver Vermittlung in den Bildungswissenschaften
Die fachdidaktischen Expertinnen folgen geschlossen dem weiten Inklusionsverständnis, was sich an Auszügen der Beiträge der Bildungswissenschaftler*innen belegen lässt. Diese nehmen die Bildungspolitik und Schulen in die Pflicht, die Angebote so zu gestalten, als dass sie sich der Heterogenität der Kinder anpassen. “Inklusion ist zu verstehen als eine Chance didaktischer Veränderungen” (Hildebrandt-Stramann et al., 2017, S. 8 nach Zimmer, 2014, S. 25). Dabei richtet sich die inklusive Pädagogik und Didaktik an eine vielfältige Schülerschaft. Einzig allein die Vielfalt ist die Norm, andernfalls wird ein Schüler mit Einschränkung als Störfaktor und nicht als Bereicherung der Gruppe gesehen (vgl. Tiemann, 2022, S. 15). Diese Vielfalt zeichnet sich durch kulturelle, soziale, sprachliche, geschlechtliche Vielfalt, Altersvielfalt, verschiedene Lernvoraussetzungen sowie körperliche Leistungen und Interessen aus (vgl. Tiemann, 2022, S. 15). Diesem Verständnis folgen Scheid & Friedrich (2018), die inklusives Unterrichten so formulieren: eine grundlegende Akzeptanz von Heterogenität und Vielfalt ist Voraussetzung, um in gemeinsamen und differenzierten Lernsituationen eine Förderung individueller sowie sozialer Kompetenzen anzustreben (vgl. Scheid, Friedrich, 2018, S. 49).
Seitz (2012) definiert inklusiven Unterricht als “Weiterentwicklung eines guten differenzierten Unterrichts, in dem jedes Kind sozial eingebunden an der aktuellen individuellen Leistungsgrenze lernen kann” (vgl. Seitz, 2012, S. 165). Die (ständige) Anpassungs- und Veränderungsprozess auf Seite der Bildungsinstitutionen erhielt bereits in der erwähnten Salamanca-Erklärung von 1994 Erwähnung (“Schools have to find ways of successfully educating all children” (UNESCO, 1994, S. 6)) und wird seitdem entsprechend in der Fachdidaktik verfolgt.
3.5. Der Inklusionsbegriff in der niedersächsischen Schulpolitik
Die Frage, wie die Institution Schule den Begriff Inklusion für die ihnen unterstellten Schulen in Niedersachsen zu klären, ist eine Aufgabe des Niedersächsischen Kultusministeriums. Das Kultusministerium ist die oberste Schulbehörde für das allgemein- und berufsbildende Schulwesen in diesem Bundesland. Die Schulpolitik in Niedersachsen folgt einem weitreichenden Inklusionsverständnis, einem “umfassenden Konzept des menschlichen Zusammenlebens” (Kultusministerkonferenz, 2011, S. 3). Für die Schulen ergibt sich daraus ein “gleichberechtigter Zugang zu Bildung für alle und das Erkennen sowie Überwinden von Barrieren” (Kultusministerkonferenz, 2011, S. 3). Von der Kultusministerkonferenz wird das Inklusionsverständnis durch handlungsleitende Grundsätze verdeutlicht: die Schüler*innen “mit und ohne Behinderungen an jedem Lernort ihren Bedürfnissen entsprechend lernen” können und mit der “notwendigen Qualität” und im “erforderlichen Umfang” unterstützt werden (vgl. Kultusministerkonferenz, 2011, S. 3f.). Darüber hinaus arbeiten Akteure, die an dieser Förderung einen Anteil haben, zusammen und finden einen Weg, ein qualitativ hochwertiges gemeinsames Lernen anzubieten (vgl. Kultusministerkonferenz, 2011, S. 3f.).
Damit wird der Schwerpunkt auf das gemeinsame Lernen der Schüler*innen gelegt, allerdings mit einer Eingrenzung auf Menschen mit und ohne Behinderung, beziehungsweise auch auf das Lernen von Kindern mit und ohne diagnostizierten Förderschwerpunkt. Weiter heißt es: über Differenzierungsmodelle sollen “auch Menschen mit Behinderung Zugang zu bestimmten Bewegungserfahrungen” finden (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium, 2016, S. 14).
Diese Eingrenzung hat ihren Ursprung in der Formulierung der Vereinten Nationen. Die UN-Behindertenrechtskonvention (vgl. United Nations, 2008, S. 15-16) bezieht sich auf Menschen mit einer festgestellten körperlichen und/oder geistigen Behinderung. Sie bezieht zwar ausdrücklich auch Menschen mit einer psychischen oder seelischen Erkrankung ein. Die UN-Behindertenrechtskonvention (vgl. United Nations, 2008, S. 15-16) bezieht sich auf Menschen mit einer festgestellten körperlichen und/oder geistigen Behinderung sowie Menschen mit einer psychischen oder seelischen Erkrankung. Auf diese pädagogische Empfehlung übertragen, die das Niedersächsische Kultusministerium mit den Handlungsauftrag bereithält, ist die Kategorisierung in Menschen mit und ohne Behinderung (oder auch Kinder mit oder ohne einem festgestellten Förderschwerpunkt) für das pädagogische Handeln wenig hilfreich. Diese Gruppierung, die das Niedersächsische Kultusministerium vornimmt, stellt keine homogene Personengruppe dar (vgl. Giese & Weigelt, 2015, S. 55).
In der Konsequenz bedeutet die Einschulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung jedoch, dass die Schülerschaft deutlich diverser wird. Jedoch wird im weiteren Verlauf des Zusatzmaterials “Sport mit heterogenen Lerngruppen” (Niedersäschisches Kultusministerium, 2016, S. 12ff.) die Zielgruppe als heterogene Lerngruppe statt der vorher genutzten Kategorisierung bezeichnet. Diese Bezeichnung wird im Verlauf der vorliegenden Arbeit ebenfalls verwendet, da eine Fokussierung auf den Unterricht für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung zahlreiche Heterogenitätsdimensionen außer Acht lässt und somit die Zielgruppe nicht der Realität in den Klassenzimmern entsprechen würde.
4. Umsetzung der Inklusion: Inklusive Schulen
Die Begründung dafür, dass jede Schule eine inklusive Schule ist, wird in der Fachliteratur durchgängig durch die UN-Behindertenrechtskonvention (vgl. UN, 2008, S. 15-16) geliefert. Es stellt sich die Frage, wie diese Konvention in den Kontext der deutschen Schulen einzuordnen ist. Der Ursprung der UN-Behinderrtenrechtskonvention (vgl. UN, 2008, S. 15-16) liegt bei den auf internationaler Ebene agierenden Vereinten Nationen (UN). Doch auf welchen Nährboden trafen die Vorgaben der UN in Deutschland? Wie bereits in Kapitel 3.1. beschrieben, kam es im Bildungssystem Deutschlands zuvor, bis in die 2000er-Jahre hinein zu keinen Reformen inklusiver Pädagogik, jedoch zu einer Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderung (vgl. Radtke, 2016, S. 15). In der schulischen Praxis gab es eine Aussonderung, denn Schülerinnen durften vom Besuch der Schule ausgeschlossen werden, wenn sie nach bestimmten Kriterien nicht beschulbar waren (vgl. Seitz, 2012, S. 163). Es hat sich ein fest etabliertes Sonderschulsystem aufgebaut, indem in 13 verschiedene Typen von Sonderschulen differenziert worden ist (vgl. Seitz, 2012, S. 163).
Als Reaktion auf die UN-Behindertenrechtskonvention (vgl. UN, 2008, S. 15-16) - besonders auf Artikel 24, der das Recht auf eine “volle und gleichberechtigte Teilhabe an der Bildung” festlegte (vgl. UN 2008, S. 15-16) - musste sich das Bildungssystem in Deutschland Schritt für Schritt auf die Umstellung in ein (teil-)inklusives Schulsystem vorbereiten (vgl. Radtke, 2016, S. 16). Das Schulwesen in Deutschland befindet sich seither in einer ständigen Entwicklung in Bezug auf die Erfüllung neuer Richtlinien zur inklusiven Beschulung. Von den Bildungsbeauftragten der Bundesländer wurden Gesetze zur konkreten schulischen Umsetzung der UN-BRK entwickelt. So wird in Niedersachsen wurde seit dem Schuljahr 2013/2014, beginnend mit den Schuljahrgängen 1 und 5, die inklusive Beschulung verbindlich eingeführt. Eltern ist es dennoch freigestellt, ihr Kind in einer Förder- oder Regelschule beschulen zu lassen. Oder aus Schulsicht: “Die Umstellung auf ein inklusives Schulsystem bedeutet für Lehrkräfte den Abschied von der tradierten Möglichkeit, einzelne Kinder an Sonderschulen abgeben zu können.” (Seitz, 2012, S. 165). Jede Regelschule in Niedersachsen ist eine inklusive Schule und bietet damit allen Kindern und Jugendlichen einen diskriminierungsfreien Eintritt in das System Schule. Seit dem Schuljahr 2021/2022 ist die inklusive Beschulung in allen Schuljahrgängen eingeführt. Auf Seiten der Förderschulen bestehen weiterhin Einrichtungen für die Förderschwerpunkte emotionale und soziale Entwicklung, geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Hören, Sehen und Sprache. Das Angebot der Förderschulen Lernen läuft bis 2028 vollständig aus, die betroffenen Schülerinnen werden an Regelschulen betreut (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium, 2022). Es stellt sich die Frage, wo die Grenzen des gemeinsamen Unterrichts dabei sind. Oder im Umkehrschluss: wie erreichen alle Kinder bei einer gemeinsamen Beschulung einen Lernfortschritt, wenn in Einzelfällen ein Unterricht im Klassenraum nur eingeschränkt möglich ist? “Eingeschränkt” bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sie aufgrund von Lernbeeinträchtigungen oder aufgrund ihrer geistigen oder körperlichen Fähigkeiten auf eine besondere Unterstützung, Beratung oder Betreuung angewiesen sind. Es werden für die Schülerinnen in Form von diagnostizierten Förderschwerpunkten Differenzierungen vorgenommen, die die Handlungen der Lehrkraft teilweise leiten. So sind Maßnahmen zu treffen, die eine sonderpädagogische Unterstützung hinzuziehen, wenn nötig (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium, 2016, S. 10). In Abhängigkeit von den diagnostizierten Beeinträchtigung ergeben sich unterschiedliche Anforderungen für den schulischen Kontext. In Bezug auf die Leistungsanforderungen wird zwischen den Förderschwerpunkten unterschieden. Eine zieldifferente Beschulung anhand der Bestimmungen der Förderschulen erhalten Schülerinnen mit einem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung und Lernen. Die übrigen Förderschwerpunkte werden zielgleich mit ihren Mitschülern ohne Förderschwerpunkt unterrichtet, erhalten jedoch einen Nachteilsausgleich (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium, 2016, S. 10). Um den Zeitumfang exkludierender Maßnahmen wie zum Beispiel die Einzelförderung möglichst gering zu halten, ist eine Anpassung des gemeinsamen Unterrichts durch die Lehrkraft notwendig. Denn: Eine “Sonderförderung” sollte darüber hinaus auf einem Minimalniveau gehalten werden, folgt nicht dem Prinzip des gemeinsamen, inklusiven Unterrichtens (vgl. Seitz, 2012, S. 165). Die Aussonderung führt zu Diskriminierungen und kann lernhemmend sein (vgl. Seitz, 2012, S. 163).
Eine Lerngruppe wird jedoch nicht erst zur inklusiven Gruppe, sobald sich Kinder mit Förderschwerpunkt in ihr befinden - das Verständnis von Inklusion geht darüber hinaus, wie in Kapitel 3.2. beschrieben. Kinder mit einem diagnostizierten Förderbedarf müssen in der Planung und Durchführung des Unterrichts mitgedacht werden, der Unterricht sollte sich jedoch nicht auf das gleichsame Lernen dieser beiden Zielgruppen reduziert werden (vgl. Tiemann, 2018, S. 54). An dieser Stelle geschieht ein Übergang von der schulischen auf die unterrichtliche Ebene. Für Lehrkräfte an Regelschulen bedeutet die Veränderung in der Schülerschaft, wie bereits in Kapitel 3.4. beschrieben, dass sie den Unterricht anpassen müssen. Es bedarf auf Seiten der Lehrkräfte Kompetenzen, die den Anforderungen inklusiven Unterrichtens gerecht werden. Welche Kompetenzen dabei gemeint und gefordert sind, lässt sich durch das bereits in der Einleitung beschriebene “dimensionale Kompetenzmodell” für Sportlehrkräfte von Nils Neuber (2020), das auf dem Kompetenzmodell für Lehrkräfte von Ewald Terhart basiert (vgl. Terhart, 2007, S. 50) strukturieren (siehe Abbildung 3). Dabei ergeben sich diese Kompetenzen gleichermaßen aus moralischen (Haltung), kognitiven (Wissen) und praktischen (Handlungs-)Aspekten (vgl. Terhart, 2007, S. 49-50). Das Modell besteht aus drei Dimensionen. Zum einen werden die Kenntnisse und das Wissen über die Sache (Schule, Unterricht, Akteure) angesprochen. Eine weitere Kompetenzdimension betrifft das Selbstverständnis und die pädagogische Haltung der Lehrkraft. Die dritte Dimension bezieht sich auf die didaktische Handlungsfähigkeit und das didaktische Denken. Die Dimensionen bilden die Grundlage und Qualifikation für das pädagogische Handeln der Lehrperson, auch im inklusiven Unterricht. Sie bieten daher im Folgenden eine geeignete Struktur.
Die Anpassung des Unterrichts hin zu einem inklusiven Lernen wird zunächst für das Fach Sport und anschließend auf das Bewegungsfeld Turnen und Bewegungskünste untersucht.
5. Der inklusive Sportunterricht
Bevor man sich mit dem Bewegungsfeld Turnen und Bewegungskünste sowie dessen inklusiven Potenzial auseinandersetzt, behandelt dieses Kapitel den inklusiven Anspruch am allgemeinen Sportunterricht. Generell besteht Sportunterricht auf institutioneller Ebene aus der gezielten Planung, Durchführung und Auswertung von Lehr-Lernprozessen im Bereich von Bewegung, Sport und Spiel (vgl. Neuber, 2020, S. 11). Der erziehende Sportunterricht hat einen Doppelauftrag, einerseits zum Sport und durch Sport. Eine Erziehung zu Sport und Bewegung bedeutet, eine Bewegungsbildung zu verfolgen. Eine Erziehung durch Sport fördert eine individuelle Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Balz, 2009, S. 25-32). Diese Zielsetzung verfolgt der inklusive Sportunterricht ebenso, nur mit einer gegebenenfalls veränderten Zielgruppe.
Der sensible Umgang mit einer stark heterogenen Lerngruppe ist von besonderer Wichtigkeit und wird anhand des “diversitätssensiblen Unterrichts” im Folgenden dargestellt. Im darauffolgenden Unterkapitel werden grundlegende Bedingung des inklusiven Sportunterrichts in Bezug auf die Zielgruppe, Kategorisierungen, soziale Interaktionen und die Haltung der Lehrkraft, Bewegungsbeziehungen, Offenheit der Aufgaben und Lösungen sowie die Ansätze des beziehungsorientierten und mehrperspektivisches Unterrichten.
5.1. Die veränderte Zielgruppe im inklusiven Sportunterricht
Mit der Einführung des inklusiven Schulangebots im Schuljahr 2013/2014 sind die Voraussetzungen komplexer geworden, denn die Zielgruppe des Sportunterrichts ist verändert. Die Schülerschaft wird vielfältiger, oder dem fachlichen Terminus folgend: “diverser”. Neu ist diese Entwicklung zur Vielfalt jedoch nicht - allein die körperlichen Voraussetzungen der Schülerschaft sind in den letzten Jahren durch zahlreiche äußere Faktoren wie zuletzt einem Bewegungsmangel durch die Covid-19-Krise (vgl. Woll et al., 2021, S. 4-8) unterschiedlicher geworden. Seit jeher existieren Unterschiede zwischen der Leistungsfähigkeit der Körper der Schüler*innen, die im Sportunterricht offensichtlich ins Auge fallen. Im Kontext des inklusiven Unterrichts können sie verstärkt auffallen: ein Rollstuhl deutet offensichtlich auf eine Besonderheit hin, ebenso wie es Bewegungen zeigen, die sich von den Bewegungen der Mitschülerinnen unterscheiden. Fehlende Körperteile, Narben und Deformationen werden durch Sportkleidung unter Umständen sichtbarer als in alltäglicher Kleidung, die im Klassenraum getragen wird. Aus der verschiedenen Körperlichkeit ausgelöste, verbale und non-verbale Reaktionen durch Mitschülerinnen können auftreten. Nicht nur die körperlichen, sondern auch die verhaltensmäßigen Auffälligkeiten werden durch die sportlichen Interaktionen mit den Mitschülerinnen verstärkt deutlich. Auch die kognitiven Fähigkeiten und die Artikulationsfähigkeit sind zu beachten. Ebenso die Interessenlage der Schüler*innen. Verschiedene Kinder gehen außerdem mit unterschiedlicher Motivation an eine Sportstunde. Einige sind sportbegeistert, andere weniger. Unzählige weitere Diversitätsmerkmale herrschen in einer Schulklasse. Exemplarisch können sie in der Abbildung der Heterogenitätsdimensionen abgebildet werden (vgl. Duensing-Knop et al., 2018, nach Cwierdzinski & Fahlenbock, 2004, siehe Abbildung 4)
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- Citar trabajo
- Le Heite (Autor), 2023, Inklusives Unterrichten im Bewegungsfeld Turnen und Bewegungskünste, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1365418
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