Die Arbeit behandelt das Thema "Zur jüdischen Identität des Journalisten und Historikers der deutschen Arbeiterbewegung: Gustav Mayer (1871-1948)".
Gustav Mayer war ein schöpferischer und dialogfähiger Korrespondent, Historiker, Forscher, Archivleiter und verfassungstreuer Hochschullehrer. Als inoffizieller Mitarbeiter des deutschen Außenministeriums beteiligte er sich im Rahmen der Zweiten Internationale an den Friedensbemühungen in Europa. Als akkulturierter deutscher Jude war er ein Repräsentant des Fortschritts, der Humanität basierend auf Bibel, deutscher Klassik, Aufklärung und einer Synthese aus Ranke und Marx.
Zur jüdischen Identität des Journalisten und Historikers der deutschen Arbeiterbewegung: Gustav Mayer (4.10.1871-21.2.1948)
Der interdisziplinär verwendete Begriff Identität spielt auch in der Geschichtswissenschaft eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Entwicklung der bewußten modernen und traditionellen Wertvorstellungen geistig schöpferischer Persönlichkeiten als sozial handelnde Mitmenschen diachron zu beschreiben und zu erklären. Im Laufe seiner Sozialisation bildet das Individuum aufgrund seiner Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Gruppen und bei der Ausbildung beruflicher Qualifikationen vielfältige Identitäten aus, wobei es die schöpferische Persönlichkeit schafft, die einzelnen Identitäten miteinander auszubalancieren und lebensgeschichtlich zu verknüpfen. So postuliert die Wissenschaft z.B., daß das schöpferische Individuum seine Ich-Identität unter der Voraussetzung aufbauen kann, daß es seine personale und soziale Identität in einer Balance zu halten vermag.1
Gustav Mayer war zweifellos eine solche schöpferische Persönlichkeit. Es gelang ihm mit Hilfe seiner außergewöhnlichen Dialogfähigkeit und Mobilität, seine kulturelle Identität2 als Verwender der deutschen Sprache, seine beruflichen Identitäten als Korrespondent der "Frankfurter Zeitung" und als Historiker der deutschen Arbeiterbewegung mit seiner Gruppenidentität als Angehöriger der deutschen jüdischen Minderheit fruchtbar zu verbinden. Obwohl zeitlebens kein Mitglied der SPD, gehörte ihr reformistischer Flügel doch seiner Sympathie3, was ihn, den bürgerlichen Intellektuellen, aber nicht hinderte, mit Karl Radek oder Politikern der USPD wie Hugo Haase oder Karl Kautzky oder auch mit Parteilosen wie Brockdorff-Rantzau zu sprechen, um sich beruflich zu orientieren. Die internationale Dimension seiner beruflichen Tätigkeit als Korrespondent in Amsterdam, Den Haag, Paris und Brüssel und als Beobachter der Kongresse der Sozialistischen Internationale in Amsterdam (1904), Stuttgart (1907) und Kopenhagen (1910) brachte es mit sich, daß er auch mit holländischen, belgischen, französischen und englischen sozialistischen Politikern Gespräche führte. Seine kulturelle Kontaktfreudigkeit zeigten seine Freundschaften mit Malern und Schriftstellern, was nicht verwundert, da er doch selbst neben journalistischen Artikeln und wissenschaftlichen Abhandlungen, Biographien und Quelleneditionen auch fiktionale und lyrische Texte verfaßte, über die er mit seiner Freundin Vally Cohn sprach.4
Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, mit welchen Gegenständen sich Gustav Mayer als Historiker und Privatgelehrter beschäftigte, nachdem er sich entschlossen hatte, seine journalistische Tätigkeit bei der "Frankfurter Zeitung" zu beenden. Ein Hinweis gibt uns die Festschrift aus Anlaß des 50jährigen Bestehens der "Frankfurter Zeitung" im Jahre 1906, für die Gustav Mayer u.a. den Artikel "Die Arbeiterbewegung" schrieb. Neben Franz Mehring war Mayer der einzige deutsche Historiker, der sich kontinuierlich mit der Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie und ihren führenden Persönlichkeiten beschäftigte. Da Mayer schon als 22jähriger seine Promotionsarbeit mit dem Thema "Lassalle als Sozialökonom" (Berlin 1894) auf Vorschlag seines Freiburger Doktorvaters Georg Adler verfaßte, verwundert es nicht, daß Mayer im Jahre 1909 eine Biographie über Johann Baptist von Schweitzer, den Nachfolger Lassalles in der Führung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, erscheinen ließ, der zehn Jahre später der erste Band seiner Engels-Biographie folgte. Der Vorwurf, Mayer sei ein Vertreter einer personalistischen Geschichtsschreibung, kann allerdings nicht erhoben werden, wie nachfolgendes Zitat von Wehler zeigt:
"Mayer hat seine Zentralfiguren immer ganz breit in die allgemeine Situation ihrer Zeit, in den Zusammenhang von Politik und Ideen, auch von Wirtschaft und Gesellschaft hineingestellt, sich aber nie ausschließlich auf die individuelle Entwicklung der Persönlichkeiten beschränkt, so verständnisvoll er diese auch nachzuzeichnen wußte."5
Typisch für die Methode des Historikers Mayer war, daß "er in großem Stil die Presse als Geschichtsquelle nutzte"6 und sich erfolgreich darum bemühte, den Nachlaß Lassalles und den des ultra-liberalen Königsberger Arztes Johann Jacoby aufzufinden und historisch zu bearbeiten.
"Mit seinem geradezu detektivischen Scharfsinn gelangen Mayer zahlreiche Entdeckungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Durch die Entschlüsselung des Pseudonyms [Friedrich Oswald], unter dem der frühe Engels schrieb, vermochte er die Entwicklung des jungen Engels zu erhellen; die Auffindung des Nachlasses von Ferdinand Lassalle, aus dem Mayer zwischen 1921 und 1925 sechs Bände Briefe und Schriften veröffentlichte, war eine wissenschaftliche Sensation. Und auch seine Forschung über den vormärzlichen bürgerlichen Radikalismus konnte er, vor allem durch Auswertung des Nachlasses von Johann Jacoby, wesentlich vorantreiben."7
Bei seiner Vormärzforschung analysierte Mayer insbesondere die unterschiedlichen Richtungen der linkshegelianischen Opposition der Jahre 1840-44, ihren "Selbstverständigungsprozeß" und ihre politischen Ziele während der repressiven, spätabsolutistischen Regentschaft Wilhelm IV. Während der kurzen Zeit der Pressefreiheit (Dezember 1840 bis Januar 1843) artikulierten die ostpreußischen Liberalen wie Johann Jacoby ihre demokratischen Reformvorschläge z.B. in der "Königsberger Zeitung", während die Radikalen ihren "Ruf nach der parteipolitischen Organisation 'des Volkes' und die sozialstaatliche Republik" anvisierten und ihre Kritik an dem undemokratischen preußischen Regierungssystem z.B. in der "Rheinischen Zeitung" äußerten.8
In der Monographie "Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland (1863-1870)" [Leipzig 1911] stellte Mayer dar, warum die bürgerliche Fortschrittspartei und die linksliberale Deutsche Volkspartei, zu deren Gründungsvätern auch Leopold Sonnemann, der Herausgeber der "Frankfurter Zeitung", gehörte, keine Alternative zu Lassalles Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (gegr. Leipzig 1863) bzw. der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Eisenach 1869) für die proletarischen Arbeiter sein konnte, obwohl es Anfang der 1860er Jahre durchaus persönliche Kontakte zwischen Politikern beider Richtungen gab und auch gewisse verfassungspolitische und sozialpolitische Kongruenzen feststellbar sind. Doch die auch in Preußen zwischen 1848 und 1873 durchschlagende Industrielle Revolution verschärfte die sozialpolitischen Interessen und Differenzen zwischen linksliberalen bürgerlichen und proletarischen Demokraten derart, daß sie nur in unterschiedlichen Parteien vermittelt werden konnten. "Die Lassallesche Partei war von Anbeginn an Anhängerin eines zentralisierten Einheitsstaats und Gegnerin der Viel- und Kleinstaaterei gewesen"9, während sich die Anhänger der Deutschen Volkspartei im September 1865 in Darmstadt im Anschluß an den jährlichen Vereinstag deutscher Arbeitervereine auf ein 'provisorisches Programm' einigten, in dem es heißt: 'Keine preußische, keine österreichische Spitze; föderative Verbindung der gesamten, unter sich gleichberechtigten deutschen Staaten und Stämme, mit einer über den Einzelregierungen stehenden Bundesgewalt und Nationalvertretung. Die Deutsche Volkspartei zielte im verfassungspolitisch sehr modernen Sinne auf die Errichtung einer 'föderativen Republik', auf 'eine deutsche Eidgenossenschaft'.10 Auch Bebel, der Präsident des von Leopold Sonnemann im Jahre 1863 zum Trotz gegen Lassalle gegründeten Verbandes deutscher Arbeitervereine, zielte im Rahmen der Sächsischen Volkspartei auf einen sozialdemokratischen, großdeutschen und antipreußischen Volksstaat. Es waren nicht so sehr verfassungspolitische Zielsetzungen als unterschiedliche Auffassungen in der Eigentumsfrage, die Linksliberale von Sozialdemokraten trennten. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei hatte seit ihrer Gründung das Programm der Internationalen Arbeiterassoziation in das ihrige aufgenommen. Nachdem sich eine Mehrheit der Delegierten des Kongresses der Internationalen Arbeiterassoziation, die am 5. September 1869 in Basel zusammentrat, "für die Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden und für dessen Umwandlung in gemeinsames Eigentum aussprach"11, ergab sich für die Deutsche Volkspartei die Frage, ob die Sozialdemokratische Arbeiterpartei diese Resolution bestätigen würde. Als Bebel auf dem ersten Jahreskongreß Anfang Juni 1870 sich in einem Referat für "die Verwandlung des Ackerlandes in gemeinschaftliches Eigentum" aussprach, da er diese Politik "für eine gesellschaftliche Notwendigkeit" erachtete und Liebknecht der Volkspartei vorwarf, kein Programm zu haben, denn 'Preußenhaß ist kein Programm', war der Bruch zwischen Linksliberalen, die das Privateigentum schützen wollten, aber eine staatliche Sozialpolitik durchaus unterstützten, besiegelt.12
Die Deutsche Volkspartei, die nie mehr als elf Abgeordnete in den Reichstag entsandte, schloß sich später der Fortschrittlichen Volkspartei an (1910), nachdem sich die freisinnigen Parteien des Nordens vom Manchestertum abgewandt hatten.13
Nun zu der Frage, ob Gustav Mayer eine eigene Geschichtsauffassung ausbildete. Staat, Wirtschaft und Kultur waren ihm gleichgewichtige Mächte, und dem Rankeschen Primat der Außenpolitik setzte er nicht einseitig den Primat der Innenpolitik gegenüber, sondern er versuchte, die Interdependenz von Innen- und Außenpolitik zu betonen. In seinen eigenen Worten bestimmten die 'Machtschichtung der nebeneinander bestehenden Staaten' und die 'ökonomische und soziale Klassenschichtung innerhalb der Staaten die Strömung des geschichtlichen Lebens auf entscheidende Weise'.14 Seine Neigung zur Interdisziplinarität zeigt seine historiographische Forderung nach einer 'Synthese von Ranke und Marx', wie er sich in einem Gespräch mit Meinecke im Jahre 1918 ausdrückte. Doch im Mittelpunkt seiner biographisch-geisteswissenschaftlich orientierten Arbeiten stehen eben 'herausragende Gestalten der Arbeiterbewegung', mit denen sich Friedrich Meinecke und seine Schule nicht beschäftigten.15 Auch wenn Mayer es nicht schaffte, sich im Alter von 45 Jahren an der Berliner Universität zu habilitieren, da dies von der Mehrheit der alldeutschen Professoren verhindert wurde, verwundert es nicht, daß er im Jahre 1919 vom Preußischen Kultusministerium einen Lehrauftrag für die Geschichte der Demokratie und des Sozialismus erhielt und für ihn im Jahre 1922 eine außerordentliche Professur für die Geschichte der Demokratie, des Sozialismus und der Geschichte der politischen Parteien eingerichtet wurde. Charakteristisch für Mayers politische Einstellung war es, daß er Mitinitiator der "Vereinigung verfassungstreuer Hochschullehrer" war, die 1926 zum ersten Mal in Weimar tagte. Dieser Kreis von Hochschullehrern, der selbst eine Minderheit bildete, war bestrebt, gegenüber der Öffentlichkeit gemäßigt zu erscheinen, weshalb Pazifisten und Sozialisten wie z.B. der Althistoriker Arthur Rosenberg und die Historikerin Hedwig Hintze erst gar nicht eingeladen wurden.16
Nachfolgend sollen nicht die beruflichen Identitäten von Gustav Mayer im Vordergrund stehen, sondern es sollen zunächst seine sprachlich ausgedrückten Bindungen zur jüdischen Gruppenidentität erläutert werden, die er trotz seiner emanzipatorisch politischen Einstellung durchaus nicht zu verlieren wünschte. Im Gegensatz zu Gottfried Niedhart gehe ich von der Hypothese aus, daß Gustav Mayer seine religiöse jüdische Identität weder in Deutschland, noch im westlichen Ausland, noch im englischen Exil jemals verloren hatte, sondern sich des traditionellen jüdischen Lebenslaufes seiner Eltern und seiner Jugendzeit immer bewußt war, und seinen jüdischen Glauben in bestimmten Situationen durchaus bekannte. Gustav Mayer war ein akkulturierter deutscher Jude, dessen politischer Fortschrittsglaube an die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie auch immer verbunden war mit seiner Wertschätzung der abendländischen Humanität basierend auf Bibel, der deutschen Klassik und der Aufklärung.
Während die drei dramatischen Helden Nathan der Weise, Don Carlos und die Iphigenie den jugendlichen Gustav Mayer als nichtjüdische Modelle für religiöse Toleranz, für politisches Freiheitsstreben und religiöse Humanisierung in eine neue Welt des deutschen klassischen Dramas einführten, war sich Mayer doch - gerade auch in der Rückschau seiner Lebenserinnerungen - der Wertvorstellungen und der Atmosphäre der traditionell jüdischen Lebensweise, die er als Jugendlicher in seiner Familie in Prenzlau in der Uckermark aufnahm, stets bewußt. (Es folgt ein längeres Zitat aus den Erinnerungen. Hildesheim. Zürich. New York 1993, S. 9-10) Natürlich war es diese in seiner Jugendzeit eingeprägte Familienerziehung, die solche Bindungen entstehen ließen, daß der junge Mann, der als Korrespondent für den Handelsteil der "Frankfurter Zeitung" nur gelegentlich in den Hauptstädten des westlichen Auslandes die Synagoge besuchte, immer allerdings wenn er zu Familienfesten nach Prenzlau zurückkehrte, niemals erwog zu konvertieren. Als seine Schwester Gertrud den nichtjüdischen Philosophen Karl Jaspers heiraten wollte, halfen Gustav und seine jüdische Frau Flora, die Bedenken seines traditionell eingestellten Vaters, David Mayer, gegen diese Eheschließung abzumildern.
Nachfolgende Episode zeigt, daß Gustav Mayer auch im mittleren Alter als Historiker der deutschen Arbeiterbewegung und als Biograph von Friedrich Engels die Wurzeln seiner religiösen Herkunft durchaus nicht vergessen hatte. Im Frühjahr und Sommer 1917 sondierte Mayer sozusagen als freier Mitarbeiter des deutschen Außenministeriums bei Friedensgesprächen in Stockholm, zu deren Vorbereitung Mitglieder des Vorstands der Zweiten Internationale, das sog. holländisch-skandinavische Komitee, beauftragt worden waren.17 Diese geplante Konferenz scheiterte wohl auch letztlich deswegen, weil die Regierungen Englands, Frankreichs und Italiens sich weigerten, denjenigen sozialistischen Delegierten, die nach Stockholm reisen wollten, ihre Pässe auszustellen. Außerdem drohte "die extrem antideutsche Gewerkschaft der Seeleute und Heizer in Großbritannien [...]", den Transport der Delegierten zu verhindern.18
Auf einer Rückreise, für die Gustav Mayer im Schlafwagenabteil eines Schnellzuges von Stockholm nach Berlin einen Platz reserviert hatte, stieg kurz vor Abfahrt des Zuges noch ein "kräftige[r] Mann mit dunkler Hautfarbe" zu, der Mayer "ein wenig unheimlich war".19 Der Fremde rauchte eine Zigarette nach der anderen. Der deutsche Jude spürte, daß dem Fremden die Frage nach seiner Nationalität Sorgen bereitete. Es verging eine ganze Stunde, bis er Mayer zuerst auf russisch, dann in slavischem Französisch und schließlich deutsch ansprach. Kaum hatte der Fremde herausbekommen, daß Mayer ein Deutscher war, bekam er einen Wutanfall: sein Bruder hatte sich nach jahrzehntelangem Exil in Amerika nach dem Sturz des Zaren entschlossen, per Schiff nach Rußland zurückzureisen. Sein Schiff sei jedoch in der Nähe der norwegischen Küste von einem deutschen U-Boot versenkt worden. Deshalb werde er keinem Deutschen den Mord an seinem Bruder verzeihen. (Es folgt ein Zitat aus den Erinnerungen, 1993, S. 269f)
"Ich kann nicht leugnen, daß mir etwas unheimlich zumute war. Zum mindesten schien mir ausgemacht, daß ich in dieser Nacht kein Auge würde schließen können. Inzwischen war es dunkel geworden. [...] Vorher, bei seinem Wutausbruch, hatte ich seine Züge genau beobachtet und dabei den Eindruck erhalten, daß wir möglicherweise des gleichen Blutes sein könnten. Da kam mir ein Einfall. Ich stimmte aus der Dunkelheit das jüdische Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes an: 'Höre Israel, der Herr Dein Gott ist einzig.' [Schema Israel, Adonai Elohenu, Adonai Echat] Und das wirkte Wunder: 'Iwri ata?' ('Sie sind ein Jude?'), rief er auf hebräisch aus. Ich antwortete: 'Iwri Anochi' ('Ich bin ein Jude!') Darauf erklärte er lebhaft: 'Kol Israel Achim' (Alle Juden sind Brüder') und drückte mir warm die Hand. Nun begaben wir uns in unseren Schlafwagen zur Ruhe und schliefen beide."20
Diese Episode zeigt, daß die hebräische Gebetsprache in dieser Situation wie ein Losungs- oder Erkennungswort, ein Schibboleth, wirkte, und über nationale Grenzen hinweg Individuen brüderlich vereinen kann. Auch Eduard Bernstein, mit dem Mayer befreundet war, beschrieb die Juden als '... ein verbindendes Element für die Völker der Kulturwelt' in seiner Broschüre "Von der Aufgabe der Juden im Weltkriege" (1917).21
Nun gibt es nicht nur die hebräische Gebetsprache als verbindendes jüdisches Medium in aller Welt, sondern auch das Jiddische, das vor der von den deutschen Faschisten durchgeführten Shoa - wie jeder Mensch wissen müßte - von einer weit größeren Zahl von jüdischen Menschen gesprochen wurde als heute. Gustav Mayer bediente sich dieser Sprache im August 1928 in Leningrad, als er Menschen ansprach, die er für Juden hielt, um sich in dieser Großstadt orientieren zu können. Zwar hatte der Direktor des Moskauer Marx-Engels-Institutes, David Goldendach, für Gustav Mayer ein deutsch sprechendes Ehepaar in Leningrad als Fremdenführer zur Seite gestellt, doch das Deutsche dieses Ehepaares schöpfte hauptsächlich aus den Quellen von Marx und Hegel und war deswegen nicht umfassend genug, um alle russischen Institutionen der Großstadt Leningrad bezeichnen zu können. Wenn Mayer tatsächlich Leningrader traf, die des Jiddischen mächtig waren, so konnte er auch den Versuch machen, deutsch mit ihnen zu sprechen. Denn das Jiddische ist eine Mischsprache, deren phonetische und grammatische Strukturen auf mittel- und oberdeutschen Dialekten beruhen und deren Wörterbestand aus deutschen, hebräisch-aramäischen, romanischen und slawischen Elementen besteht. Später reiste Mayer weiter nach Moskau, um im Marx-Engels-Institut Quellen für seine Engels-Biographie zu finden, die er im SPD-Parteiarchiv in Berlin nicht auffinden konnte.
Die nächste Episode zeigt, daß Mayers demokratische Gesinnung und Dialogfähigkeit offensichtlich im Januar 1919 von Angehörigen der Lüttwitzschen Garde-Cavallerie-Division falsch eingeschätzt wurde. Kurz zuvor hatten Angehörige dieser Division Liebknecht und Luxemburg ermordet und damit offenkundig gemacht, daß sie keinesfalls vom Geist der sozialen Demokratie durchdrungen waren. Mayer hatte inzwischen einen Lehrauftrag für die Geschichte der Demokratie und des Sozialismus an der Universität Berlin angenommen und war vom preußischen Ministerpräsidenten in die Leitung der Geheimen Staatsarchive berufen worden, wo er u.a. mit Karl Kautzky eine Dokumentation über die Kriegsschuldfrage erarbeitete. Am 28. Januar 1919, Mayer beschäftigte sich gerade mit seiner Engels-Biographie, wurde in seinem Haushalt ein Spitzel in Form eines angeblichen Marineingenieurs einquartiert, der Mayers Sympathie für den Spartakus herausfinden sollte und insbesondere, ob er Karl Radek kenne. Ersteres verneinte Gustav Mayer, weil Spartakus eher destruktiv als konstruktiv wirke, letzteres bejahte er. Zweifellos hatte der Geheimdienst herausbekommen, daß Mayer in Stockholm mit Radek gesprochen hatte. In der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 1919 wurde die Mayersche Privatwohnung von einem Haufen Soldaten - bewaffnet mit Handgranaten und Revolvern - überfallen, die Türen eingeschlagen, die Wohnung durchsucht; später folgten auch noch eine Menge fremder neugieriger Personen, die angelockt wurden, weil die Mayersche Privatwohnung von Tanks umstellt worden war. Die Bande fand zwar weder Radek, noch belastendes Material, requirierte jedoch einen Koffer mit männlichen Kleidungsstücken, den sie für einen Koffer Radeks erklärte, in Wahrheit aber Gustav Mayers jüngstem Bruder gehörte, der sich noch beim Militär befand. Obwohl Mayer gegenüber den Soldaten sowohl seine persönlichen Beziehungen zu den Volksbeauftragten und einigen preußischen Ministern betonte als auch, daß er Mitglied des Auswärtigen Amtes sei, verschwanden sie nicht. Der leitende Nachrichtenoffizier wollte unbedingt in einen Brief Einblick nehmen, den Gustav Mayer am Abend vor dem Überfall an seine Schwester Gertrud, die wie - schon erwähnt - mit Karl Jaspers verheiratet war, geschrieben hatte. Nachdem sich der Offizier von der Harmlosigkeit des Briefes überzeugt hatte, wurde noch ein Protokoll aufgenommen, bevor die ganze Meute verschwand. Das Ehepaar Mayer verbrachte den Rest der kalten Nacht im einzig unbeschädigt gebliebenen Raum, im Kinderzimmer. Tags darauf beschwerte sich Gustav Mayer bei Scheidemann persönlich, der ihn fragte, ob er lachen oder weinen solle. Gustav Mayer riet ihm zu Letzterem. Außerdem verlangte er Schadenersatz, Aufklärung des Falles und Bestrafung der Schuldigen.
[...]
1 Vgl. den Beitrag von Klaus Bergmann zur Kategorie "Identität", in: Bergmann, K.; Kuhn, A.; Rüsen, J.; Schneider, G. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, Düsseldorf 1985, 3. Aufl., S. 29-36.
2 Vgl. Niedhart, G.: Gustav Mayer - Identitätskonflikte eines deutschen Juden, in: Volkov, S.; Stern, F. (Hg.): Sozialgeschichte der Juden in Deutschland, TAJB Bd. XX (1991), S. 323.
3 Nachwort von Gottfried Niedhart in: Gustav Mayer, Erinnerungen. Vom Journalisten zum Historiker der deutschen Arbeiterbewegung. Hildesheim. Zürich. New York (Georg Olms Verlag) 1993, S. 407*.
4 Vgl. Fußnote 44, in: Niedhart, G.: Gustav Mayer - Identitätskonflikte..., S. 321.
5 Wehler, H.-U., Gustav Mayer, in: Wehler, H.-U. (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. II, Göttingen 1973, S. 126.
6 Faulenbach, B.: Gustav Mayer. Zwischen Historiker-Zunft und Arbeiterbewegung, in: Christadler, M. (Hg.), Die geteilte Utopie. Sozialisten in Frankreich und Deutschland. Opladen 1985, S. 193.
7 Ebd., S. 191f.
8 Vgl. Wehler (1973), S. 127f.
9 Mayer, G.: Die Lösung der deutschen Frage 1866 und die Arbeiterbewegung, in: Wehler, H.-U. (Hg.): Arbeiterbewegung und Obrigkeitsstaat. Bonn-Bad Godesberg 1972, S. 142.
10 Ebd., S. 147.
11 Mayer, G.: Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland (1863-1870), in: Wehler, H.-U. (Hg.), Gustav Mayer. Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie. Frankfurt a.M. 1969, S. 157.
12 Ebd., S. 173.
13 Ebd. S. 176-178; vgl. Eintrag 1. "Deutsche Volkspartei" (DVP) in: Großes Modernes Lexikon. Gütersloh 1985, Bd. 3, S. 164.
14 Zit. nach Mayer, G.: Zur auswärtigen Politik von Demokratie und Sozialismus, in: Wehler (Hg.) (1972), S. 178.
15 Vgl. Faulenbach, B. (1985), S. 192f.
16 Vgl. Mayer, G.: Erinnerungen (1993), S. 330f; vgl. Niedhart, G., Deutsch-Jüdische Neuhistoriker in der Weimarer Republik, in: Grab, W.(Hg.): Juden in der deutschen Wissenschaft. Tel Aviv 1986, S. 163; eine Kurzbiographie von Hedwig Hintze findet man in: Schoeps, J.H., (Hg.), Neues Lexikon des Judentums. Gütersloh 1992, S. 198.
17 Eine ausführliche Darstellung der Dienste Gustav Mayers für verschiedene Dienststellen des Auswärtigen Amtes in Berlin und für den Staatssekretär des Reichsschatzamtes gibt Leo Haupt in seinem Aufsatz: "Gustav Mayer und die Stockholmer Konferenz der II. Internationale 1917", in: Historische Zeitschrift, Bd. 247 (1988), S. 551-583.
18 Zum Anstoß zu einer internationalen Konferenz der sozialistischen Parteien zur Vorbereitung von Friedensvorschlägen durch die russische Februarrevolution und zu den Haltungen der sozialistischen Parteien der kriegführenden Länder zu einer Friedensinitiative in Stockholm sowie zur Vorbereitung der Internationalen Arbeiter- und Sozialistenkonferenz in Bern (3.- 10.2.1919) siehe die Einleitung von Gerhard A. Ritter in: Ritter, G.A.; von Zwehl, K. (Hg.), Die II. Internationale 1918/19: Protokolle, Memoranden, Berichte und Korrespondenzen. Bd. 1. Berlin/Bonn 1980, S. 3-37.
19 Mayer, G., Erinnerungen (1993), S. 269.
20 Ebd., S. 269f.
21 Zit. nach Wistrich, R. S.: Eduard Bernsteins Einstellung zur Judenfrage, in: Heid, Ludger; Paucker, Arnold (Hg.), Juden und deutsche Arbeiterbewegung bis 1933. Soziale Utopien und religiös-kulturelle Traditionen. Tübingen 1992, S. 87.
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- Volker Beckmann (Autor), 1996, Journalist und Historiker der deutschen Arbeiterbewegung Gustav Mayer. Seine jüdische Identität, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1365245
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