„Das Neue fängt mit der Destruktion des Gegebenen an.“1
Mit jenem Satz aus der Rede H. Krapps zur Verleihung des Büchnerpreises an Heiner Müller
1985 könnte man das Werk Georg Büchners und Heiner Müllers überschreiben. Beide sind
Autoren, die in einer Zeit der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen lebten und arbeiteten,
und die die Eindrücke ihrer Zeit in ihrem literarischen Werk, auch gegen die Widerstände
der Staatsmacht, kritisch verarbeiteten.
Eine skeptische Auseinandersetzung mit Gegenwart und Vergangenheit wirft Fragen auf:
nach (politischer) Macht, Verantwortung, Feind- und Opferbildern, nach dem Geschichtsverständnis,
nach revolutionären Ideen, nach aktivem und literarischem Protest.
Wie die unterschiedlichen Tendenzen in der Büchnerforschung zeigen, entspringen die
Deutungsversuche häufig dem Wunsch, die verschiedenen Phasen undThemen des Schreibens
und die Persönlichkeit des Autors als in sich konsistente und einheitliche Abfolge „mit dem
Schema eines Entwicklungsromans“2 darstellen zu wollen. Inwieweit dies jedoch generell, und
auch aufgrund des Mangels an Dokumenten sowie der Möglichkeit einer sicheren zeitlichen
Einordnung überhaupt möglich ist, bleibt fraglich.
Eine einheitliche Tendenz im Werk Heiner Müllers hingegen ist aufgrund der Vielfalt und
Vielseitigkeit seiner Texte schwer fassbar zu machen.
Dennoch ist sowohl im Leben als auch im Werk beider Autoren die ständige Auseinandersetzung
mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen, der Geschichte und dem Umsturz
der bestehenden Ordnung, der Revolution, sichtbar. Eine Beschäftigung mit der Vergangenheit
veranlasste möglicherweise auch die erfahrene Enttäuschung von der Gegenwart und
eine zunehmend repressive Haltung der jeweiligen politischen Systeme. Ob die persönliche
und schriftstellerische Konsequenz daraus allerdings in einer fatalistischen Grundhaltung endete,
soll zu klären versucht werden.
Die Auseinandersetzung Müllers mit Georg Büchners Texten offenbart seine Überzeugung,
dass „die Wunde Woyzeck […] eine offene Wunde“3 ist, die erst dann geschlossen werden
kann, wenn das Opfer gegen seine Unterdrücker aufbegehrt. Inwieweit jene Kritik an Politik,
die bei beiden Autoren stets auch Sozialkritik bedeutet, auch im Werk sichtbar wird, soll im
Laufe der vorliegenden Arbeit untersucht werden.
Inhalt
1 EINLEITUNG
2 GEORG BÜCHNER
2.1 GEORG BÜCHNER: EIN KIND SEINER ZEIT?
2.1.1 Büchner: Abkehr von der Revolution oder konsequenter Revolutionär? – Ein Forschungsüberblick
2.1.1.1 Stimmen für Büchners Abwendung von einem radikal-revolutionären Programm
2.1.1.2 Büchner als konsequenter Revolutionär
2.1.2 Opposition zur bestehenden Ordnung
2.1.3 Politisches und revolutionäres Leben
2.1.3.1 Eindrücke der Revolution in Straßburg
2.1.3.2 Revolutionäre Aktivität in Gießen 1833/34
2.2 DANTON’S TOD
2.2.1 Akteure des Stücks
2.2.1.1 Die Dantonisten: Profiteure und Opfer der Revolution zugleich
2.2.1.2 Danton
2.2.1.3 Die Robespierristen
2.2.1.4 Das Volk
2.2.2 Danton’s Tod als politisches Lehrstück?
2.2.2.1 Die Akteure als Spiegel von Büchners sozial-politischen Überzeugungen
2.2.2.1.1 Robespierre und St. Just
2.2.2.1.2 Das Volk als unbekannte Größe
2.2.2.1.3 Danton als ‚Sprachrohr Büchners‘?
2.2.2.2 Die Multiperspektivität der politischen Positionen im Drama
2.2.2.3. Ein Bruch in der einheitlichen Darstellung der Charaktere
2.2.2.4 Demaskierung des politischen Theaters statt einer eindeutigen politischen ‚Lehre‘ – Die Schauspielmetaphorik in Danton’s Tod
2.3 Woyzeck
2.3.1 Woyzeck als tiefgreifende Gesellschaftskritik
2.3.2 Die Figuren als Repräsentanten eines morbiden Klassensystems
2.3.2.1. Der Hauptmann: Das Militär als obsoletes Disziplinierungsinstrument des (Spät-)feudalismus
2.3.2.2 Der Doktor als karrieristischer Wissenschaftler und Vertreter des Frühkapitalismus
2.3.2.3 Die Figur des Woyzeck: ein Paradigma der menschlichen Unfreiheit hinter den Gittern der Gesellschaft
2.4 WERKÜBERGREIFENDE ASPEKTE
2.4.1 Die Perspektiven der Figuren in Büchners Dramen: Die Vollendung im Tode oder Mord und Totschlag als letzte Rebellion?
2.4.2 Realistische Züge im Werk Büchners
2.4.3 Büchners Werk in Konfrontation mit dem marxistischen Realismusbegriff
3 HEINER MÜLLER
3.1 LEBEN UND SCHRIFTSTELLERISCHE ARBEIT IN DER DDR
3.1.1 Heiner Müllers frühe Entscheidung für den Sozialismus
3.1.2 Kulturpolitik in der DDR: Der Sozialistische Realismus und seine Prinzipien
3.1.3 Vordenker Heiner Müllers: Carl Schmitt
3.2 DER LOHNDRÜCKER
3.2.1. Historisches Vorbild: Hans Garbe, ‚Held der Arbeit‘
3.2.2 Die sozialistisch-realistischen Prinzipien der DDR-Kulturpolitik im Lohndrücker
3.2.3 Das dialektische Prinzip Heiner Müllers im Lohndrücker
3.2.4 Antagonistisches Prinzip im Figurenaufbau
3.2.4.1 Balke und seine Gegenspieler
3.2.4.2 Balke
3.2.5 Der dialektische Realismus Heiner Müllers und der „Kampf zwischen Altem und Neuem“
3.2.6 Umkehrung der Werte?
3.3 DER AUFTRAG. ERINNERUNG AN EINE REVOLUTION
3.3.1 Motivation des Stückes, Titelgebung und Vorlagen
3.3.2 Dramaturgie des Stückes
3.3.3 Der Auftrag als eine Absage an den Rationalismus der Französischen Revolution
3.3.4 Verlagerung der revolutionären Hoffnungen Heiner Müllers auf das Jenseits Europas
3.3.5 Der Auftrag und der Verrat – das Stück als Appell an den zweifelnden linken Intellektuellen
4 PARALLELEN ZWISCHEN MÜLLER UND BÜCHNER
4.1 WEIßE UND SCHWARZE REVOLUTION
4.2 DEKONSTRUKTION VON HEROISMUS
4.3 GESCHICHTSBILD UND GESCHICHTSFATALISMUS
4.3.1 Georg Büchner
4.3.2 Heiner Müller
5 SCHLUSSGEDANKE
1 EINLEITUNG
„Das Neue fängt mit der Destruktion des Gegebenen an.“1
Mit jenem Satz aus der Rede H. Krapps zur Verleihung des Büchnerpreises an Heiner Müller 1985 könnte man das Werk Georg Büchners und Heiner Müllers über-schreiben. Beide sind Autoren, die in einer Zeit der politischen und gesellschaftli-chen Umwälzungen lebten und arbeiteten, und die die Eindrücke ihrer Zeit in ih-rem literarischen Werk, auch gegen die Widerstände der Staatsmacht, kritisch ver-arbeiteten.
Eine skeptische Auseinandersetzung mit Gegenwart und Vergangenheit wirft Fragen auf: nach (politischer) Macht, Verantwortung, Feind- und Opferbildern, nach dem Geschichtsverständnis, nach revolutionären Ideen, nach aktivem und literarischem Protest.
Wie die unterschiedlichen Tendenzen in der Büchnerforschung zeigen, ent-springen die Deutungsversuche häufig dem Wunsch, die verschiedenen Phasen und Themen des Schreibens und die Persönlichkeit des Autors als in sich konsis-tente und einheitliche Abfolge „mit dem Schema eines Entwicklungsromans“2 dar-stellen zu wollen. Inwieweit dies jedoch generell, und auch aufgrund des Mangels an Dokumenten sowie der Möglichkeit einer sicheren zeitlichen Einordnung ü-berhaupt möglich ist, bleibt fraglich.
Eine einheitliche Tendenz im Werk Heiner Müllers hingegen ist aufgrund der Vielfalt und Vielseitigkeit seiner Texte schwer fassbar zu machen.
Dennoch ist sowohl im Leben als auch im Werk beider Autoren die ständige Aus-einandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen, der Ge-schichte und dem Umsturz der bestehenden Ordnung, der Revolution, sichtbar. Eine Beschäftigung mit der Vergangenheit veranlasste möglicherweise auch die erfahrene Enttäuschung von der Gegenwart und eine zunehmend repressive Hal-tung der jeweiligen politischen Systeme. Ob die persönliche und schriftstellerische Konsequenz daraus allerdings in einer fatalistischen Grundhaltung endete, soll zu klären versucht werden.
Die Auseinandersetzung Müllers mit Georg Büchners Texten offenbart seine Überzeugung, dass „die Wunde Woyzeck [...] eine offene Wunde“3 ist, die erst dann geschlossen werden kann, wenn das Opfer gegen seine Unterdrücker aufbe-gehrt. Inwieweit jene Kritik an Politik, die bei beiden Autoren stets auch Sozialkri-tik bedeutet, auch im Werk sichtbar wird, soll im Laufe der vorliegenden Arbeit untersucht werden.
Dementsprechend ist die Arbeit grob folgendermaßen gegliedert:
Nachdem ein Blick in das (politische) Leben Büchners, bzw. die Fragmente, die davon heute noch sichtbar sind, geworfen wurde, um zu sehen, wie Büchners poli-tischer Aktivismus womöglich motiviert und geartet war, soll ein Überblick über die Kontroverse um Büchners politischen Aktionismus innerhalb der langjährigen Büchnerforschung gegeben werden.
Die Arbeit folgt der Überzeugung, dass es bei Büchner, wenn auch eine Verän-derung des Blickwinkels auf Politik, nie eine völlige Absage an politische und re-volutionäre Ziele und Positionen gegeben hat. Um diese Frage herrscht bis heute eine angeregte Diskussion, deren unterschiedliche Aspekte auch anhand biogra-phischer Aspekte diskutiert werden.
Zwei Werke des Autors sollen hinsichtlich obiger Fragen untersucht werden. In diesem Sinne folgt der Analyse des ‚Dramas‘ Danton’s Tod die des Dramenfrag-ments Woyzeck. Im Anschluss werden werkübergreifende Aspekte dargestellt Auch bei Heiner Müller sollen zunächst kurz biographische Beweggründe, per-sönliche Eindrücke und die kulturpolitischen Voraussetzungen der DDR erörtert-werden. Es folgt ein kurzer Einschub über Carl Schmitt, mit seiner Theorie von Freund und Feind als Vordenker Heiner Müllers gelten kann.
In der Werkanalyse wird zunächst Der Lohndrücker von 1956 als ein relativ frü-hes Werk diskutiert. Als ein späteres Werk im literarischen Schaffen Müllers wurde Der Au ft rag von 1979 zur Analyse ausgewählt. Wie später erläutert wird, kann Der Au ft rag als ein Wendepunkt im Geschichtsbild Heiner Müllers und in der Wahr-nehmung der politischen Situation betrachtet werden.
In einem dritten Teil werden Parallelen zwischen den beiden Autoren herausge-arbeitet und es wird versucht, sich dem jeweiligen Geschichtsbild der Autoren so-wie den Konsequenzen daraus anzunähern.
2 GEORG BUCHNER
2.1 GEORG BUCHNER: EIN KIND SEINER ZEIT?
2.1.1 Büchner: Abkehr von der Revolution oder konsequenter Revolutionär? – Ein Forschungsüberblick
Die Grundsituation der Zeit, in der Georg Büchner aufwuchs, lässt sich als eine „maladie du siècle“4 beschreiben, von der eine ganze Generation betroffen war. Nach dem Wartburgfest 1817 und der Ermordung des restaurativen Schriftstellers August von Kotzebue 1819 folgte im Zuge der Karlsbader Beschlüsse eine zuneh-mend repressive Politik, Literatur und Medien wurden zensiert und und es wurde eine Untersuchungskommission gegen revolutionäre Aktionen eingerichtet. Dem Erfolg Metternichs war es zu verdanken, dass die deutsche Opposition weitgehend mundtot gemacht wurde und zwischen 1920–30 ‚Windstille‘ herrschte. Erst die französische Juli-Revolution brachte neuen Aufwind. Nach dem antifeudalisti-schen Hambacher Fest 1832 und dem gescheiterten Frankfurter Hauptwachen-sturm wurde der Ausnahmezustand ausgerufen und noch radikaler gegen die poli-tische Opposition vorgegangen. Die Konsequenz war für viele die Flucht ins Exil. Innerhalb des Exils erstarkte somit die Opposition und differenzierte sich zuneh-mend aus in die liberalen bzw. das radikaldemokratische Lager.
Man könnte von der Ambiguität eines „rückwärts gerichteten Fortschritt[s]“5 während dieser Zeit sprechen, der in Form von historischen Tatsachen, aber auch in Tonalität und Intensität nicht nur in Büchners Werk sondern auch in dem vieler seiner Zeitgenossen Niederschlag fand und diese nachhaltig beeinflusste.
Die Frage, ob Georg Büchner vor dem Hintergrund politischer und revolutio-närer Positionen schrieb, und diese in seinem Werk sichtbar werden, spaltet bis heute die Forschung und wird zuweilen als schwieriges bis unlösbares Problem6 bezeichnet.
Schon in seiner Schulzeit trat Büchner politisch interessiert auf und nutzte viele Gelegenheiten, sich zu politischen Themen zu äußern. Während seiner Gymnasi- alzeit verfasste Georg Büchner erste schriftstellerische Texte.7
Gerhard Knapp sieht in den Schulschriften eine Annäherung an die subversive, revolutionäre Tradition des liberalen und republikanischen Bürgertums sowie an die jakobinische Bewegung der 30er Jahre. Ebenso würden Komponenten des spä-teren Werks wie „Büchners rigorose[n] Moralismus, seine Absage an die Trans-zendenz und sein[en] radikale[n] Humanismus“8, der immer die Freiheit und die Verwirklichung des Einzelnen in den Vordergrund gestellt habe, vorweggenom-men. Hans Mayer sieht in der Beschäftigung mit dem Freitod ein Kreisen um die Frage nach Determinismus und um die Stellung zum Christentum, sowie eine Fra-ge nach der Freiheit des menschlichen Willens und der Sinnhaftigkeit des Handelns.9
Allerdings sind die Schriften – wie es von einem Jugendlichen kaum anders zu erwarten ist – stark an Vorbilder geknüpft, und somit nur sehr bedingt in einer kontinuierlichen Entwicklungslinie mit den späteren Stücken zu sehen.10
Später wird Büchner politisch aktiv. Die Flugblattaktion des Hessischen Landbo-ten wie auch die Befreiung des befreundeten Minnigerodes aus dem Gefängnis wa-ren jedoch gescheitert. Nach einigen Verhaftungen in den eigenen Kreisen war auch Büchner nicht mehr sicher.
Wie Georg Büchner ein Kind seiner Zeit ist, so bleibt er doch in vielen Aspek-ten unzeitgemäß. Die Widersprüche seiner Zeit sind also auch als ‚Bruch‘ zwischen und in Leben und Werk des jungen Dichters zu verzeichnen, der es schwierig macht, eine vermeintlich notwendige Verquickung von beiden zu vollziehen und dieses „jung gährende, schmale Werk, schulwissend aufgepfropft und doch ganz neu voranschreitend, von vornherein politisch [zu, N. M] vereinnahmen und auf eindeutige Ziele und Aktionen hin [zu, N. M.] verpfiichten“11. Allerdings zeigt sich schon sehr früh, dass Themen wie Politik, Geschichte und Revolution Georg Büchner Zeit seines kurzen Lebens beschäftigen würden.
Der Forschungsstreit hinsichtlich dieser oben dargestellten Fragestellung ent-brannte erneut mit der Neudatierung des ‚Fatalismusbriefes‘ durch Jan-Christoph Hauschild.12 Hiermit konnte man annehmen, dass ebender Brief zu einer Zeit ge-schrieben wurde, da Büchner noch politisch aktiv mit dem Hessischen Landboten und der Organisation der ‚Gesellschaft der Menschenrechte‘ befasst war. Wie sind also diese scheinbar gegenläufigen Tendenzen miteinander vereinbar?
Dieser Zeitpunkt scheint zunächst ein biographischer Wendepunkt in Büchners Leben zu sein. Beginnt er doch erst nach diesen intensiven Erfahrungen der Repression mit seinem poetischen Schreiben und mit einer ernsthaften wissenschaft-lichen Beschäftigung als Mediziner. Gleichzeitig endet hier seine praktisch-politi-sche Tätigkeit.
Inwieweit sich aber neben diesem offensichtlichen biographischen Einschnitt auch eine geistige Wende und Abkehr von politischen Überzeugungen vollzog, ist fraglich.
2.1.1.1 Stimmen für Büchners Abwendung von einem radikal-revolutionären Pro-gramm
In seiner viel diskutierten Rede zur Verleihung des Büchnerpreises 200713 behaup-tet der Preisträger Martin Mosebach, Georg Büchner habe in seinem Werk „Zwei-fel zugelassen [...], die er sich als politischer Kopf nicht gestattete.“14
Die Annahme, es bestehe eine ‚Wende‘ in Büchners politischer Überzeugung wurde in der Forschung immer wieder erhoben. Zu den bekannten Stimmen, die in Büchner einen (politischen) Deterministen und Pessimisten sehen, zählen u. a. Karl Viëtor und Hans Mayer.
Als Viëtors am meisten umstrittene Abhandlung gilt der Aufsatz Die Tragödie des heldischen Pessimismus. In diesem Aufsatz erwehrt sich Viëtor der vielfach ge-äußerten Unterstellung, „daß der politische Revolutionär Büchner auch als Dichter revolutionär oder auch nur überhaupt ein Tendenzdichter zu sein hat“15. Die Läh- mung, die Müdigkeit, die Passivität Dantons, so Viëtor, rührten aus derselben Er-kenntnis, die sich Büchner in seinen jungen Jahren eröffnete: die Erkenntnis um die „wahre Artung des Menschen und seine Stellung im Leben“16. Die Einsicht, dass ein Leben ohne Schmerz nicht möglich sei, ja Grundlage der menschlichen Existenz sei, bringe Büchner zur Resignation, einem Pessimismus – der allerdings nicht „von der sentimentalischen und nicht von der dekadenten Art [sei, N. M], sondern hart, heldisch.“17
Hans Mayer spricht von einer „große[n] Krise“18, die Büchner erlebt habe und von dessen Erkenntnis, dass im politischen Treiben seiner Zeitgenossen „weder Kraft noch Ziel verborgen“19 seien. Als „verächtlich und hassenswert, aber kaum [als, N. M.] wirksam an der Wurzel zu bekämpfen“ habe er den „Aristokratismus des sozialen Stolzes und des Bildungshochmuts“20 angesehen. „Fatalistisch und de-terministisch“21 sei Büchners Bild von den Verhältnissen gewesen. Es ginge bei die-sen seinen Einsichten um etwas Grundsätzliches.22
2.1.1.2 Büchner als konsequenter Revolutionär
Es drängt sich jedoch die Frage auf, wie ein junger, so motivierter, verschwörerisch tätiger und philanthroper Revolutionär innerhalb kürzester Zeit zur völligen Beja-hung menschlichen Leidens gelangen konnte. Ebenso verwundert, wie Büchner, dessen „ganze Persönlichkeit eine einzige Absage an die vernünftige Bürgerlich-keit“23 darstellte, tatsächlich sein bisheriges Leben gegen das ruhige, bürgerliche Leben eines Schriftstellers und anerkannten Wissenschaftlers im Exil bewusst ein-zutauschen vermochte.24
Einen radikalen Gegenentwurf zu Viëtor und Hans Mayer bietet Thomas Michael Mayer in seinem Aufsatz Büchner und Weidig – Frühkommunismus und re- volutionäre Demokratie. 25 Th. M. Mayer versucht hier, Büchner als konsequenten Frühkommunisten darzustellen. Demnach spiegele sich in seinem Werk die kom-munistische Idee wider, Mayer sieht in diesem die „höchste[r] Reflexionsebene“26 von Büchners politischen Überzeugungen. Es wird Mayer hier allerdings vorge-worfen, eine „ideologisch einseitige Festlegung Büchners“27 zu vollziehen.
Ist dieser Vorwurf einerseits durchaus berechtigt, so ist eine völlige Abwendung Büchners von seinen politischen Überzeugungen auch in seinem Schreiben doch sehr unwahrscheinlich.
In neueren Aufsätzen der zu diesem Thema wird dennoch diese politische Komponente in Leben und Werk Büchner hervorgehoben.28 Auch die internatio-nale Rezeption seiner Stücke betont zunehmend die politische und sozialkritische Dimension.29
2.1.2 Opposition zur bestehenden Ordnung
Warum interessierte Büchner überhaupt das Thema der Revolution?
Die Änderung der bestehenden Gesellschaftsordnung war die „neue, aber zu-gleich historische Frage seiner Zeit“30. Für ihn schien der einzige Ausweg aus den prekären Verhältnissen seiner Zeit, deren Ursprung er in der dramatischen Kon-frontation von „Reich und Arm, von Gebildet und Ungebildet, von Hochmut und Hilflosigkeit“31 begründet sah, die Revolution der Verhältnisse zu sein.
Dies unterscheidet Büchners Denken von dem vieler Jungdeutscher, die sich mit tagespolitischen Zeitungsweisheiten, zufrieden gaben. Es handelte sich bei ihm um grundsätzliche „Einsichten in das Verhältnis des Menschen zu seiner Ge-schichte, in den Aufbau der bestehenden Gesellschaft, in Möglichkeit oder Wünschbarkeit einer Umgestaltung des Bestehenden.“32
Zumindest geht es hier um Fragen, die Büchner nicht nur als Politiker sondern auch als Dichter und selbst als Wissenschaftler interessiert haben müssen.
Demnach ist es kein Zufall, wenn Büchner sich für sein erstes Drama den hoch brisanten Stoff der Französischen Revolution – und daraus genau diesen Aus-schnitt von der Ermordung der ultrarevolutionären Hébertisten im März 1794 bis zur Enthauptung der gemäßigten Dantonisten im April 1794 33– erwählt, wenn er es selbst im Lustspiel Leonce und Lena nicht lassen kann, eine „scharf-sozialkriti-sche Szene“34 einzubauen und wenn sich in seinem Dramenfragment Woyzeck so-zialkritische Züge geradezu aufdrängen.
2.1.3 Politisches und revolutionäres Leben
2.1.3.1 Eindrücke der Revolution in Straßburg
Als „deutsche Kulturenklave“35 bildete Straßburg ein Sammelbecken für politische Flüchtlinge aus den deutschen Ländern. Die Nachwirkungen der Juli-Revolution waren hier unmittelbar und eindrucksvoll spürbar.
Büchner erlebte mit seiner Einschreibung im Herbst 1931 an der Universität zu Straßburg das Zusammentreffen unterschiedlichster „plebeijischer und bürgerli-cher oppositioneller Bewegungen gegen die restaurative Politik in Paris“36 ange-sichts der materiellen Notlage des Volkes – sicherlich ein für seine spätere sozial-kritische Haltung prägendes Bild.
Beeindruckt von den Ereignissen in Frankreich und den Berichten aus Deutschland vom Hambacher Fest und dem Hauptwachensturm, spricht Georg in einem Brief an die Eltern, von einem „ewigen Gewaltzustand“37 und dem Volk, das, ,,den „Knebel im Munde“38 durch „rohe Militärgewalt“39 um sein Recht betrogen werde.
2.1.3.2 Revolutionäre Aktivität in Gießen 1833/34
Im Jahre 1833 musste Georg Büchner Straßburg und somit seine Geliebte wie sei-nen Freundeskreis wieder verlassen, und in das Großherzogtum Hessen-Darmstadt zurückkehren, um dort sein Studium der Medizin fortzusetzen. Dane-ben beschäftigte sich Büchner vermutlich mit philosophischen Texten, insbeson-dere aber auch mit der Revolution von 1789. Hier, im Frühjahr 1834, schreibt er auch den vielzitierten ‚Fatalismusbrief ‘, auf den im weiteren Verlauf der Arbeit noch intensiver eingegangen werden soll.
Die Anfangszeit in Gießen ist von Krankheit und Depression gezeichnet. Die politischen Verhältnisse machen Büchners Zustand noch schwerer zu ertragen. Im Dezember 1833 schreibt er folgende Worte an August Stöber:
Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt ge-duldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu d. Laternen.40
Durch seinen Gießener Freund August Becker lernt Büchner Anfang 1834 Dr. Friedrich Ludwig Weidig kennen:„ein oberhessischer Oppositioneller, dessen gan-zes Leben [war] ein ununterbrochenes Opfer der reinsten Hingebung an die Sache des Volkes“41 gewesen sei, und der aktiv bei den Vorbereitungen des Frankfurter Hauptwachensturms sowie an der Organisation oppositioneller Vereinigungen be-teiligt war.42
Mitte März gründet Büchner die Gießener Gesellschaft der Menschenrechte, einen Monat später die Darmstädter Sektion der Gesellschaft. In diesen Zeitraum fällt auch das Verfassen der Flugschrift Der Hessische Landbote.43
2.2 DANTON’S TOD
Obwohl Büchnerforscher Karl Viëtor von einer Abwendung Büchners vom politi-schen Schreiben überzeugt war, polarisierte er die Forschung nachhaltig mit seiner Aussage, alle Dramen Büchners beinhalteten „Szenen und Sätze, die sich, sagen wir, an den Zeitgenossen im Menschen, an den revolutionären Instinkt, an den Tatwillen der Zuschauer und der Leser wenden.“44 – Allerdings, so Viëtor, gelte dies „für den ‚Woyzeck‘ [...] am meisten, für ‚Dantons Tod‘ am wenigsten.“45 Diese Aussage verwundert zunächst, wird doch häufig Danton’s Tod als das Paradigma eines Revolutionsstücks genannt.
Ob sich Büchner in Danton’s Tod überhaupt für oder gegen die Revolution aus-spricht und inwieweit sich hier eigene Gedanken Büchners wiederfinden, auch mit welchen Figuren er sich möglicherweise identifiziert, soll im Folgenden untersucht werden. Ebenso soll geklärt werden, ob Büchner eine politische Überzeugung ver-tritt, mit welcher sich der Leser auseinandersetzen, oder gar identifizieren soll.
Im Hinblick auf die resignative Haltung und den Pessismismus, die ‚Büchner-Danton‘ vorgeworfen werden, soll geklärt werden, inwieweit sich diese tatsächlich auch auf die Revolution an sich beziehen.
2.2.1 Akteure des Stücks
Untersucht man das Verhältnis der Akteure des Stückes zueinander, so finden sich drei Argumentationslinien: zwischen den Robespierristen und den Dantonisten, zwischen den Revolutionären im Allgemeinen und dem Volk, und zwischen den Männern und den Frauen. In der vorliegenden Arbeit sollen insbesondere die poli-tisch relevanten Akteure betrachtet werden. Im I. Akt des Dramas, welcher einer Exposition entspricht, werden beide politischen Lager, die Dantonisten und die Robespierristen vorgestellt. Das Volk kommt als weitere politisch-soziale Gruppie-rung hinzu.
2.2.1.1 Die Dantonisten: Profiteure und Opfer der Revolution zugleich
Die Eingangsszene des Dramas zeigt die Dantonisten mit einigen ‚Damen‘ beim Kartenspiel. In diese Situation der ‚sinnlosen Zerstreuung‘ platzt ein von Zweifeln geplagter Philippeau hinein und berichtet vom Tod weiterer „zwanzig Opfer“46 (DT; I, 1; S. 14). Seine Forderung nach einem Gnadenausschuss und der Wieder-aufnahme der ausgestoßenen Deputierten löst eine Grundsatzdiskussion unter den
Im Folgenden zitiert als (DT; Akt, Szene: Seite).
Dantonisten Hérault, Camille und Danton selbst aus.
Hérault fordert etwa ein Ende der Revolution:
Die Revolution ist in das Stadium der Reorganisation gelangt. Die Revolution muß auf-hören und die Republik muß anfangen. In unseren Staatsgrundsätzen muß das Recht an die Stelle der P%icht, das Wohlbeflnden an die der Tugend und die Notwehr an die der Strafe treten. Jeder muss sich geltend machen und seine Natur durchsetzen können. Er mag nun vernünftig oder unvernünftig, gebildet oder ungebildet, gut oder böse sein, das geht den Staat nichts an. Wir Alle sind Narren es hat Keiner das Recht einem Andern seine eigentümliche Narrheit aufzudringen. Jeder muß in seiner Art genießen können, jedoch so, daß Keiner auf Unkosten des Andern genießen oder ihn in seinem eigentüm-lichen Genuß stören darf. (DT; I, 1; S. 15).
Auch Camille, die rechte Hand Dantons, legt seine Vorstellungen des idealen Staa-tes dar.
Danton nimmt demgegenüber eine distanzierte, ernüchterte Haltung ein. Seine Antworten, zum Teil rein syntaktisch –
CAMILLE: [...] Danton du wirst den Angriff auf den Konvent machen DANTON: Ich werde, du wirst, er wird.
– , nehmen den Aussagen den Wind aus den Segeln, seine politische Antriebskraft ist getrübt, wenn er Julie entgegnet: „Ich muss fort, sie reiben mich mit ihrer Poli-tik noch auf.“ (DT; I, 1 ; S. 16) und er warnt:
Zwischen Tür und Angel will ich euch prophezeien: die Statue der Freiheit ist noch nicht gegossen, der Ofen glüht, wir Alle können uns noch die Finger verbrennen. (DT; I, 1 ; S. 16)
Vor dieser Kulisse allerdings, einem Leben im Spielsalon unter Grisetten, wirken die politischen Schwärmereien der Dantonisten weder realistisch noch glaubwür-dig. Sie zeigen vielmehr die Distanz zum Volk. Die Kluft zwischen dem Volk und Dantonisten wird in I, 5 deutlich:
DANTON Mein Name! Das Volk!
LACROIX Dein Name! du bist ein Gemäßigter, ich bin einer, Camille, Philippeau, Hé-rault. Für das Volk sind Schwäche und Mäßigung eins. Es schlägt die Nachzügler tot. [...] DANTON Sehr wa<h>r, und außerdem – das Volk ist wie ein Kind, es muß Alle zerbre-chen, um zu sehen was darin steckt.
LACROIX Und außerdem Danton, sind wir lasterhaft, wie Robespierre sagt d. h. wir genießen, und das Volk ist tugendhaft d. h. es genießt nicht, weil ihm die Arbeit die Ge-nußorgane stumpf macht, es besäuft sich nicht, weil es kein Geld hat und es geht nicht ins Bordell, weil es nach Käs und Hering aus dem Hals stinkt und die Mädel davor einen Ekel haben.
DANTON Es haßt die Genießenden, wie ein Eunuch die Männer.
LACROIX Man nennt uns Spitzbuben und sich zu den Ohren Dantons neigend es ist, unter uns gesagt, so halbwegs was Wahres dran. [...] (DT; I, 5; S. 31)
Die Dantonisten treten auf als ‚neureiche‘ Profiteure der Revolution, die ihre ei-gentliche Aufgabe wohl aus dem Blick verloren haben und lieber ihren leiblichen Bedürfnissen Befriedigung verschaffen.
Was die Dantonisten jedoch als Gruppe eint, ist ihre gegenseitige Vertrautheit, die über weltanschauliche und politische Eigenheiten hinausgeht.47 Auch die Kon-frontation mit dem nahenden Tode lässt sie nach und nach an Bedeutung gewin-nen und schließlich den letzten Akt ganz und gar einnehmen.
Ihr rhetorischer Witz und die Rede in Epigrammen machen es allerdings schwer, zwischen Wahrheit und Witz, Zynismus und Überlegenheit zu unterschei-den. Hérault bemerkt dazu: „[...] Das sind Phrasen für die Nachwelt nicht wahr Danton, uns gehn sie eigentlich nichts an.“ (DT; IV, 5; S. 84,).
2.2.1.2 Danton
Danton ist im Hinblick auf sein politisches Handeln am Ende. Doch er scheint auch generell lebensmüde, und ohne Antrieb zu sein; er vermag in nichts mehr ei-nen Sinn zu sehen:
„ [...] es war mir zuletzt langweilig. Immer im nämlichen Rock herumzulaufen und die nämlichen Falten zu ziehen! Das ist erbärmlich.“ (DT; II, 1; S. 39.).
In politischer Hinsicht hat Danton Glauben und Illusion verloren. Am Anfang des Dramas schon spricht er aus, was politisch längst eingetreten ist: „[... ] – wir sind sehr einsam.“ (DT; I, 1; S. 13).
Während Hérault und Camille glauben, die Revolution neige sich ihrem Ende zu, schätzt Danton die Lage kritischer ein. Hans Mayer interpretiert dies als die „Einsamkeit des Erkennenden“48. Dantons Appellieren an die sinnlichen Genüsse und der Vorzug derer vor der politischen Aktion gründe auf der „isolierende[n, N.
M.] Erkenntnis, daß die Revolution bereits verspielt wurde.“49
Danton selbst formuliert nach seinem Verständnis den Wendepunkt der Revo-
lution: „Wo die Notwehr aufhört fängt der Mord an, ich sehe keinen Grund, der uns länger zum Töten zwänge.“ (DT; I, 6; S. 32). Ab diesem Zeitpunkt frisst die Revolution ihre eigenen Kinder, das Töten findet nunmehr ohne Auftrag statt.
Danton schwankt zwischen Selbstsicherheit, Beschwichtigung, müdem Zynis-mus und Schuldgefühlen. Vor dem Revolutionstribunal erinnert er sich seiner gro-ßen Leistungen in der Vergangenheit, seiner „Nationalkühnheit“50 (DT; III, 4; S. 63), „die verdienstvollste aller Tugenden“ (DT; III, 4; S. 63), mit der er „so oft für die Freiheit gekämpft habe“ (DT; III, 4; S. 63). Doch stellt diese scheinbar flam-mende Rede nur noch ein letztes Aufflackern seiner Stärke und seiner ‚großen‘ Ta-ten in der Vergangenheit dar, sein Verhalten ist zu diesem Zeitpunkt des Dramas nur noch reaktiv: Danton versucht, die eigene Sicherheit zu beschwören, indem er stetig wiederholt: „[...] sie werden‘s nicht wagen.“ (DT; I, 5; S. 31, Z. 6 f; siehe auch II, 2, S: 40, Z. 35 f. und II, 4, S. 47, Z. 26).
Auf der anderen Seite zeigt Danton seine Todesnähe, wenn er bezeugt, er liebe Julie „wie das Grab“ (DT; I, 1; S. 13), und über sich selbst sagt: „Sterbende werden oft kindisch.“ (DT; II, 1; S. 38). Auch hat er das Gefühl, „die Glieder würden [ihm, N. M.] langsam systematisch von der kalten physischen Gewalt abgedreht. So me-chanisch getötet zu werden!“ (DT; III; 7, S. 72).
2.2.1.3 Die Robespierristen
Als weitere politische Gruppe im Drama werden in I, 3 die Robespierristen vorge-stellt. Obwohl St. Just als der „einzige wirkliche Robespierrist“51, als radikaler poli-tischer Kopf angesehen werden kann, steht im Zentrum jedoch Robespierre, der als Antagonist Dantons fungiert.
Robespierre erscheint als Ideologe, als Machtpolitiker, aber auch als Mensch.52 Bei seinem ersten Auftritt in I, 3 werden schnell seine selbstgerechten machtpoliti-schen und weltanschaulichen Ansprüche sichtbar. In seiner Rede vor dem Jakobi-nerklub geht Robespierre nur am Rande auf das eigentliche Problem, nämlich die materielle Not des Volkes ein. Vielmehr kehrt er das „materielle Mißverhältnis zwischen Not und Überfluß (‚Ausplündrung des Volkes‘ [DT, I, 4, S. 25, N. M.])
[...] in die moralische Distinktion von Laster und Tugend“53 um. Die Feinde der Revolution – dies seien vor allem „Royalisten und Fremde“ (DT; I, 4; S. 24) – ver-suchten nun, so Robespierre, „noch die heiligsten Quellen seiner [des Volkes, N. M.] Kraft durch das Laster zu vergiften.“ (DT; I, 4; S. 24). Das Laster sei das „Kainszeichen des Aristokratismus“ (DT; I, 4; S. 24) und „[i]n einer Republik [...] nicht nur ein moralisches sondern auch ein politisches Verbrechen“ (DT; I, 4; S. 24). Hieraus folgt eine Gleichsetzung von Armut und Tugend ( „Armes, tugend-haftes Volk!“) – beides Distinktionsmerkmale des Republikaners, des „friedlichen Bürger[s] (DT; I, 3; S. 24). Diese Argumentation führt Robespierre in der Debatte mit Danton in I, 6 fort:
Die soziale Revolution ist noch nicht fertig, wer eine Revolution <nur> zur Hälfte voll-endet, gräbt sich selbst sein Grab. Die gute Gesellschaft ist noch nicht tot, die gesunde Volkskraft muß sich an die Stelle dieser nach allen Richtungen abgekitzelten Klasse set-zen. Das Laster muß betraft werden, die Tugend muß durch den Schrecken herrschen.“ (DT; I, 6; S. 32).
2.2.1.4 Das Volk
Wie die Distanz zwischen den Dantonisten und dem Volk von I, 1 zu I, 2 hin im-mer deutlicher wird, so zeigt sich dieselbe Entwicklung zwischen dem Volk und Robespierre in I, 2 und I, 3.
Als scharfer Kontrast zur vorherigen Szene I, 1, dem Müßiggang und den teils realitätsfernen politischen Phantasien der Dantonisten, kommt in der zweiten Szene das verarmte und hungernde Volk zur Sprache.
Der dritte Bürger formuliert Entwicklung und Ausgang der Revolution, an de-ren Ende das Volk als Verlierer dasteht:
„DRITTER BÜRGER: [...] Sie haben uns gesagt: schlagt die Aristokraten tot, das sind die Wölfe! Wir haben die Aristokraten an die Laternen gehängt. Sie haben gesagt das Veto frißt euer Brot, wir haben das Veto totgeschlagen. Sie haben gesagt die Girondisten hungern euch aus, wir haben die Girondisten guillotiniert. Aber sie haben die Toten ausgezogen und wir laufen wie zuvor auf nackten Beinen und frieren. Wir wollen ihnen die Haut abziehen und uns Hosen daraus machen, wir wollen ihnen das Fett auslassen und unsere Suppe mit schmelzen. Fort! Totgeschlagen, wer kein Loch im Rock hat!“ (DT; I,2; S. 19).
2.2.2 Danton’s Tod als politisches Lehrstück?
Ob Danton’s Tod als politisches Lehrstück gesehen werden sollte, beantwortet Büchner zunächst selbst, wenn er sagt: „Der Dichter ist kein Lehrer der Moral“54. Dieser könne nur Gegenstände abbilden und wieder auferstehen lassen. Die Lekti-on ergebe sich für jeden einzelnen unterschiedlich.55 Diese Aussage kann aber, wie im Folgenden noch erörtert werden soll, nur bedingt angenommen werden.
Um eine Entscheidung darüber zu fällen, ob Büchner mit Danton’s Tod eine po-litische Absicht verfolgt, ist zunächst zu untersuchen, welche eigenen Anschauun-gen Büchner die einzelnen politischen Gruppierungen im Stück selbst vertreten lässt.
2.2.2.1 Die Akteure als Spiegel von Büchners sozial-politischen Überzeugungen
2.2.2.1.1 Robespierre und St. Just
Scheint es zunächst, Robespierre und seine Anhänger seien durchgehend negativ gezeichnet, so stellt Knapp doch ein differenziertes Bild der „‚Absolutisten‘“56 fest und sieht Büchners eigene Position oftmals in den Reden St. Justs, und Robes-pierres realisiert.57
Tatsächlich lassen sich einige Parallelen zwischen diesen Reden und Büchners in Briefen dokumentierten Ansichten beobachten. Büchner verwendet den Begriff der ‚sozialen Revolution‘ (DT; I, 6, S. 32) – dieser schließt, im Gegensatz zu dem der politischen Revolution, schon während der Zeit der Französischen Revolution auch einen Angriff auf die bürgerlichen Besitzverhältnisse ein. Es ist allerdings auch eine „ ‚kulturrevolutionäre‘ Auslegung des Begriffs in dieser Replik“58 mög-lich. Dies würde folgende Zeilen an Karl Gutzkow, geschrieben vermutlich im Juni 1836, erklären:
[...] Sie und Ihre Freunde scheinen mir nicht grade den klügsten Weg gegangen zu sein. Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformieren? Unmög- lich! Unsere Zeit ist rein materiell [...] Sie werden nie über den Riß zwischen der gebilde-ten und ungebildeten Gesellschaft hinauskommen.59
Büchner scheint überzeugt, die „gebildete und wohlhabende Minorität“60 werde „nie ihr spitzes Verhältnis zur großen Klasse aufgeben wollen.“61. An seine Familie schreibt er vermutlich im Februar 1834, er verachte niemanden wegen seines Ver-standes oder seiner Bildung.62
Dem angedeuteten Antagonismus der „gesunde[n, N. M] Volkskraft“ und der „abgekitzelten Klasse“, von dem Robespierre spricht, entsprechen Passagen in dem Brief an Gutzkow im Juni 1836, wo Büchner seine Überzeugung bekundet, man sollte „in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bil-dung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen und die abgelebte moderne Ge-sellschaft zum Teufel gehen lassen.“63
Ein diesem ‚absoluten Rechtsgrundsatz‘ entsprechendes „radikal egalitäres Pro-gramm“64 begründet erstaunlicherweise St. Just in seiner Rede vor dem National-konvent:
da Alle unter gleichen Verhältnissen geschaffen werden, so sind Alle gleich [...] Es darf daher jeder Vorzüge und darf daher Keiner Vorrechte haben, weder ein Einzelner, noch eine geringere oder größere Klasse von Individuen.“ (DT; II, 7; S. 55/56)
Das Bild, welches Büchner von den Robespierristen hinterlässt, ist jedoch keines-wegs ungetrübt. Dies wird insbesondere in den Ausführungen Dantons deutlich (s. u.).
2.2.2.1.2 Das Volk als unbekannte Größe
Thomas Michael Mayer65 ist der Auffassung, Büchner stelle „mit den drei Bürgern [...] sansculottische ‚militants‘ auf die Bühne, die – obgleich unter sich durchaus differenziert – mit denkbarer Eindeutigkeit ‚chorisch‘ seine eigene Meinnung [sic]
[...]
1 Krapp, H.: „... wie das Insekt im Bernstein“. Rede für Heiner Müller. In: Büchner-Preis-Reden 1984–1994. Hrsg. von der Deutschen Akademie für Spra- che und Dichtung. Stuttgart: Reclam 1994. S. 29–41. S. 40.
2 Eibl, K.: Ergo todtgeschlagen. Erkenntnisgrenzen und Gewalt in Büchners Dan- tons Tod und Woyzeck. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Hrsg. von R. Gruenter und A. Henkel. Bd. 75. 1981. Heidelberg: Carl Winter Universi- tätsverlag 1981. S. 411–429. S. 412.
3 Müller, H.: Die Wunde Woyzeck. In: Büchner-Preis-Reden 1984–1994. Hrsg. von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Stuttgart: Reclam 1994. S. 42–44. S. 44.
4 Viëtor, K.: Die Tragödie des heldischen Pessimismus. In: DVJS 12 (1934). S. 173–209. S. 185.
5 Böhme, H.: Vom rückwärts gerichteten Fortschritt. Hessen im Vormärz und Büchner. In: Büchner: Zeit, Geist, Zeit-Genossen. Ringvorlesung an der Techni- schen Hochschule Darmstadt im Wintersemester 1986/87 zum 150. Todestag von Georg Büchner. Präsident der Technischen Hochschule Darmstadt (Hrsg.). S. 9–72. S. 9.
6 Niebuhr, Bernd Dieter: Das politische Missverständnis Georg Büchner. Eine Interpretation seiner Werke. Diss. Universität Zürich 1977. S. 19.
7 Die absolutismuskritische Haltung und die spätere Konkretisierung einer kriti- schen und oppositionellen Denkweise innerhalb der Gruppe um Büchner barg Konfiiktpotenzial in der Auseinandersetzung mit dem obrigkeitstreuen Direktor Dilthey. In wieweit diese Auseinandersetzung mit den Lehrern und das inbegrif- fene „Kräftespiel[s] von Aktion und Reaktion“ vom normalen pubertären Verhal- ten eines aufgeweckten Jugendlichen während dieser Zeit abweicht, ist nicht eindeutig einzuordnen. Vgl. Knapp, Gerhard Peter: Georg Büchner. 3. vollst. überarb. Aufi. Stuttgart: Metzler 2000. S. 7.
8 Knapp, G.: Georg Büchner. S. 11.
9 Vgl. Mayer, Hans: Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972. S. 44.
10 Zum Anderen handelt es sich überwiegend um Gelegenheitstexte, die als wenig originell gelten können. Vgl. Knapp, G.: Georg Büchner. S. 11
11 Böhme, H.: Vom rückwärts gerichteten Fortschritt. S. 15.
12 Die genaue Datierung des Fatalismusbriefes ist umstritten. Bis 1989 ging man sicher davon aus, dass Büchner ihn nach dem 10. März 1834 geschrieben habe. Jan-Christoph Hauschild bringt jedoch in seinem Aufsatz „Neudatierung und Neubewertung von Georg Büchners ‚Fatalismus’-Brief “ gute Argumente für eine Entstehung Mitte Januar desselben Jahres. Vgl.: Jan-Christoph Hauschild:Neudatierung und Neubewertung von Georg Büchners ‚Fatalismus’- Brief. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. Nr. 108. 1989. S. 511 – 529.
13 Teile der Rede wurden in der FAZ unter folgendem Artikel abgedruckt: Saint- Just. Büchner. Himmler. Kann es Gründe für den Massenmord geben? Martin Mosebachs Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. 10. 2007, Nr. 252, S. 33.
14 Saint-Just. Büchner. Himmler. S. 33.
15 Viëtor, K.: Die Tragödie des heldischen Pessimismus. S.174
16 ebd. S. 179.
17 ebd. S. 180.
18 Mayer, H.: Georg Büchner und seine Zeit. S. 94.
19 ebd. S. 95.
20 ebd. S. 101.
21 ebd.
22 Vgl. ebd.
23 Mayer, H: Georg Büchner und seine Zeit. S. 20.
24 So spottet er etwa in einem Brief an Wilhelmine Jaeglé nach Mitte März: „Herr Studiosus Büchner. Das ist Alles! Wie ich hier zusammenschrumpfe, ich erliege fast unter diesem Bewußtsein;“ Poschmann, H. (Hg.): Bd. 2. S. 384.
25 Mayer, Thomas Michael: Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolu- tionäre Demokratie. In: Georg Büchner I/II. Text+Kritik. Georg Büchner I/II. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München: 1979 (text+kritik Sonderband). S. 16–298.
26 Chang, Soon-Nan: Politik, Philosophie und Dichtung in Georg Büchners Le- benspraxis. Diss. Freie Universität zu Berlin 1988. S. 9.
27 Wetzel, Heinz: Ein Büchnerbild der siebziger Jahre. Zu Thomas Michael Mayer: „ Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie“. In: Georg Büchner III. Text+Kritik. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München: 1981 (text+kritik Sonderband). S. 247–264. hier S. 248.
28 Beispiele finden sich v. a. im Georg Büchner Jahrbuch 10 (2000–04), etwa die Aufsätze von Hiebel, Taniguchi oder Ulrike Dedner.
29 Vgl. Sevin, Dieter (Hg.): Georg Büchner. Neue Perspektiven zur internationalen Rezeption. Philologische Studien und Quellen. Berlin: Erich Schmidt 2007. S. 14.
30 Böhme, H.: Vom rückwärts gerichteten Fortschritt. S. 18.
31 ebd.
32 Mayer, H.: Georg Büchner und seine Zeit. S. 23.
33 Genauer handelt es sich um den Zeitraum vom 24. März–05. April 1794. Implii-ziert wird der Ausblick auf die im Drama nicht dargestellte Hinrichtung Robes-pierres am 28. Juli 1794.
34 Niebuhr, B. D.: Das politische Missverständnis Georg Büchner. S. 22.
35 Knapp, G.: Georg Büchner. S. 13.
36 ebd.
37 Poschmann, H. (Hg.): Bd. 2. S. 366/67.
38 Poschmann, H. (Hg.): Bd. 2. S. 366.
39 ebd.
40 Poschmann, H. (Hg.): Bd. 2. S: 376/377.
41 Grab, Walter: Georg Büchner und die Revolution von 1848. Der Büchner Essay von Wilhelm Schulz aus dem Jahr 1851. Text und Kommentar. Königstein/Ts.: Athenäum 1985.
42 Vgl. Knapp, G.: Georg Büchner. S. 21.
43 Vgl. ebd. S. 20/22.
44 Viëtor, K.: Die Tragödie des heldischen Pessimismus. S.174.
45 Viëtor, K.: Die Tragödie des heldischen Pessimismus. S.174.
46 Textgrundlage: Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Bd. 1: Dichtungen. Hrsg. von Henri Poschmann. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992.
47 Vgl. Behrmann, A. und J. Wohlleben: Büchner: Dantons Tod. Eine Dramenana- lyse. Stuttgart: Klett 1980. S. 146.
48 Mayer, Hans: Büchner und seine Zeit. S. 210.
49 ebd. S. 211.
50 Dieser Begriff geht in der politischen Theorie auf Rousseaus Unterscheidung des „volonté particulière‘ und des ‚volonté générale‘ zurück. Vgl.: Dedner, Burghard und Thomas Michael Mayer (Hrsg.): Georg Büchner. Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kom- mentar (Marburger Ausgabe). Bd. 3.4. Danton‘s Tod. Erläuterungen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000. S. 146, Anm. 361.
51 Behrmann/Wohlleben: Büchner: Dantons Tod. S. 147.
52 Vgl. ebd.
53 Knapp, G.: Georg Büchner. S. 116.
54 Poschmann, H. (Hg. ): Bd. 2. S. 410.
55 Vgl. ebd.
56 Knapp, G.: Georg Büchner. S. 116.
57 Vgl. ebd.
58 Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar. Marburger Ausgabe. Hrsg. von Burgdard Dedner und Thomas Michael Mayer. Bd. 3.4. Danton‘s Tod. Erläute- rungen. Darmsatadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000. S. 92 f., Anm. 175.
59 Poschmann, H. (Hg.): Bd. 2. S. 440.
60 ebd.
61 ebd.
62 Nach Büchners Verständnis sei [d]er Verstand [sei, N. M]. nun gar [ist] eine sehr geringe Seite unsers geistigen Wesens und die Bildung nur eine sehr zufällige Form desselben.“ Poschmann, H. (Hg.): Bd. 2. S. 378.
63 Poschmann, H. (Hg.): Bd. 2. S. 440.
64 Knapp, G.: Georg Büchner. S. 116.
65 Vgl. Mayer, Thomas Michael: Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie.
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- Nadia Matin (Autor:in), 2008, Politik, Revolution und Geschichte bei Georg Büchner und Heiner Müller, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/136474
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