"Ein Kreditinstitut muss die von ihm betriebenen Geschäftsaktivitäten verstehen". Ein Institut muss also wissen, welche Risiken aus der Einführung eines neuen Produkts, einer neuen Dienstleistung oder der Erschließung eines neuen Marktes resultieren können, so sieht es der Gesetzgeber und hat hierfür Vorgaben geschaffen. Wie sich diese Vorgaben darstellen und welchen (rechtlichen) Anteil die Rechtsabteilung im Allgemeinen und im Speziellen der dort beschäftigte Syndikusrechtsanwalt besitzt, ist Gegenstand dieser Arbeit.
Dem geneigten Beobachter und besonders einem ("typischen") Bankjuristen ist diese Situation sicherlich bestens bekannt: Die Geschäftspolitik der eigenen Bank, die Frage nach dem Marktauftritt des Hauses, aber auch die Suche nach einem Alleinstellungsmerkmal (Unique Selling Proposition) beschäftigten in Zeiten von Inflation und Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank die Vorstandschaft der deutschen Bankenwelt. Man möchte nicht von Verzweiflung sprechen, aber die Frage nach dem "Wie können wir denn noch Geld verdienen?" hört man aus den Edeletagen tradierter Glaspaläste in Frankfurt/Main und München häufiger.
Dies ist auch kein Wunder: Der Bankensektor hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt: FinTec-Institute, Onlinebanken und moderne Zahlungsdienstleister außerhalb der Bankenbranche verdrängen die klassischen Banken aus ihrem tradierten Geschäftsfeld. Die Versorgung der Bevölkerung mit Kreditprodukten erfolgt schon lange nicht mehr nur bei der klassischen Hausbank. Moderne Finanzierungsmöglichkeiten verdrängen klassische Existenzgründungsdarlehen für kleine und mittlere Unternehmen unter Einsatz der sogenannten "Blockchain-Technologie", also mit der Hilfe von sogenannten Token, die eine Unternehmensfinanzierung über die Ausgabe von Kryptowährungen sicherstellen. Die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank ist Auslöser für den Umstand, dass Banken selbst im Bereich der klassischen Kreditvergabe keine für sie wertvolle Zinsmarge aus dem Refinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank und dem Angebot an ihre Kunden generieren
können.
Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung
B. Regelungen über die Mindestanforderungen an das Risikomanagement
1. Entstehung, Ziele und Charakteristika der MaRisk
a) Herstatt-Bank (1974)
b) Deutsche Bank (1994)
c) Barings Bank (1995) und Société Générale (2007)
d) Japanische Bankengruppe (2000)
e) FlowTex Technologie GmbH & Co. KG (2000)
f) Reaktionen der deutschen Bankenaufsicht
g) Wesentliche Charakteristika der MaRisk
aa) Grundsatz der doppelten Proportionalität
bb) Öffnungsklauseln
cc) Geltungsbereich der MaRisk
2. Aufbau der MaRisk
3. Aufsichtsrechtliche Anforderungen bei Aktivitäten in neuen Produkten und Märkten im Rahmen des Neu-Produkt-Prozesses (NPP)
a) Identifikation von Risiken
b) Funktionstrennung
aa) Definition der Neuartigkeit
bb) Vertriebsunabhängiger Bereich
cc) Anhaltspunkte
dd) Nicht mehr verwendete Produkte
c) Konzepterstellung
d) Einbindung aller Beteiligten
e) Genehmigung
4. Organisatorisches für einen erfolgreichen NPP
a) NPP-Koordinator
b) Dokumentation
c) Durchführung eines verkürzten NPP
C. Der Beruf des Syndikusrechtsanwalts
1. Historische Wurzeln des Berufes des Syndikusrechtsanwalts
a) Der Beruf des Rechtsanwalts
b) Angestellte Assessoren
aa) Zahlenmäßige Entwicklung
bb) Von den Justiziaren hin zum Syndikusanwalt
cc) Reichs-Rechtsanwaltsordnung (RAO)
dd) Nach dem 2. Weltkrieg
c) Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 03.04.2014
aa) Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht
bb) Der Paukenschlag oder: "Die schlechte Nachricht aus Kassel"
cc) Ein neuer Beruf erblickt das "Licht der Welt"
2. Tätigkeit des Syndikusrechtsanwalts
a) Abgrenzung zur Compliance-Abteilung im NPP
b) Definition Rechtsrisiko
aa) Rechtsrisiko im engeren Sinne
bb) Rechtsrisiko im weiteren Sinne
D. Rechtsrisiken im NPP
1. Begleitungs- und Vollständigkeitsrisiko
2. Inanspruchnahme-Risiko
3. Kenntnisrisiko
4. Änderungs- und Umsetzungsrisiko, Aktualitätsisiko
5. Vertrags- und Schlüssigkeitsrisiko
a) Vertragsprüfung im Allgemeinen
b) Vertragsprüfung im NPP
aa) Spezifische gesetzliche Vorgaben
bb) Spezifische Marktvoraussetzungen (nationales Recht)
E. Fazit
F. Anlage: - Beispiel eines Ablaufplans eines regelrechten NPP
G. Anlage: - Beispiel für eine ordnungsgemäße NPP-Dokumentation
Literaturverzeichnis
Filc, Wolfgang,"Zinsarbitrage und Währungsspekulation", Berlin: Duncker & Humblot, 1975 (zit. als: Filc)
Ralf Hannemann, Thomas Weigl und Marina Zaruk,"Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk)", 6. Auflage 2022 (zit. als: Hannemann)
Jürgen Ellenberger, Hermann-Josef Bunte,"Bankrechts-Handbuch", 6. Auflage 2022 (zit. als : Ellenberger/Bunte)
Christian Bothe, Markus Hofer,"Die Erfolgsgeschichte der MaRisk", BaFin-Journal 08/2012, (zit. als: Bothe/Hofer)
Marianne Gottschall [Hrsg.],"Handbuch Neu-Produkt-Prozess - Planung, Durchführung und organisatorische Verankerung von NPPs in Banken", 2. Auflage 2021 (zit. als : Gottschall /Be- arbeiter)
Sven Schwonke,"Aktivitäten in neuen Produkten oder auf neuen Märkten - Praxiserfahrungen zum Neu-Produkt- Prozess nach den MaRisk sowie den Vorgängernormen MaH und MaK", Vortrag beim Erfahrungsaustausch öffentlicher, privater und genossenschaftlicher Banken am 18. April 2007 in Berlin (zit. als: Schwonke)
Hanns Prütting,"Anwalt und Gericht im Zusammenspiel seit 1850", Anwaltsblatt 12/2018, Seite 662-664 (zit. als: Prütting)
Adolf Weissler,"Geschichte der Rechtsanwaltschaft", Monographie, Leipzig: Pfeffer, 1905 (zit. als: Weissler)
Walter Kolvenbach,"Die Tätigkeit der Syndikusanwälte im Unternehmen und ihre Zusammenarbeit mit frei praktizierenden Anwälten", JuristenZeitung (JZ), 1979 (Band: 34), 458 (zit. als Kolvenbach)
Wilhelm Feuerich, Dag Weyland, Albert Vossebürger, Gregor Böhnlein, Rüdiger Brüge- mann,"Bundesrechtsanwaltsordnung - Kommentar", 8. Aufl. 2012 (zit. als Feuerich/Wey- land/ Bearbeiter)
Fritz Ostler,"Die deutschen Rechtsanwälte 1871-1971", C.F. Müller, Karlsruhe, 1963 (zit. als Ostler)
Adolf Friedlaender, Max Friedlaender, "Kommentar zur Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878", 3. Aufl. 1930 (zit. als Friedlaender)
Martin Henssler, Dr. Hanns Prütting, "BRAO. Kommentar zur Bundesrechtsanwaltsordnung", 4. völlig neu überarbeitete Aufl. 2014, C.H. Beck, München (zit. als Henssler/Prütting) Johannes Ylinen, "Der Einfluss europäischen Rechts auf die berufsständischen Versorgungswerke in der Bundesrepublik Deutschland", Jena, Univ., Diss., 2012 (zit. als Ylinen)
Klaus Krekeler, "Theorie und Praxis der berufsständischen Versorgung der Ärzte", Stuttgart, 1972 (zit. als Krekeler)
Winfried Boecken , "Die Pflichtaltersversorgung der verkammerten freien Berufe und der Bundesgesetzgeber" (Diss.), Berlin, 1986 (zit. als Boecken)
Christian Deckenbrock, Martin Henssler,"Das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Syn- dikusanwälte - Konzeption und Einbindung in die Gesamtstruktur der BRAO", 2017 (zit. als Deckenbrock/Henssler)
Nicolas Lührig,"Der Syndikusanwalt als Rechtsanwalt - verkannt von den Gerichten. Wie BGH und BSG mit der Doppelberufstheorie Berufs- und Sozialpolitik betreiben" in der Festschrift für Götz Landwehr zum 80. Geburtstag: "Rechtsprechung und Justizhoheit", Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien, 2016 (zit. als Lührig)
Timo Boldt, Karsten M. Büll, Michael Voss,"Implementierung einer Compliance-Funktion in einer mittelständischen Bank unter Berücksichtigung der neuen Mindestanforderungen an das Risikomanagement", CCZ (Corporate Compliance), C. H. Beck, 2013, S. 248 (zit. als Boldt/Büll/Voss)
Martin Arendts,"Beratungs- und Aufklärungspflichten über das einem Wertpapier erteilte Rating", WM 1993, 229 (zit. als Arendts)
Torsten Jäger, Alexandra Eckhardt,"What's wrong with Japanese Banks? - Die Bankenkrise in Japan", GRIN Verlag 2003 (zit. als Jäger/Eckhardt)
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
A. Einleitung
Dem geneigten Beobachter und besonders einem ("typischen") Bankjuristen ist diese Situation sicherlich bestens bekannt:
Die Geschäftspolitik der eigenen Bank, die Frage nach dem Marktauftritt des Hauses, aber auch die Suche nach einem Alleinstellungsmerkmal (Unique Selling Proposition) beschäftigten in Zeiten von Inflation und Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank die Vorstandschaft der deutschen Bankenwelt. Man möchte nicht von Verzweiflung sprechen, aber die Frage nach dem "Wie können wir denn noch Geld verdienen?" hört man aus den Edeletagen tradierter Glaspaläste in Frankfurt/Main und München häufiger. Dies ist auch kein Wunder: Der Bankensektor hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt: FinTec-Institute1, Onlinebanken und moderne Zahlungsdienstleister außerhalb der Bankenbranche verdrängen die klassischen Banken aus ihrem tradierten Geschäftsfeld. Die Versorgung der Bevölkerung mit Kreditprodukten erfolgt schon lange nicht mehr nur bei der klassischen Hausbank; moderne Finanzierungsmöglichkeiten verdrängen klassische Existenzgründungsdarlehen für kleine und mittlere Unternehmen unter Einsatz der sog. "Blockchain -Technologie", also mit der Hilfe von sog. Token, die eine Unternehmensfinanzierung über die Ausgabe von Kryptowährun- gen sicherstellen. Die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank ist Auslöser für den Umstand, dass Banken selbst im Bereich der klassischen Kreditvergabe keine für sie wertvolle Zinsmarge aus dem Refinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank und dem Angebot an ihre Kunden generieren können.
Auch im Passivgeschäft werden klassische Kreditinstitute von ihrem in der Wertschöpfungskette angestammten Platz verdrängt, denn mit den herkömmlichen Geschäftsmodellen, bestehend u. a. aus dem Angebot eines reinen Zahlungskontos für Verbraucher und für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) ist schon lange kein Geld mehr zu verdienen. Der Verbraucher ist bei Kontoführungsentgelten2 kritisch und einer Einnahme mit Nebenpreisentgelten (sog. "Bearbeitungsgebühren" u. a. bei Verbraucherdarlehen) hat der Bundesgerichtshof just einen Riegel vorgeschoben. Mangels interessanter Möglichkeit zur Verzinsung von Spar- und Termineinlagen der Kunden bleibt auch diese Möglichkeit auf der Strecke, um Kunden zu gewinnen. Dabei waren früher gerade die so wichtigen Produkte auf der Passivseite ein Garant für die Möglichkeit zur Herauslage (Valutierung) von Krediten und die Sicherstellung von Liquidität der Banken. Heute belastet hingegen die Europäische Zentralbank die bei ihr gehaltenen Gelder der Bankkunden mit einem negativen Zinssatz, so dass das Institut gerade bei höheren Sichteinlagen zur Kompensation dieser Negativzinsen zur Erhebung von Verwahrentgelten bei ihren Kunden gezwungen wird3. Aber auch diese Möglichkeit zum Ausgleich hält die Rechtsprechung derzeit für eher kritisch, wenigstens bei Kunden mit Verbrauchereigenschaft. Bei den Unternehmenskunden ist die Rechtsprechung hier noch uneinheitlich. Es ist aber ein Trend zu beobachten: Banken wird das Geldverdienen erschwert. Hohe Sicht-, Spar- und Termineinlagen der Kunden werden zum Malus.
Neue Produkte müssen also her, neue Möglichkeiten zur Erlangung eines wie auch immer gearteten Alleinstellungsmerkmals sollen gefunden werden. Der Vorstand bedient sich hier in aller erster Linie der sog. "Marktabteilungen" seines Hauses, also derjenigen Abteilungen, in denen Produktspezialisten neue Prozesse oder neue Bankprodukte ergründen und diese auf den Markt bringen oder gleich ganz neue Märkte erschließen wollen. Am Schluss mannigfaltiger Überlegungen steht häufig eine gute Idee, eine Möglichkeit, sich auf einem bestimmten Gebiet zu profilieren, zu etablieren oder durch ein neues Produkt Marktanteile generieren zu können.
Im Anschluss an die dankbaren und meist sehr innovativen neuen Produktideen steht dann jedem Produktmanager der Gang in die Rechtsabteilung bevor. Das Produkt soll "wasserdicht" sein, die Bedingungen einfach und für den Kunden absolut verständlich. Hierbei fehlt es - naturgemäß - am juristischen Knowhow. So wird der vollelektronische Kreditvertragsabschluss ohne Papierausdruck4 ebenso juristisch anspruchsvoll umzusetzen sein (§ 492 BGB) wie die Möglichkeit, einseitig Entgelte festzusetzen oder Produktdetails je nach Gusto der Bank ändern zu können. Und daher meidet jeder Produktmanager tunlichst den Gang in die Rechtsabteilung: Zu langsam, zu kompliziert, zu intransparent sei man dort. "Geschäftsverhinderung" würde man dort betreiben und man habe keinen Anspruch an eine schnelle und effiziente Produktgestaltung. Man wolle dort alles zu 100 Prozent regeln und selbst unwahrscheinliche Szenarien müssten bedacht werden, so lauten tatsächlich manche Forderungen der hausinternen Rechtsberater zum Leidwesen der Marktabteilungen. Dabei könnte das Leben ohne diese ganzen bürokratischen Formalismen so einfach sein.
Dass dieses Verhalten jedoch Teil einer ausgeklügelten regulatorischen (aufsichtsrechtlichen) Anforderung ist, wird oftmals verkannt. Kaum ein Wirtschaftszweig hat neben den Versicherungen und vielleicht noch der Pharma- und Medizinprodukte-Industrie eine derartige Fülle von aufsichtsrechtlichen Anforderungen zu beachten wie der Bankenbereich.
Die wichtigste Anforderung vorab, ohne dieser Arbeit vorgreifen zu wollen: "Ein Institut muss die von ihm betriebenen Geschäftsaktivitäten verstehen"5. Ein Institut muss also wissen, welche Risiken aus der Einführung eines neuen Produkts, einer neuen Dienstleistung oder der Erschließung eines neuen Marktes resultieren können, so sieht es der Gesetzgeber und hat hierfür Vorgaben geschaffen.
Wie sich diese Vorgaben darstellen und welchen (rechtlichen) Anteil die Rechtsabteilung im Allgemeinen und im Speziellen der dort beschäftigte Syndikusrechtsanwalt besitzt, ist Gegenstand dieser Arbeit. Hierbei ist zunächst der regulatorische Neu-Produkte-Prozess Gegenstand einer Betrachtung aus juristischer Sicht (B.) und alsdann sollen Aufgaben und Inhalte des mit dieser Thematik befassten Syndikusrechtsanwalts näher beleuchtet werden (C.).
B. Regelungen über die Mindestanforderungen an das Risikomanagement
Bevor die Aufgaben und Inhalte der rechtlichen Beratung durch Syndikus- rechtsanwälte im Lichte der MaRisk weiter erörtert werden können, muss zunächst die MaRisk als Regelungswerk näher beleuchtet werden.
1. Entstehung, Ziele und Charakteristika der MaRisk
Am 2. Mai 2012 hat die BaFin ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert. Zu den Erfolgen, auf die sie zurückblicken kann, gehört im Bereich der Bankenaufsicht die Entwicklung der sog. "Mindestanforderungen an das Risikomanagement", kurz MaRisk. Sie sind ein umfassendes und risikoartenübergreifendes, qualitativ ausgerichtetes Regelwerk zum bankinternen Risikoma- nagement6.
Die Notwendigkeit für ein solches Risikomanagement sah man schon früh. Zahlreiche Vorgänge in der Bank- und Finanzwirtschaft in den letzten Jahrzehnten trugen zu Konkursen und Schließungen teilweise renommierter Institute bei, oftmals mit mehr oder weniger Schäden für die Kundschaft dieser Institute. Hier seien nur die wichtigsten erwähnt:7
a) Herstatt-Bank (1974)
Die Herstatt-Bank war eine seit dem 18. Jahrhundert bestehende Familienbank mit herausragender Reputation einer alteingesessenen Privatbank. Als Gewinnpotenzial identifizierte man in den 1970er Jahren die aus der Freigabe der Wechselkurse am 10. Mai 19718 resultierenden Devisenkurse, die nicht mehr innerhalb von engen Wechselkursbandbreiten schwankten, sondern von Zentralbanken fast vollständig der Marktentwicklung überlassen wurden9. Der Eigenhandel von Herstatt nahm Fahrt auf. Eine Kontrolle dieses Eigenhandels gab es indes nicht. So wurde erst knapp 20 Jahre alten Devisenhändlern gestattet, unbehelligt von Kontrollen, Tageslimits und nicht vorhandenen aufsichtsrechtlichen Kontrollen Devisenhandelskontrakte über mehrere Millionen täglich zu schließen. Es kam auf Grund der Ölkrise zu massiven Fehleinschätzungen seitens dieser Händler und zu Fehlspekulationen. Die Bank geriet in Konkurs und wurde schließlich mit einem großen Schaden für die Kunden abgewickelt. Der Bundesgerichtshof erkannte auf Grund fehlender aufsichtsrechtlicher Instrumente eine Haftung der Bundesrepublik Deutschland an10.
b) Deutsche Bank (1994)
Jürgen Schneider war ein in Deutschland angesehener Bauinvestor, der sich besonders um die Sanierung historischer Immobilien in Innenstadtlagen bemühte. Er kaufte diese Immobilien, lies sie mit Fremdkapital renovieren und vermietete diese anschließend wieder. Mit "frisierten" Rechnungen und Lügen über die Kreditwürdigkeit seiner Immobilien führte eine außer Kontrolle laufende Kreditvergabe zu einer Neubewertung bestehender Sicherheiten seitens der Deutschen Bank AG und damit zu einem Verlust in Höhe von ca. 3 Milliarden DM. Berühmt ist in diesem Zusammenhang die Aussage des damaligen Vorstandsvorsitzenden Hilmar Kopper, der von "peanuts" im Zusammenhang mit diesem realisierten Verlust der Deutschen Bank AG von 50 Millionen DM sprach; insgesamt waren es jedoch die bereits erwähnten 3 Milliarden DM. Möglich war dieser Verlust indes nur, weil Risikovorgaben bei der Kreditvergabe entweder nicht existierten oder seitens der Verantwortlichen bewusst übergangen wurden. Im Ergebnis wurden kreditprozessuale Schwächen ersichtlich.
c) Barings Bank (1995) und Société Générale (2007)
Das Beispiel der Barings Bank war kein deutsches Geschehnis, hätte aber genauso gut auch in Deutschland passieren können: Barings war eine britische Investmentbank, die 1995 auf Grund riskanter und unerlaubter Zinsspekulationen des Future -Händlers Nick Leeson zusammenbrach ("Futures", besser "Financial Futures", sind Terminkontrakte auf Aktien, Anleihen, Indizes und Währungen). Nick Leeson ging offene Positionen zu Lasten der Bank ein, machte - verkürzt dargestellt - morgens die Geschäfte und kontrollierte diese Geschäfte abends selbst. Die interne Revision der Barings Bank hatte dem Vorstand auf Grund der enormen Kapitalisierung der Geschäfte von Nick Leeson nahegelegt, diesen durch einen zweiten Mitarbeiter kontrollieren zu lassen; der Vorstand lehnte dies unter Hinweis auf den Erfolg des Händlers ab, dies würde nur überflüssiges Geld kosten. 1995 kam es zum Erdbeben von Kobe, das den japanischen Aktienindex Nikkei zum Absturz brachte. Nick Leeson stand hier auf der sog. "Long"- Position und hätte daher von entsprechenden Kurssteigerungen profitiert (Anleger befinden sich in der sog. "Long"-Position in einer Erwartung, dass der Wert des Index oder Wertpapiers in Zukunft steigen werde, was hier nicht eintraf). Der Verlust betrug 1,4 Milliarden US-$, was schlussendlich zur Insolvenz der traditionsreichen Barings Bank führte11.
Auch in diesem Beispiel war also das mangelhafte Risikomanagement und die in der Betriebs- und Geschäftsorganisation nicht implementierten Kontrollprozeduren ursächlich für den Konkurs dieses jahrhundertealten Bankhauses.
Ein sehr ähnlicher Fall war 2007 Gegenstand eines Skandals bei einer europäischen Großbank, der Société Générale. Dort war es Jéröme Kerviel der zunächst als Mitarbeiter im Middle -, bzw. Backoffice die Schwächen der Kontrollprozesse und die Systemschwächen der Bank kannte, bevor er auf die Händlerseite wechselte und dort Futures und Forwards[12] abschloss, extrem hohe offene Positionen einging und diese dann mit fiktiven Gegengeschäften schloss. Kurz vor Fälligkeit stornierte er diese Gegengeschäfte jedoch wieder, was auf Grund der ihm bekannten Schwächen des Kontrollsystems der Bank unbemerkt blieb. Nicht diese Stornobuchungen führten dann zu einem Problem der Bank, sondern der Beginn der Finanzkrise. Wäre das Verhalten von Jéröme Kerviel nicht unentdeckt geblieben, hätte die Bank einen Verlust von rd. 6,4 Milliarden Euro vermeiden können13.
d) Japanische Bankengruppe (2000)
Im Jahr 2000 hatten vier große japanische Bankengruppen ihren Kunden unter Vernachlässigung angemessener Bonitätsprüfungen immer riskantere Kreditgeschäfte angeboten. Es kam zu einem Verlust von 134 Milliarden Euro an uneinbringlichen Forderungen14.
e) FlowTex Technologie GmbH & Co. KG (2000)
Die FlowTex-Affäre war wohl mit Abstand der bis dahin größte Wirtschaftsbetrug in Deutschland. Scheingeschäfte mit nichtexistenten Bohrmaschinen führten zu einem Verlust von ca. 2 Milliarden Euro15.
Diese spektakulären Fälle mit einerseits Handelsgeschäftsrisiken und andererseits kreditprozessualen Missständen motivierten die Aufsicht zur Verfassung der MaRisk bzw. deren Vorgängerregelungen.
f) Reaktionen der deutschen Bankenaufsicht
Bezeichnend ist die jeweils von der deutschen Bankenaufsicht betriebene reine Reaktionspolitik: 1974 ergingen nach der Pleite des Bankhauses Herstatt Regelungen des Bundesaufsichtsamtes für das Kreditwesen (Vorgängerbehörde der BaFin) hinsichtlich des Handels mit Fremdwährungen, 1995 wurden nach der Insolvenz der Barings Bank die MaH (Mindestanforderungen für Handelsgeschäfte) erlassen, 2000 (nach dem FlowTex-Fall) erging die MaIR (Mindestanforderungen für die interne Revision), 2002 wurden die MaK (Mindestanforderungen für das Kreditgeschäft) erlassen.
Diese Regelungen und Mindestanforderungen wurden 2005 erstmals zu den MaRisk zusammengefasst und u. a. auch sprachlich vereinheitlicht (so wird nun z. B. einheitlich der Begriff der "Geschäftsleitung" statt "Vorstand" und der Begriff "Stresstest" statt "Szenarienanalyse" verwendet). 2007 und 2008 wurden die MaRisk inhaltlich überarbeitet und geschärft.
Ziel der Regelungen seitens der Bankenaufsicht war von vornherein (situationsbedingt) jeweils die Risikotragfähigkeit eines Bankhauses und dessen Zahlungsfähigkeit sicherzustellen (Solvenz), Vorstandsmitglieder hinsichtlich eines bestehenden Risikos zu informieren bzw. zu sensibilisieren und einen Kontrollmechanismus zu schaffen, um einen zweiten, dritten oder noch öfteren Fall von Leeson, Kerviel und Schneider vermeiden zu können.
g) Wesentliche Charakteristika der MaRisk
Durch die MaRisk erfolgte die Konsolidierung der genannten Regelungen zu einem umfassenden Rahmenwerk zum Risikomanagement für alle zugelassenen Banken. Die MaRisk sind hierbei in einen Allgemeinen Teil (AT) und in einen Besonderen Teil (BT) gegliedert und modular aufgebaut. Der Allgemeine Teil enthält grundlegende Anforderungen, die keinen speziellen Bezug zu den im BT behandelten Geschäften und Risiken haben. Sie wurden insofern aufgrund ihres übergreifenden Charakters vor die Klammer gezogen und sind unabhängig von den betriebenen Geschäften und Risiken zu beachten. Der Besondere Teil beinhaltet zum einen Vorgaben zum internen Kontrollsystem, die Anforderungen an die Aufbau- und Ablauforganisation im Kredit- und Handelsgeschäft sowie Anforderungen an die Risikosteue- rungs- und Risikocontrolling-Prozesse. Zum anderen konkretisiert er die Anforderungen an die interne Revision16.
Wesentliche Merkmale der MaRisk sind hierbei einerseits der Grundsatz der doppelten Proportionalität und andererseits die sog. "Öffnungsklauseln".
aa) Grundsatz der doppelten Proportionalität
Interessanterweise ist es gerade die "Deutsche Kreditwirtschaft" als Zusammenschluss des Bundesverbands der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken e.V. (BVR), des Bundesverbandes deutscher Banken e. V. (BdB), des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes e.V. (DSGV), dem Bundesverband Öffentlicher Banken Deutschlands, VÖB, e.V. sowie dem Verband deutscher Pfandbriefbanken (vdp) e. V.17, die in der Vergangenheit immer sehr starken Wert auf die Einhaltung des Grundsatzes der doppelten Proportionalität seitens der Bankenaufsicht legte. Dieser Grundsatz besagt, dass einerseits die Aufsicht bei den einzelnen Risikoarten (d. s. Adressausfallrisiken, Marktpreisrisiken, Liquiditätsrisiken18, operationelle Risiken19, Rechtsrisiken) zum Teil sehr konkrete Anforderungen an die Berichtsinhalte und an den Turnus der Berichte fordert, jedoch andererseits (1.) die Ausgestaltung der internen Prozesse und (2.) die Anforderungen, die die Aufsicht bei der Überprüfung stellt, jeweils proportional zur Größe des Kreditinstituts, zum Geschäftsvolumen und zur Risikostruktur sein muss20. Eine kleine Pfandbriefbank oder kommunale Sparkasse darf daher nicht mit demselben Maßstab im Hinblick auf die Ausgestaltung des Risikomanagements bewertet werden wie z. B. eine Bank mit einer Bilanzsumme von 1.324 Milliarden Euro wie die Deutsche Bank. Nachdem die Implementierung und die Aufrechterhaltung und ordnungsgemäße Durchführung von Risikomanagement-Strukturen und Risikosteuerungsmaßnahmen für jede Bank ein gewisses Maß an Aufwand verursacht, liegt es im Sinne der Deutschen Kreditwirtschaft, nicht jedes Institut über "einen Kamm zu scheren".
bb) Öffnungsklauseln
Die MaRisk beinhalten eine Vielzahl von Öffnungsklauseln und Interpretationsspielräumen. Dies ist auch notwendig. Würden die MaRisk starre Regelungen zur Umsetzung der Risikominimierung vorsehen, würde man seitens der Aufsicht sicherlich nicht auf das "schwächste Glied" in einer Reihe von Instituten abstellen, sondern auf die Institute mit einem signifikant erhöhten Risiko. Würden diese Öffnungsklauseln nicht existieren, würde man eine kleine Raiffeisenbank, wie z. B. die Genossenschaftsbank Alxing in Oberbayern mit einer Bilanzsumme von 137,4 Millionen Euro und einer Mitarbeiterzahl von 16, der Deutschen Bank AG (Bilanzsumme: 1.324 Milliarden Euro, 82.969 Mitarbeiter) hinsichtlich des notwendigen Risikomanagements gleichsetzen. Der administrative Aufwand wäre für die kleine Raiffeisenbank nicht mehr handelbar. Durch die Einbindung von Öffnungsklauseln stellt die Aufsicht insofern sicher, dass auch kleinere Institute die MaRisk problemlos und flexibel umgesetzt bekommen. Dem hierbei entstehenden Problem der Überinterpretationen von Öffnungsklauseln durch kleinere und mittlere Institute und damit der Gefahr einer nicht mehr verhältnismäßigen Umsetzung der MaRisk begegnet die Bankenaufsicht durch die Veröffentlichung von Protokollen aus Sitzungen von Fachgremien mit entsprechenden Hinweisen auf die Interpretation der Öffnungsklausel im Sinne der Aufsicht und durch die Verpflichtung des jeweiligen Instituts, eine dokumentierte Begründung bei der Umsetzung von einzelnen Öffnungsklauseln zu erstellen. Diese kann sodann durch die Aufsicht bei aufsichtsrechtlichen Kontrollen eingesehen und ausgewertet werden. Schlussendlich dient aber auch das Prinzip der doppelten Proportionalität dem Schutz vor einer Überinterpretation von Öffnungsklauseln durch kleinere und mittlere Institute.
cc) Geltungsbereich der MaRisk
Nach der Bezugnahme auf die Regelungen in § 1 Abs. 1b KWG, § 53 Abs. 1 KWG und § 53b KWG haben alle Kreditinstitute und Finanzdienstleister in Deutschland sowie alle inländischen Zweigstellen von ausländischen Unternehmen aber auch alle Zweigstellen deutscher Kreditinstitute im Ausland die MaRisk zu beachten. Eine Ausnahme gilt lediglich für Zweigniederlassungen von Instituten mit Hauptsitz im Europäischen Wirtschaftsraum, wenn sie "passporten", d. h., wenn sie von der zuständigen Behörde in ihrem Heimatland beaufsichtigt werden, denn dann findet dort die Aufsicht nach den Regelungen des Heimatlandes statt.
2. Aufbau der MaRisk
Einer der wichtigsten Auslöser für die Entwicklung der MaRisk im Jahr 2005 war das damals neue Rahmenwerk des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht zur Kapitaladäquanz von Banken, das unter dem Schlagwort "Basel II" bekannt ist21. Dieses umfasste neben den Regelungen zur Eigenmittelausstattung (Säule I) auch einen qualitativ ausgerichteten aufsichtsrechtlichen Überprüfungsprozess (Supervisory Review Process - Säule II), der seinen Niederschlag auch in der EU-Bankenrichtlinie fand22. Demnach müssen Institute angemessene Leitungs-, Steuerungs- und Kontrollprozesse (Robust Governance Arrangements) sowie Strategien und Prozesse einrichten, die eine Abdeckung aller wesentlichen Risiken mit internem Kapital gewährleisten (Internal Capital Adequacy Assessment Process - ICAAP)23. Die Qualität dieser Prozesse ist von der Aufsicht im Rahmen des aufsichtsrechtlichen Überwachungsprozesses regelmäßig zu beurteilen. Diese Grundgedanken spiegeln sich seitdem in § 25a Absatz 1 Kreditwesengesetz (KWG) wie auch in den norminterpretierenden MaRisk wider24.
Die BaFin hat damit transparent gemacht, wie sie zukünftig in der aufsichtsrechtlichen Praxis die zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffe des § 25a KWG anwenden wird und hat den § 25a KWG insoweit rechtsverbindlich, kompakt und umfassend konkretisiert25. Gleichzeitig gibt die MaRisk den Instituten verlässliche Anhaltspunkte für die angemessene Ausgestaltung des institutsinternen Risikomanagements26.
Schon vor der erstmaligen Veröffentlichung der MaRisk im Dezember 2005 hatte die BaFin mit den sog. "Mindestanforderungen an das Betreiben von Handelsgeschäften der Kreditinstitute vom 23.10.1995 (MaH, 1995)"27, den Mindestanforderungen an die Interne Revision (MaIR, 2000) und den Mindestanforderungen an das Kreditgeschäft (MaK, 2002) qualitative Vorgaben zum Risikomanagement der Banken geschaffen28. Diese bezogen sich jedoch nur auf bestimmte Teilbereiche. So stellte die Aufsicht in den MaH und den MaK Anforderungen an die Ausgestaltung des internen Kontrollsystems im Handelsgeschäft bzw. im Kreditgeschäft auf. Die MaIR enthielten Anforderungen an die Ausgestaltung der Internen Revision. Erst mit den MaRisk erfolgte die bereits erwähnte Konsolidierung der genannten Verlautbarungen zu einem umfassenden Rahmenwerk zum Risikomanagement. Die Überführung der „alten“ Mindestanforderungen in das neue Rahmenwerk nahm die Aufsicht zum Anlass, Redundanzen, Schnittstellenprobleme und Wertungswidersprüche zu beseitigen. Ferner wurden die auf diesem Wege modernisierten Anforderungen um weitere Elemente ergänzt, die zwar in einschlägigen internationalen Papieren behandelt wurden, für die es jedoch in Deutschland kaum oder gar keine Anforderungen gab (zum Beispiel Zinsänderungsrisiken im Anlagebuch). Zusammen mit der Überführung der Vorgaben aus Basel II bzw. der Bankenrichtlinie konnte die Aufsicht somit ein bis heute einmaliges Gesamtregelwerk entwickeln, das erstmals - in konsistenter Weise - alle Kernelemente des Risikomanagements in Banken adressiert.
3. Aufsichtsrechtliche Anforderungen bei Aktivitäten in neuen Produkten und Märkten im Rahmen des Neu-Produkt-Prozesses (NPP)
Schlechte Erfahrungen der Aufsicht in der Finanzkrise im Hinblick auf forderungsbesicherte Wertpapiere, bei denen die Zahlungsansprüche des Inhabers durch einen Bestand an Forderungen an Dritte besichert wurden, sog. "ABS"(Asset Backed Securities) führten immer mehr zu der Erkenntnis, dass Banken und Finanzdienstleistern das Risiko bewusst zu sein hat, welches von Aktivitäten in neue Märkten (z. B. Kreditvergabe im Ausland), u. a. im Rahmen des passporting, aber auch vom Vertrieb neuer Aktiv- und Passivprodukte (neues Kreditprodukt, neues Kartenprodukt, neues Sparprodukt, etc.) ausgeht.
Wenn im Rahmen von Seminaren und Fortbildungsveranstaltungen das Thema NPP angesprochen wird, fällt die Reaktion der Zuhörer meist sehr verhalten aus, zumeist sind die Teilnehmer gelangweilt29. Dies liegt im Grunde daran, dass die mehr als 25 Jahre bestehenden Regelungen zum NPP kaum geändert wurden.
In der jetzigen MaRisk wurde der NPP daher als Muss-Vorschrift in AT 8.1 entsprechend mitaufgenommen und führt dazu, dass nicht nur Handels- und Kreditgeschäfte einem solchen NPP-Risikoassessment unterliegen, sondern auch Kommissionsgeschäfte und Aktivitäten im Immobilienbereich.
a) Identifikation von Risiken
Nach AT 8.1 Tz. 1 MaRisk müssen Banken das von ihnen betriebene Geschäft verstehen (Know-your-business -Prinzip), denn letztlich ist nur das Verständnis von neuen Produkten, den Märkten und letztlich der diesbezüglichen Aktivitäten der maßgeblichste Baustein, um die Risiken aus dem neuen Geschäft verstehen und angemessen mit Liquidität unterlegen bzw. anderweitige Vorsorge treffen zu können. Diese eigentliche Selbstverständlichkeit eines umfassenden Produkt- und Marktverständnisses seitens der Geschäftsleitung einer Bank ist jedoch auf Grund der zunehmenden Produktkomplexität gar nicht mehr so selbstverständlich. So ist es besonders bei Handelsprodukten eine regelrechte Herausforderung, alle Risiken des Produkts zu kennen.
Als wesentliche Zielsetzung des NPP-Prozesses sieht die Regulatorik die Sicherstellung der sachgerechten Handhabung eines neuen Produkts oder eines neuen (vielleicht internationalen) Marktauftritts, die Ermittlung des Risikogehalts neuer Geschäftsaktivitäten, die Sicherstellung der ordnungsgemäßen Abbildung in den relevanten Banksystem (z. B. Rechnungswesen, Risikocontrolling)30 sowie die Einhaltung der regulatorischen Anforderungen, wie z. B. das turnusgemäße Meldewesen an die Bundesbank.
b) Funktionstrennung
Potenzielle neue Produkte oder Aktivitäten auf neuen Märkten werden regelmäßig von Mitarbeitern oder Organisationseinheiten identifiziert, bei denen allein schon aufgrund ihrer Tätigkeit eine entsprechende Affinität zu Produktinnovationen oder -variationen vermutet werden kann; die Geschäftsidee stammt daher häufig von Mitarbeitenden des Handels oder auch des Marktes31 32.
aa) Definition der Neuartigkeit
Bei der Frage nach der richtigen Handhabung eines NPP stellt sich regelmäßig die tatbestandliche Frage, ob es sich überhaupt um ein "neues Produkt" oder um eine "neue geschäftliche Aktivität" im Sinne der MaRisk handelt[32].
In den MaRisk finden sich keine konkreten Hinweise, wann genau von einem neuen Produkt oder von Aktivitäten auf neuen Märkten einschließlich neuer Vertriebswege auszugehen ist. Zur Interpretation des Begriffes "neu" ist daher auf die individuellen Verhältnisse aus der Perspektive des Institutes abzustellen. So ist auch ein am Markt weitgehend etabliertes Produkt für ein Institut als neuartig einzustufen, wenn es dieses Produkt erstmalig verwendet. Die Definition der Neuartigkeit hat zudem auf der Ebene des einzelnen Institutes zu erfolgen. Eine Tochtergesellschaft, die erstmalig Produkte des Mutterunternehmens vertreibt, hat für diese Produkte einen eigenen Neu-Produkt-Prozess zu durchlaufen33 ; es darf sich nicht auf die Erfahrungen der Muttergesellschaft und deren Risikobewertung verlassen. Es muss eine eigene Risikobewertung, insbesondere auch hinsichtlich der Rechtsrisiken, anstellen.
bb) Vertriebsunabhängiger Bereich
Hierzu definiert AT 8.1 Tz. 3 MaRisk, dass bei der Entscheidung, ob es sich um Geschäftsaktivitäten in neuen Produkten oder auf neuen Märkten handelt, ein "unabhängiger Bereich" einzubinden ist. Die MaRisk meint hiermit die Einbindung eines von der "Marktabteilung" unabhängigen Bereichs, namentlich ein Bereich, der gerade nicht für die Vertriebsergebnisse verantwortlich zeichnet. Durch diese Einschränkung soll sichergestellt werden, dass z. B. ausschließlich der Handel oder der Markt darüber entscheiden, ob ein neues Produkt vorliegt oder nicht und ob damit der NPP zu durchlaufen ist oder nicht34. Insbesondere soll damit auch verhindert werden, dass der Handel oder der Markt im Interesse neuer Geschäftsabschlüsse allzu "blauäugig" und nur im Interesse des Profits eine adäquate Risikoermittlung über die Hintertür einer behaupteten fehlenden Neuartigkeit der Produkte oder der neuen Märkte umgeht35.
cc) Anhaltspunkte
Für den vertriebsunabhängigen Bereich wiederum ergeben sich Anhaltspunkte, wann u. a. eine von den MaRisk geforderte Neuheit vorliegt,36 aus folgenden Fragestellungen. Die Auflistung ist selbstverständlich hierbei nicht abschließend:
- Sind die Einzelkomponenten oder ähnliche Strukturen schon vorhanden?
- Ist der Risikogehalt des Geschäfts kleiner oder gleich dem Risikogehalt der Einzelkomponenten?
- Gelten bestehende Rahmenverträge?
- Sind die vorhandenen Anweisungen bzw. Arbeitsablaufbeschreibungen anwendbar?
- Sind die Bilanzierungs- und Bewertungsverfahren, die Buchungssysteme, die Marktgerechtigkeitskontrolle und das Risikocontrolling auf das Produkt eingestellt?
- Müssen ggfls. Kompetenzen angepasst bzw. neu geschaffen werden?
- Müssen neue Limite eingerichtet werden?
- Sind die IT-Systeme für die Positions- und Bestandsführung, die Abwicklung, die Risikomessung, die Limit-Überwachung und das Meldewesen angemessen?
Bei neuartigen Aktivitäten (ggfls. auf neuen Märkten) handelt es sich folglich um
- Geschäfte, bei denen das Institut noch über keine ausreichenden Erfahrungen im Zusammenhang mit deren Handhabung verfügt,
- Aktivitäten auf Märkten (Länder, Regionen, Währungen etc.), in denen das Institut bislang noch nicht [oder noch nicht dergestalt] tätig war und über keine ausreichenden Marktkenntnisse verfügt, oder
- Vertriebswege (Internet, Kreditvermittler, etc.), die sich objektiv von den bislang genutzten unterscheiden37.
dd) Nicht mehr verwendete Produkte
Nach AT 8.1 Tz. 2 MaRisk fordert die Einführung und ständige Revision eines NPP-Katalogs38. Diese Regelung hat schlussendlich zur Konsequenz, dass Produkte, die nicht mehr verwendet werden, zu streichen sind. Produkte, die über einen längeren Zeitraum nicht mehr verwendet wurden, aber noch existieren, sind zu kennzeichnen39. Als längerer Zeitraum wird vom Verfasser ein Zeitraum von drei Jahren, analog zur Regelverjährung des bürgerlichen Rechts, angenommen; seitens der BaFin existieren hier keine Vorgaben. Werden diese Produkte gestrichenen oder gekennzeichneten Produkte neu eingeführt oder wiederbelebt, ist als Konsequenz bei gestrichenen Produkten vorab ein neuer, vollumfänglicher NPP, bei gekennzeichneten Produkten wenigstens ein verkürztes Risiko-Assessment erforderlich (siehe unten).
c) Konzepterstellung
Voraussetzung für die vollumfängliche Risikoidentifikation ist nach AT 8.1 Tz. 1 MaRisk im NPP die Ausarbeitung/Erstellung eines detaillierten Konzepts durch die den NPP initiierende Fachabteilung (Marktabteilung, Kreditabteilung, Sales-Abteilung, Treasury, ...) und damit durch die Abteilung, in deren Verantwortungsbereich das neue Produkt oder der neue Marktauftritt liegt (Business Owner); Kerngedanke ist dabei v. a. die intensive und tiefergehende Analyse des neuen Marktes bzw. die detaillierte Aufarbeitung des neuen Produkts in sowohl prozessualer Hinsicht, als auch in Bezug auf die entstehenden Risiken. Insbesondere ist die Übernahme von entsprechenden Daten von Dritten hierbei nicht genügend. Die Bank hat eigene Erwägungen anzustellen und im Rahmen des NPP eine eigene Beurteilung vorzunehmen. Insbesondere sind Maßnahmen im Bereich der Aufbauorganisation (Zuständigkeiten für den Markt oder das Produkt, notwendige Kompetenzen), aber auch der Ablauforganisation (prozessuale Handhabung des Produkts, Risikosteuerung, Risikocontrolling) zu erfassen. Notwendige Anforderungen an die personellen und technischen Ressourcen sind ebenso abzubilden wie die Frage nach notwendigen steuerlichen, handelsrechtlichen oder bankaufsichtsrechtlichen Implementierungen. Schlussendlich ist jedenfalls zu klären, ob die neue Markterschließung oder das neue Produkt sich auf bereits bestehende Prozesse auswirken kann oder das Risikoprofil der Bank ("Risikoappetit") berührt. Kurz gesagt: Die jeweilige Abteilung muss sich fragen: "Was will ich eigentlich mit diesem Produkt, warum finde ich das interessant und wie bilde ich das neue Produkt sachgerecht innerhalb des Hauses ab?".
d) Einbindung aller Beteiligten
Der "Clou" dieses strukturierten und moderierten bzw. koordinierten NPP- Verfahrens ist aber nicht, dass sich nur die Fachabteilung über das neue Produkt oder die neue Marktöffnung Gedanken macht, vielmehr sollen alle Beteiligten an der zukünftigen Geschäftsaktivität, insbesondere die Risikocontrolling-Funktion, die Compliance-Funktion und die interne Revision schon während der Phase der Konzepterstellung eingebunden werden40. Diese Anforderung versteht sich eigentlich in Anbetracht der Zielsetzung des Neu- produkte-Prozesses nahezu von selbst41. Die von den MaRisk geforderte Stellungnahme hinsichtlich der Analyse des Risikogehalts (Kreditrisiken, Marktrisiken, operationelle Risiken, strategische Risiken, rechtliche Risiken, neuerdings auch immer mehr das Thema "Nachhaltigkeit" in Form der sog. "ESG-Risiken") durch die anderen Beteiligten erfolgt zumeist (best practice) in einem Annex an das eigentliche Konzept.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Visualisierte Vorgabe der Notwendigkeit eines NPP (Quelle: Bankinstitut in München).
Bewährt hat sich hier ein abgestimmter und koordinierter Prozess in mehreren Runden. Das Konzept wird in einer ersten Runde durch die Fachabteilung erstellt, jede beteiligte Organisationseinheit kommentiert diesen Entwurf, eine Stelle im Unternehmen fast alle Kommentare zusammen und vervollständigt den Entwurf der Fachabteilung. Alsdann wird dieser vervollständigte Entwurf - bei Bedarf - an die Fachabteilung zurückgegeben, mit dem Wunsch einer Kommentierung der Einlassungen in schriftlicher Form und zur Dokumentation.
[...]
1 https://www.der-bank-blog.de/verdraengen-technologieunternehmen-banken/stu- dien/37689788/, abgerufen am 08.02.2023
2 https://www.finanzwende-recherche.de/unsere-themen/verbraucherschutz/bankgebueh- ren/, abgerufen am 08.02.2023
3 https://de.statista.com/infografik/25214/anzahl-der-geldinstitute-die-negativzinsen-erhe- ben/?kw=&crmtag=adwords&gclid=EAIaIQob- ChMI4OWSltzl_QIVUt3VCh3jYAiGEAMYASAAEgLLIPD_BwE, abgerufen am 01.02.2023
4 https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/vertraege-reklamation/kundenrechte/ver- traege-schliessen-per-email-und-co-24642, abgerufen am 01.02.2023
5 Gottschall/Schröer, Rn. 8
6 Bothe/Hofer in BaFinJournal Ausgabe 8/2012, Seite 5
7 Der Aufstieg und Fall des Bankhauses I.D. Herstatt", Handelsblatt, 13.02.2009, https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/banken/hintergrund-der- aufstieg-und-fall-des-bankhauses-i-d-herstatt/3111138.html, abgerufen am 18.02.2023
8 Filc, Seite 13
9 https://de.wikipedia.org/wiki/Herstatt-Bank, abgerufen am 18.03.2023
10 BGH NJW 1979, 1879
11 https://de.wikipedia.org/wiki/Barings_Bank, abgerufen am 18.03.2023
12 Forwards sind nicht börsengehandelte, unbedingte Termingeschäfte, die zur Gruppe der Derivate gehören
13 https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%A9r%C3%B4me_Kerviel, abgerufen am 18.03.2023
14 Jäger/Eckhardt, Kapitel 2.3
15 https://www.manager-magazin.de/unternehmen/artikel/a-511446.html,abgerufen am 18.03.2023
16 Bothe/Hofer, a. a. O., Seite 5
17 Hanneman, Teil I, Rz. 55
18 Mindestanforderungen an das Risikomanagement - Interpretationsleitfaden (Version 6) des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, S. 182
19 Online-Revisionshandbuch für die interne Revision in Kreditinstituten (DIIR-Arbeits- kreis MaRisk, Stand: Dezember 2021, Seite 14
20 Mindestanforderungen an das Risikomanagement - Interpretationsleitfaden (Version 6) des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, S. 21
21 Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Januar 2018, Seite 79
22 Ellenberger/Bunte, § 121 Rn. 16
23 Bothe/Hofer, Seite 5
24 Bothe/Hofer, a. a. O.
25 Bothe/Hofer, Seite 6
26 Bothe/Hofer, a. a. O.
27 Ellenberger/Bunte, § 89 Rn. 97-98a (insbes. Fußnote 391)
28 Hannemann, Teil I, Rn. 11
29 Gottschall/Schröer, Teil A, Kapitel I, Seite 3
30 Hannemann, Teil I, Seite 11
31 Hannemann, Teil II, Rn. 33 - Als "Markt" bezeichnet man in diesem Zusammenhang in Banken die Kundenberatung sowie die Kundenbetreuung. In Filialbanken handelt es sich dabei um die Mitarbeiter in den Geschäftsstellen oder Niederlassungen, Onlinebanken bieten meist telefonischen Kundenkontakt an. Die Angestellten des Marktes sind zuständig für den Vertrieb von Produkten und die Akquise neuer Kunden bzw. Projekte (Definition abgeleitet aus: https://exporo.de/wiki/markt-und-marktfolge/, abgerufen am 05.02.2023)
32 Hannemann, Teil II, Rn. 34
33 Hannemann, Teil II, Rn. 35
34 Hannemann, Teil II, Rn. 40
35 Hannemann, Teil II, Rn. 40
36 Schwonke, a.a.O.
37 Hannemann, Teil II, Rn. 38
38 vgl. AT 8.1 Tz. 2 MaRisk: "Das Institut hat einen Katalog jener Produkte und Märkte vorzuhalten, die Gegenstand der Geschäftsaktivitäten sein sollen. Produkte, die über einen längeren Zeitraum nicht mehr Gegenstand der Geschäftstätigkeit waren, sind zu kennzeichnen. (...). Vor der Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit in gekennzeichneten Produkten ist die Bestätigung der in die Arbeitsabläufe eingebundenen Organisationseinheiten über das Fortbestehen der beim letztmaligen Geschäftsabschluss vorherrschenden Geschäftsprozesse einzuholen. Bei Veränderungen ist zu prüfen, ob der Neu-Produkt-Prozess erneut zu durchlaufen ist."
39 Gottschall/Schröer, Teil A, Kapitel I, Seite 6 (Rn. 9)
40 vgl. AT 8.1 Tz. 5 MaRisk: "Sowohl in die Erstellung des Konzepts als auch in die Testphase sind die später in die Arbeitsabläufe eingebundenen Organisationseinheiten einzuschalten. Im Rahmen ihrer Aufgaben sind auch die Risikocontrolling-Funktion, die Com- pliance-Funktion und die interne Revision zu beteiligen".
41 Gottschall/Schröer, Rn. 25
- Quote paper
- Werner Heim (Author), 2023, Rechtliche Beratung durch Syndikusrechtsanwälte. Aufgaben und Inhalte vor und bei der Aufnahme von Geschäftsaktivitäten in neuen Produkten und auf neuen Märkten des Bankengewerbes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1363916
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