Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit ist somit, wie die Menschen in Tansania über die Demokratie im Allgemeinen denken, welche demokratischen Werte und Einstellungen sie vertreten und wie zufrieden sie mit der Demokratie als Staatsform sowie der wahrgenommenen Ausgestaltung der Demokratie im eigenen Land sind. Ich werde analysieren, ob in Tansania ein Democratic Deficit besteht und versuchen darzustellen, welche Folgen dies auf die dortige Demokratie hat. Außerdem soll untersucht werden, auf welche Weise verschiedene demokratische Prinzipien in den dortigen Bildungseinrichtungen vermittelt werden, wie sich Bildung allgemein auf demokratische Einstellungen und Werte der Bürger auswirkt und welche Rolle die Medien dabei spielen. Dadurch erhoffe ich mir Erkenntnisse darüber, welche demokratischen Werte von Seiten des Staates zumindest theoretisch angenommen und an die Jugend weitergegeben werden. Zur Untersuchung dieser Fragestellungen soll die Methode der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse von problemzentrierten Interviews mit tansanischen Bürgern sowie tansanischen Schulbüchern verwendet werden. Das qualitative Vorgehen ermöglicht dabei eine Forschung in der Tiefe und kann eventuell Erkenntnisse über das Demokratieverständnis in dem afrikanischen Entwicklungsland liefern, welche durch die Anwendung westlich orientierter quantitativer Fragebögen nur in geringem Umfang zu erforschen wären.
Auch innerhalb einer Gesellschaft kann es deutliche Unterschiede hinsichtlich der vorhandenen Demokratiekonzeptionen geben, wie der Bayerische Rundfunk im Jahr 2019 bei der Themenwoche "Meine Demokratie" im Rahmen von Interviews feststellte. Hier wurde deutlich, dass verschiedene Personen durchaus differenzierte Vorstellungen davon haben, was Demokratie für sie bedeutet und was sie mit diesem Begriff verbinden. Zudem gehen die Macher davon aus, dass das.
Inhalt
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Tansania: Zwischen Aufbruch und Rückschritt – Ein Überblick
2.1 Tansania – Geschichte und Gegenwart
2.2 Politische Entwicklungen und Verortung Tansanias nachV-Dem– Stand der Demokratie in dem ostafrikanischen Staat
2.3 Politische Bildung in Tansania – Ein Einblick in das UnterrichtsfachCivic and Moral Education
3 Theoretische Grundlagen
3.1 Polyarchie – Die Kernaspekte der Demokratie nach Robert Dahl
3.2 Das Konzept desDemocratic Deficitnach Pippa Norris im Überblick
3.3 Die Teilaspekte desDemocratic Deficitund empirische Forschungsstände
3.3.1 Demokratische Forderungen in der Bevölkerung
3.3.2 Die Demokratiezufriedenheit und Wahrnehmung der Regierungsperformanz
3.3.3 Die Rolle der Bildung und der Medien für das Democratic Deficit
4 Forschungsmethoden und Begründung der Fallauswahl
4.1 Die Datenerhebung mittels problemzentriertem Interview nach Witzel
4.1.1 Hintergründe des PZI – Ein Kurzüberblick
4.1.2 Praktische Anwendung des PZI
4.1.3 Reflexion der Datenerhebung mittel PZI
4.2 Die Datenerhebung mit Schulbüchern des FachsCivic and Moral Education
4.2.1 Schulbücher als Datenmaterial
4.2.2 Beschreibung der Schulbücher und Begründung der Textstellenauswahl
4.3 Die Datenauswertung mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Kuckartz
4.3.1 Einführung in die inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse
4.3.2 Die Entwicklung der Kategoriensysteme und Analysemöglichkeiten
5 Analyse des Datenmaterials für Tansania
5.1 Erste allgemeine Befunde und Datenauswertung
5.2 Demokratische Forderungen in der tansanischen Bevölkerung
5.3 Die Demokratiezufriedenheit und Wahrnehmung der Regierungsperformanz in Tansania
5.4 Die Rolle von Bildung und Medien für dasDemocratic Deficitin Tansania
5.5 Weitere Analysen und Zusammenfassung der Ergebnisse
6 Diskussion und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Anhangsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Überblick des tansanischen Schulsystems
Tabelle 2: Darstellung der Demokratieprinzipien von Robert Dahl
Tabelle 3: Darstellung der Demokratieprinzipien von Theo Schiller
Tabelle 4: Übersicht der Dimensionen von Demokratiequalität von Diamond/Morlino
Tabelle 5: Übersicht verschiedener Demokratiekonzepte mit Zuordnung jeweiliger Kriterien nach Qualitätsdimensionen
Tabelle 6: Darstellung der Demokratieprinzipien von Russell Dalton
Tabelle 7: Übersicht verschiedener Regionalstudien zu Demokratiekonzeptionen
Tabelle 8: Darstellung der Demokratiezufriedenheit (Median) in Afrika
Tabelle 9: Ablauf der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz
Tabelle 10: Darstellung des Kategoriensystems für die Analyse der Interviews
Tabelle 11: Darstellung des Kategoriensystems für die Schulbuchanalyse
Tabelle 12: Darstellung der soziodemographischen Daten und politische Angaben der Interviewpartner
Tabelle 13: Darstellung der Fallbeschreibungen aller Interviewten bezüglich demokratischen Dimensionen sowie Einstellung gegenüber der Regierung
Tabelle 14: Zuordnung der Interviewpartner und Schulbücher zu verschiedenen Demokratiekonzepten
Tabelle 15: Darstellung von Unterstützung der Demokratie und Ablehnung autokratischer Staatsformen nach Befragten
Tabelle 16: Darstellung von Demokratiezufriedenheit in Tansania nach Befragten
Tabelle 17: Darstellung von ausgewählten wirtschaftlichen und politischen Anforderungen an den Staat in den Schulbüchern
Tabelle 18: Darstellung der Rolle von Wissen in Tansania nach Befragten
Tabelle 19: Darstellung zentraler Inhalte zur Rolle von Wissen in Tansania in den Schulbüchern
Tabelle 20: Regimeklassifikation von V-Dem
Tabelle 21: Vorgehen bei der Leitfragenerstellung für problemzentrierte Interviews
Tabelle 22: Darstellung der 10 Gebote der Fragenformulierung
Tabelle 23: Übersicht der Vor- und Nachteile verschiedener Fragemöglichkeiten zum Demokratieverständnis nach Michael Bratton
Tabelle 24: Darstellung der Textstellenhäufigkeiten nach Interviewten und den Demokratieprinzipien
Tabelle 25: Darstellung der Textstellenhäufigkeiten in den beiden Schulbüchern und den Demokratieprinzipien
Tabelle 26: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 1 zu Hauptkategorie 1 – Demokratiedefinition und Subkategorien
Tabelle 27: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 2 zu Hauptkategorie 1 – Demokratiedefinition und Subkategorien
Tabelle 28: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 3 zu Hauptkategorie 1 – Demokratiedefinition und Subkategorien
Tabelle 29: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 4 zu Hauptkategorie 1 – Demokratiedefinition und Subkategorien
Tabelle 30: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 5 zu Hauptkategorie 1 – Demokratiedefinition und Subkategorien
Tabelle 31: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 6 zu Hauptkategorie 1 – Demokratiedefinition und Subkategorien
Tabelle 32: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 7 zu Hauptkategorie 1 – Demokratiedefinition und Subkategorien
Tabelle 33: Zusammenfassung der Schulbuchaussagen zu Hauptkategorie 1 – Demokratiedefinition und Subkategorien in den Schulbüchern
Tabelle 34: Darstellung der Textstellenhäufigkeiten nach Interviewten und Demokratieverständnis
Tabelle 35: Darstellung der Textstellenhäufigkeiten in den Schulbüchern und Demokratieverständnis
Tabelle 36: Zusammenfassung der Aussagen der Interviewten zu Hauptkategorie 2 – Demokratieverständnis und Subkategorien
Tabelle 37: Zusammenfassung der Schulbuchpassagen zu Hauptkategorie 2 – Demokratieverständnis und Subkategorien
Tabelle 38: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 1 zu Hauptkategorie 3 – Demokratiesupport und Subkategorien
Tabelle 39: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 2 zu Hauptkategorie 3 – Demokratiesupport und Subkategorien
Tabelle 40: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 3 zu Hauptkategorie 3 – Demokratiesupport und Subkategorien
Tabelle 41: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 4 zu Hauptkategorie 3 – Demokratiesupport und Subkategorien
Tabelle 42: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 5 zu Hauptkategorie 3 – Demokratiesupport und Subkategorien
Tabelle 43: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 6 zu Hauptkategorie 3 – Demokratiesupport und Subkategorien
Tabelle 44: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 7 zu Hauptkategorie 3 – Demokratiesupport und Subkategorien
Tabelle 45: Zusammenfassung der Schulbuchaussagen zu Hauptkategorie 3 – Leben in der Gemeinschaft und Subkategorien in den Schulbüchern
Tabelle 46: Darstellung der Häufigkeiten von Textstellen zu Hauptkategorie 4 – Demokratiezufriedenheit in Tansania mit Subkategorien in allen Interviews
Tabelle 47: Darstellung der Häufigkeiten von Textstellen zu Hauptkategorie 4 – Anforderungen an das politische System mit Subkategorien in den Schulbüchern
Tabelle 48: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 1 zu Hauptkategorie 4 – Demokratiezufriedenheit in Tansania und Subkategorien
Tabelle 49: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 2 zu Hauptkategorie 4 – Demokratiezufriedenheit in Tansania und Subkategorien
Tabelle 50: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 3 zu Hauptkategorie 4 – Demokratiezufriedenheit in Tansania und Subkategorien
Tabelle 51: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 4 zu Hauptkategorie 4 – Demokratiezufriedenheit in Tansania und Subkategorien
Tabelle 52: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 5 zu Hauptkategorie 4 – Demokratiezufriedenheit in Tansania und Subkategorien
Tabelle 53: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 6 zu Hauptkategorie 4 – Demokratiezufriedenheit in Tansania und Subkategorien
Tabelle 54: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 7 zu Hauptkategorie 4 – Demokratiezufriedenheit in Tansania und Subkategorien
Tabelle 55: Zusammenfassung der Schulbuchaussagen zu Hauptkategorie 4 – Anforderungen an das politische System und Subkategorien in den Schulbüchern
Tabelle 56: Darstellung der Häufigkeiten von Textstellen zu Hauptkategorie 5 – Rolle von Wissen für die Demokratie mit Subkategorien in den Interviews
Tabelle 57: Darstellung der Textstellenhäufigkeiten zu Hauptkategorie 5 – Rolle von Wissen für die Demokratie mit Subkategorien in den Schulbüchern
Tabelle 58: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 1 zu Hauptkategorie 5 – Rolle von Wissen für die Demokratie und Subkategorien
Tabelle 59: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 2 zu Hauptkategorie 5 – Rolle von Wissen für die Demokratie und Subkategorien
Tabelle 60: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 3 zu Hauptkategorie 5 – Rolle von Wissen für die Demokratie und Subkategorien
Tabelle 61: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 4 zu Hauptkategorie 5 – Rolle von Wissen für die Demokratie und Subkategorien
Tabelle 62: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 5 zu Hauptkategorie 5 – Rolle von Wissen für die Demokratie und Subkategorien
Tabelle 63: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 6 zu Hauptkategorie 5 – Rolle von Wissen für die Demokratie und Subkategorien
Tabelle 64: Zusammenfassung der Aussagen von Befragtem 7 zu Hauptkategorie 5 – Rolle von Wissen für die Demokratie und Subkategorien
Tabelle 65: Zusammenfassung der Schulbuchaussagen zu Hauptkategorie 5 – Rolle von Wissen für die Demokratie und Subkategorien in den Schulbüchern
Tabelle 66: Auszug aus dem Code-Relations-Browser aus MAXQDA zur Darstellung der Zusammenhänge zwischen Regimeinstitutionen und Wettbewerb sowie demokratischen Prinzipien und Freiheit in den Interviews
Tabelle 67: Auszug aus dem Code-Relations-Browser aus MAXQDA zur Darstellung der Zusammenhänge zwischen politischem Wissen und den Prinzipien horizontale Gewaltenteilung und Freiheit in den Schulbüchern
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Transitionsprozesse in Tansania zwischen 1964-2019
Abbildung 2: Bestandteile des Konzept des Democratic Deficit von Pippa Norris
Abbildung 3: Darstellung von Demokratiekriterien von afrikanischen Befragten nach Selbstdefinition von Demokratie
Abbildung 4: Darstellung der Hauptdemokratieinstitutionen von Afrobarometer.
Abbildung 5: Bestandteile des Konzepts politischer Unterstützung von Pippa Norris
1 Einleitung
„Democracy has been discussed off and on for about twenty-five hundred years, enough time to provide a tidy set of ideas about democracy on which everyone […] could agree. For better or worse, that is not the case. […]. Ironically, the very fact that democracy has such a lengthy history has actually contributed to confusion and disagreement, for ‘democracy’ has meant different things to different people at different times and places.” (Dahl 1998: 2 f.).
So äußert sich der Politikwissenschaftler Robert A. Dahl in seinem 1998 erschienenen Werk: „On Democracy“ einführend zur langen Geschichte der Demokratie. Er verdeutlicht mit diesen Ausführungen, dass es, trotz einer historisch gewachsenen Forschungstradition keine einheitliche Meinung oder Definition davon gibt, was unter dem BegriffDemokratieverstanden wird. Zudem beschreibt Dahl, dass er im Zeitverlauf und an verschiedenen Orten unterschiedliche Bedeutungen für die Menschen hatte und hat.
Auch innerhalb einer Gesellschaft kann es bereits deutliche Unterschiede hinsichtlich der vorhandenen Demokratiekonzeptionen geben, wie der Bayerische Rundfunk im Jahr 2019 bei der Themenwoche:Meine Demokratieim Rahmen von Interviews feststellte. Hier wurde deutlich, dass verschiedene Personen durchaus differenzierte Vorstellungen davon haben, was Demokratie für sie bedeutet und was sie mit diesem Begriff verbinden. Zudem gehen die Macher davon aus, dass das Demokratiekonzept einer Person immer auch davon abhängt, welche Erfahrungen jemand damit gemacht hat (Bayerischer Rundfunk 2019: 1).
Wenn also bereits innerhalb einer Gesellschaft differenzierte Demokratiekonzepte in der Bevölkerung vorhanden sind, ist es durchaus denkbar, dass diese Unterschiedlichkeit, wie von Dahl beschrieben, zwischen verschiedenen Weltregionen noch deutlicher ist. Demnach wäre eine Annahme allgemeingültiger Demokratievorstellungen wohl wenig zielführend. Häufig wird aber aus einem westlichen Demokratieverständnis heraus davon ausgegangen, dass an anderen Orten der Erde eine ähnliche Vorstellung bezüglich der Kernaspekte und Prinzipien dieser Staatsform besteht. Dass dies nicht der Fall ist, zeigen auch diverse Studien und Untersuchungen zum Demokratiebegriff und dessen Bedeutung, welche in unterschiedlichen Regionen der Erde verschiedene Demokratiekonzepte feststellen konnten (vgl. Baviskar/ Malone 2004: 3-13; Fuchs/ Roller 2006: 77-81; Bratton 2010: 106-112). Es stellt sich demnach die Frage, was Menschen in komplett anderen Lebensumständen unter dem Begriff der Demokratie verstehen und welche demokratischen Werte und Einstellungen sie vertreten.
Eine Weltregion, welche im Vergleich zu Europa wohl sehr deutliche gesellschaftliche und politische Unterschiede aufweist, ist Afrika. Hier konnte die Demokratie als Staatsform nach dem Ende der Kolonialzeit im vergangenen Jahrhundert zunächst in vielen Staaten etabliert werden, sodass inzwischen lediglich in drei Staaten keinerlei Beteiligung der Bürger durch Wahlen stattfindet. Diese positive Entwicklung trügt allerdings das Gesamtbild afrikanischer politischer Systeme. Immer wieder wird in den letzten Jahren von den Grenzen oder einem Niedergang der Demokratie auf dem Kontinent berichtet. So häufen sich in vielen Staaten Wahlmanipulationen, Beschränkungen der Justiz und der Medien oder Drohungen gegen internationale Beobachter. Oppositionelle werden teils systematisch verfolgt, gefoltert oder ermordet; konstitutionell festgelegte Amtszeitbeschränkungen von Regierungen und Präsidenten werden abgeschafft und Demonstrationen mit Gewalt unterbunden. Somit können aktuell nur wenige Staaten Afrikas tatsächlich als Demokratie bezeichnet werden und es gibt Personen des öffentlichen Lebens sowie diverse Politologen, welche ein Funktionieren der Demokratie auf dem Kontinent für unwahrscheinlich und deren Etablierung für gefährlich halten (Dieterich 2019: 1). Anderseits können die zunehmenden Demonstrationen und Proteste gegen die autokratisch regierenden Herrscher sicherlich als Indiz für den Wunsch der Bürger nach demokratischen Reformen gesehen werden (Gadjanova 2018: 1).
Auch in dem ostafrikanischen Binnenstaat Tansania nehmen internationale Beobachter die politische Situation zunehmend besorgt wahr. So sprechen Vertreter der Europäischen Union 2018 von Beschränkungen oppositioneller Parteien und der Missachtung von Menschenrechten und Rechtsstaatsprinzpien (Rat der Europäischen Union 2018: 1). Des Weiteren wird auch in Tansania von Gewalttaten gegen Journalisten und Oppositionsanhänger berichtet und die Versammlungsfreiheit wurde deutlich eingeschränkt. Somit kann aus demokratietheoretischer Sicht nicht mehr von einer Demokratie gesprochen werden (FAZ 2018: 1; Nebe 2020: 1). An diesen Ausführungen zeigt sich, dass die Demokratie in Afrika und besonders in Tansania deutlichen Herausforderungen und autokratischen Gefahren gegenübersteht. Die Entwicklungen in dem einstigenStabilitätsankerOstafrikas geben Grund zur Besorgnis und lassen Tansania als politikwissenschaftliches Phänomen in den Fokus des Forschungsinteresses rücken, da durch eine fortschreitende (De-)Demokratisierung1dieses Staates durchaus die Gefahr einer weiteren Destabilisierung der gesamten Region drohen könnte (Lämmel 2019: 1).
Wie bereits erwähnt, verbinden verschiedene Personen differenzierte Konzepte mit dem Begriff der Demokratie. Eine interessante Fragestellung ist also, wie die Bevölkerung in Tansania die beschriebenen Entwicklungen im eigenen Land wahrnimmt und ob die von außen betrachteten Einschränkungen der Demokratie von den Bürgern ebenfalls als Gefährdung angesehen werden. Das Konzept desDemocratic Deficitnach Pippa Norris (vgl. Norris 2011) beschreibt in diesem Zusammenhang eine mögliche Diskrepanz zwischen dem, was sich die Bürger an demokratischen Grundwerten wünschen und dem, was die aktuelle Regierung laut ihrer Wahrnehmung tatsächlich demokratisch umsetzt.
Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit ist somit, wie die Menschen in Tansania über die Demokratie im Allgemeinen denken, welche demokratischen Werte und Einstellungen sie vertreten und wie zufrieden sie mit der Demokratie als Staatsform sowie der wahrgenommenen Ausgestaltung der Demokratie im eigenen Land sind.Ich werde analysieren, ob in Tansania einDemocratic Deficitbesteht und versuchen darzustellen, welche Folgen dies auf die dortige Demokratie hat. Außerdem soll untersucht werden, auf welche Weise verschiedene demokratische Prinzipien in den dortigen Bildungseinrichtungen vermittelt werden, wie sich Bildung allgemein auf demokratische Einstellungen und Werte der Bürger auswirkt und welche Rolle die Medien dabei spielen. Dadurch erhoffe ich mir Erkenntnisse darüber, welche demokratischen Werte von Seiten des Staates zumindest theoretisch angenommen und an die Jugend weitergegeben werden. Zur Untersuchung dieser Fragestellungen soll die Methode der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse von problemzentrierten Interviews mit tansanischen Bürgern sowie tansanischen Schulbüchern verwendet werden. Das qualitative Vorgehen ermöglicht dabei eine Forschung in der Tiefe und kann eventuell Erkenntnisse über das Demokratieverständnis in dem afrikanischen Entwicklungsland liefern, welche durch die Anwendung westlich orientierter quantitativer Fragebögen nur in geringem Umfang zu erforschen wären.
Zunächst möchte ich Tansania als Untersuchungsgegenstand vorstellen, einen Überblick über das Land geben und mit Hilfe der Typologie politischer Systeme nachVarieties of Democracy (V-Dem)den Stand der dortigen Demokratie aus westlicher Sicht verdeutlichen. Des Weiteren soll es um einen kurzen Einblick in die politische Bildung in Tansania (Civic and Moral Education) gehen.
Anschließend möchte ich die verschiedenen theoretischen Grundlagen meiner Arbeit vorstellen. Dabei werde ich zunächst eine Begriffsbestimmung des Demokratiekonzeptes nach Robert Dahl vornehmen und das Konzept desDemocratic Deficitnach Pippa Norris im Überblick beschreiben. Des Weiteren sollen die verschiedenen Hauptaspekte dieses Modells ausführlicher diskutiert und mit empirischen Befunden weltweit und in Afrika verknüpft werden. Hierbei werde ich konkret auf verschiedene Demokratiekonzepte, das Konzept politischer Unterstützung (vgl. Norris 1999; 2011) und die Aspekte von Demokratieverständnis sowie der Auswirkungen von Regimeperformanz auf die Zufriedenheit der Bevölkerung eingehen. Zum Abschluss dieses Theoriekapitels sollen die Kernaspekte und Zielsetzungen der demokratischen politischen Bildung sowie die Rolle der Medien in Demokratien in den Fokus genommen werden. Dieses Vorgehen dient dazu, die Befunde für Tansania mit dem allgemeinen Forschungsstand vergleichend analysieren zu können.
Darauffolgend wird der methodische Rahmen dieser Arbeit vorgestellt. Hierbei wird es um die Verfahren zur Datenerhebung und -verarbeitung gehen, verwendetes Datenmaterial wird vorgestellt und die Grundlagen der Durchführung von problemzentrierten Interviews nach Witzel (vgl. Witzel 1985; 2000) sowie der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (vgl. Kuckartz 2018) werden beschrieben.
An dieses Kapitel schließt sich die Analyse und Darstellung der empirischen Befunde für Tansania an, um herauszufinden, ob in dem ostafrikanischen Staat ein demokratisches Defizit vorhanden ist. Dieser zentrale Teil meiner Untersuchung wird die festgestellten Kriterien, Werte und Prinzipien einer Demokratie im Verständnis tansanischer Bürger genauer untersuchen und auswerten. Aus diesen Ergebnissen erhoffe ich mir Erkenntnisse darüber, was die Bürger Tansanias unter Demokratie verstehen, ob sie dieses Konzept als wünschenswert betrachten und wie sie aktuell den Stand der Demokratie in Tansania bewerten, beziehungsweise ob sie mit der Ausgestaltung der Demokratie zufrieden sind. Zudem soll die Vermittlung demokratischer politischer Werte untersucht werden, um herauszufinden, ob und wenn ja welche Werte der Staat für bedeutsam erachtet und weitergibt. Des Weiteren wird es um die Rolle der Medien in Tansania als weiteren zentralen Aspekt desDemocratic Deficitgehen.
Abschließend sollen die Ergebnisse diskutiert und deren Auswirkungen auf die Demokratie für Tansania und Ostafrika dargestellt werden. Am Ende der Arbeit gehe ich auf die Hauptergebnisse der Arbeit zusammenfassend ein und gebe einen Ausblick auf eine mögliche Zukunft Tansanias und die dortige Demokratie.
2 Tansania: Zwischen Aufbruch und Rückschritt – Ein Überblick
Das folgende Kapitel dient dazu, den ostafrikanischen Binnenstaat Tansania als Untersuchungsobjekt vorzustellen. Zunächst werden die Historie und die gesellschaftliche Struktur des Landes beschrieben, bevor es anschließend um das politische System und eine demokratietheoretische Einordnung mit Hilfe vonVarieties of Democracy (V-Dem)gehen wird. Abschließend wird das tansanische Bildungssystem im Überblick dargestellt, wobei insbesondere das FachCivics and Moral Educationin den Mittelpunkt rückt.
2.1 Tansania – Geschichte und Gegenwart
Die Vereinigte Republik Tansania besteht seit dem Zusammenschluss im Jahre 1964 aus dem Festland (ehemals Tanganyika) sowie dem halbautonomen Inselarchipel Sansibar und hat eine Bevölkerung aus Christen, Muslimen sowie circa 120 verschiedenen Stammesgesellschaften (Yeager 1982: 23 f., 34 ff.). Die Hauptstadt der Union ist Dodoma im Landesinneren, wobei sich der Regierungs- und Parlamentssitz in der Küstenmetropole Daressalam im Osten des Landes befindet. Tansania hat mit einer Einwohnerzahl von circa 58 Millionen Menschen, bei einer Fläche von 885.800 km² eine Bevölkerungsdichte von 64 Personen pro km², ist überwiegend ländlich geprägt und ökonomisch stark von der Landwirtschaft abhängig. Insgesamt ist dieses Entwicklungsland2trotz stetigem Wirtschaftswachstum nicht in der Lage, die Armut eines Großteils der Bevölkerung zu bekämpfen, was unter anderem an korrupten Eliten liegt und für eine deutliche Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung sorgt. Im Jahr 2015 belegte das Land Rang 151 beim Human-Development-Index3und kann somit als Entwicklungsland eingestuft werden (Paasch 2015: 4; Statistisches Bundesamt 2020: 3 f., 8).
Um ein besseres Verständnis für die tansanische Bevölkerung und deren Prinzipien sowie Einstellungen gegenüber der Demokratie einerseits und die Verhaltensweisen des Staates und der Regierung andererseits zu erhalten, sollen nun die Historie des Landes sowie politische, kulturelle und wirtschaftliche Aspekte der Gesellschaft dargestellt werden.
Geschichte des Landes
Im 19. Jahrhundert trafen erste Kolonialisten in Ostafrika ein. Zeitgleich wurde mit der Ausnutzung der afrikanischen Bevölkerung in Form von Sklaverei begonnen. Auch deutsche Kolonialisten siedelten sich Ende des Jahrhunderts in dem Gebiet an und das FestlandTanganyikawurde 1884 zur deutschen Kolonie. Es wurde eine deutsche Verwaltung eingerichtet und die wirtschaftliche Ausbeutung und politische Unterdrückung der Bevölkerung weitete sich aus. Proteste wurden gewaltsam niedergeschlagen und die Infrastruktur massiv ausgebaut. Nach Aufständen der afrikanischen Bevölkerung kam es zu minimalen Reformen und zumindest formell wurde den Einheimischen eine grundlegende Bildung gewährt. Nach dem ersten Weltkrieg ging das tansanische Festland an das britische Königreich und wurde ab 1922 Teil desBritish Empire(Yeager 1982: 8-12).
Um die aufkommenden Konflikte zwischen diversen ethnischen Gruppen zu befrieden, versuchten die Briten die verschiedenen Stämme voneinander zu separieren, um Stabilität und langfristige gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung zu ermöglichen. Des Weiteren sollte die Etablierung demokratisch legitimierter Institutionen forciert werden. Dabei gab es allerdings diverse Probleme. So war der Einfluss der lokalen Stammesführer auf die entsprechenden Gesellschaften sehr groß und bisher waren kaum weitreichendere politische Systeme innerhalb der verschiedenen Völker bekannt. Aufgrund dessen konnten sich die lokalen Führungspersonen wenig mit den Werten und Zielen der kolonialen Politik der Briten identifizieren und die Akzeptanz der Maßnahmen war sehr gering. Aufgrund wirtschaftlicher Ausbeutung kam es nach und nach zur Bildung diverser sozialer Gruppen, welche sich für wirtschaftliche Verbesserungen der Afrikaner einsetzten. Im Verlauf der Zeit schlossen sich diverse Gruppierungen, wie dieTanganyika African Association (TAA) und dieBukoba Bahaya Unionzusammen und so entstand 1954 dieTanganyika African National Union (TANU). Dieser Zusammenschluss unter dem Vorsitzenden Julius Nyerere befasste sich neben wirtschaftlichen Themen zunehmend mit Politik und vertrat verstärkt antikolonialistische Positionen. Dem zunehmenden Druck der TANU und anderer gesellschaftlicher Gruppen mussten sich die Kolonialherren letztlich beugen und so wurde nach der vollständigen Unabhängigkeit des Festlandes am 9. Dezember 1961 eine Selbstregierung nach dem Mehrheitsprinzip ohne ethnische Differenzierung etabliert. Nyerere wurde erster Präsident Tanganyikas (Yeager 1982: 13-21; Mtaita 2018: 9).
Die heutige halbautonome Insel Sansibar befand sich bereits während der deutschen Kolonialherrschaft auf dem Festland unter britischem Machteinfluss und nahm aufgrund deutlicher arabischer Einflüsse einen Sonderstatus im British Empire ein. Auch hier etablierten sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts wohlfahrtsorientierte Organisationen wie dieZanzibari African Association (ZAA)zunächst ohne politische Ziele. Beziehungen mit der TAA auf dem Festland führten allerdings auch auf Sansibar zur zunehmenden Politisierung der Bewohner und zur Ablehnung des britischen Einflusses. Unter der Führung von Abeid Karume schlossen sich die ZAA und diverse andere afrikanische Organisationen zurAfro-Shiraz-Party(ASP) zusammen und erzwangen durch eine Revolution am 10. Dezember 1963 die Unabhängigkeit Sansibars. Abeid Karume kam als sansibarischer Präsident im April 1964 mit Julius Nyerere zusammen und beide Staaten vereinigten sich zur Vereinigten Republik Tansania. Nyerere wurde Präsident und Karume Vizepräsident dieser politisch fragilen Gemeinschaft (Yeager 1982: 12, 16, 21-24; Mtaita 2018: 9).
Nach der Unabhängigkeit war die Entwicklung des Landes sowie die Etablierung wohlfahrtsstaatlicher Elemente oberstes Ziel von Nyereres Regierung. Mit umfassenden Bildungs- und Gesundheitsprogrammen sollten verbesserte Lebensbedingungen erreicht werden. Politisch etablierte der neue Präsident einen sozialistischen Einparteienstaat unter dem MottoSozialismus und persönliche Autonomie,welcher auf seinen drei Grundsätzen Gleichheit, Demokratie und Sozialismus aufbauen sollte. Hierbei sah er die gleiche Verteilung notwendiger Ressourcen als zentrales Gut an, ohne die keine Demokratie möglich sei (Yeager 1982: 34-39, 43-49).
Innerhalb seiner Demokratievorstellung sollte die Mehrheitsregel eine große Bedeutung einnehmen, es gab freie und offene Diskussionen und freie Meinungsäußerung sollte ermöglicht werden. Andererseits sah Nyerere in Wettbewerb und der Etablierung eines Mehrparteiensystems eine Gefahr für die Stabilität des neuen Staates. Dies führte dazu, dass die TANU (heute CCM (Partei der Revolution)) bis 1993 einzige Partei des Landes war und bis heute auch einzige Regierungspartei ist (Yeager 1982: 43-49, 73-76).
Mit der 1967 verabschiedetenArusha Erklärungentfernte sich das reale politische System schnell von den theoretischen Idealen der Demokratie und Gleichheit. So mussten Personen, welche führende Ämter innerhalb der TANU besetzen wollten, Bauern oder Arbeiter sein und durften keine Anteile an Unternehmen halten. Dies widersprach den Idealen von Gleichheit und Gleichberechtigung in Nyereres ideologischen Überlegungen deutlich (Coulson 1982: 176 ff.; Yeager 1982: 59 ff.).
Nach seinem Rücktritt 1985 dauerte es bis 1993, bevor ein Mehrparteiensystem etabliert werden konnte. Trotzdem zeigte sich Tansania als stabiles Land mit demokratischen Elementen, wie dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Auch deshalb galt das Land lange als Stabilitätsanker. Seit 2015 kann dies aufgrund der zunehmend autokratischen Regierungsführung des aktuellen Präsidenten John Magufuli kaum noch bestätigt werden, was Grund zur Besorgnis gibt (Mtaita 2018: 9 f.; Rat der Europäische Union 2018: 1).
Die tansanische Gesellschaft – Einblick in Wirtschaft und Kultur
„Tansania ist ein Land im Umbruch, der sich auf allen Ebenen zeigt.“ (Nothnagle 2018: 5). So beschreibt Dr. Almut Nothnagle vom Evangelischen Missionswerk in Deutschland (EMW) die aktuelle Situation der tansanischen Gesellschaft im Jahre 2018. Sie sieht auch in der heutigen Zeit, trotz wachsender Wirtschaft, eine abgehängte Landbevölkerung sowie deutliche Ungleichheit zwischen Arm und Reich in dem ostafrikanischen Staat. Dabei erfolgt das Wachstum häufig auf Grundlage von Umweltzerstörungen und Landverlusten zu Lasten jener Bevölkerungsschichten, die ohnehin schon in großer Armut leben. Des Weiteren gibt es massive Probleme im Bildungsbereich, Gesundheitssektor sowie der Infrastruktur. Zudem droht das, lange Zeit friedliche, Zusammenleben von Christen und Muslimen zunehmend durch Konflikte gestört zu werden. Besonders auf Sansibar kam es in der Vergangenheit zu religiös motivierten Anschlägen und die Sicherheitslage im Land ist angespannt. Demgegenüber sind die vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen positiv zu erwähnen, welche sich engagiert den Problemen des Landes stellen und beispielsweise versuchen, die Rechte von Frauen und Kindern durchzusetzen und ihnen ein gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen (Nothnagle 2018: 5 ff.; Auswärtiges Amt 2020: 1).
Wirtschaftlich zeigt sich das Land seit Jahren im Aufwind und kann jährliche Wachstumsraten von 6% bis 7% generieren. Dieser Wohlstand kommt aufgrund von Korruption und Bestechung allerdings nur bei einem geringen Teil der Bevölkerung an. Viele Menschen (ca. 30 %), besonders auf dem Land, leben in Armut und häufig ohne Grundversorgung mit Wasser, Strom und Gesundheitsgütern. Dies hat sich seit 2007 nur geringfügig verbessert, denn schon damals zählte die Weltbank Tansania zu den zehn ärmsten Ländern der Erde. Die schwierige Situation der Landbevölkerung führt zunehmend zu einer deutlichen Urbanisierung, welche weitere Probleme in den großen Ballungszentren des Landes mit sich bringt. So zeichnen sich in den Großstädten Wohnraumknappheit, Arbeitslosigkeit und wachsende Kriminalitätsraten ab. Auch das rasante Bevölkerungswachstum und die Folgen des Klimawandels, wie Dürren und daraus resultierende Landstreitigkeiten, verschlechtern die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung im Land und das Konfliktpotential steigt aufgrund der Notlage vieler Menschen an (Smith et.al. 2007: 39; Mtaita 2018: 9-12; Rühl 2018: 16).
2.2 Politische Entwicklungen und Verortung Tansanias nach V-Dem – Stand der Demokratie in dem ostafrikanischen Staat
Dieser Abschnitt soll einen Einblick in die aktuellen politischen Entwicklungen und Veränderungen in Tansania in den letzten Jahren geben. Außerdem dient diese Beschreibung dazu, eine Verortung des Landes mit Hilfe der Typologie politischer Systeme nachV-Demvorzunehmen, um festzustellen, ob sich das ostafrikanische Entwicklungsland aus westlicher Sichtweise dem demokratischen Spektrum zuordnen lässt, oder ob eine autokratische Ausprägungen vorliegt (siehe Anhang, Tabelle 20). Vergleichend mit dieser Betrachtungsweise sollen im Verlauf der Arbeit die Demokratieverständnisse und -konzepte tansanischer Bürger sowie des Regierungsapparates dargestellt und untersucht werden.
Politische Entwicklungen in Tansania4
Am 28.10.2020 fanden in Tansania nationale Wahlen statt. Schon im Vorfeld wurden Stimmen aus der Opposition und der Zivilgesellschaft laut, dass es von Seiten der Regierung zu massiven Einschränkungen und Wahlmanipulationen kommen würde und keine freien und fairen Abstimmungsprozesse zu erwarten seien. Nach der Wahl wurde der, seit 2015 zunehmend autokratisch regierende, Präsident John Pombe Magufuli mit überwältigender Mehrheit von 84% für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt. Die Regierungspartei CCM kann somit im Parlament ohne nennenswerte Opposition regieren und laut tansanischen Analysten das Land de facto zu einem Ein-Parteien-Staat machen. Die CCM ist inzwischen jene Partei in ganz Afrika, welche am längsten an der Macht ist. Die Opposition wollte den Ausgang der Wahlen aufgrund von manipulierten Wahlurnen, Gewalt gegen Oppositionelle, Einschüchterungen sowie der Abschaltung des Internets im Zuge der Wahl lange nicht anerkennen und rief Anhänger zu friedlichen Protesten auf (FAZ 2018: 1; Nebe 2020: 1).
Zudem kam es zu weiteren, verfassungswidrigen Vorgängen in Zusammenhang mit den Wahlen. So wurden internationale Wahlbeobachter nicht zugelassen und der Präsident besetzte wichtige Positionen in der, eigentlich unabhängigen, nationalen Wahlkommission mit CCM – Funktionären. Auch wichtige Vertreter in Verwaltungspositionen der 138 Distrikte gehörten der Regierungspartei an. Das sorgte für ein System, welches bereits vor der Abstimmung freie Wahlen unmöglich machte und dies zeigte sich beispielsweise dadurch, dass die eingesetzten Beamten, Oppositionelle durch zweifelhafte Inhaftierungen oder Manipulationen bei der Antragsstellung an der Meldung als Gegenkandidat hinderten. Neben den genannten Repressalien kam es zu massiven Grundrechtseinschränkungen bei der Presse- und Versammlungsfreiheit und kritische Bürger wurden an der Registrierung zur Wahl gehindert. Die Gewalt gegen Oppositionelle, welche sich bereits vorab insbesondere gegen den Hauptkonkurrenten des amtierenden Präsidenten, Tundu Lissu von der CHADEMA (Partei für Demokratie und Fortschritt), richtete, ließ auch nach der Auszählung der Stimmen nicht nach. So berichteten internationale Medien von Morddrohungen gegen den Politiker und dass er das Land mit Hilfe internationaler Diplomaten aus Sicherheitsgründen verlassen musste (El-Noshokaty 2020: 1 ff.; Zeit Online 2020: 1).
Die beschriebenen Vorgänge bezüglich der Wahlen sind allerdings nicht vollkommen neu. So berichtete die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) bereits bei der vorangegangenen Wahl im Jahr 2015 von diversen antidemokratischen Vorfällen. Es ist im Zusammenhang mit dieser Wahl die Rede von Inhaftierungen von zivilgesellschaftlichen Wahlbeobachtern oder der Unterbindung von externen Berechnungen von Wahlergebnissen. Auf Sansibar kam es nach Vermutung der FES aufgrund eines eventuellen Wahlerfolges der oppositionellen CUF (Civic United Front) zur Annullierung des Wahlergebnisses und Neuauszählung der Stimmen. Im Gegensatz zur Wahl im Jahr 2020, hatten internationale Beobachter zu diesem Zeitpunkt aufgrund von Magufulis Versprechen der Korruptionsbekämpfung und Transparenz noch Hoffnung auf eine Erneuerung der CCM und Reduzierung ihrer starken Verflechtungen in den Staatsapparat. Diese Hoffnung ist inzwischen erloschen und die Vertreter der FES sprachen bereits 2015 von einem semi-autoritären System. Sie prognostizieren dabei aufgrund deutlicher Demokratiedefizite in der Regierung, einer fragilen Einheit mit Sansibar und schwindender Zufriedenheit und Repräsentation vor allem junger Menschen eine schwierige Zukunft (Paasch 2015: 1-4).
Es wird deutlich, dass besonders der amtierende Präsident John Magufuli eine wichtige Rolle bei der Autokratisierung des Landes spielt und grundlegende demokratische Prinzipien zunehmend zur Nebenrolle werden. Vor fünf Jahren wurde der Machthaber noch alsBulldozerim Kampf gegen Korruption und Machtmissbrauch und als neue Generation innerhalb der Regierungspartei gefeiert. Er galt als eher unbekannter Kandidat der CCM, der sich gegen den Kandidaten des Parteiestablishments durchsetzen konnte. Mit seinen Sparmaßnahmen und deutlichen Reduzierungen in den Reihen der Minister und obersten Beamten des Landes konnte er sich 2016 noch die Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten sichern und die Einführung kostenloser Schulbesuche bis zum Sekundarbereich oder die Steigerung der Staatseinnahmen brachten ihm zunächst auch von diversen Menschenrechtsorganisationen positive Bewertungen ein. Aufgrund des immer rigoroseren Vorgehens der Regierung gegen Bürgerrechte, rechtsstaatliche Prinzipien und die Opposition kam zunehmend mehr Kritik von internationalen Organisationen auf. Vertreter der CHADEMA sprechen inzwischen von einer deutlichen Abkehr von demokratischen Grundsätzen und wachsenden staatlichen Repressionen wie Versammlungsverbote oder illegitime Ausschlüsse aus dem Parlament. Auch die Wirtschaftspolitik des Präsidenten wird zunehmend kritisch beobachtet. Seine Industrialisierungspläne sowie die Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung seien zu unkonkret und sprunghaft und die Sparpolitik führe zu Mangel von Geld im Umlauf. Insgesamt habe sich somit die wirtschaftliche Lage vieler Menschen deutlich verschlechtert (Paasch 2015: 3 f.; Rühl 2018: 13-17).
Die beschriebenen Entwicklungen der letzten Jahre sind insgesamt sehr kritisch zu bewerten, besonders, wenn man die lange Zeit eher positiv verlaufenden Demokratieentwicklungen nach Einführung des Mehrparteiensystems 1993 betrachtet. So sprachen Vertreter der Weltbank 2007 noch von einer friedlichen, sich vorbildlich entwickelnden, Demokratie in Tansania und wiesen auf die fair und frei verlaufenden Regierungswechsel hin (Smith et.al. 2007: 39). Auch ein Bericht der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) aus dem Jahre 2009 attestiert dem Land einige Erfolge bei der Demokratiekonsolidierung, ein pluralistisches Mehrparteiensystem und eine dynamische Gesellschaft mit freier Medienlandschaft. Anders als noch zwei Jahre zuvor wurden allerdings auch einige Schwierigkeiten deutlich. So sei insbesondere die Etablierung einer demokratischen politischen Kultur aufgrund bestehender Altlasten sowie fehlende Bürgerforderungen zu politischem Wandel ein Problempunkt der Demokratie in Tansania. Des Weiteren scheint es aufgrund fehlender Institutionalisierung, innerparteilicher Demokratie und Ressourcen sowie wenig Unterscheidbarkeit bei der Opposition Probleme mit der Umsetzung der Mehrparteiendemokratie zu geben. Hinzu kommen die Nachteile des Mehrheitswahlsystems, welches es kleineren Parteien erschwert, gegen die mächtige, weit in den Staatsapparat vernetzte und finanziell starke CCM erfolgreich zu sein. Zu den genannten Schwierigkeiten kommt außerdem noch die fragile Einheit zwischen Festland und Sansibar, welche unter anderem durch eine Wahrnehmung ungleicher Ressourcenverteilung von Seiten der Inseln mehr und mehr zur Krise wird sowie der Zuwachs fundamentalistischer religiöser Gruppierungen, von welchen eine massive Gefahr für die Stabilität und den Frieden des Landes ausgeht. Die Forscher der KAS resümieren eine zunehmende Unzufriedenheit innerhalb der tansanischen Bevölkerung (Shaba 2009: 1-11). Diese könnte sich aufgrund der Restriktionen der Magufuli-Administration in den letzten fünf Jahren noch verstärkt haben.
Zusammenfassend kann man Tansania lange Zeit eine positive Entwicklung in Richtung Demokratiekonsolidierung attestieren. Seit 2015 zeichnet sich allerdings eine deutliche Umkehr in Richtung (De-)Demokratisierung ab und man kann scheinbar nicht mehr von einer Demokratie sprechen. Mit Hilfe vonV-Demsoll dies nun wissenschaftlich bestätigt werden.
Verortung des Landes nach Varieties of Democracy (V-Dem)
Wie einleitend beschrieben, möchte ich im Verlauf dieser Arbeit die Demokratiekonzeptionen innerhalb der tansanischen Bevölkerung darstellen und analysieren, ob dieses Verständnis mit den wahrgenommenen demokratischen Leistungen der tansanischen Regierung übereinstimmt oder einDemocratic Deficitnach Norris besteht. Es erscheint mir zur besseren Einordnung meiner späteren Befunde in den wissenschaftlichen Diskurs notwendig, vor meiner Untersuchung eine Verortung des Landes vorzunehmen und den Stand der Demokratie in Tansania aus westlich orientierter Sichtweise zu beschreiben. Hierfür soll mirV-Demals Messinstrument dienen. Ich werde nun kurz auf die Konzeptualisierung und die dahinterliegende Demokratietypologie dieses Forschungsprojektes eingehen.V-Demhat es sich zur Aufgabe gemacht, die verschiedenen Komponenten der Demokratie in nahezu allen Staaten der Erde zu messen und dabei die Schwierigkeiten bisheriger Demokratiemessungen zu vermeiden (vgl. Munk/Verkuilen 2009: 13-37; Coppedge et. al. 2016: 580 f.). Dabei untersuchen die Forscher jährlich 201 Länder in einem Zeitraum seit 1789 und arbeiten mit über 3.000 Experten zusammen (Lührmann et. al. 2018a: 4 f., 8).
V-Demstellt eine breite Demokratiekonzeption auf, in der fünf Hauptdimensionen und Kriterien für das Vorhandensein einer Demokratie festgelegt sind. Als bedeutendstes Element kann die elektorale Komponente genannt werden. Hierbei wird sich an Dahls Polyarchiekonzept (vgl. Dahl 1971) orientiert. Es geht unter anderem darum, ob gewählte Mandatsträger vorhanden sind, freie und faire Wahlen stattfinden und Versammlungsfreiheit besteht. Diese und andere Kriterien werden zur Bewertung in weitere Unterindikatoren aufgegliedert. Ähnlich wird bei den anderen Hauptdimensionen (z.B. partizipatorische Komponente) vorgegangen. Dies ermöglicht aufgrund der disaggregierten Datenerhebung eine differenzierte Betrachtung. Zudem zählt es zu den Vorteilen dieses Messinstrumentes, mit Länderexperten zusammenzuarbeiten. Die Möglichkeit der Kooperation mit verschiedenen Forschern ermöglicht es, dass nahezu jede Frage von fünf Experten beantwortet wird und so eine valide Datengrundlage geschaffen wird (Coppedge et. al. 2016: 581-588).
Auf Grundlage dieser Demokratiekonzeption entstand die RegimeklassifizierungRegimes of the World (RoW),welche eine transparentere, reliablere und validere5Messung verschiedener Typen von Demokratie und Autokratie, als bisherige Typologien, ermöglicht. Dies wird unter anderem durch die hohen Anforderungen an die Expertenauswahl und ihre Messmethoden ermöglicht. Es gibt vier Hauptkategorien politischer Systeme, wobei es jeweils zwei demokratische Ausprägungen (liberal vs. elektoral) und zwei autokratische Formen (elektoral vs. geschlossen) gibt. Betrachtet man diese Kategorien, wird zunächst zwischen demokratisch und autokratisch unterschieden. Hierbei steht im Vordergrund, ob es in einem Staat freie und faire Wahlen gibt und grundlegende institutionelle Vorgaben erfüllt werden. Ist dies der Fall, gilt das politische System als Demokratie. Fehlt eine Voraussetzung, findet eine Zuordnung als Autokratie statt (Lührmann/ Tannenberg/ Lindberg 2018b: 60-71). Eine Übersicht der Regimeklassifikation befindet sich im Anhang, Tabelle 20.
Für meine Analyse habe ich den Untersuchungszeitraum von 1964 (Vereinigung Tanganyikas mit Sansibar) bis 2019 sowie denRoW-Indikatorfür Tansania ausgewählt und über dieOnline-GraphingFunktion vonV-Demdie Verortung des Landes ausgeben lassen (siehe Abbildung 1). Betrachtet man diesen Graphen, so wird deutlich, dass Tansania zunächst lange Zeit als elektorale Autokratie gewertet wurde, bevor in den vergangenen 30 Jahren ein stetiger Wechsel zwischen elektoraler Autokratie und elektoraler Demokratie stattgefunden hat. Nach der Etablierung des Mehrparteiensystems 1993 konnte das Land zunächst einige Jahre dem demokratischen Spektrum zugeordnet werden, während jedoch nach der Jahrtausendwende erneut ein (De-)Demokratisierungsprozess einsetzte, welcher erst 2005 umgekehrt werden konnte. Anschließend zeigte sich, mit Ausnahme des Jahres 2013 bis zur Amtsübernahme Magufulis 2015 durchgehend ein elektoral-demokratisches politisches System. Ab 2016 ordnen die Forscher vonV-Demdas Land aufgrund deutlicher Verstöße gegen demokratische Prinzipien (z.B. Einschränkung der Pressefreiheit) erneut dem elektoral-autokratischen Typus zu (V-Dem Institute 2020: 1).
Abbildung 1: Transitionsprozesse in Tansania zwischen 1964-2019. Die y-Achse zeigt die Kategorien der RoW-Typologie (0= geschlossene Autokratie; 1= elektorale Autokratie; 2= elektorale Demokratie; 3= liberale Demokratie) und die x-Achse den Zeitverlauf in Jahren, nach: V-Dem Institute 2020:1.
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2.3 Politische Bildung in Tansania – Ein Einblick in das Unterrichtsfach Civic and Moral Education
Dieses Teilkapitel wird zunächst einen kurzen Überblick über das tansanische Bildungssystem liefern, bevor ich anschließend konkret auf die politische Bildung im Land eingehen werde.
Bildung in Tansania
Wie bereits deutlich wurde, zählt Tansania zu den ärmsten Ländern der Erde mit diversen strukturellen Schwierigkeiten und auch im Bereich der Bildung gibt es massive Defizite (Nothnagle 2018: 5 ff.). Der Wert von Bildung wird von der Regierung zwar anerkannt und als wichtige Kernkomponente der Entwicklungspolitik mit dem Ziel von Chancengleichheit gesehen. Die Geschlechtergleichheit und Bildungsbenachteiligung von Mädchen scheinen allerdings ein großes Problem darzustellen. Des Weiteren gibt es deutliche Unterschiede bezüglich der Qualität der erlernten Fähigkeiten und massive Differenzen zwischen sehr teuren, aber besseren Privatschulen im Vergleich zu den kostengünstigeren staatlichen Schulen. Weitere Hindernisse zeigen sich besonders in ländlichen Regionen, in denen es sowohl an ausreichend Klassenräumen als auch an ausgebildeten Lehrkräften mangelt. So gibt es Klassen in staatlichen Schulen, in denen 60 bis 200 Schülerinnen und Schüler (nachfolgend: SuS) von einer Lehrperson unterrichtet werden, wohingegen die Situation in privater Trägerschaft mit 24 SuS pro Lehrkraft (Stand 2016) wesentlich besser ist (Mbilu 2018: 45-49). Etwas neuere, landesweite Zahlen ergeben ein besseres Bild. Hierbei befanden sich im Jahr 2018 in der Primary School durchschnittlich 50,6 SuS pro Lehrkraft in einer Klasse und im Secondary Bereich 20,9 SuS/Lehrkraft (Statistisches Bundesamt 2020: 6). Neben den genannten Aspekten tragen auch die Lehrmittelknappheit sowie fehlende oder nicht ausreichend vorhandene Grundausstattung mit Trinkwasser und Toiletten zur zunehmenden Spaltung der Gesellschaft zwischen Arm und Reich bei und der Bildungszugang der Landbevölkerung ist stark eingeschränkt (Mbilu 2018: 48 f.). Die problematischen Verhältnisse im Bildungssektor zeigen sich zudem in einer recht hohen Analphabetenrate, welche 2015 bei circa 22% lag (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2020b: 1).
Insgesamt zeigen sich trotz der staatlichen Bemühungen um bessere Bildung (3,7% des BIP im Jahre 2018) deutliche Probleme im tansanischen Bildungssystem (Statistisches Bundesamt 2020: 6). So resümieren Vertreter des EMW beispielsweise deutlich erschwerte Übergänge von der Schule in den Arbeitsmarkt. Dies liegt an fehlenden Kommunikationsfähigkeiten und kritischem Denken oder mangelnder Belastbarkeit. Insgesamt müsste die Qualität der Bildung durch weitere, nachhaltige Reformen von Lehrplänen und Personalaufstockungen deutlich verbessert werden (Mbilu 2018: 50 f.). Für meine Forschungsarbeit könnten besonders die fehlende Vermittlung von kritischem Denken und diversen Kommunikationsfähigkeiten eine gewisse Relevanz besitzen, da diese für politische Partizipation von zentraler Bedeutung sind. Dies könnte Einfluss auf die Demokratiekonzeption und das gesamte Denken der Menschen hinsichtlich dieser Staatsform haben. Somit scheint der Blick auf die Bildungsstände der Interviewpartner an Bedeutung zu gewinnen. Einen Überblick über das tansanische Schulsystem, welches sich seit einer Reform im Jahre 2014, mit seinen Grundsätzen Einheitlichkeit, Verpflichtung und Kostenlosigkeit im Umbau befindet, soll Tabelle 1 liefern (Mbilu 2018: 45).
Politische Bildung im Fach Civic and Moral Education
„Civics education normally involves the systematic teaching of citizenship, individual and human rights and often includes direct teaching regarding the civic and political institutions of the country.” (Smith et.al. 2007: 11).
So beschreiben Robert Smith und Kollegen im Jahr 2007 die Ziele und Aufgaben des FachesCivics Educationin einer Studie für die Weltbank.
Auch in Tansania nimmt die politische Bildung eine wichtige Rolle ein. Das FachCivics Educationwird dort bereits seit der Unabhängigkeit des Landes gelehrt und aktuell gemeinsam mit dem UnterrichtsfachMoral Educationals zusammenhängendes Fach unterrichtet. Wie bereits erwähnt befindet sich das gesamte tansanische Schulsystem seit einer Reform 2014 im Übergang in ein neues System und auch das FachCivics and Moral Educationwurde 2016 grundlegend überarbeitet. Dabei sollen laut dem tansanischen Bildungsministerium im TeilbereichCivicsdie Vermittlung wichtiger staatsbürgerlicher Kompetenzen und insbesondere Patriotismus gegenüber dem eigenen Land vermittelt werden. Es geht also darum, die Liebe zur Heimat und ein Interesse am Schutz Tansanias zu wecken, sowie die SuS zu guten Staatsbürgern zu erziehen. Der Anteil anMoral Educationsoll die Lernenden dazu befähigen, gutes menschliches Verhalten zu erlernen und die Rechte anderer Personen zu achten. Aus einer Zusammenführung dieser beiden Bereiche zu einem Unterrichtsfach erhofft sich das Bildungsministerium die Ausbildung mündiger, wettbewerbsfähiger Bürger, welche sich durch Selbstachtung, Respekt, Vertrauen und die Fähigkeit, gute Entscheidungen treffen zu können, auszeichnen. Konkret werden im Lehrplan dieses Faches Ziele und Kompetenzen wie die Achtung der Rechtsstaatlichkeit, Entwicklung von Problemlösungsfähigkeiten, Patriotismus oder auch staatsbürgerliche Pflichten beschrieben (Ministry of Education, Science and Technology 2016: iv, 1 ff.).
Auch an die Lehrpersonen des Faches werden diverse Anforderungen gestellt: So müssen sie Respekt und positive Einstellungen gegenüber der nationalen Identität, der Verfassung oder der demokratischen Regierung vorweisen. Des Weiteren scheinen sie als Vorbild für die SuS zu agieren und von ihnen wird die Beteiligung an der Erhaltung nationaler Sicherheit oder politische Partizipation gefordert. Insgesamt zeigt sich in den Klassenstufen drei bis sechs ein immer gleicher Aufbau in der Grundstruktur dieses Faches, welcher in den jeweiligen Jahrgangsstufen mit thematisch unterschiedlichen Aspekten ausgefüllt wird (Ministry of Education, Science and Technology 2016: 3 ff.).
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Tabelle 1: Überblick des tansanischen Schulsystems, nach: Mbilu 2018: 45, eigene Darstellung und Ergänzung (Altersangaben, nach eigenen Erfahrungen und Arbeit in einer tansanischen Vorschule).
3 Theoretische Grundlagen
Das folgende Kapitel soll die theoretischen Grundlagen dieser Forschungsarbeit vorstellen. Zunächst werde ich die Kernaspekte der Demokratie nach Robert Dahl erläutern, welche in diversen Studien Anwendung gefunden haben. Anschließend soll das zentrale theoretische Konzept desDemocratic Deficitnach Pippa Norris beschrieben werden und der Blick wird auf die einzelnen Teilaspekte dieses Konzeptes gerichtet. Bei all diesen Teilaspekten wird der jeweilige Forschungsstand auf der Welt und spezifisch in Staaten des afrikanischen Kontinentes präsentiert, um die Befunde im weiteren Verlauf dieser Arbeit mit den Ergebnissen aus Tansania vergleichen und diese besser einordnen zu können.
3.1 Polyarchie – Die Kernaspekte der Demokratie nach Robert Dahl
In einer Arbeit, welche von Beginn an eine Diversität des Demokratiebegriffes postuliert, eine Begriffsbestimmung vorzunehmen, scheint zunächst verwunderlich und gestaltete sich aufgrund der Fülle an Definitionen dieses Begriffes auch nicht ganz einfach. Dennoch bin ich der Ansicht, dass eine solche Beschreibung hilfreich und für meine Analysen notwendig ist. Trotz der Annahme des Vorhandenseins diverser Demokratieverständnisse und Hintergrundprinzipien in verschiedenen Weltregionen ist eine Darlegung der grundlegendsten und zentralsten Kernaspekte dieser Staatsform unumgänglich für die Befassung mit dem Forschungsgegenstand der Demokratie. Zu einer der bekanntesten Begriffsbestimmungen des TerminusDemokratiezählt die des Politologen Robert A. Dahl, welcher sich zeitlebens mit dieser Staatsform und den Bedingungen gelingender Demokratisierung befasste. Viele nachfolgende wissenschaftliche Publikationen basieren auf seinen Grundannahmen und ergänzen diese um weitere Aspekte (vgl. Huntington 1991: 5-13). Auch die von mir verwendeten Demokratiedimensionen, welche ich später ausführlich vorstellen werde und die bereits beschriebenen Kriterien der Forschergruppe vonV-Dem(siehe Kapitel 2.2) lassen sich bereits in Dahls Arbeiten wiederfinden und bauen auf diesen auf. Aus diesen Gründen möchte ich seine zentralen Kriterien und Dimensionen der Demokratie als Grundlage dieser Arbeit vorstellen.
In einem seiner Hauptwerke, „Polyarchy“ aus dem Jahr 1971, geht der Autor der Frage notwendiger Bedingungen von Demokratisierung nach und beschreibt darin zwei zentrale Prinzipien. Zunächst nennt er die Notwendigkeit einer nahezu durchgängigen Responsivität, also einer Bereitschaft der Herrschenden zur Umsetzung der Wünsche und Forderungen der Bevölkerung. Als weiteren grundlegenden Aspekt dieser Staatsform beschreibt Dahl das Vorhandensein politischer Gleichheit und leitet daraus insgesamt acht institutionelle Garantien der Demokratie ab (Dahl 1971: 1 f.; Walter 1997: 1).
Dazu zählen unter anderem die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, das Recht auf alternative Informationsquellen, Kontrollinstanzen zur Regierungskontrolle und das Vorhandensein freier und fairer Wahlen. Aus diesen Instanzen ergeben sich zwei Hauptdimensionen innerhalb eines demokratisch verfassten Staates, welche die zentralen Garantien beinhalten. Zum einen ist dabei die Wettbewerbsdimension(Contestation)zu nennen. Hierbei geht es vor allem darum, einen offenen Wettbewerb verschiedener Bewerber um politische Ämter zu ermöglichen. Dies schließt eine freie Opposition sowie das Vorhandensein verschiedener politischer Parteien ein. Die zweite Kerndimension befasst sich mit den Möglichkeiten der Bürger, sich an politischen Entscheidungsprozessen und Verfahren zu beteiligen(Participation). Neben dem Wahlrecht ist dabei auch die Inklusivität, also die Beteiligungsmöglichkeit ausnahmslos aller Staatsbürger an politischen Prozessen zentraler Bestandteil. Der Politikwissenschaftler war sich dabei durchaus bewusst, dass eine vollständige Umsetzung beider Hauptdimensionen utopisch ist. Deshalb war sein zentrales Anliegen, zu verdeutlichen, dass es eine Unterscheidung zwischen dem Ideal der Demokratie und real existierenden demokratischen Staaten geben muss (Dahl 1971: 1-16). Diese real existierendenPolyarchienbeschrieb Dahl mit folgenden Worten:
„Polyarchies, then, may be thought of as relatively (but incompletely) democratized regimes, or, to put it in another way, polyarchies are regimes that have been substantially popularized and liberalized, that is, highly inclusive and extensively open to public contestation.” (Dahl 1971: 8).
Neben den genannten Hauptdimensionen beschreibt er eine Reihe weiterer zentraler Aspekte der Demokratie und geht auf die Bedeutung liberaler Freiheitsrechte, der Rechenschaftspflichten von Machthabern gegenüber dem Volk, einer demokratischen politischen Kultur6und politischer Gleichheit ein (Dahl 1971: 17-33; 81-104).
In seinem Werk „On Democracy“ erneuerte Dahl die für ihn zentrale Bedeutung der Partizipation und politischen Gleichheit für die Demokratie und legt in diesem Band fünf Kriterien eines demokratischen Prozesses offen, welche an die früheren Garantien angepasst sind. Neben der Partizipation (Mitbestimmungsmöglichkeiten und freie Meinungsäußerung), inklusiven Wahl- und Bürgerrechten beschreibt er dabei auch die Kontrolle der Bevölkerung über die politische Agenda. Demnach soll das Volk die Möglichkeit haben, mitzubestimmen, was in welcher Form auf die politische Tagesordnung gelangt. Zudem soll die Möglichkeit bestehen, sich ein entsprechendes Wissen, ein sogenanntes „erleuchtendes“ Verständnis zu politischen Sachthemen anzueignen. Auch in diesem Werk geht Dahl von einer real nicht erreichbaren vollständigen Umsetzung seiner Kriterien aus, sondern strebt die Etablierung möglichst demokratischer politischer Systeme an (siehe Tabelle 2) (Dahl 1998: 35-42).
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Tabelle 2: Darstellung der Demokratieprinzipien von Robert Dahl, nach: Dahl 1998: 38.
3.2 Das Konzept des Democratic Deficit nach Pippa Norris im Überblick
Der Begriff desDemocratic Deficitwird im wissenschaftlichen Diskurs in verschiedenen Verwendungskontexten angewendet. Dabei befasst sich eine Forschungsrichtung mit demokratischen Defiziten von Organisationen der Global Governance7. Hierbei wird meist die fehlende demokratische Legitimität solcher Institutionen wie beispielsweise der Europäischen Union dargestellt (vgl. Moravcik 2004; Cameron 2012: 487-490). Auf diesen Bereich werde ich nachfolgend nicht weiter eingehen, sondern mich mit der Verwendung des Begriffes nach Pippa Norris als zentrales Konzept dieser Arbeit ausführlicher befassen. Darin geht es um Performanzprobleme nationaler Regierungen (vgl. Norris 2011).
Die Autorin stellt in ihrem 2011 erschienenen Werk eine sehr breite Beschreibung desDemocratic Deficitauf und erläutert, dass alle Objekte, welchen eine ausreichende demokratische Performanz fehlt, diesem Begriff zugeordnet werden können. Norris selbst nähert sich dem Phänomen in ihrem Werk dann auf nationalstaatlicher Ebene und beschreibt es wie folgt:
„It has long been thought that regimes are more likely to endure and flourish where a balanced equilibrium exists between citizen‘s aspirations for democracy (measured by how people value democratic ideals and reject autocratic alternatives) and its perceived supply (monitored by public satisfaction with the democratic performance of their own country). The gap between aspirations and satisfaction is captured here by the concept of democratic deficits.“ (Norris 2011: 4 f.)
Norris beschreibt einDemocratic Deficitsomit als eine deutliche Diskrepanz zwischen den Erwartungen, Normen und Werten der Staatsbürger und der tatsächlichen Umsetzung dieser Forderungen von staatlicher Seite. Dieser Widerspruch zwischen demokratischen Forderungen und dem demokratischen Angebot des politischen Systems führt letztlich dazu, dass Menschen zwar der Demokratie als Staatsform positiv gegenüberstehen und sie unterstützen, allerdings die Zufriedenheit mit der Ausgestaltung der Demokratie weltweit seit Jahrzehnten sinkt. In dieser Unzufriedenheit drückt sich somit, wie die Politologin Sarah Cameron 2012 resümiert, nicht die Ablehnung demokratischer Normen und Werte, sondern die fehlende Umsetzung dieser durch die Regierung aus (Cameron 2012: 486, 495).
Pippa Norris beschreibt in ihrem Werk verschiedene, komplex zusammenhängende Ursachen, welche zur Entstehung eines solchen Defizites führen können. Zunächst postuliert die Wissenschaftlerin wachsende Forderungen und demokratische Hoffnungen auf Seiten der Bevölkerung als solche Ursachen (siehe Kapitel 3.3.1). Diese begründet sie unter anderem durch langfristig zunehmende und verbesserte menschliche Entwicklung. Der Modernisierungstheorie folgend, sorgen gesteigerte Alphabetisierungsraten, zunehmende kognitive Fähigkeiten sowie verbesserte Bildungsangebote dafür, dass die Bevölkerung stärker nach demokratischen Grundprinzipien strebt. Ebenso zählen die Sozialkapitaltheorien in diesen Ursachenkomplex hinein. Hiernach hat die Höhe an sozialem Kapital, also soziales Vertrauen und eine Eingebundenheit in die soziale Gemeinschaft, einen Einfluss auf die Entwicklung demokratischer Einstellungen. Dem folgend kann man davon ausgehen, dass in Gesellschaften, in denen ein funktionierendes soziales, gesellschaftliches Leben vorhanden ist und in denen die gesellschaftliche Entwicklung zunehmend voranschreitet, mit steigenden demokratischen Erwartungen zu rechnen ist (Norris 2011: 7). Die angesprochenen demokratischen Forderungen enthalten Norris zufolge Ziele, welche die Bürger für sich, das soziale Umfeld oder die Gesamtgesellschaft für wünschenswert halten. Dabei gibt die Autorin zu verstehen, dass es in unterschiedlichen Gesellschaften und Regionen durchaus verschiedene Forderungen geben kann. Diese sind eng mit kulturellen und sozialisatorischen Gegebenheiten und Situationen verknüpft und können demnach variieren (Norris 2011: 31 ff.).
Einen zweiten ursächlichen Komplex für ein demokratisches Defizit stellen die sogenannten intermediären Theorien dar. Hierbei wird die Rolle von Bildung und Massenmedien in den Fokus gerückt (siehe Kapitel 3.3.3). Norris beschreibt diesbezüglich, dass Bildung und politische Traditionen einen deutlichen Einfluss auf das Erlernen von demokratischen Prinzipien haben. Zudem räumt sie den Medien eine zentrale Bedeutung ein und postuliert, dass aufgrund zunehmend negativer Berichte über politische Sachverhalte eine Zunahme desDemocratic Deficitzu erwarten sei. Neben diesen kognitionsbezogenen Aspekten nehmen die Medien auch eine gewisse Wertung der Regierungsleistungen vor. Da im Sinne der Medienlogik negative Nachrichten häufig mehr Aufmerksamkeit bekommen, werden diese vermehrt verbreitet. Dies führt möglicherweise zu einem negativ verzerrten Bild der Regierungsperformanz und die Wahrnehmung der demokratischen Regierungsleistung in der Bevölkerung ist schlechter, als dies in Wirklichkeit der Fall ist (Norris 2011: 7).
Als letzter Bereich der von Norris postulierten Ursachen sind dieSupply-Side Theorienzu nennen. Hierbei handelt es sich um die tatsächlichen Leistungen der Regierung, welche verschiedene Aspekte umfassen können (siehe Kapitel 3.3.2). So kann es bei unzureichender Bereitstellung öffentlicher Güter durch eine demokratische Regierung schnell zu Unzufriedenheit kommen. Zudem ist es denkbar, dass strukturelle Vorgaben den demokratisch orientierten Bürgern nicht ausreichend sind und somit aufgrund konstitutioneller Fehlleistungen dasDemocratic Deficitvergrößert wird. Einen Überblick über die verschiedenen Ursachenkomplexe des demokratischen Defizits zeigt Abbildung 2. Ich bin der Ansicht, dass jeder der drei Komplexe auf dasDemocratic Deficitwirkt und sie sich gegenseitig beeinflussen können. Aus diesem Grund weiche ich von der ursprünglichen Darstellungsform nach Norris ab (Norris 2011: 7).
Abbildung 2: Bestandteile des Konzept des Democratic Deficit von Pippa Norris, nach Norris 2011: 6, eigene, angepasste Darstellung.
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Nachdem Norris diese unterschiedlichen Einflussfaktoren beschrieben hat, erläutert sie im weiteren Verlauf ihres Werkes die Relevanz und die denkbaren Folgen eines demokratischen Defizites. Hierbei stützt sich die Wissenschaftlerin auf den Kongruenzansatz nach Harry Eckstein, welcher bereits 1961 in „A Theory of Stable Democracy“ auf die Bedeutung der Übereinstimmung von Bürgerforderungen und wahrgenommenen Leistungen staatlicher Akteure für die Stabilität eines politischen Systems einging. Dabei sollte die Regierung in die gesellschaftlichen Grundprinzipien und Verhaltensweisen eingebunden, also mit diesen kongruent sein, damit eine Stabilität erreicht wird (Eckstein 1961: 10 ff.).
Aus den grundlegenden Überlegungen von Eckstein leitet Norris verschiedene Szenarien einesDemocratic Deficitab. Demnach postuliert sie bei Kongruenz von demokratischen Forderungen der Bürger und den wahrgenommenen Leistungen der Regierung, Stabilität und den Erhalt des Status Quo im jeweiligen Staat. Demgegenüber besteht bei Vorhandensein eines demokratischen Defizites die Gefahr der Fragilität und Angreifbarkeit des Staates gegenüber feindlichen Gruppierungen. Hierbei kann einerseits der Demokratisierungswunsch im Volk größer sein als jener, den die staatlichen Instanzen gewähren, wobei zwei Möglichkeiten denkbar sind. Zum einen kann der Demokratisierungswille zu einer Mobilisierung, Demonstrationen und letztlich zu demokratischen Reformen und Demokratisierungsprozessen führen. Allerdings kann aus dieser mobilisierten Gesellschaft auch Instabilität entstehen und die Gefahr von gewalttätigen Revolutionen und Umstürzen ist durchaus gegeben. Somit besteht die Möglichkeit, dass sich hieraus auch (De-)Demokratisierungsprozesse entwickeln können. Ebenfalls denkbar wäre ein zunehmendes Desinteresse, Apathie und die Abkehr der Bevölkerung vom politischen Leben und somit eine Unzufriedenheit mit der bestehenden Demokratie. Dieses Szenario führt ebenfalls zu Instabilität und Demotivation im politischen System und möglicherweise zu einer Abkehr von demokratischen Grundprinzipien. Als letzte denkbare Option besteht die Möglichkeit, dass der Staat mehr demokratische Bestrebungen zeigt als das Volk. In diesem Fall kommt es aufgrund fehlender Legitimität staatlicher Maßnahmen zu Instabilität und somit ebenfalls zur Gefährdung der Demokratie (Norris 2011: 8, 33).
Norris hat in der vorliegenden Studie diverse Staaten unterschiedlicher Regimetypen8analysiert. Einige wichtige Hauptbefunde dieser Studie bezüglich desDemocratic Deficitsmöchte ich nun kurz vorstellen. Zunächst belegt die Untersuchung, dass die etablierten Demokratien überwiegend hohe Unterstützungswerte aufzeigen, sich allerdings innerhalb dieser Gruppe deutliche Unterschiede in der wahrgenommenen Regimeperformanz ergeben. Betrachtet man die neueren Demokratien, so zeigen sich insgesamt sehr differenzierte Befunde in den verschiedenen Staaten. Des Weiteren legt Norris deutliche Unterschiede bezüglich des Vertrauens in staatliche Institutionen sowie starke Schwankungen der Unterstützungswerte in den untersuchten Staaten im Zeitverlauf dar. So gibt es diverse Staaten, welche zunehmenden politischen Support aufweisen, aber im Gegenzug auch solche, in denen die Unterstützung absinkt. Somit kann Norris anderen wissenschaftlichen Publikationen, welche von einem generellen Absinken demokratischer Unterstützung ausgehen, nicht zustimmen. Hierauf werde ich im anschließenden Teilkapitel näher eingehen (siehe Kapitel 3.3.1). Die Messung desDemocratic Deficitsergibt sich nach der Autorin aus der Differenz zwischen demokratischen Forderungen und der Zufriedenheit mit der Regimeperformanz9. Dabei zeigen sich zwischen den vier untersuchten Regimetypen nur sehr geringe Differenzen, wobei in älteren liberalen Demokratien das Defizit mit 2,0 am geringsten ausfällt und mit 2,6 bei den elektoralen Autokratien am größten ist. Diesbezüglich sei erwähnt, dass es innerhalb der einzelnen Gruppen deutliche Unterschiede bei den jeweiligen Messwerten gibt. Betrachtet man die verschiedenen Weltregionen bezüglich desDemocratic Deficitlassen sich einige Auffälligkeiten feststellen: In den skandinavischen Staaten Nordeuropas ist die Differenz zwischen demokratischen Forderungen und Wahrnehmung der Regimeperformanz am geringsten und in den ehemals kommunistischen Staaten Osteuropas zeichnet sich die höchste Diskrepanz ab. Betrachtet man den afrikanischen Kontinent, so zeigen sich sowohl auf der Seite der Bürgerforderungen als auch bei der Regimeperformanz mittlere Werte und somit liegt auch das demokratische Defizit in dieser Weltregion im Vergleich zu den anderen Gegenden im Mittelfeld (Norris 2011: 102-115).
Nachdem das Konzept desDemocratic Deficitnun kurz vorgestellt wurde, möchte ich, bevor ich auf die verschiedenen Aspekte des Modells ausführlicher eingehen werde, meine Überlegungen bezüglich des demokratischen Defizits in meinem Fallbeispiel Tansania darstellen. Dieses ostafrikanische Entwicklungsland zählt zu den ärmsten Ländern der Welt und die gesellschaftliche Entwicklung ist auf einem niedrigen Stand, was eher gegen steigende demokratische Forderungen spricht. Auf der anderen Seite kommt es in den letzten Jahren zu diversen Bemühungen, die Bildung der Menschen zu verbessern und die Alphabetisierungsrate zu steigern. Dies spricht nach dem Modell von Norris für zunehmende demokratische Hoffnungen und Wünsche der Bevölkerung. Aufgrund der weit verbreiteten Armut im Land gehe ich allerdings davon aus, dass viele Menschen sich eher wenig mit der Demokratie und Politik befassen (siehe Kapitel 2.1 und 2.2 dieser Arbeit). Ich erwarte also ein eher elektoral-demokratisches Demokratiekonzept mit grundlegenden demokratischen Forderungen. Die Seite der Regierung kann als weiterer wichtiger Aspekt desDemocratic Deficitgesehen werden. Hierbei konnte in Kapitel 2.2 dieser Arbeit gezeigt werden, dass besonders im Zusammenhang mit der diesjährigen Wahl deutliche Proteste gegen die Regierung laut wurden und auch diverse Manipulationsvorwürfe von Seiten der Opposition und internationaler Organisationen geäußert wurden. Demnach kann man eine negative Wahrnehmung der demokratischen Regierungsperformanz in Tansania vermuten. Die Rolle der Medien lässt sich meiner Ansicht nach für Tansania nur schwer beurteilen, da ein Großteil der Medien inzwischen unter staatlicher Kontrolle steht und eine unabhängige und möglicherweise negative Berichterstattung als Ursache für ein demokratisches Defizit in diesem Fallbeispiel nicht objektiv bewertet werden kann (siehe Kapitel 2.2). Dennoch werde ich versuchen, Informationen hierüber zu liefern.Zusammenfassenderwarte ich in Tansania somit ein deutlichesDemocratic Deficitim Sinne von Norris (Erwartung 1).
3.3 Die Teilaspekte des Democratic Deficit und empirische Forschungsstände
Die folgenden Abschnitte dieses Kapitels sollen die verschiedenen Aspekte desDemocratic Deficitvorstellen. Zunächst wird auf die demokratischen Bürgerforderungen (Abschnitt 3.3.1) eingegangen. Nachfolgend soll die Wahrnehmung demokratischer Regimeperformanz (Abschnitt 3.3.2) diskutiert werden. Den Abschluss bildet die Rolle von Bildung und Medien sowie die Vermittlung demokratischer Werte (Abschnitt 3.3.3) für dasDemocratic Deficit.
3.3.1 Demokratische Forderungen in der Bevölkerung
Die verschiedenen Aspekte bezüglich der demokratischen Bürgerforderungen werden nun mit Hilfe der Fragen: „Was verstehen Menschen unter Demokratie?“, „Welches Demokratieverständnis haben die Menschen?“ und „Wollen die Menschen das?“ dargestellt.
Was verstehen Menschen unter Demokratie? - Demokratiekonzepte im Überblick
Wie bereits in Abschnitt 3.1 beschrieben, stellt die Demokratiekonzeption nach Robert Dahl wohl eine der grundlegendsten Definitionen dieses Begriffes dar, auf welche viele andere Konzepte aufbauen. Einige dieser Demokratiemodelle und -kriterien möchte ich nachfolgend diskutieren, um daraus meine Hauptkriterien, für die spätere Analyse von Demokratiekonzepten tansanischer Bürger, ableiten zu können.
Roland Zimmermann übersetzt die Demokratie 2004 ganz allgemein mit der Herrschaft des Volkes. Zudem geht er im Besonderen auf die Wichtigkeit politischer Partizipation für die Demokratie ein und beschreibt eine gelingende politische Bildung dabei als unerlässlich, da nur mit ihr ausgewogene politische Willensbildungsprozesse ermöglicht werden. Zimmermann beschreibt zudem die Wichtigkeit der Demokratiemessung für Demokratisierung und die Demokratie per se, da nur durch solche Messungen Schwierigkeiten und Probleme im Transitionsprozess wahrgenommen und behoben werden könnten. Dennoch gibt er zu bedenken, dass es nicht darauf ankommt, welcher Staat am demokratischsten ist, sondern auf die Wahrung von gewissen normativen Standards, wie beispielsweise einer Verpflichtung auf die Menschenrechte oder die Einhaltung von Partizipationsrechten der Bürger. Deshalb plädiert er, ähnlich wie Theo Schiller, für die Etablierung einiger Mindeststandards von Demokratie, welche Schiller, wie in Tabelle 3 beschrieben, festlegt. Insgesamt wird diesen Kriterien eine zentrale Rolle bei der Demokratisierung von Staaten zugeschrieben, da sie laut den Autoren bedeutend für die Etablierung demokratischer Institutionen sowie einer demokratischen politischen Kultur sind. (Zimmermann 2004: 105-112).
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Tabelle 3: Darstellung der Demokratieprinzipien von Theo Schiller, nach: Zimmermann 2004: 111.
Auch die Politikwissenschaftler Larry Diamond und Leonardo Morlino befassten sich in verschiedenen Publikationen mit den Kriterien von Demokratie. Genauer gesagt untersuchen sie notwendige Aspekte zur Einschätzung von Demokratiequalität. Für ihre Analysen stellen sie zunächst eine Definition des Demokratiebegriffes auf, welche als liberal-demokratisches Konzept bewertet werden kann. Dabei stehen ein universelles Wahlrecht, freie und faire Wahlen, ein Mehrparteiensystem sowie die Möglichkeit alternativer Informationsquellen im Fokus, welche durch diverse bürgerliche Freiheitsrechte sowie Partizipationsmöglichkeiten und eine effektive Regierungskontrolle durch das Volk ergänzt werden. Des Weiteren beschreiben Diamond und Morlino allgemein den Begriff der Qualität als einen Term, welcher durch drei Aspekte definiert wird. Zunächst beschreibt der Prozess eine exakte Kontrolle sowie einen korrekten Ablauf bestimmter Vorgänge. Die zweite Ebene stellt die inhaltliche Komponente dar. Hierbei geht es um strukturelle Charakteristika des Untersuchungsobjektes sowie bestimmte Anforderungen an das Produkt. Die letzte Dimension befasst sich mit den Resultaten, wobei die Autoren hier die Kundenzufriedenheit eines bestimmten Erzeugnisses explizit ansprechen. Die Forscher beschreiben, dass aus der Verknüpfung dieser Aspekte das Konzept demokratischer Qualitäten entsteht (vgl. Diamond/ Morlino 2004; Diamond/ Morlino 2005: viiii ff.). Morlino beschreibt 2009 eine gute Demokratie wie folgt:
„[…] I consider a quality or good democracy to be one presenting a stable institutional structure that realizes the liberty and equality of citizens through the legitimate and correct functioning of its institutions and mechanisms.” (Morlino 2009: 4).
Aus dieser Begriffsbestimmung ergeben sich acht Dimensionen demokratischer Qualität, welche in Tabelle 4 vorgestellt werden. Diese Kriterien werden durch Diamond und Morlino den drei Hauptdimensionen von Qualität zugeordnet. So spielen Aspekte der Rechtsstaatlichkeit, Kontrollmechanismen der Regierung sowie partizipatorische und wettbewerbsorientierte Elemente eine bedeutende Rolle im Prozess der Demokratie. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass das Kriterium der Volksherrschaft von den Autoren zum Teil dieser prozeduralen Kategorie zugeordnet wird und an anderer Stelle zwar als relevant für die Demokratiequalität dargestellt, aber nicht in den acht Dimensionen integriert ist. Die inhaltliche Qualitätsdimension wird durch die Kernelemente von Freiheit und Bürgerrechten sowie Aspekten politischer und sozialer Gleichheit ausgefüllt und die Responsivität bildet die ergebnisorientierte Dimension demokratischer Qualität (Diamond/ Morlino 2005: xiv-xxxi).
Dabei lässt sich festhalten, dass sich all diese Qualitäten zwar gegenseitig bedingen, aber Überschneidungen vermieden werden sollen. Die Steigerung einer Dimension kann vorteilhaft für andere Aspekte sein, aber auch das Gegenteil ist denkbar (z.B. möglicher Konflikt zwischen Mehrheitsregel vs. Gleichheit und Minderheitenschutz). Demnach soll ZielguterDemokratien sein, einen Ausgleich zwischen den Aspekten zu schaffen. Dahls Polyarchie wird dabei als Mix aus Elementen der demokratischen, liberalen und republikanischen Tradition dargestellt. Zudem beschreiben Diamond und Morlino, dass es diverse demokratische Systeme gibt, welche auf bestimmten Dimensionen sehr differenziert aufgestellt sind und dennoch zur Gruppe demokratisch verfasster Staaten gezählt werden (Diamond/ Morlino 2004: 28-31; Diamond/ Morlino 2005: x-xiii).
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Tabelle 4: Übersicht der 8 Dimensionen demokratischer Qualität von Larry Diamond und Leonardo Morlino, nach: Diamond/ Morlino 2004: 23-28; Diamond/ Morlino 2005: xiv-xxxi.
Im Jahr 2009 geht Leonardo Morlino erneut der Frage nach einergutenDemokratie nach und ordnet die Kernaspekte von Demokratiequalität unterschiedlichen Demokratiekonzepten zu. Dabei beschreibt er eine Fülle theoretischer Demokratiemodelle und verweist auf die Breite dieses Forschungsfeldes. Hier zeigt sich erneut, dass der Begriff der Demokratie ein hochkomplexer und auf differenzierte Weise beschriebener Term ist. Die Zuordnung der Kriterien zu den Demokratiekonzepten ist in Tabelle 5 zu sehen. Sie dient in dieser Arbeit auf verschiedene Weise (Morlino 2009: 5).
Zum einen zeigt sich durch diese Auflistung, dass die acht von Diamond und Morlino aufgestellten Dimensionen gut geeignet sind, eine große Anzahl an Demokratiekonzepten grundlegend zu bedienen und somit das Spektrum dieses komplexen Forschungsfeldes gut zu beleuchten (Morlino 2009: 5). Dies spricht für eine Verwendung dieser Kriterien und eine bevorzugte Nutzung vor anderen Konzepten. Dieser Auffassung sind auch die Forscher desEuropean Social Survey (ESS)um Hanspeter Kriesi, da sie sich für die sechste Runde dieses Umfrageinstrumentes aus der vielfältigen Literatur zur Beschreibung von Demokratie für die genannten Kriterien der Demokratiequalität entschieden haben10. Dabei erläutern die Wissenschaftler, dass die beschriebenen Dimensionen nahezu alle denkbaren Konzepte der Demokratie abdecken und ausführliche Informationen über die Bewertung der eigenen Demokratie der Befragten liefern. Zudem ist der Vergleich von Demokratiekonzepten zwischen den Interviewten möglich (European Social Survey 2013: 6). Somit zeigt sich, dass das Konzept der demokratischen Qualitäten gut für die Fragestellung bezüglich der Vorstellungen von Demokratie in der tansanischen Bevölkerung geeignet ist. Die konkrete Anwendung innerhalb dieser Arbeit werde ich in Kapitel 4.3.2 näher erläutern.
Zum anderen werde ich bei der Analyse versuchen, über die Häufigkeit und Intensität der Nutzung bestimmter Demokratieaspekte die jeweiligen Interviewpartner einem der beschriebenen Demokratiekonzepte zuzuordnen. Durch dieses Vorgehen erhoffe ich mir eine differenzierte Darstellung und Analyse der Gedanken der Befragten bezüglich der Demokratie und möglicherweise lässt sich eine Häufung bestimmter Konzepte feststellen. Auch die Schulbücher des FachesCivic and Moral Educationwerde ich versuchen, einem der untenstehenden Modelle zuzuordnen, um festzustellen, welchem die staatlichen Institutionen Tansanias am ehesten zugeneigt sind. Dabei sei erwähnt, dass diese Zuordnung sicherlich nicht völlig ohne subjektive Einschätzung bezüglich der einzelnen Textabschnitte ablaufen kann und somit die Ergebnisse nicht uneingeschränkt nutzbar sein werden, allerdings einen gewissen Überblick geben können.
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Tabelle 5: Übersicht verschiedener Demokratiekonzepte mit Zuordnung jeweiliger Kriterien nach Qualitätsdimensionen, nach: Morlino 2009: 5; eigene Darstellung.
Der Politikwissenschaftler Russell Dalton untersuchte 2007 gemeinsam mit Kollegen in einer Studie das Verständnis von Demokratie in Entwicklungsländern. Dabei postulierten die Autoren, dass Menschen in weniger entwickelten Staaten einen geringeren Bezug und wenig Verständnis für Demokratie hätten als in etablierten Demokratien. Der Bevölkerung letztgenannter Staaten wurde ein tiefergehendes Demokratiekonzept mit konkreteren Vorstellungen bezüglich Aspekten wie Freiheiten und Grundrechten, aber auch ein besseres Verständnis demokratischer Prozesse zugesprochen. Die Forscher gingen zudem davon aus, dass die Bevölkerung in ärmeren Ländern aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen primär an der Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Umstände und der Etablierung westlicher Einkommens- und Lebensstandards interessiert sind und somit weniger konkrete Demokratiekonzepte vorliegen. Des Weiteren wurde vermutet, dass die Bürger Demokratie eng mit diesen Wirtschaftsinteressen verknüpfen und deshalb, trotz fehlendem konkreten Wissen, diesem Konzept positiv gegenüberstehen. Unzureichende Bildung und teils fehlender Zugang zu Medien in der Bevölkerung erschweren demnach das Demokratieverständnis zusätzlich (Dalton/ Shin/ Jou 2007: 141 ff., 148 f.).
Für meine Untersuchung von Demokratiekonzepten in der tansanischen Bevölkerung habe ich ähnliche Erwartungen wie in der beschriebenen Studie. Man kann auch für Tansania als Entwicklungsland davon ausgehen, dass die Menschen aufgrund geringer Bildung, wirtschaftlichen Notlagen und Armut wenig Zeit für die Befassung mit demokratischen Grundwerten und Einstellungen haben (siehe Kapitel 2.1). Aufgrund geringer gesellschaftlicher Entwicklung sind zudem schlechte Unterstützungstendenzen der Demokratie denkbar. Deshalb rechne ich in Tansania mit wenig ausgeprägten Demokratiekonzepten und eher wenig Unterstützung für die Demokratie (Erwartung 2).
Dalton und Kollegen kommen in ihrer Studie zu dem Schluss, dass der Begriff Demokratie nicht einfach zu definieren sei und es unterschiedliche Bedeutungen dafür gibt. Zudem werfen sie die Frage nach Kriterien und der Existenz eines demokratischen Grundverständnisses auf. Zur Beantwortung dieses Fragenkomplexes arbeitetet die Studie mit einem offenen Fragenformat, welches den Befragten ermöglicht, persönliche Hintergrundkriterien ihrer Demokratiedefinition zu nennen. Die Untersuchung wurde in fünf Weltregionen11durchgeführt und die Ergebnisse dieser Befragungen ließen eine Einteilung in drei inhaltliche Hauptkategorien der Demokratie zu. So zeigten sich Antworten, die sich in die Dimensionen Freiheitsrechte, demokratische Institutionen und Prozesse sowie soziale Leistungen gliederten, welche jeweils in weitere Unterpunkte differenziert wurden (siehe Tabelle 6). Zudem gab es in dieser Untersuchung eine Kategorie für Personen, welche nicht in der Lage waren, eine Demokratiedefinition abzugeben, sowie eine Gruppe für sonstige Aussagen bezüglich der Demokratie (Dalton/ Shin/ Jou 2007: 144 ff).
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Tabelle 6: Darstellung der Demokratieprinzipien von Dalton (Ranking nach Häufigkeit), nach: Dalton/ Shin/ Jou 2007: 145 f.
Die Ergebnisse der Befragungen zeigten durchaus überraschende Befunde. So konnte festgestellt werden, dass über alle untersuchten Regionen hinweg, auch in den etablierten Demokratien, circa 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung nicht in der Lage waren, eine inhaltliche Definition der Demokratie anzugeben, was als Beleg für geringes politisches Wissen gewertet werden kann. Interessant ist dabei besonders, dass der Anteil an Personen ohne Demokratiedefinition in den westlichen Staaten im Vergleich zu den afrikanischen Staaten fast gleich hoch ist. Bezüglich der drei aufgestellten inhaltlichen Dimensionen zeigte sich folgendes Bild: Für die meisten Befragten über alle Regionen hinweg hat Demokratie etwas mit Freiheit und Bürgerrechten zu tun. Demokratische Institutionen und Prozesse (z.B. Wahlen) sahen hingegen deutlich weniger Menschen als relevant für ihre Demokratiekonzeption an, wobei dies in Afrika noch am häufigsten der Fall war. Mit sozialen Leistungen verknüpften die Wenigsten den Begriff der Demokratie. Hier war der Anteil an Personen, die diese Dimension als zentral ansahen, in Lateinamerika am größten. Dieser Befund scheint der Annahme Daltons bezüglich der Verknüpfung von wirtschaftlichen Interessen und Demokratie in wenig entwickelten Staaten zu widersprechen, da auch in den ärmeren Regionen nur geringe Bevölkerungsanteile die Demokratie primär mit wirtschaftlichen Interessen in Verbindung brachten (Dalton/ Shin/ Jou 2007: 146-152).
Eine andere Studie zur Demokratiedefinition und dahinterliegenden Konzepten von Personen speziell in Afrika veröffentlichte Michael Bratton im Jahr 2010. In dieser Untersuchung stellt er verschiedene Möglichkeiten vor, wie nach den Demokratiekonzepten von Menschen gefragt werden kann, und zeigt Demokratiekriterien für Befragungen durch Afrobarometer12auf. Zunächst erläutert Bratton die Option, eine offen formulierte Ausgangsfrage zu stellen, die es den Befragten ermöglicht, alles zu äußern, was ihnen zur Demokratie einfällt. Anschließend kann eine Kategorisierung in verschiedene Aspekte der Demokratie vorgenommen werden (siehe Abbildung 3). In der Untersuchung Brattons ergab sich ein ähnliches Bild wie bei Dalton. Circa 25 Prozent der Teilnehmer konnten keine Beschreibung der Demokratie abgeben und ein Großteil der Bevölkerung scheint Demokratie eng mit Grundrechten und diversen Freiheiten zu verknüpfen. Zudem spielen bei dieser Studie in afrikanischen Staaten besonders Aspekte wie Frieden und Einigkeit, Volksherrschaft oder sozio-ökonomische Entwicklungen als Elemente von Demokratie eine Rolle (Bratton 2010: 106 f.).
Abbildung 3:Darstellung von Demokratiekriterien von afrikanischen Befragten nach Selbstdefinition von Demokratie (Frage: „What if anything, does democracy mean to you?“), nach: Bratton 2010: 107.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenEinen weiteren Vorschlag zur Abfrage von demokratischen Konzepten liefert der Autor durch eine disaggregierte Vorgehensweise, in der den Befragten diverse Hauptdimensionen vorgegeben werden, welche eng mit Demokratie verknüpft sind und somit zur Aufklärung über die Demokratiedefinitionen beitragen. Bei dieser Form soll das abstrakte Konzept der Demokratie vereinfacht werden, um so konkretere Antworten zu generieren. Die dabei verwendeten acht Hauptdimensionen sind in Abbildung 4 dargestellt. Es ist besonders interessant, dass Afrobarometer in den untersuchten Staaten des Kontinentes explizit nach den Amtszeitbeschränkungen der Machthaber sowie der Freiheit von Massenmedien fragt. Dies könnte Indiz dafür sein, dass die Autoren auf dem Kontinent von einer Verletzung dieser Prinzipien ausgehen oder als Hinweis für die besondere Bedeutung dieser Aspekte in afrikanischen Gesellschaften gewertet werden. Bei der beschriebenen Vorgehensweise zeigten sich etwas andere Befunde als bei den offenen Fragen. So wurde bei disaggregierter Befragung der Aspekt von Wahlen als zentralstes Kriterium von Demokratie gesehen und nicht mehr das Vorhandensein von bestimmten Freiheiten. Hierzu sei allerdings erwähnt, dass viele Personen alle zur Verfügung stehenden Hauptdimensionen mit der Demokratie in Zusammenhang brachten, was für tiefgehende Demokratiekonzepte spricht. Zudem konnte Michael Bratton feststellen, dass eine hohe Anzahl an Interviewten mehr Demokratie wollen, als sie aktuell im jeweiligen Land haben (Democratic Deficit).
Abbildung 4: Darstellung der Hauptdemokratieinstitutionen und -kriterien von Afrobarometer 2008 (Abfrage in Umfragen), nach: Bratton 2010: 108.
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Auch eine Etablierung dreier fiktiver Staaten mit demokratischen, oder eher autokratischen Eigenschaften (siehe Anhang, Tabelle 23) schlägt Bratton für die Klärung von Demokratiekonzepten vor. Dabei sollen die Befragten über das Level an Demokratie in diesen fiktiven Staaten im Vergleich zu ihrem Heimatland entscheiden, was 2/3 der Befragten aufgrund kognitiver Überforderung nicht gelang. Dies kann auf eine geringe politisch-demokratische Bildung in großen Teilen afrikanischer Bevölkerungsgruppen hinweisen. Zudem zeigte sich, dass besonders die Landbevölkerung mit geringeren Anknüpfungspunkten zur nationalen Politik häufig alsunkritische Bürgeragieren, welche die demokratische Leistungsfähigkeit des eigenen Staates deutlich überschätzen (Bratton 2010: 109-112).
Auch andere Wissenschaftler befassten sich mit Demokratieverständnissen in verschiedenen Regionen der Erde und konnten differenzierte Befunde liefern. So wurde festgestellt, dass in Entwicklungsländern Demokratie häufig in Relation zu Freiheiten und bestimmten Grundrechten gesetzt wurde. Andere Studien beschreiben, dass in Staaten mit geringem Einkommensniveau häufig auch die sozialen Aspekte wie soziale und politische Gleichheit oder wohlfahrtsstaatliche Aspekte und Leistungen für die Beschreibung von Demokratie eine wichtige Rolle spielen (Dalton/ Shin/ Jou 2007: 144).
Bei einer Befragung zu den Kriterien von Demokratie aus dem Jahre 2004 stellten Siddhartha Baviskar und Mary Malone eine Gliederung der Interviewten in drei Gruppen fest. Dabei verknüpfte die erste Gruppe der Probanden ähnlich wie in anderen Untersuchungen, Demokratie sehr stark mit persönlichen Freiheiten. Eine weitere Gruppe achtete besonders auf die Performanz der Regierung und legte Wert auf die Bereitstellung sozialer Güter. Eine letzte Häufung zeigte sich bei Personen, welche sowohl prozessorientierte als auch ergebnisorientierte Aspekte als Anforderungen an eine Demokratie nannten. Es zeigten sich in dieser Studie mitunter ähnliche Ergebnisse wie in vorigen Studien, allerdings, beispielhaft an der Vernetzung von Demokratie mit sozialen Leistungen durchaus auch gegenläufige Befunde (Baviskar/ Malone 2004: 6 ff.).
In ihrer Studie nehmen Baviskar und Malone Bezug auf diverse regionale Studien, welche mit verschiedenen Fragemethoden und an unterschiedlichen Orten der Erde nach Demokratiekonzeptionen fragten. Eine Übersicht dieser Studien zeigt Tabelle 7. Dabei zeigen sich je nach Region durchaus unterschiedliche Aspekte, welche mit der Demokratie in Verbindung gebracht werden. Diese Tabelle soll prinzipiell als Übersicht über verschiedene Demokratiekonzepte in der Welt dienen. Aus diesem Grund erschien mir eine Präsentation trotz des Alters einiger Studien sinnvoll. Es soll hierbei nicht darum gehen, aktuelle Entwicklungen offenzulegen, sondern sollen lediglich verschiedene Möglichkeiten von Demokratiekonzeptionen dargestellt werden. Dennoch möchte ich kurz auf Uganda als einzigem afrikanischen Land und Nachbarland Tansanias in dieser Auswahl eingehen. Mir erscheint es als interessant, dass in diesem ostafrikanischen Staat Frieden und Einheit als Aspekte der Demokratie bewertet werden. Dies ist in keiner anderen hier dargestellten Region der Fall. Sicherlich ist diese Tabelle nicht erschöpfend, allerdings haben sich bei der Literaturrecherche keine Beschreibungen zu anderen Weltregionen gefunden, in denen Frieden und Einheit explizit als Kriterium der Demokratie gewertet wurden. In anderen Studien zu Afrika war dies durchaus häufiger festzustellen. Zudem zeigt sich, dass, wenn auch in geringerer Häufigkeit,Entwicklungebenfalls als demokratisches Kriterium gesehen wird. Dies ist auch in anderen Studien und Regionen der Fall und scheint in der afrikanischen Demokratiekonzeption eine Rolle zu spielen (Baviskar/ Malone 2004: 3-6).
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Tabelle 7: Übersicht verschiedener Regionalstudien bezüglich der Demokratiekonzeptionen von Befragten nach Region/Land, Zeitraum und Frageformat (offen oder geschlossen). In einigen Studien wurde zudem die Verteilung der Häufigkeiten auf die jeweiligen Antworten in Prozent angegeben, nach: Baviskar/ Malone 2004: 5, eigene Darstellung.
Neben diesen Befunden erläutert der Politologe Hanspeter Kriesi 2017 einige Besonderheiten zum Demokratieverständnis von, in der sechsten Runde des European Social Survey befragten, Europäern. Zum einen wird verdeutlicht, dass die Mehrzahl der Interviewten dem Basiskonzept liberaler Demokratie sehr aufgeschlossen gegenübersteht, was als positiver Befund für den Stand der Demokratie gesehen werden kann. Auf der anderen Seite zeigt sich allerdings, dass die Bevölkerung Europas zunehmende demokratische Anforderungen entwickelt hat und ihnen die demokratischen Aspekte der liberalen Demokratie nicht mehr ausreichen. Dies hat besonders in den sozialen Bereichen (z.B. soziale Gleichheit) zu einem demokratischen Defizit geführt und die Menschen sind zunehmend unzufrieden mit der demokratischen Ausgestaltung auf der sozialen Ebene. Bezüglich der Demokratiekomponenten bezeichnet Kriesi drei Hauptaspekte als besonders bedeutsam. Diese sind die Rechtsstaatlichkeit, freie und faire Wahlen sowie die Informationsweitergabe der Regierung an die Bevölkerung (Kriesi 2017: 353- 356).
Insgesamt zeigt sich abschließend, dass im wissenschaftlichen Diskurs eine Fülle verschiedener Demokratiekonzeptionen und Hintergrundkriterien für diese Staatsform bestehen und es lässt sich nicht die eine Demokratie herausstellen (Zimmermann 2004: 110). Zudem scheinen sich die diversen Studien und Untersuchungen bezüglich ihrer Hauptbefunde teilweise zu widersprechen. Auch konnten durchaus differenzierte Demokratiekonzeptionen bei der Bevölkerung in verschiedenen Weltregionen präsentiert werden. Somit scheint insgesamt die Aufstellung einer allumfassenden Demokratiekonzeption nicht möglich. Aus diesem Grund werde ich in meiner Analyse eine möglichst breite Begriffsbestimmung aus den hier beschriebenen Ansätzen erstellen, welche ich in meinem Methodenkapitel vorstellen werde (siehe Kapitel 4.3.2).
Instrumentelles vs. prozedurales Demokratieverständnis im Vergleich
Um das Bestehen einesDemocratic Deficitsowie die Stabilität politischer Systeme sinnvoll überprüfen zu können, spielt politische Unterstützung eine wichtige Rolle. Da diese Unterstützung allerdings je nach Ausprägung (instrumentell oder prozedural) deutliche Unterschiede bezüglich ihrer Beständigkeit hat, ist eine Differenzierung und Vorstellung dieser beiden Formen von Demokratieverständnis unerlässlich für die vorliegende Forschungsarbeit. Ich werde nun, bevor ich ausführlicher auf das Konzept politischer Unterstützung eingehe diese Unterscheidung vorstellen.
Claudia Landwehr und Arndt Leininger beschreiben die Unterschiede von instrumentellem und prozeduralem Demokratieverständnis in einer Studie zu politischer Unterstützung im Jahr 2019. Dabei nimmt bei überwiegend instrumenteller Ausprägung die Unterstützung der Demokratie bei großer Unzufriedenheit mit der aktuellen Regimeperformanz schnell ab. Dies liegt vor allem daran, dass sich dieses Demokratieverständnis an den Outcomes eines Regimes orientiert und die Demokratie zur Erreichung eines höheren Zieles instrumentalisiert wird. Dabei geht es meist um das Erreichen wirtschaftlicher Präferenzen, Wohlfahrt, die Umsetzung sozialer Leistungen wie Gesundheitsversorgung und Schulen oder auch das Erreichen von Frieden und Harmonie als gesellschaftliches Ziel. Demnach ist instrumenteller Support instabil und meist recht kurzfristig, da die Gefahr von Unzufriedenheit und sinkender Unterstützungswerte besteht, sobald politische Entscheidungen den persönlichen Interessen der Bürger zuwiderlaufen. Das prozedurale Demokratieverständnis wird hingegen als stabiler angesehen. Es ist weniger von spezifischen politischen Entscheidungen abhängig und die Demokratie selbst wird als unterstützenswert begriffen. Somit ist diese Unterstützung selbst bei unerwünschten Entscheidungen durch staatliche Institutionen relativ langfristig. In der Denklogik des prozeduralen Supports wird die Demokratie normativ als beste Lösung der Entscheidungsfindung wahrgenommen und aufgrund ihrer Qualität unterstützt (Landwehr/ Leininger 2019: 1-4).
Diesen Ausführungen folgend kann davon ausgegangen werden, dass bei Vorliegen eines überwiegend instrumentellen Demokratieverständnisses das Vorhandensein eines Demokratiedefizites wesentlich schneller zu politischer Instabilität führen kann, da die Demokratie nicht ihrer selbst willen unterstützt wird, sondern nur als Mittel zum Zweck dient. Damit besteht eher die Gefahr von (De-)Demokratisierungsprozessen, weil die Unzufriedenheit der Bevölkerung schneller zur Abkehr von demokratischen Prinzipien führen kann, als dies bei einer prozeduralen (tiefergehenden) Demokratieunterstützung der Fall ist. Aus diesem Grund ist ein genauerer Blick auf das Demokratieverständnis der Bevölkerung in der vorliegenden Forschungsarbeit von Relevanz und ich werde entsprechende Kategorien in Kapitel 4 vorstellen.
Pippa Norris beschreibt in ihrem WerkDemocratic Deficit, dass bei Prozessen zunehmender Demokratisierung eines Staates parallel ein Wandel von instrumentellem hin zu prozeduralem Demokratiesupport festzustellen ist. Wie später noch näher dargestellt wird, spielen dabei auch gute Bildung sowie die Nutzung von freien Nachrichtenmedien zur Informationsgewinnung eine Rolle und die Konsolidierung der Demokratie kann erst bei Vorliegen der prozeduralen Form abgeschlossen werden (Norris 2011: 150-155).
Empirisch betrachtet wird in der Publikation von Norris ein Vergleich zwischen den beiden Formen von Demokratieverständnis vorgenommen. Dabei wurden die untersuchten Gesellschaften bezüglich der Erfahrung mit der Demokratie in drei Gruppen (längere, mittlere und eingeschränkte Erfahrung mit Demokratie) aufgegliedert. In allen drei Gruppen von Gesellschaften war ein prozedurales Demokratieverständnis am verbreitetsten und es zeigte sich eine Zunahme dieser Unterstützungsform mit einem Anstieg demokratischer Erfahrungen. Ein weiteres Ergebnis zeigt, dass in autokratischen Systemen häufig ein instrumentelles Demokratieverständnis festzustellen ist. Bei der Betrachtung verschiedener Weltregionen zeigte sich ein ähnliches Bild. Demnach ist über alle untersuchten Regionen hinweg das prozedurale Demokratieverständnis am häufigsten zu finden, wobei die skandinavischen Länder die besten Werte erzielten. Andererseits gab es auch diverse Staaten (z.B. Vietnam, Äthiopien), in denen die instrumentelle Form relativ hoch war (Norris 2011: 155-168). Es zeigt sich also, dass die langfristigere Form von Demokratieverständnis inzwischen, laut Norris, auf der Welt sehr weit verbreitet ist.
Michael Bratton und Robert Mattes untersuchten bereits 2001 die Art demokratischer Unterstützung, spezifisch in afrikanischen Staaten und differenzierten dabei zwischen instrumentellem und intrinsischem (prozeduralem) Demokratieverständnis. Zunächst bestätigen die Autoren die oben benannten Befunde bezüglich einer weit verbreiteten demokratischen Unterstützung in afrikanischen Staaten und eine deutliche Unzufriedenheit mit der konkreten Ausgestaltung der aktuellen Demokratie (Democratic Deficit). Sie postulieren, dass sich demokratische politische Unterstützung in vielen neu entstehenden Demokratien in afrikanischen Staaten zunächst aus der, als nachteilig wahrgenommenen, Regimeperformanz früherer autokratischer Regime entwickelt. Demnach ist es durchaus plausibel, dass Bürger, welche überwiegend politische und wirtschaftliche Performanzkriterien für ihr Demokratieverständnis heranziehen, aufgrund niedriger Einkommen, Armut, sowie weiteren wirtschaftlich schwierigen Aspekten in afrikanischen politischen Systemen eher ein instrumentelles Demokratieverständnis entwickeln. Diese instabile Form der Unterstützung könnte demnach bei Fortbestehen der nachteiligen Faktoren in der neu entstandenen Demokratie schnell zum Glaubensverlust gegenüber dieser Staatsform führen. Zudem geben die Autoren zu bedenken, dass in neu entstehenden Demokratien aufgrund fehlender Erfahrungen eine Etablierung tiefgehender demokratischer Normen und Werte zunächst sehr unwahrscheinlich ist. Dadurch besteht die Gefahr, dass bei nachteiligen Entwicklungen aus dem eher instrumentellen Demokratieverständnis schnell eine Abkehr von der Demokratie als beste Staatsform resultiert und somit die Demokratisierungsprozesse gefährdet werden (Bratton/ Mattes 2001: 447-453).
Insgesamt stellen Bratton und Mattes bezüglich des Demokratieverständnisses in Afrika ein sehr differenziertes Bild fest. So gibt es im wissenschaftlichen Diskurs verschiedene Ansätze, welche sich konträr gegenüberstehen. Während Claude Ake wirtschaftliche Leistungen und Absicherungssysteme (instrumentell) in den Fokus rückt, beschreiben beispielsweise Larry Diamond und Richard Rose die Bedeutung von politischen Rechten und Grundwerten (intrinsisch) für eine gelingende Demokratisierung. Michael Bratton und Robert Mattes selbst belegen in ihrer Untersuchung die deutliche Orientierung an Leistungen der Regierung in afrikanischen politischen Systemen und somit eher ein instrumentelles Demokratieverständnis. Resümierend erläutern die Autoren, dass in Afrika eine breite, aber nicht tiefgehende, performanzabhängige Unterstützung der Demokratie besteht (Bratton/ Mattes 2001: 452-474). Dies ist laut Norris eher negativ für ablaufende Demokratisierungsprozesse zu werten und spricht dafür, dass die Konsolidierung der dortigen Staaten nicht abgeschlossen ist.
Für Tansaniagehe ich von einem eher instrumentellen Demokratieverständnis aus, welches sich nachteilig auf die Demokratisierung auswirkt (Erwartung 3).Dies ist besonders aufgrund der wirtschaftlich und politisch schwierigen Lage im Land zu erwarten. Die Menschen leben zwar seit der Unabhängigkeit vor über 50 Jahren laut Verfassung in einer Demokratie und man könnte demnach von einer entwickelten demokratischen politischen Kultur und Erfahrungen mit der Demokratie sprechen, allerdings scheint es bei der Umsetzung dieser Staatsform aktuell massive Probleme zu geben, was der Entfaltung demokratischer Normen und Werte entgegenstehen könnte. Bratton und Mattes folgend kann von einer performanzabhängigen politischen Unterstützung ausgegangen werden, wobei die Menschen dem politischen System sicherlich aufgrund von Armut und anderen ungünstigen Faktoren weniger positiv gegenübergestehen (siehe Kapitel 2.1 und 2.2). Da Norris für die Stabilität von Demokratie ein prozedurales Demokratieverständnis für bedeutend erachtet, kann ein schlechter Stand der Demokratisierung vermutet werden.
Das Konzept demokratischer Unterstützung
Der nun folgende Teil dieser Arbeit wird sich mit der Frage auseinandersetzen, ob die Bevölkerung die Aspekte, welche unter Demokratie verstanden werden, überhaupt will. Somit geht es um das Konzept politischer Unterstützung, welches ich nun näher vorstellen möchte.
Die ursprünglichen Überlegungen zu politischer Unterstützung wurden in den 1960er Jahren von dem Politologen David Easton entwickelt. Der Autor beschreibt dabei Unterstützung als Einstellungen gegenüber bestimmten Objekten und geht von einer essenziellen Bedeutung politischer Unterstützung für ein bestehendes politisches System aus. Er verdeutlicht, dass ohne den Support der relevanten gesellschaftlichen Gruppen deutliche Probleme der Herrschenden bei der Umsetzung der an sie gestellten Forderungen entstehen. Zudem ist Stabilität bei der Umsetzung von Regularien und des gesamten Systems genauso wenig denkbar wie die Identifikation der Bevölkerung mit dem entsprechenden Staat. Demnach kann laut Easton keinerlei Zugehörigkeitsgefühl der Menschen zum politischen System entstehen und die Bevölkerung fühlt sich nicht integriert (Easton 1965: 153-157). Des Weiteren wird verdeutlicht, dass eine Beschreibung der Unterstützung für ein politisches System im Ganzen zu undifferenziert und somit nicht zielführend sei. Aus diesem Grund etabliert Easton in seinem Konzept drei Objekte politischen Supports und postuliert, dass das Level und die Intensität zwischen den einzelnen Unterstützungsobjekten durchaus variieren können und somit eines der Objekte befürwortet werden kann, wohingegen einem anderen gegenüber Ablehnung besteht (Easton 1965: 165 f.).
Easton identifiziert folgende unterstützungsfähigen Aspekte innerhalb des politischen Systems: Zum einen nennt er diepolitische Gemeinschaft,welche er als Personen, die innerhalb einer vorgegebenen Struktur durch bestimmte Prozesse partizipieren können, darstellt. Ein weiteres Objekt ist laut Easton daspolitische Regime, welches mit konstitutionellen Vorgaben eines politischen Systems, die von den Menschen befürwortet werden können, beschrieben wird. Als letzten Aspekt beschreibt der Autor diepolitischen Herrscherund benennt dabei konkret jene Personen, welche die Regierung des Staates bilden. Auch diesem Unterstützungsobjekt gegenüber können positive oder negative Einstellungen und Unterstützungstendenzen bestehen (Easton 1965: 177, 190, 212).
In dem Konzept desDemocratic Deficitnach Pippa Norris spielt politische, oder konkreter gesagt demokratische politische Unterstützung, eine zentrale Rolle und sie widmet sich diesem Konzept in verschiedenen Werken ausführlicher. Norris beschreibt zunächst, dass der Term politischer Unterstützung vielfältige Definitionen hat und sehr uneindeutige Beschreibungen existieren. Demnach verweist Pippa Norris auf die essenzielle Bedeutung einer konkreten Begriffsbestimmung des politischen Supports und beruft sich dabei auf das Konzept von David Easton (vgl. Easton 1965). Sie beschreibt politische Unterstützung als Einstellungen gegenüber bestimmten Elementen und geht bei positiver Ausprägung dieser Einstellungen von einer Akzeptanz dem Objekt gegenüber aus (Norris 2011: 19 f.).
Dabei verdeutlicht sie im Sinne Eastons, dass politische Unterstützung als Kontinuum zwischen allgemeiner (diffuser) und spezifischer Unterstützung verläuft. Diffuse Unterstützung ist hierbei ein zentraler Aspekt für die Stabilität und die Akzeptanz des politischen Systems. Dabei werden abstrakte Gefühle gegenüber der Gemeinschaft oder staatlichen Institutionen beschrieben und es kann auch Unterstützung bestehen, wenn eine konkrete Leistung oder Entscheidung nicht befürwortet wird. Im Sinne prozeduraler Demokratieverständnisse hängt die Unterstützung dabei nicht von spezifischen Leistungen und Präferenzen ab, sondern bestimmte Prinzipien und langfristige Mechanismen innerhalb des politischen Systems werden als eigenständiger Wert befürwortet. Am anderen Ende des Kontinuums sind Aspekte des spezifischen Supports zu finden. Hierbei handelt es sich um Einstellungen gegenüber bestimmten Politikern oder kurzfristigen Entscheidungen. Diese Einstellungen sind weniger tiefgreifend und wirken sich nur gering auf die generelle Stabilität und Unterstützung eines politischen Systems aus (Norris 2011: 21 ff.).
Bezüglich der Einteilung in die drei Unterstützungsobjekte nach Easton gibt Norris zu bedenken, dass dabei eine zu geringe Differenziertheit vorliegt. Demnach etabliert sie ein Kontinuum von diffusem und spezifischem Systemsupport und gliedert dieses in fünf Unterstützungsobjekte auf (siehe Abbildung 5) (Norris 1999: 1; Norris 2011: 24).
Als erstes und abstraktestes dieser Objekte beschreibt Norris diepolitische Gemeinschaft. Hierbei geht es um Aspekte wie Nationalstolz, Zugehörigkeitsgefühl und patriotische Einstellungen gegenüber dem eigenen Staat. Mit den folgenden drei Ebenen möglicher Unterstützung nimmt die Politikwissenschaftlerin im Vergleich zu Easton eine Differenzierung vor und spricht von Regimeprinzipien, Regimeperformanz sowie Regimeinstitutionen. Dabei werden im Fall demokratischer-politischer Unterstützung bestimmtedemokratische Prinzipien, welche unterstützt werden können, beschrieben. Norris verdeutlicht hierzu, dass durchaus differenzierte Demokratiekonzepte vorliegen und somit von verschiedenen Personen unterschiedliche Prinzipien befürwortet werden können. Eine Unterstützung dieser Kriterien als Anerkennung der Demokratie als eigenständigem Wert, kann durchaus für ein prozedurales Demokratieverständnis sprechen. Als weiteres Objekt politischer Unterstützung wird dieRegimeperformanzbenannt, wobei auch innerhalb dieser Ebene diverse Modelle bestehen, was unter diesem Begriff verstanden werden soll. Dieser befasst sich mit der Leistungsfähigkeit der aktuellen Regierung und damit, wie gut das Regime in der Lage ist, wirtschaftliche und politische Forderungen umzusetzen. Hierbei wird großer Wert auf die Ergebnisse der Demokratie gelegt, was für ein instrumentelles Verständnis spricht. Es sei zu erwähnen, dass dieser Aspekt der Unterstützung eng mit dem Konzept politischer/ demokratischer Zufriedenheit verknüpft ist. Dabei ist es denkbar, dass das Volk zwar den grundlegenden demokratischen Prinzipien positiv gegenübersteht, allerdings mit der aktuellen Ausgestaltung der Demokratie unzufrieden ist. Auch dieRegimeinstitutionenstellen für Norris ein eigenständiges Objekt politischer Unterstützung dar. Hierin sind Einstellungen gegenüber Parteien, Parlamenten, der Polizei etc. abgebildet.
Das letzte und spezifischste Objekt, welches unterstützt werden kann, sind diepolitischen Akteure. Ähnlich wie bereits bei Easton werden in diese Gruppe aktuelle Politiker und Regierende integriert (Norris 1999: 10-13; Norris 2011: 23-31).
Die Ebene der demokratischen Prinzipien und die Regimeperformanz sind bezüglich des demokratischen Defizites besonders zu erwähnen. Dabei bilden die Prinzipien die Grundlage für die demokratischen Forderungen der Bürger, welche mit der wahrgenommenen Performanz der Regierung abgeglichen werden. Daraus entsteht somit bei fehlender Kongruenz beider Aspekte dasDemocratic Deficit (Norris 2011: 31).
Das Konzept politischer Unterstützung wird auch in meiner Analyse Anwendung finden und Grundlage für einige Kategorien bilden, auf welche in Kapitel 4 eingegangen wird.
Abbildung 5: Bestandteile des Konzepts politischer Unterstützung von Pippa Norris, nach Norris 2011: 24, eigene Darstellung.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ähnlich wie Easton beschreibt Norris, dass die Bevölkerung im Vergleich der verschiedenen Objekte und in verschiedenen Regimetypen unterschiedliche Zustimmungswerte aufweisen kann. Dazu beschreibt sie sehr gute Unterstützungswerte bei den beiden diffusesten Kategorien, wohingegen die Ebene der Regimeperformanz sehr differenziert bewertet wird. Dies kann möglicherweise an den vielfältigen Verständnissen und damit verbundenen Anforderungen an die Leistungsfähigkeit von Regimen liegen. Bei Betrachtung der Institutionen zeichnet sich langfristig ein beunruhigender Trend ab. Die Abkehr von demokratischen Institutionen kann als ernsthafte Gefahr gesehen werden und zu sinkender Zustimmung zur Demokratie als Staatsform führen. Demgegenüber scheint das Vertrauen in politische Akteure in verschiedenen Staaten sehr unterschiedlich zu sein. Hierbei erscheint fehlendes Vertrauen gegenüber bestimmten Politikern weniger problematisch, da trotz möglichem Misstrauen noch keine Abkehr von der Demokratie als Staatsform befürchtet werden muss. Insgesamt kann die Autorin bestätigen, dass die Erfahrung von Demokratie durchaus positive Einflüsse auf eine demokratische politische Kultur hat, da deutlich wird, dass in älteren Demokratien diese Form politischer Kultur am ehesten verbreitet ist. Außerdem können eine weite Verbreitung demokratischer Werte weltweit sowie starke Unterschiede bezüglich politischer Unterstützung innerhalb der einzelnen Regimetypen festgestellt werden (Norris 1999: 10-13, 26 f.; Norris 2011: 29 f., 57, 83-101).
Allgemein ist die Befassung mit politischer Unterstützung und der Zufriedenheit der Bürger bezüglich der Ausgestaltung der Demokratie im eigenen Land kein neues Phänomen in der Politikwissenschaft. Bereits 1975 stellten Croizer und Kollegen eineKrise der Demokratiefest (vgl. Croizer/ Huntington/ Watanuki 1975). Insgesamt lässt sich in der Forschungsliteratur dabei ein zentraler Hauptbefund immer wieder erkennen. Zwar bleibt die Unterstützung demokratischer Grundwerte per se überwiegend gut, oder steigt im Zeitverlauf sogar an, allerdings sinkt in nahezu allen Studien die Zufriedenheit der Menschen mit der Umsetzung der Demokratie. Diese Befunde treten in den vergangenen Jahrzehnten wiederkehrend unter unterschiedlichsten Begrifflichkeiten auf. So spricht Norris selbst Ende des vergangenen Jahrtausends vonCritical Citizensund beschreibt dabei Staatsbürger, welche zwar demokratische Prinzipien vertreten, aber ihrer jeweiligen Regierung nicht vertrauen und von der Tagespolitik sowie der Umsetzung der Demokratie im Land enttäuscht sind (vgl. Norris 1999). Ein ähnlich negatives Bild zeichnet auch Russell Dalton, wenn er von einerErosion politischer Unterstützungberichtet. Dabei nennt er demokratische Normen und Werte als fest verankert und für die Bürger bedeutsam. Allerdings berichtet auch er von schnell absinkenden Zufriedenheitswerten gegenüber aktuellen Politikern und politischen Institutionen in nahezu allen entwickelten Demokratien (vgl. Dalton 2004). Es zeigt sich bereits an diesem Überblick, dass deutliche Diskrepanzen zwischen den Forderungen der Bürger und dem, was sie an demokratischen Leistungen erwarten vermutet werden. (Cameron 2012: 486 f., 491-499).
Auch neuere Studien zeigen ein tief erschüttertes, öffentliches Vertrauen in Politiker, was laut einigen Autoren vor allem auf Skandale und Fehlverhalten von Amtsinhabern zurückzuführen sei. Besonders Peter Riddell äußert sich 2011 über die Rolle negativ agierender Politiker bezüglich der Zufriedenheit von Bürgern mit der Ausgestaltung der Demokratie im eigenen Land. Zudem beschreibt er eine zunehmende Dekadenz der Bevölkerung gegenüber der Demokratie, was zumindest in den entwickelten Demokratien dazu führt, dass aufgrund einer breiten Ausstattung mit demokratischen Grundfreiheiten und Prinzipien die Partizipationsbereitschaft besonders bei jüngeren Menschen, sinkt (vgl. Riddell 2011). Pippa Norris hingegen lehnt eine vorschnelle Verteufelung von Politikern als Hauptursache für die sinkende Zufriedenheit der Bürger hinsichtlich der Demokratie ab und beschreibt die oben dargestellten Ursachen als Begründungsfaktoren für die Diskrepanz zwischen Demokratieforderungen und wahrgenommener Regierungsleistung (siehe Kapitel 3.2; vgl. Norris 2011; Corbet 2015).
Bezüglich allgemeiner empirischer Befunde beschreibt Norris in einer Studie von 2017, in der sie die Risiken von (De-)Demokratisierungsprozessen in westlichen Demokratien analysiert, einige Ergebnisse. Hierbei wird die politische Kultur beleuchtet, welche sich neben anderen Faktoren als mögliche Gefahrenquelle abzeichnet. Dabei geht die Autorin auf ein Absinken des politischen Supports vor allem bei jüngeren Personen in westlichen Demokratien ein und beschreibt die daraus resultierende Gefahr von (De-)Demokratisierungsprozessen. Sie differenziert diesbezüglich zwischen einer gewissen Unzufriedenheit mit politischen Akteuren, welche weniger problematisch wäre, und einer daraus entstehenden generellen Abkehr von demokratischen Prinzipien. Diese, für die Demokratie problematische Form fehlender Unterstützung, wird inzwischen laut Norris, durchaus wahrgenommen, wobei sie dazu ergänzt, dass es deutliche Unterschiede in der Wahrnehmung von Regierungsperformanz in verschiedenen europäischen Staaten gibt. Dies führt durchaus zu differenzierten Unterstützungswerten (Norris 2017: 1-5).
Auch die Politologin Marlene Mauk beschreibt in einer aktuellen Untersuchung von politischem Support im Vergleich zwischen demokratischen und autokratischen Staaten deutliche Unterschiede der politischen Unterstützung in verschiedenen untersuchten Ländern und präsentiert bei den meisten Demokratien je ein mittleres Level an politischem Support. Demnach sei in vielen Staaten ein Systemwandel zwischen Demokratie und Autokratie durchaus möglich und es zeigt sich eine deutliche Spannbreite innerhalb demokratischer Regime. Es gibt somit Staaten mit deutlicher Unterstützung demokratischer Verfasstheit, aber auf der anderen Seite auch diverse Länder, in denen die Demokratie nur von einem sehr geringen Teil der Bevölkerung befürwortet wird. Ein weiterer Befund dieser Studie ist das schlechtere Abschneiden der Demokratien im Vergleich zu den autokratischen Staatsformen. Hierbei geht die Autorin darauf ein, dass die von Norris beschriebenenCritical Citizens(vgl. Norris 1999), also die unzufriedenen Demokraten, scheinbar eher den Glauben an die Demokratie verlieren und sich von dieser Staatsform abwenden, als dies im autokratischen Spektrum der Fall ist. Es ist diesbezüglich nicht ersichtlich, ob sie dabei von einer Unzufriedenheit mit der aktuellen Regierung oder einer Abkehr von demokratischen Prinzipien als diffuse Form politischer Unterstützung spricht (Mauk 2020: 1-4, 93-97).
Abschließend geht die Forscherin noch auf die Differenzen der politischen Unterstützung in verschiedenen Weltregionen ein. Dabei zeigt sich, dass aktuell in nahezu allen Weltregionen die Autokratie stärker unterstützt wird als die Demokratie. Besonders zu erwähnen ist, dass die einzige der untersuchten Gegenden, in denen die Demokratie im Vergleich zur Autokratie stärker unterstützt wird, Subsahara-Afrika ist (Mauk 2020: 98, 165 ff.).
Diese positiven Unterstützungswerte der Demokratie in afrikanischen Staaten können auch Michael Bratton und Kollegen in diversen Untersuchungen des Afrobarometer bestätigen. So zeigt sich im Zeitverlauf eine durchgängig hohe politische Unterstützung von circa 70 Prozent im Mittel aller analysierten Staaten. Es wird deutlich, dass insgesamt trotz oder insbesondere wegen vieler afrikanischer Staaten mit diversen Schwierigkeiten bei demokratischen Konsolidierungsprozessen die demokratische Staatsform dort besonders bevorzugt wird. Das Verständnis und das Vorhandensein eines Demokratiekonzeptes scheint hierbei besonders in afrikanischen Staaten einen Einfluss auf die Unterstützung der Demokratie zu haben, da von den Wissenschaftlern gezeigt werden konnte, dass Personen ohne Demokratiekonzept eher autokratischen Regimeformen zugeneigt sind. Ein weiterer Befund verschiedener Studien ist, dass viele Afrikaner genau zu wissen scheinen, was sie nicht wollen (autokratische Staatsformen werden überwiegend abgelehnt), aber meist keine konkrete Vorstellung davon haben, was sie wollen. Demnach lässt sich der überragende Support demokratischer Normen und Werte auf dem Kontinent wohl auch dadurch begründen, dass viele Menschen den Begriff der Demokratie befürworten, ohne ein tiefergehendes Verständnis davon zu haben und dieser Staatsform möglicherweise auch aufgrund sozialer Erwünschtheit positiv gegenüberstehen. Auf die Bedeutung der Bildung für demokratische Forderungen wird in Kapitel 3.3.3 ausführlicher eingegangen. Insgesamt lässt sich aber auch feststellen, dass die Unterstützung der Autokratie im Zeitverlauf sukzessive abnimmt und zeitgleich die Forderungen nach Demokratie immer weiter ansteigen (Bratton/ Mattes/ Gyimah-Boadi 2005: 72-81; Bratton 2013: 275-279).
3.3.2 Die Demokratiezufriedenheit und Wahrnehmung der Regierungsperformanz
Neben den oben beschriebenen Aspekten zunehmender demokratischer Forderungen der Bevölkerung stellt auch die Wahrnehmung der Regimeperformanz im eigenen Land ein wichtiges Kernelement desDemocratic Deficitdar. Hierbei stellt sich die Frage, ob die Menschen ihre erwarteten demokratischen Grundwerte und Prinzipien auch von staatlicher Seite aus bekommen. Es wurde bereits erläutert, dass das Konzept politischer Unterstützung im Rahmen der Befassung mit demokratischen Defiziten eine zentrale Rolle einnimmt. Dies ist der Fall, da einerseits in einem zu untersuchenden Staat die Unterstützung der Demokratie als Staatsform analysiert werden kann (siehe Kapitel 3.3.1). Andererseits dient das Modell zur Untersuchung der Wahrnehmung der Leistungsfähigkeit einer Regierung und daraus resultierender Zufriedenheit oder Unzufriedenheit der Bevölkerung.
Das Gesamtkonzept politischer Unterstützung lässt sich, wie Michael Bratton und Kollegen im Jahr 2005 beschrieben, nochmals untergliedern. Demnach verstehen die Autoren in ihrem Werk zu politischen Einstellungen in Afrika politischen Support im engeren Sinne als Unterstützung abstrakter und normativer Prinzipien, welche keinen Bezug zu konkreten Leistungen eines bestimmten politischen Systems aufweisen. Hierzu können die politische Gemeinschaft und die demokratischen Prinzipien gezählt werden. Unter dem Begriff der Demokratiezufriedenheit verstehen die Forscher konkrete Bewertungen und Einschätzungen gegenüber den Leistungen eines bestimmten Staates, wie Regimeperformanz, politische Institutionen und politische Akteure zusammen (Bratton/ Mattes/ Gyimah-Boadi 2005: 81). Für die Kategorien meiner Analyse werde ich dieser Aufgliederung des politischen Supports folgen und zwischen allgemeinem Support und spezifischer Zufriedenheit mit der Demokratie in Tansania unterscheiden (siehe Kapitel 4).
Bezüglich der Messung des Untersuchungsobjektes der Regimeperformanz und der Auswahl geeigneter Indikatoren zur Darstellung von Demokratiezufriedenheit und allgemeinem politischen Support herrscht im wissenschaftlichen Diskurs Uneinigkeit und es existieren diverse Ansätze und Überlegungen (Norris 2011: 213). Zwei dieser Ansätze möchte ich nun kurz vorstellen.
Michael Bratton und Robert Mattes differenzieren zwischen wirtschaftlichen und politischen Aspekten bezüglich der Leistungsfähigkeit von Regimen. Die Bewertung ökonomischer Performanz kann hierbei unter anderem mit Hilfe von Messungen der Arbeitslosigkeit oder der Überprüfung der Bereitstellung öffentlicher Güter (z.B. Bildung) erreicht werden. Auf der anderen Seite lässt sich die politische Performanz durch das Vorhandensein von Aspekten wie Frieden, Bürgerrechten, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde überprüfen (Bratton/ Mattes 2001: 448 f.).
Norris untergliedert die Demokratiezufriedenheit, oder konkreter die Regimeperformanz, in drei verschiedene Bewertungsaspekte: Zunächst sind die politischen Prozesse zu erwähnen. Hierbei geht es beispielsweise um die Messung der Qualität von Wahlen oder auch die Transparenz von politischen Entscheidungen. Insgesamt lässt sich bei dieser Bewertungskategorie das Vorhandensein grundlegender Normen und Werte überprüfen. Menschen, welche die Regierung anhand solcher Aspekte bewerten, scheinen ein intrinsisches Demokratieverständnis verinnerlicht zu haben. (Norris 2011: 188-191).
Eine zweite Ebene der Bewertung von Regimeperformanz stellt der inhaltliche Bereich zur Bereitstellung öffentlicher Güter (Gesundheitsleistungen, Bildung, wirtschaftlicher Wohlstand) dar. Diese outputorientierten Aspekte von Leistungsfähigkeit werden eher dem instrumentellen Demokratieverständnis zugeordnet (Norris 2011: 188 f., 202).
Zudem nennt sie noch die politischen Institutionen als Aspekt zur Performanzbewertung. Hierbei geht es insbesondere um Faktoren zur Gewaltenteilung und somit eher um politische Prinzipien sowie eine Differenzierung bezüglich der Zufriedenheit von Bürgern, welche nach Wahlen der siegreichen Partei oder den Oppositionsparteien zuneigen (Norris 2011: 188 f., 209). Nach Betrachtung dieser Auswahl an Bewertungsindikatoren für Regimeperformanz scheint mir, dass die vorgestellten Aspekte von Norris sich sehr gut in die beschriebenen Bereiche nach Bratton und Kollegen integrieren lassen. Dabei können ihre Dimensionen der Prozesse und Institutionen durchaus dem politischen und der Bereich der inhaltlichen Aspekte dem wirtschaftlichen Spektrum von Regimeperformanz zugeordnet werden. Ich bin der Ansicht, eine Untergliederung in zwei Bewertungsdimensionen ist für meine Analyse am sinnvollsten, um keine zu kleinteilige Kategorienstruktur zu erhalten. Demnach habe ich mich zur genaueren Untersuchung der Regimeperformanz für die Ausführungen von Bratton und Kollegen entschieden (siehe Kapitel 4).
Empirisch lassen sich diverse Befunde zum Stand der Zufriedenheit mit demokratischen Leistungen im Zeitverlauf und in verschiedenen Weltregionen feststellen. So gibt es Staaten, in denen ein tiefes Vertrauen in die Leistungen der Machthaber besteht und die Demokratiezufriedenheit überwiegend hoch ist. Im Gegensatz dazu sind Bürger anderer Gesellschaften ihrer Regierung gegenüber grundsätzlich skeptischer eingestellt. Allgemein lässt sich auch ein Zusammenhang zwischen Transparenz und Informationsweitergabe an die Bevölkerung sowie Korruption im Land und der Zufriedenheit der Bürger feststellen, wobei die ersten beiden Aspekte, anders als die Korruption, positive Auswirkungen haben. Des Weiteren lässt sich festhalten, dass sowohl politische als auch wirtschaftliche Aspekte Einfluss auf die Zufriedenheit haben. Dabei scheinen politische Bereiche stärker auf die Einstellungen der Bürger zu wirken als die ökonomischen. Dies scheint, wie Bratton und Mattes bereits 2001 beschrieben, auch für den afrikanischen Kontinent zu gelten. Außerdem sind laut Norris subjektive Themen wie persönliche Lebenszufriedenheit, Glück oder Gesundheit relevante Faktoren für die Bewertung der Regierung. Überraschenderweise stellte sich heraus, dass anders als diverse Studien belegen (vgl. Pew Research Center 2017), Menschen aus Staaten mit geringem Wachstum zufriedener sind als solche aus entwickelten Gesellschaften (Bratton/ Mattes 2001: 452-474; Norris 2011: 188-215).
Bezüglich der Entwicklungen der Demokratiezufriedenheit lassen sich auch in anderen Studien interessante Befunde feststellen. Insgesamt zeigt sich im Vergleich zu anderen Regionen über die letzten Jahrzehnte hinweg eine überproportionale Zufriedenheit in afrikanischen Staaten. Im Gegensatz zu sehr unzufriedenen Bürgern in Lateinamerika und Osteuropa lassen sich beispielsweise Anfang dieses Jahrtausends von Afrobarometer mit 59% Zufriedenheit auf dem afrikanischen Kontinent ähnlich gute Werte erzielen wie in Westeuropa. Bratton und Kollegen gehen dabei davon aus, dass fehlende demokratische Erfahrungen, eine allgemein breite Akzeptanz von Führungspersönlichkeiten und ein ursprünglich sehr geringes Niveau an Zufriedenheit für diese Ergebnisse ursächlich sind (Bratton/ Mattes/ Gyimah-Boadi 2005: 81-85). Auch im Jahr 2008 konnten die Forscher des Afrobarometers positive Ergebnisse politischer Einstellungen in Afrika feststellen. Zwar fiel die Zufriedenheit mit der Ausgestaltung der aktuellen Demokratie mit 49% geringer aus als in den Jahren zuvor, allerdings glaubten 59% der Befragten an eine Existenz demokratischer Prinzipien in ihrem Staat, wobei diesbezüglich eine breite Diversität auf dem Kontinent zu erkennen war. Zwischen diesen Aspekten scheint laut den Wissenschaftlern ein deutlicher Zusammenhang zu bestehen, denn 81% jener Befragten, die ihren Staat als Demokratie wahrnahmen, gaben auch an, zufrieden mit der entsprechenden Leistungsfähigkeit im Land zu sein (Bratton 2013: 279-283).
Eine globalere Untersuchung zu politischer Unterstützung und Demokratiezufriedenheit stellt die Studie des Pew Research Center von 2017 dar, in der 38 Staaten aus verschiedenen Weltregionen untersucht wurden. Zunächst konnte dargestellt werden, dass zufriedenere Personen auch die Demokratie an sich eher unterstützen und es bezüglich der Demokratiezufriedenheit deutliche Differenzen in den verschiedenen Regionen der Erde gibt. Global betrachtet, liegt ein geteiltes Bild zwischen zufriedenen (46%) und unzufriedenen (52%) Personen vor. Dabei zeichnet sich ab, dass die zufriedeneren Befragten in Asien und Sub-Sahara Afrika leben, wohingegen die Menschen in Lateinamerika und Teilen Europas eher enttäuscht von ihrer Regierung sind. Diese Befunde stimmen mit den oben präsentierten Befunden früherer Studien weitgehend überein. Des Weiteren zeigt sich im Vergleich zu anderen Untersuchungen ein durchaus positiver Einfluss wirtschaftlicher Aspekte auf die Zufriedenheit der Menschen. Abschließend kann gezeigt werden, dass sich auch das Vertrauen in eine Regierung positiv auf die Demokratiezufriedenheit auswirkt. Betrachtet man dabei die Weltregionen, zeigt sich, dass im Mittleren Osten, Lateinamerika und Südeuropa das Vertrauen in die Regierung am niedrigsten, demgegenüber in asiatischen und afrikanischen Staaten am höchsten ist. Demnach ist auch nicht verwunderlich, dass in den neueren Studien ein Großteil der befragten Afrikaner mit 60% Zufriedenheit deutlich über dem globalen Wert (46%) liegt (Pew Research Center 2017: 11-19). Somit zeigen sich trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten und politisch instabiler politischer Systeme durchaus hohe Zufriedenheitswerte auf dem afrikanischen Kontinent. Eine Übersicht über die dortige Entwicklung der Demokratiezufriedenheit in den letzten Jahrzehnten zeigt Tabelle 8.
Trotz dieser Befunde erwarte ich in Tansania wenig Demokratiezufriedenheit oder unklare Ergebnisse bezüglich der Ausgestaltung der Demokratie (Erwartung 4).Studien konnten belegen, dass besonders politische Aspekte, wie qualitativ hochwertige Wahlen, Transparenz und Informationsweitergabe an die Bevölkerung Einfluss auf die Zufriedenheit mit der aktuellen Regierung haben (vgl. Bratton/ Mattes 2001; Norris 2011). Besonders im Zusammenhang mit den aktuellen Wahlen sind solche Prinzipien, wie in Kapitel 2.2 gezeigt wurde, massiv missachtet worden. Zudem spielen, wenn auch in geringerem Umfang, wirtschaftliche Leistungen eine Rolle bei der Bewertung der Demokratieausgestaltung. Da in Tansania viel Armut und Arbeitslosigkeit herrschen, kann auch bezüglich dieser Dimension von einer schlechten Ausgangssituation für die Bewertung der Demokratie gesprochen werden. Zwar kann argumentiert werden, dass auch andere afrikanische Staaten diese Probleme aufweisen, allerdings gehe ich in Tansania aufgrund der massiven Probleme von negativen Auswirkungen dieser Vorgänge auf die Demokratiezufriedenheit der Bürger oder von unklaren Ergebnissen aus.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 8: Darstellung der Demokratiezufriedenheit (Median) in Afrika im Zeitverlauf von 1999 bis 2016. Übersicht aus verschiedenen Studien, nach: Bratton/ Mattes/ Gyimah-Boadi 2005: 82; Bratton 2013: 280; Pew Research Center 2017: 13.
3.3.3 Die Rolle der Bildung und der Medien für das Democratic Deficit
Als letzten Ursachenkomplex desDemocratic Deficitbeschreibt Pippa Norris den Einfluss von Medien und Bildung auf die Entstehung von demokratischen Forderungen und die Wahrnehmung der Regimeperformanz. Diese Einflussfaktoren werde ich nun darstellen, um sie später für Tansania analysieren zu können.
Politisches Wissen und Demokratie – Theoretische Aspekte zur Bildung und den Medien
Konkret geht Norris davon aus, dass ein tiefergehendes Wissen über demokratische Normen und Werte starken Einfluss auf die öffentliche Meinung hat und Personen mit gefestigtem Wissen über demokratische Prinzipien und Prozesse diese Staatsform eher unterstützen und die komplexeren Vorgänge besser verstehen können (erleuchtendes demokratisches Wissen). Demnach kann sich ein, für eine konsolidierte Demokratie präferiertes, prozedurales Demokratieverständnis nur mit ausreichend politischer Bildung etablieren. Somit stellt die Bildung insgesamt eine zentrale Bedingung für demokratischen politischen Support dar und hat Einfluss auf ein möglichesDemocratic Deficit. Norris beschreibt dabei verschiedene Theorien zur Entstehung demokratischen Wissens (Norris 2011: 142 f.).
Zunächst sind die traditionellen Sozialisationstheorien zu nennen. Diese gehen von einem prägenden Einfluss von Sozialisationsprozessen in früher Kindheit auf die Etablierung demokratischer Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen aus. Demnach nehmen Familie, Schule sowie Peer-Groups beim Erlernen politischer Einstellungen einen großen Stellenwert ein und die bestehende politische Kultur sowie erlernte Bürgerrollen im politischen System wirken nachhaltig auf die Ausrichtung von Einstellungen. Bezüglich dieser Theorien kann man resümieren, dass das gesamte Umfeld die Einstellungen von Heranwachsenden gegenüber dem politischen System langfristig prägt und die erlernten Bewertungen auch nach Transitionsprozessen nur langfristig gewandelt werden können. Dem folgend kann man davon ausgehen, dass Menschen nach erfolgreichen Demokratisierungsprozessen eine gewisse Zeit benötigen, um die möglicherweise positiven Einstellungen gegenüber Autokratien zu verändern und demokratische Prinzipien zu verinnerlichen (Norris 2011: 14 f., 143 ff.)
Die skeptischen Theorien bezüglich politischen Wissens postulieren hauptsächlich vorhandene kognitive Grenzen und Fähigkeiten in der Bevölkerung. Demnach gebe es in der Gesellschaft häufig Probleme, die komplexen Prozesse und politischen Abläufe zu verstehen. Aus diesem Grund gehen Vertreter dieser Denkrichtung davon aus, dass es in politischen Systemen eine gutgebildete und politisch informierte Elite gibt, welche klare Vorstellungen von politischen Themen hat und die Geschicke des Staates lenkt. Auf der anderen Seite wird eine breite Öffentlichkeit beschrieben, die keine tiefergehenden Konzepte bezüglich der Demokratie hat und von wenig informierten und interessierten Bürgern gebildet wird. Hieraus lässt sich möglicherweise das Phänomen von Demokratieunterstützung ohne konkretes Wissen darüber ableiten (Norris 2011: 145 ff.).
Als weitere Theorie nennt Norris im Zusammenhang mit politischer Bildung den Relativismus. Dieser geht von einem starken kulturellen Einfluss auf das Verständnis von Demokratie aus und beschreibt die Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext, indem die Menschen leben. Demzufolge existieren in unterschiedlichen Regionen der Welt auch differenzierte Konzepte bezüglich der Demokratie. Dies lässt sich mit den Ausführungen in Kapitel 3.3.1 bezüglich der verschiedenen Demokratiekonzepte in Einklang bringen und stützt die dortigen Überlegungen. Bei Bestätigung dieser theoretischen Ansätze ergibt sich, dass eine Existenz eines allumfassenden Demokratiekonzeptes unmöglich ist. Vielmehr wird innerhalb dieser Denkrichtung von einigen allgemeingültigen Kernkriterien der Demokratie ausgegangen, welche entsprechend der jeweiligen kulturellen Umstände in verschiedenen Regionen mit weiteren, als demokratisch bewerteten, Kriterien ergänzt werden (Norris 2011: 147-150). Ich werde versuchen, auf diese Überlegungen bezüglich der Rolle der Bildung auf die Entstehung demokratischer Werte und Prinzipien sowie den Einfluss auf ein möglichesDemocratic Deficitin der späteren Analyse einzugehen und entsprechende Ergebnisse diskutieren.
Die Rolle der Medien beschreibt Norris vor allem in Bezug auf die Demokratiezufriedenheit und geht dabei davon aus, dass Nachrichten je nach Art der Berichterstattung Einfluss auf die Zufriedenheit und das Vertrauen in politische Akteure und Regierungen nehmen. Die Medien sind demnach zentral für die Etablierung des erleuchteten demokratischen Wissens und wichtig für die Demokratie. Dabei erläutert die Autorin zwei Konzepte politischer Kommunikation, welche bedeutsam sind (Norris 2011: 14 f., 143).
Zum einen wird dieVideomalaisetheorieangeführt. Hierbei geht es darum, dass Menschen aufgrund überwiegend schlechter Berichterstattung durch die TV-Nachrichten von der Politik entfremdet werden und die ohnehin schon wenig interessierten, kaum informierten Bürger aufgrund dieser Berichterstattung eine Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik entwickeln. Belege für die Theorie konnte Norris in ihren Untersuchungen allerdings nicht finden (Norris 2011: 170-173).
Anders sehen die Befunde bei dem Konzeptnegativer Nachrichtenaus. Hierbei handelt es sich konkret um skeptischen, zynischen Journalismus, welcher insbesondere Skandale, Korruption und Negativleistungen von Führungspersönlichkeiten und Regierungen vermittelt. Hierfür kann Norris durchaus empirische Belege liefern. Sie erläutert diesbezüglich zwar auch die Wichtigkeit der Medien im Allgemeinen als vierte Gewalt im Staat und den positiven Einfluss auf den politischen Support durch die Kontrolle der Regierung sowie die Schaffung von Transparenz politischer Entscheidungen, beschreibt allerdings auch die negativen Aspekte einer dauerhaft schlechten Berichterstattung über Regierungsleistungen. So kann beispielsweise aufgezeigt werden, wie Korruption und häufige Berichte darüber zu Unzufriedenheit und Vertrauensverlust in der Bevölkerung führen. Demnach lässt sich die Rolle der Medien als sehr bedeutsam beschreiben, wenn einerseits aufgrund der Erzeugung von Transparenz und Kontrolle - allgemeiner politischer Support - als Element demokratischer Forderungen gesteigert wird, auf der anderen Seite aber durch Negativberichte die Zufriedenheit der Bürger sinkt. Dies kann zur Entstehung einesDemocratic Deficitbeitragen (Norris 2011: 173-179).
Dabei sei angemerkt, dass man auch argumentieren könnte, dass immer auch die jeweilige Regierung Einfluss auf die Berichterstattung nimmt. Dies liegt daran, dass in demokratischen Regierungen ohne Skandale und Korruption die Medien weniger negative Nachrichten senden können und somit die Unzufriedenheit der Bevölkerung auch von der Regierung selbst vermindert werden kann, indem sie sich an entsprechende Regeln und Prinzipien hält. Zudem beschreibt Norris die Bedeutung freier Medien für politisches Wissen und somit für die Etablierung demokratischer Prinzipien. Insgesamt steigert die Nutzung von Medien, politisches Wissen und die Vermittlung von Informationen die Bereitschaft der Bürger, sich zu engagieren (Norris 2011: 145).
Für den tansanischen Fall besteht dabei ein Problem meiner Analyse in der fehlenden Freiheit der Medien. Eine aussagekräftige Untersuchung dieses Einflussfaktors stellt sich aufgrund der vielfach berichteten Überwachung der Medien durch die Regierung als schwer umsetzbar dar (siehe Kapitel 2.2).Ich erwarte deshalb für Tansania keine oder nur wenige Informationen über negative Berichterstattung über die Regierung, aber einen gewissen Stellenwert von Bildung und Informationen im Allgemeinen (Erwartung 5).Dennoch werde ich versuchen - soweit möglich - Informationen und Befunde zur Rolle der Medien in Tansania zu liefern. Meine dazu verwendete Kategorie wird in Kapitel 4 näher beschrieben.
Empirische Befunde zur Bedeutung von Bildung und Medien für das Democratic Deficit
Betrachtet man die Verteilung von erleuchtendem politischen Wissen, also der Verinnerlichung von demokratischen politischen Werten und Verhaltensweisen, so zeigt sich, dass besonders in älteren Demokratien mit langer demokratischer Erfahrung sowie Gesellschaften mit freiem Zugang zu alternativen Medien das Verständnis demokratischer Konzepte und kognitive Fähigkeiten im Umgang mit politischen Prozessen am weitesten verbreitet sind. Auf individueller Ebene können ein positiver Einfluss von Mediennutzung und ein hoher Bildungsstand als wichtig für ein Verstehen von Demokratie benannt werden. Zudem zeichnet sich ein fundiertes politisches Wissen durch ein prozedurales Demokratieverständnis und eine Ablehnung der Vereinbarkeit von autokratischen und demokratischen Prinzipien aus (Norris 2011: 145, 154).
Auch Doh Chull Shin spricht in einer Untersuchung aus dem Jahr 2012 von der zentralen Bedeutung von Bildung und einem Vorhandensein einer demokratischen politischen Kultur für Demokratisierungsprozesse sowie die Stabilität von Demokratien. Er sieht es als essenziell für eine sich entwickelnde Demokratie an, dass ihre Bürger verstehen, was Demokratie bedeutet. In diesem Zusammenhang zeigt sich der Einfluss von Bildung und politischem Wissen auf dasDemocratic Deficit, da Menschen mit vielen Kenntnissen bezüglich demokratischer Strukturen wohl größere Forderungen nach Demokratie haben als jene, welche sich unter diesem Begriff nichts vorstellen können. Insgesamt resümiert Shin, dass die Mehrheit aller Menschen kognitiv in der Lage sei, ein Demokratiekonzept zu benennen. Er gibt dabei allerdings zu bedenken, dass diese Konzepte meist, wenig tiefgründig seien (Shin 2012: 221-226).
Die Überlegungen zur Wichtigkeit politischer Bildung können auch neuere Studien belegen: So argumentieren die Forscher des Pew Research Center, dass politisch gering gebildete Menschen eher autokratische Systeme unterstützen. Pempelani Mufune stimmt diesen Aspekten zu, gibt allerdings zu bedenken, dass es durchaus unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze zum Zusammenhang zwischen Bildung und Demokratie gibt und teilweise auch umstritten ist, ob er überhaupt existent ist (Pew Research Center 2017: 9; vgl. Mufune 2017: 25).
Die Wissenschaftler des Afrobarometer befassten sich mit den Verknüpfungen zwischen Bildung und Demokratie bereits 2007 mit Blick auf den afrikanischen Kontinent. Dabei stellten sie die sogenannteLernhypotheseauf und vermuten, dass die Einstellungen gegenüber der Demokratie davon abhängen, was die Menschen über die Demokratie gelernt haben und was sie darunter verstehen. Demnach spielt Bildung auch in Afrika eine zentrale Rolle für das Demokratieverständnis der Menschen und die Unterstützung dieser Staatsform. So wirkt sich die Vermittlung politischen Wissens über die Leistungen der Regierung oder demokratische Prinzipien positiv auf den politischen Support aus.
Zudem wird auch die Bedeutung der Medien dargestellt und es wird ein positiver Einfluss des Nachrichtenkonsums auf die Einstellungen gegenüber der Demokratie aufgezeigt. Dabei geht es besonders darum, dass durch Berichte über demokratische Prozesse, wie Wahlen oder Parlamentsdebatten ein gewisses Bewusstsein der Bürger gegenüber der Demokratie entsteht, was ohne eine Informationsweitergabe nicht möglich wäre. Dies stimmt insgesamt mit den theoretischen Überlegungen bezüglich der Rolle von Medien und Bildung überein, auch wenn in dieser Publikation auf das Konzept von negativen Nachrichten nicht eingegangen wird. Es wird diesbezüglich davon ausgegangen, dass täglicher Nachrichtenkonsum sowie ausreichendes politisches Wissen verbunden mit einer Zunahme kognitiver Fähigkeiten sowohl positiv für die Einstellungen gegenüber der Demokratie als auch für die Vertiefung des Demokratieverständnisses ist (Mattes/ Bratton 2007: 192-204).
4 Forschungsmethoden und Begründung der Fallauswahl
Das folgende Kapitel soll Auskunft über das methodische Vorgehen dieser Forschungsarbeit liefern. Bevor ich die qualitative Ausrichtung meiner Untersuchung begründe und auf die Methoden der Datenerhebung und -auswertung eingehe, soll die Fallauswahl Tansanias sowie der gewählte Untersuchungszeitraum dargestellt und begründet werden.
Tansania spielt in Ostafrika politisch und wirtschaftlich eine wichtige Rolle. Wie bereits einleitend gezeigt, galt dieser Staat lange Zeit alsStabilitätsanker(vgl. Lämmel 2019) und internationale Studien konnten positive Demokratisierungs- und Entwicklungsprozesse verzeichnen. Demnach wurde dem Land lange eine zunehmende Hinwendung zu demokratischen Strukturen attestiert und durchgängig freie und faire Wahlen waren festzustellen. Neuere Studien zeigen allerdings massive Probleme seit Magufulis Machtübernahme 2015. So sind beispielsweise verstärkt autokratische Tendenzen und Wahlmanipulationen zu erkennen (siehe Kapitel 2.2).
Da Tansania für die Stabilität der Region von großer Bedeutung ist und die positive Entwicklung der Demokratie aktuell massiv gefährdet zu sein scheint, habe ich mich für die Analyse des Landes im Zeitraum von 2015 bis heute entschieden. Ich möchte mit dieser Analyse einen Beitrag leisten und Informationen über den Stand der Demokratie und der Demokratisierung des Landes liefern. Zudem spielen auch persönliche Gründe eine Rolle für die Fallauswahl, da ich seit einem mehrmonatigen Aufenthalt in Tansania ein besonderes Interesse an den demokratischen Werten und Einstellungen der tansanischen Bevölkerung und dem dortigen Stand der Demokratie habe.
Die verwendeten Daten wurden zum einen mit Hilfe problemzentrierter Interviews (PZI) und zum anderen durch die Untersuchung tansanischer Schulbücher des FachesCivic and Moral Educationerhoben. Ich werde in diesem Kapitel mein diesbezügliches Vorgehen erläutern und die inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz (vgl. 2018) vorstellen. Beide Methoden zählen in den Bereich qualitativer Sozialforschung und zielen somit auf das Erkennen und Feststellen typischer Strukturen und Gegebenheiten eines bestimmten Themenfeldes sowie die Darstellung subjektiv wahrgenommener Lebenswirklichkeiten der Untersuchungssubjekte ab. Es geht dabei nicht um die Erkenntnis einer objektiven Realität oder repräsentative Statistiken (Kurz et. al. 2007: 468; Lamnek 2005: 22, zitiert aus: Wiesweg 2014: 46). Andreas Witzel beschreibt zudem, dass in den Sozialwissenschaften teilweise eine Beforschung von kontextabhängigen und komplexen Untersuchungsgegenständen stattfindet. Solche Forschungsobjekte, wie beispielsweise demokratische Normen und Werte, können laut Vertretern der qualitativen Forschungsrichtung mit standardisierten, quantitativen Messverfahren nur unzureichend erforscht werden (Witzel 1985: 227, 239). Die von mir verwendeten qualitativen Methoden sind demnach eher für eine Untersuchung von Demokratievorstellungen und Einstellungen gegenüber dieser Staatsform geeignet, da sie die Auseinandersetzung mit subjektiven Wahrnehmungen Befragter ermöglichen. Dies scheint mir sinnvoll, da ich von Beginn an von der Existenz differenzierter Demokratievorstellungen und somit einer Kontextabhängigkeit ausgehe.
[...]
1Demokratisierung: Prozess des Überganges von autokratischen in demokratische Staatsformen. Minimale institutionelle Bestandteile müssen vorhanden sein (z.B. freie und faire Wahlen). (De-)Demokratisierung bezeichnet den umgekehrten Prozess. Beide Phänomene unterscheiden sich von Liberalisierungs- und Konsolidierungsprozessen, nach: Huntington 1991: 5-13; Collier 2001: 213-217, eigene Beschreibung.
2Entwicklungsland: Für diesen Begriff gibt es keine einheitliche Definition. Länder dieser Kategorie zeichnen sich allerdings durch Merkmale wie einem Mangel an Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung und Bildung aus. Zudem lassen sich meist ein sehr geringes Pro-Kopf-Einkommen sowie hohe Arbeitslosigkeit und ein geringer Lebensstandard feststellen, nach: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2020a: 1, eigene Beschreibung.
3Human-Development-Index:Der Human-Development-Index (HDI)ist eine Messzahl für den Entwicklungsstand eines Landes und setzt sich aus drei Komponenten zusammen: Lebenserwartung, Ausbildung und Kaufkraft.“ (Ribbeck 2008: 1)
4Teile dieses Abschnittes wurden ebenfalls in einem von mir verfassten Zeitschriftenbeitrag für die ZeitschriftHabari(04/2020) des Tanzania-Network.de e.V. verwendet, siehe Anhang, Anhang 2.
5Reliabilität: „[…] ein Test [misst] zuverlässig […] - ganz egal was auch immer er misst.“Validität: „Ein Test ist dann valide, wenn er genau das misst, was er messen soll […].“ (Schumann 2012: 29 f.).
6Politische Kultur: „Politische Kultur (pK) bezeichnet allgemein das Verteilungsmuster aller Orientierungen einer Bevölkerung gegenüber dem politischen System als der Summe aller Institutionen. Zur politischen Orientierung zählen Meinungen, Einstellungen und Werte.“ (Greiffenhagen/ Greiffenhagen/ Löser 2020: 1-5).
7Global Governance: „Global Governance ist keine Weltregierung, sondern ein internationaler Rahmen von Prinzipien, Regeln und Gesetzen inklusive einer Reihe von Institutionen […], die notwendig sind, um globale Probleme zu bewältigen.“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2012: 1).
8Norris unterscheidet zwischen etablierten liberalen Demokratien, neueren liberalen Demokratien, elektoralen Demokratien und elektoralen Autokratien, nach: Norris 2011: 110 f.
9Anmerkungen zur Berechnung desDemocratic Deficitvon Pippa Norris, nach Norris 2011: 111.
10Zu den genannten acht Dimensionen sind hier noch die Aspektesupport for democracyundrepresentationzu finden. Die Demokratieunterstützung nimmt in meinen Analysen einen hohen Stellenwert ein und wird deshalb separat betrachtet. Die Repräsentation ist bei meinem Konzept in dem Partizipationskriterium integriert, da Bürger über die Wahl von Repräsentanten ihre Partizipationsrechte wahrnehmen können (European Social Survey 2013: 6).
11Osteuropa, Asien, Lateinamerika, Afrika und westlichen Demokratien (Australien, Japan, Spanien, USA).
12Afrobarometer: Afrobarometer ist ein unparteiisches Meinungsforschungsinstitut, welches Umfragen zu öffentlicher Meinung, Demokratie, Regierungstätigkeit sowie wirtschaftlichen und sozialen Themen in über 30 afrikanischen Staaten durchführt, nach: Afrobarometer 2020: 1.
- Arbeit zitieren
- Benjamin Leonhardt (Autor:in), 2021, Demokratische Werte und Einstellungen in Tansania. Wie zufrieden sind die Menschen in Tansania mit der Ausgestaltung der Demokratie im eigenen Land?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1361273
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