Was China einst war und sich nunmehr anschickt wieder zu werden, da spannt sich der Bogen von den Weltkulturerbtümern Große Mauer oder Grabwächterarmee des Kaisers Qin Shi Huangdi bis zu den gigantischen Skylines von Peking, Shanghai und anderen Metropolen oder etwa dem Bau von 60 Flughäfen innerhalb nur einer Dekade. Das alles entspringt dem Ehrgeiz, dem Fleiß und der Disziplin einer überwältigenden Menschenschar und einem Klima gesellschaftlichen Vertrauens auf sehr hohem Niveau.
Um ein solches Vertrauen zu festigen, sah sich die chinesische Regierung veranlasst, ein sogenanntes Social Credit System (SCS) zu installieren. Das befindet sich seit 2014 in der Probephase, 2020 soll diese abgeschlossen sein. Ziel der Initiative ist es, eine zentrale Datenbank zu schaffen, die Aufschluss gibt über das Verhalten von Unternehmen, Behörden und vor allem von Privatpersonen. Nach Fertigstellung bewertet es Menschen anhand einer riesigen Datenmenge und erstellt auf dieser Grundlage ein Punktekonto für Bürgerinnen und Bürger. Dieses Punktekonto erfasst nicht folgenlos das Verhalten, es bewertet positiv bei Wohlverhalten im Sinne der politischen Führung, negativ hingegen wirken sich auf den Punktestand die unterschiedlichsten Verfehlungen aus. Daraus ergeben sich nach dem Prinzip Belohnen und Bestrafen die Folgen für die von der Überwachung Betroffenen. Die asymmetrische, d.h. nur einseitig mögliche Beobachtung, hat sich die Formierung einer Art Disziplinargesellschaft zum Ziel gesetzt. Alles und alle werden sichtbar gemacht, ganz gleich, ob die Ziele von der Existenz der intensiven Beobachtung und seiner sorgfältigen Dokumentierung Kenntnis haben oder in Unkenntnis darüber sind.
Inhaltsverzeichnis
I Abbildungsverzeichnis
II Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
2. Das chinesische Paradigma: Kompensieren, Überholen, Weltmacht?
3. Vorläufer und Anfänge der digitalen Überwachung in China
4. Das chinesische Social Credit System
4.1 Das Wesen des Überwachungssystems
4.1.1 Darstellung und Funktionsweise
4.1.2 Big Data, Big Brother, Big Problem?
4.1.3 Algorithmen und Künstliche Intelligenz
4.1.4 Das Prinzip der Gamification
4.2 Initiatoren des Systems
4.3 Chinas Überwachungssystem im Wettbewerb der globalisierten Wirtschaft
5. Gründe für die Akzeptanz des Social Credit Systems in der Bevölkerung
5.1 Kulturhistorisch
5.2 Gesellschaftlich
5.3 Psychologisch
5.4 Wirtschaftlich
6. Vox Populi - Was ist Ihre Meinung?
6.1 Interview mit Jin Fangxiao
6.2 Umfrage zum Meinungsbild in Deutschland
7. Fazit: Digitale Überwachung bei der Erziehung zur Konformität oder doch der Weg in die IT-Diktatur?
III Literaturverzeichnis
IV Internetquellenverzeichnis
V Bildquellenverzeichnis
VI Anhang
I Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Schritte zur Umsetzung des nationalen Social Credit Systems
Abbildung 2: Sinnbildliche Darstellung des Social Credit Systems als Pagode
Abbildung 3: Bewertungsskala des Sesame Credit von Alibaba
Abbildung 4: Aufbau des staatlichen Social Credit Systems 2020
Abbildung 5: Überwachung und Personenidentifikation durch KI-gestützte Kameraaufzeichnung
Abbildung 6: Baidu, Alibaba und Tencent - Chinas einflussreichste Tech-Unter- nehmen
Abbildung 7: Umfrage - Aussage 1
Abbildung 8: Umfrage - Aussage 2
Abbildung 9: Umfrage - Aussage 3
Abbildung 10: Umfrage - Aussage 4
Abbildung 11: Umfrage - Aussage 5
Abbildung 12: Umfrage - Aussage 6
Abbildung 13: Umfrage - Aussage 7
Abbildung 14: Umfrage - Aussage 8
Abbildung 15: Umfrage - Aussage 9
Abbildung 16: Umfrage - Aussage 10
II Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Bewertungsskala des Social Credit Systems in Rongcheng Eigene Darstellung in Anlehnung an Dorloff, Axel: Pläne in Peking - Überwachung total made in China, 01.03.2019 URL: https://www.tagesschau.de/ausland/china-ueberwachung-101.html Letzter Aufruf: 03.08.2019 um 08:58 Uhr
1. Einleitung
China befindet sich im rasanten Aufstieg. Mit Elan erhebt es sich nach fast zwei Jahrhunderten verordneter Stagnation und zu erduldenden Tiefschlägen. Bewahrheitet sich etwa, was Napoleon Bonaparte den Überlieferungen zufolge am Ende seines Lebens über China mutmaßte, als er gesagt haben soll, es brächte die Welt zum Zittern, wenn China erwache? Als eine Bestätigung dessen mutet die Äußerung des chinesischen Staatschefs Xi Jinping an, wonach China sich vornehmen will, „Schritt für Schritt seine Stellung als globale Supermacht“1 zu erarbeiten.
Die ambitionierte, aufstrebende Nation China hat sich viel vorgenommen. Die westliche Welt dagegen steht vor der großen strategischen Herausforderung, ihre bisherige ökonomische Überlegenheit zu sichern.
Was China einst war und sich nunmehr anschickt wieder zu werden, da spannt sich der Bogen von den Weltkulturerbtümern Große Mauer oder Grabwächterarmee des Kaisers Qin Shi Huangdi bis zu den gigantischen Skylines von Peking, Shanghai und anderen Metropolen oder etwa dem Bau von 60 Flughäfen innerhalb nur einer Dekade. Das alles entspringt dem Ehrgeiz, dem Fleiß und der Disziplin einer überwältigenden Menschenschar und einem Klima gesellschaftlichen Vertrauens auf sehr hohem Niveau.
Um ein solches Vertrauen zu festigen, sah sich die chinesische Regierung veranlasst, ein sog. Social Credit System (SCS) zu installieren. Das befindet sich seit 2014 in der Probephase, 2020 soll diese abgeschlossen sein. Ziel der Initiative ist es, eine zentrale Datenbank zu schaffen, die Aufschluss gibt über das Verhalten von Unternehmen, Behörden und vor allem von Privatpersonen. Nach Fertigstellung bewertet es Menschen anhand einer riesigen Datenmenge und erstellt auf dieser Grundlage ein Punktekonto für Bürgerinnen und Bürger. Dieses Punktekonto erfasst nicht folgenlos das Verhalten, es bewertet positiv bei Wohlverhalten im Sinne der politischen Führung, negativ hingegen wirken sich auf den Punktestand die unterschiedlichsten Verfehlungen aus. Daraus ergeben sich nach dem Prinzip Belohnen und Bestrafen die Folgen für die von der Überwachung Betroffenen. Die asymmetrische, d.h. nur einseitig mögliche Beobachtung, hat sich die Formierung einer Art Disziplinargesellschaft zum Ziel gesetzt. Alles und alle werden sichtbar gemacht, ganz gleich, ob die Ziele von der Exis- tenz der intensiven Beobachtung und seiner sorgfältigen Dokumentierung Kenntnis haben oder in Unkenntnis darüber sind.
Der britische Schriftsteller George Orwell (1903-1950) vermittelt seinen Leserinnen und Lesern im bereits 1947 verfassten Roman „1984“ die düstere Vision des Big Brother als Objekt der omnipräsenten Überwachung. Mithilfe von Big Data ist diese Zukunft mit etwas Verspätung angekommen - das System der massiven Kontrolle und Überwachung des Privaten ist einsatzbereit, China will damit Vertrauen schaffende Maßnahmen umsetzen. Andere werden, soweit nicht schon geschehen, es nachahmen, sollten bei Anwendung dieser Methode verlockende wirtschaftliche Erfolge zu erzielen sein.
Insoweit wird im Folgenden die Befassung mit den historischen, politischen und wirtschaftlichen ebenso wie mit den gesellschaftlichen, aber auch den psychologischen Aspekten dieses Überwachungsmodells von Bedeutung sein. Es wird zu untersuchen sein, was die umfassende Überwachung mithilfe hochentwickelter Digitaltechnologie mit den Menschen macht, schon jetzt und anhand der im Netz hinterlassenen Spuren auch in der Zukunft. Kein Detail möge diesem komplexen Überwachungssystem entgehen - so könnte der Anspruch der Initiatoren lauten.
Also: Social Credit System auf dem Prüfstand der Menschlichkeit. Der Pionier dieses Systems ist China, gleichwohl wird darauf zu achten sein, dass bei der eingehenden Analyse der hier thematisierten Problematik ein China-Bashing zu vermeiden ist.
2. Das chinesische Paradigma: Kompensieren, Überholen, Weltmacht?
China hat eine sehr weit zurückreichende Geschichte, die ihren Anfang bereits mit der Xia-Dynastie vom 21. bis zum 16. Jahrhundert v. Chr. findet. Ihr folgten beim Gang durch die Geschichte zahlreiche weitere Dynastien, deren letzte die Qing-Dynastie war2, die 1912 mit der Ausrufung der Republik endete.3
Während der Feudalherrschaft zu Zeiten der Dynastien wird der Wechsel von der einen zur nachfolgenden wohl kaum soziale Veränderungen verursacht haben. Bescheidener Wohlstand und vor allem eine kulturelle Glanzzeit prägten das Leben der Menschen in China zu einer Zeit (7. bis 10. Jahrhundert), als in Europa immer wieder Kriege ausgefochten wurden, die den Kontinent in Unruhe versetz- ten.[2]
Chinas Niedergang begann noch unter der Qing-Dynastie. Die Bevölkerung wuchs rapide, die starre Bürokratie des Kaisers bevorzugte die landwirtschaftliche Produktion als elementar, der Handel war von eher nachrangiger Bedeutung, die Übernahme der effizienteren neuen Industrietechnologie aus der westlichen Welt wurde als für die chinesische Kultur schädlich abgelehnt. Große Teile der Bevölkerung verfielen in Lethargie, bestärkt durch die Einnahme von Opium, was schließlich zum ersten Opiumkrieg von 1838 bis 1840 führte. Dieser Krieg, den China wegen der britischen Opiumlager gegen England führte, sollte auf längere Zeit verheerende Folgen für das Reich der Mitte haben. Wirtschaftlicher Stillstand, Entschädigungszahlungen und Gebietsverluste führten zu inneren Unruhen und prägten das Land bis weit in das darauffolgende Jahrhundert hinein.4 Erst mit der Gründung der Volksrepublik im Jahre 1949 schien Besserung in Sicht, lag doch in den ersten zwei Jahrzehnten der sozialistischen Republik die Wachstumsrate bei jährlich rund 10%, obgleich sich ein ideologischer Richtungsstreit eher hemmend auf die Wirtschaftsleistung auswirkte.5 China blieb weiterhin Entwicklungsland - das Entwicklungsland mit der größten Bevölkerungszahl der Welt.6
Doch dann, beginnend mit dem Ende der 1970er Jahre, kam der Aufbruch und mit ihm ein gesellschaftlicher Umbruch mit großer Geschwindigkeit. Verantwortlich dafür sind Faktoren wie die Öffnung des Marktes für den Welthandel (externer Wandel) und immense Investitionen des Staates und der Wirtschaft, um auf diesem Wege das Sozialprodukt zu erhöhen (interner Wandel).7 Denn das introvertierte China war ökonomisch im Rückstand und vom Weltmarkt isoliert. Anspruch und Herausforderung zugleich war es von nun an, diesen Rückstand aufzuholen. Dass dieses ehrgeizige Vorhaben dann tatsächlich zu Erfolgen führte, belegen einschlägige Wirtschaftsdaten8:
- Das chinesische Bruttoinlandsprodukt weist in der Zeit von 1980 bis 2017 eine 64-fache Erhöhung auf.
- Das Pro-Kopf-Einkommen in China stieg im gleichen Zeitraum um das 44fache.
- Chinas Export wuchs von 1972 bis 2017 um das 713-fache. China ist derzeit Exportweltmeister.
- Chinas Wirtschaftswachstum allerdings schwächt sich nach zuvor horrenden Steigerungsquoten vor allem in den 1980er Jahren seit Beginn dieses Jahrzehnts geringfügig ab, was ein Hinweis auf ein Abkühlen der Wirtschaftsleistung bedeuten könnte. Immerhin: Die zuletzt von World Development Indicators ermittelte Wachstumsquote, nach der China seine Wirtschaftsleistung in 2017 um 6,9 % erhöhen konnte, überragt um mehr als das Doppelte die Rate seit langem etablierter Industrieländer wie die USA9 oder Deutschland10.
Nachdem sich das Aufholen aus einem unüberwindbar erscheinenden Rückstand heraus als gelungen erweist, begnügt sich das aufstrebende China nicht einfach damit, die bislang den Weltmarkt dominierenden Länder eingeholt zu haben. Die Motivation, diese zu überholen oder gar zur globalen Supermacht zu werden, weckt den Ehrgeiz und dürfte noch mehr Kräfte freisetzen. Beispiele dafür sind: Kein Land der Welt produziert mehr Autos, kein anderer stellt mehr Fernseher, Computer, Mobiltelefone, Kühlschränke, Schuhe, Brillen, energiesparende LED- Lampen, Klimaanlagen, Textilien, Pharmaprodukte und anderes mehr her.11 China soll „der größte Produzent von 220 verschiedenen Industrieerzeugnissen“12 sein. Auch Stahl wird weltweit am meisten in China gekocht. In anderen Teilen der Welt betreiben chinesische Unternehmen die Stahlproduktion oder sind doch wenigstens maßgeblich daran beteiligt.[11] Immense Fortschritte bei und Investitionen in die Digitalisierung der Wirtschaft machen unverkennbar deutlich, dass die chinesische Wirtschaftsleistung noch an Fahrt zunehmen wird, schnell und entschlossen genug, andere bislang auf dem Weltmarkt führende Länder zu überholen. Die Anhäufung von IT-Daten gilt als Rohstoff der Zukunft. Auch das ist den Chinesen nicht entgangen. Um die entsprechende Technologie bemühen sich gut ausgebildete und begabte Spezialisten. Sie gibt es reichlich in einem Land, in dem das Analphabetentum 1949 noch bei 80 % lag.13
Zahlreiche Fortschrittspläne offenbaren sich in einer Vielzahl von Strategiepapieren, deren eindrucksvollstes wohl das Projekt Made in China 2025 ist.14 Seine Erwähnung ist zum Standard in beinahe allen „Reden chinesischer Politiker“15 geworden. Demnach soll „spätestens [bis] zum 100. Gründungstag der Volksrepublik im Jahr 2049“[15] China endgültig das Ziel, erste Industriemacht der Welt zu sein, erreicht haben. Hinter der Abkürzung 3i, die einer Formel für die hochgesteckten und von Ehrgeiz angetriebenen Ziele gleichkommt, steht das Erfolgskonzept „ I ntegration von I ndustrialisierung und I nformatisierung“.[15] Dieses Konzept stellt eine Art Fahrplan zur Weiterentwicklung der ohnehin in China bereits sehr fortgeschrittenen Digitalisierung dar. Seine Umsetzung findet sich als Leitlinie in fast allen wirtschaftspolitischen Entscheidungen der chinesischen Zentralregierung wieder. Dabei werden die unterschiedlichsten Branchen zusammengebracht mit dem Ziel, die Wirtschaftskraft intern zur Hebung des Wohlstandes zu forcieren und nach außen hin zur Weltspitze aufzuschließen.[14] Der Schlüssel dazu ist eine erfolgreiche Digitalisierung der Industrie - „Unternehmen, Gewerkschaften und Wissenschaft“16 haben die Herausforderung angenommen. Banken und Regierung stellen dafür immense Gelder zur Verfügung.17
Der Wohlstand eines Volkes drückt sich jedoch nicht nur in wirtschaftlichen Kennzahlen, sondern auch in anderen Parametern aus. „In China fehlt es an Vertrauen. Jeder müsse überall Sorge haben, über den Tisch gezogen zu werden.“18 Ungewissheit, Risiko und Angst sind also ständiger Begleiter der chinesischen Konsumenten. Eine Nation, die derart beharrlich im globalen Wettbewerb bestehen will und ein ernstzunehmender Konkurrent für die westlichen Industriemächte zu sein scheint, kann solch gravierende gesellschaftliche Defizite nicht zulassen. „Die chinesische Regierung will [...] ihr Versprechen einlösen, das Leben für alle Menschen im Milliardenreich zu verbessern.“19 Wirtschaftlich prosperiert China unbestritten. Davon profitiert nicht zuletzt eine stetig wachsende chinesische Mittelschicht, die mittlerweile zahlenmäßig die amerikanische bezüglich ökonomischer Bedeutung und Größe abgelöst hat.20
Diese wirtschaftliche Prosperität war für die chinesische Regierung Anlass genug, ein geordnetes Fundament für soziale Interaktion zu schaffen mit der Betonung auf zwischenmenschliche Werte, Rechtschaffenheit und das Bewusstsein für ein gesundes gesellschaftliches Klima. Der Anspruch auf die Erhaltung des Wohlstandes korreliert mit der Durchsetzung einer solchen politischen Initiative unter Einbeziehung eines umfassenden Überwachungssystems, das seine Wurzeln im prädigitalen Zeitalter hat.
3.Vorläufer und Anfänge der digitalen Überwachung in China
Das System der Sozialkontrolle, das im modernen China die umfassende Überwachung des Sozialverhaltens seiner Bürger vorsieht, fußt auf einer gewissen Tradition, die sich die Überwachung breiter Teile der Bevölkerung noch ohne den Einsatz digitaler Technologie zur Aufgabe machte. Lange vor Internet oder technisch ausgereiftem Monitoring zur „Gesichtserkennung im öffentlichen Raum“21 soll es in China, dessen Staatsgebiet zu jener Zeit nicht vergleichbar ist mit dem heutigen, im Geiste der von Konfuzius gelehrten Moral eine ausgeprägte zentralistisch gelenkte Bürokratie gegeben haben, die geeignet war, die auf Tugendhaftigkeit fokussierte Lehre des großen Philosophen mithilfe von die Gesellschaft durchdringenden Kontrollmechanismen durchzusetzen.
Auf dieser über Jahrhunderte andauernden Disziplinierungsbasis aus der Zeit der Dynastien konnte auch die spätere Volksrepublik zurückgreifen, was sie auch tat. So wurden schon bald nach dem Bürgerkrieg (1947-1949) vom nunmehr herrschenden Regime eine Reihe von Kontrollsystemen geschaffen, von denen die bekanntesten Hukou und Danwei gewesen sein mögen. Hukou ist ein „Haus- haltsregistersystem“22, während Danwei die Zugehörigkeit der Bevölkerung „zu einer gesellschaftlichen Einheit“[22] regelte, welche „die Kontrolle über die ihr zugeteilten Mitglieder“[22] ermöglichte und „politische Akten, Dang'an [genannt], über sie führt[e]“[22]. Auf dieser noch analogen Datengrundlage war es möglich, „Entscheidungen über Beförderungen, Parteimitgliedschaften und selbst Eheschließun- gen“[22] zu treffen. In der verstaatlichten Wirtschaft der frühen Volksrepublik verstand sich das Danwei-System als Garant für die Sicherheit der chinesischen Bürgerinnen und Bürger. „Danweis übernahmen die Rolle von Großfamilien, sie kümmern sich [vorgeblich] um das Wohlergehen ihrer Mitglieder“23, doch dürfte der Zentralregierung eher daran gelegen haben, mittels der Kontrollmaßnahmen eine politische Disziplin zu sichern.24
Mit der Öffnung Chinas zur Marktwirtschaft, unter Beibehaltung der sozialistischen Doktrin, und den damit einhergehenden Wirtschaftsreformen hat für das Danwei-System ein Auflösungsprozess eingesetzt, war doch das herkömmliche System mit den Veränderungen vielfach nicht mehr vereinbar. Aber ganz verschwunden scheint es nicht - Traditionen tun sich schwer, sich von der Bühne der Kultur zu verabschieden. Ein Beispiel dafür, mit Bezugnahme auf Danwei, ist die Beijing University, eine weltweit renommierte Hochschule (im internationalen Hochschul-Ranking 2019 unter den 30 besten Universitäten25 ). Dort nämlich gibt es auch aktuell immer noch ein Danwei, wo „Arbeitsplätze, Wohnungen für Dozenten und Studenten, ein[en] Kindergarten, ein Krankenhaus, eine Buchhandlung, ein[en] Verlag, eine eigene Post und Geschäfte“[23] zur Verfügung stehen.
Danweis, was so viel wie Arbeitseinheiten bedeutet, waren dazu angehalten, für ihre Mitglieder Personalakten zu führen, das sog. Dang'an (siehe oben). „Dan- g'an enthielt Werdegang, Bewertungen von Vorgesetzten, politische Haltung, Regelverstöße und auch private Informationen“26. Insofern ist es naheliegend, es als Wegbereiter für das moderne Überwachungssystem zu bezeichnen, das mit dem Einsatz digitaler Technologie die analogen Vorläufer hinsichtlich Umfang und Effizienz der sozialen Kontrolle deutlich zu übertreffen in der Lage ist.
Wohl oder übel kam es also - die technische Entwicklung mit der Möglichkeit massiver Datenanhäufung tat das Ihre dazu - zur Etablierung des Social Credit Systems.
Seine Anfänge wurden bereits in späten 1990er Jahren innerhalb einer Forschungsgruppe an der Chinese Academy of Social Sciences diskutiert.[27] Der gleichen Quelle ist zu entnehmen: „The first provincial pilots were launched in the early twenty-first century.“[28] Demnach soll es in den Jahren 2003 bis 2007 (siehe Abb. 1) erste Versuche mit SCS auf Provinzebene gegeben haben. Schrittweise folgten Pilotprojekte in einigen Metropolen, unterstützt von der Staatsbank ebenso wie von den über das entsprechende Know-How verfügenden Netzgiganten und schließlich von Seiten der Regierung durch die Schaffung interministerieller Kooperation.[27]
Die Entwicklung ist noch nicht ganz abgeschlossen, wenn auch das Punktesystem zur Ermittlung der Integrität in Behörden, bei Privatpersonen oder im ECommerce im Sinne der Betreiber seinen Ansprüchen zu genügen scheint.[27]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1: Schritte zur Umsetzung des nationalen Social Credit Systems
[27] vgl. „The complex implementation of China's Social Credit System“, merics.org, 12.12.2017
[28] „The complex implementation of China's Social Credit System“, merics.org, 12.12.2017
4. Das chinesische Social Credit System
Um das geplante, größtenteils schon realisierte digitale Überwachungssystem in China besser zu verstehen, war es bei den bisherigen Überlegungen naheliegend, einen Blick zurück zu werfen in die Geschichte dieses Landes und dabei das Augenmerk auf vergleichbare frühere Verhaltenskontrollen zu richten. Obgleich die mittlerweile schon als antiquiert zu betrachtenden Methoden ihre Effizienz gezeigt haben mögen, dürften Ausmaß und Qualität der neuerlichen Überwachungspraktiken vorangegangene Vorgehensweisen deutlich in den Schatten stellen.
Acht private Anbieter, unter ihnen die Netzgiganten Baidu, Alibaba und Tencent (kurz: BAT), erhielten 2014 von der Regierung die Konzession, „jeweils eigene digitale Bewertungssysteme zu entwickeln. Allen Systemen ist gemein, dass Algorithmen und Systeme Künstlicher Intelligenz (KI) automatisiert Punktezahlen ermitteln.“27 Parallel dazu wurden auf Betreiben des Staates in sog. Sonderzonen weitere Scoring-Systeme eingerichtet.28 Beides zusammen konnte zu einem feinmaschigen Big-Data-Netz anwachsen und so die soziale Kontrolle perfektionieren. SCS war aus der Taufe gehoben.
Im Folgenden wird in der gebotenen Ausführlichkeit auf die Funktionsweise dieses Systems einzugehen sein. Dabei sollen die technischen Bausteine, die in ihrem Zusammenspiel erst ein Funktionieren möglich machen, näher betrachtet werden. Die kritische Betrachtung der dem System immanenten gesellschaftlichen Problematik wird ebenso Gegenstand der weiteren Betrachtung sein. Intention der Initiatoren sowie die alltäglichen Auswirkungen auf die Bürgerinnen und Bürger werden zu analysieren sein. Schließlich soll untersucht werden, inwieweit das minutiös agierende chinesische Überwachungsmodell Auswirkungen auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes hat.
4.1 Das Wesen des Überwachungssystems
4.1.1 Darstellung und Funktionsweise
Beim chinesischen Social Credit System handelt es sich um ein digitales System zur Sozialkontrolle mit dem Ziel „eine Punktezahl für alle chinesischen Bürgerinnen und Bürgern auf der Grundlage ihres Verhaltens zu erstellen.“[29] Die chinesische Regierung vertritt dabei die Auffassung, dass das von ihr initiierte soziale Bonitätssystem - ab 2020 soll es verpflichtend sein - ein Allheilmittel zur Bekämpfung unterschiedlichster gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Probleme schaffen zu können.29 Modernste Informationstechnologie kommt dabei zum Einsatz bis hin zu Überwachungskameras über wichtigen Straßen der Metropolen. Sie liefern das Datenmaterial und sind der Rohstoff bei der Erstellung der Punktekonten. Was die Kameraüberwachung im öffentlichen Raum betrifft, erfasst das System zum Beispiel Verkehrsverstöße in Echtzeit, ebenso in Echtzeit ermöglicht die hochsensorische Überwachungstechnik die Gesichtserkennung von Verkehrs- sündern30, überträgt die Daten mit hoher Geschwindigkeit an das Bewertungskonto und mit der gleichen Schnelligkeit erscheint auf dem Smartphone des Missetäters die Bußgeldforderung der Behörde. Etwa 200 Millionen Überwachungskameras will der Journalist Stephan Scheuer in ganz China beispielsweise in Banken, Flughäfen, Hotels, öffentlichen Toiletten und anderes mehr gezählt haben - Stand 2017/18. Und ein Ende solcher Maßnahmen sei nicht absehbar.31
Das behavioristische System des SCS erhebt also den Anspruch, Vertrauen und Sicherheit schaffen zu wollen und erstreckt sich von der „Kreditwürdigkeit der Marktteilnehmer über die Lebensmittelsicherheit bis hin zum Schutz geistigen Eigentums.“32 Es verfügt über ein unermessliches Datenvolumen, das seine Vorräte aus Informationen speist, die gleichermaßen von Regierung, Behörden, Polizei, Gerichten, aber auch privaten Unternehmen mit ausgereifter Technologiekapazität kooperativ zusammengetragen werden. So gehören zu den erwähnten privaten Datenlieferanten große Konzerne wie Tencent oder Alibaba. Von ihren Nutzern bezogene Informationen gelangen in das amtliche Bewertungssystem. Die dort bereits angehäufte Datenfülle erfährt auf diese Weise einen Zuwachs verwertbarer Auskünfte über das Internet- und Konsumverhalten oder auch die Zahlungsmoral der Millionen Bürgerinnen und Bürger, die ihre Einkäufe online tätigen.
Die chinesische Regierung begründet die Rechtfertigung für die Installation ihres Überwachungsprojektes im Wesentlichen auf drei Ebenen:[35]
- Schaffung einer Integritätskultur, d.h. die Wiederherstellung sozialen Vertrauens und Ehrlichkeit, Belohnung für gutes Verhalten - entsprechend Bestrafung bzw. Benachteiligung für Untreue, Erziehung zu bürgerlicher Moral ebenso wie zu einem integren Online-Verhalten, z. B. Vermeidung von Betrugs- oder Hassdelikten
- Lösung ökonomischer Probleme mit dem langfristig gesteckten Primärziel der Erhöhung des Wirtschaftswachstums (dazu mehr im weiteren Verlauf)
- Stärkung der Regierung; erhöhte Glaubwürdigkeit durch Vertrauen schaffende Maßnahmen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Sinnbildliche Darstellung des Social Credit Systems als
Das Berliner Mercator Institut für China Studien (Merics) gibt in seiner Studie vom Dezember 2017 unter Bezugnahme auf die Bertelsmann Stiftung einen anschaulichen Einblick in die Bewertungspraxis des Social Credit Systems. Bei der grafi- schen Darstellung der Bewertungsstruktur hat sich die Bertelsmann Stiftung naheliegend für die Abbildung einer mehrgeschossigen Pagode entschieden, wie sie in China nicht selten vorzufinden ist. Dabei soll das Symbol der Pagode illustrieren, welche Kontobewegungen auf dem Punktekonto eines jeden Bürgers als Reaktion auf sein erfassungsrelevantes Verhalten stattfinden. Über seinen Punktestand kann sich jeder per Smartphone informie- ren.33 Gleichsam als Honorierung für eine gutgläubig angenommene Unbescholtenheit, aber auch als Anreiz und Vertrauensvorschuss zu verstehende Geste, erhält jede Person eine Art Startguthaben von 1000 Punkten (in der nebenstehend abgebildeten Pagode zu erkennen als das Betreten des turmartigen Gebäudes). Schafft es eine Besucherin oder Besucher die Turmspitze zu erreichen, kann sie oder er die höchstmögliche Punktzahl von 1300 Punkten verbuchen. Dann locken Belohnungen in Form von Vergünstigungen verschiedenster Art. Das Maximum an erreichten Punkten führt zur höchsten Bewertung AAA, vergleichbar mit der bekannten Methodik einer Rating-Agentur.[36] Eine Vielzahl von Belohnungen erwarten die im Sinne der Initiatoren lauteren Bürgerinnen und Bürger. Die schmeichelnden Belohnungen sind ebenso vielfältig, wie sie auch nützlich sind bei der Bewältigung des Alltags. Die genannte Studie listet einige aus der Bewertungsgrundlage hervorgehende Belohnungen auf. So soll es Steuererleichterungen geben, bekannt geworden seien aber auch eine Vorranggewährung beim Schlangestehen in öffentlichen Einrichtungen, beschleunigte Beförderung im (öffentlichen) Arbeitssektor, kürzere Wartezeiten in Krankenhäusern, Ticketverbilligung im öffentlichen Personenverkehr, freier Zugang zu Fitness-Einrichtungen, kautionsfreier Zugriff auf Leihfahrräder und -autos, vereinfachter Zugang zu Krediten, Vorteile bei der Vergabe von Studienplätzen für sich selbst oder gar die eigenen Kinder.[37] Die Chancen, soziale Leistungen zu erhalten oder schon beziehende Leistungen anzuheben erhöhen sich bei hohem Punktestand deutlich, sogar die Mitgliedschaft bei Vereinen oder Versicherungen soll so vereinfacht werden.
Wie aber erwirbt der digital beobachtete Bürger die Punktzahl, die für die Regierung einen Vertrauensbeweis und soziale Loyalität bedeutet? Das Schaubild der Bertelsmann-Pagode gibt darüber Aufschluss und nennt Verhaltensweisen, die die Bewertung im Bonitätssystem vorteilhaft beeinflussen. Dem unfreiwilligen Scoring-Teilnehmer bieten sich so einige Möglichkeiten, auf der Punkteleiter hochzuklimmen, zu punkten und mit den gesammelten Bewertungsboni persönliche Vorteile zu sichern. Eine Auswahl der den Punktestand begünstigender Verhaltensweisen: Eine heroische Tat begehen, über eine gute Kredithistorie verfügen, den Armen helfen, die Regierung in den sozialen Medien positiv bewerten, zu einem guten nachbarschaftlichen Verhältnis beitragen, sich um die alten Eltern kümmern, sich in der Wohltätigkeitsarbeit engagieren. Kurzum: Ausgeprägte Sozialkompetenz ist förderlich für den Punktestand.
Jeder Kontoinhaber wird wissen: Sinn und Zweck seines Kontos ist die Gegenüberstellung von Einnahmen (HABEN-Seite) und Ausgaben (SOLL-Seite). Die Bilanzierung dieser Kontobewegungen gibt Aufschluss über die angestrebte Ausgeglichenheit der finanziellen Situation. Ähnlich verhält es sich mit dem Punktesystem des SCS-Kontos, auf dessen Grundlage das Verhalten der chinesischen Bürgerinnen und Bürger bewertet wird. Wurde vordem die Kontoführung des chinesischen SCS mit den Bewegungen auf der HABEN-Seite einer näheren Betrachtung unterzogen, so werden im Weiteren die Bewegungen auf der SOLLSeite des digitalen Verhaltenskontos chinesischer Machart in Augenschein genommen. Es wird aufgezeigt werden, wie sich Negativbewertungen aufgrund digital erfasster Verfehlungen auf den Betroffenen auswirken. Dabei dürfte es zu- nächst von Interesse sein, welche Arten von Missverhalten im Sinne des SCS zu Buche schlagen. Die Bertelsmann-Studie führt insgesamt sieben Verstöße auf, die zu Punkteinbußen führen: Trunkenheit am Steuer oder unachtsames Überqueren der Straße, illegitime Proteste gegen Behörden, regelmäßig unterlassene Besuche bei den alt gewordenen Eltern, in den sozialen Medien gegen die Regierung gerichtete Botschaften, das Verbreiten von Gerüchten im Internet, vermeintlich unaufrichtige Entschuldigungen für begangene Straftaten, Teilnahme an als Kult diffamierten Riten, aber auch die Mitwirkung an betrügerischem OnlineGaming oder der Konsum von Pornos.34
Für derartiges Verhalten gibt es Punktverluste, wobei der niedrigst zulässige Score bei 600 Punkten liegt. Die Folgen wären dann fatal, die oben genannte Studie nennt bekannt gewordene Strafen: Äußerst unangenehme Rufschädigung durch namentliche Bloßstellung, Publizierung von Fotos und Identifikationsnummern in öffentlichen Räumen wie online oder TV. Telefonanrufer erhalten durch einen spezifischen Ton den Hinweis, dass der gewünschte Gesprächspartner besser nicht kontaktiert werden sollte, sei er doch ein mit niedrigem Punktestand stigmatisierter Bürger. Nachteile entstehen auch anderweitig: Dem in Misskredit geratenen Bürger kann der Zugang zu einer privaten Schule ebenso verweigert werden wie die Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses im öffentlichen Sektor. Eingeschränkt ist im Falle der Negativbewertung aber auch die Inanspruchnahme öffentlicher Dienste, für eine Kreditaufnahme sind überdies unüberwindbare Hürden errichtet worden. Schließlich sind für in ihrem Sozialverhalten auffällig gewordene Personen Sanktionen der Art zu befürchten, dass es ihnen unmöglich gemacht wird, Tickets für Flüge und Hochgeschwindigkeitszüge zu erwerben.35
Zu Beginn des Abschnitts "Darstellung und Funktionsweise" wurde erwähnt, wie schnell und unkompliziert es sei, per Smartphone den aktuellen Punktstand in Erfahrung zu bringen. So sehr dies zuweilen von den Befürwortern des Überwachungssystems als technische Errungenschaft oder auch als lobenswerte Transparenz gepriesen werden mag, umso mehr Skepsis dürfte die tatsächliche Intransparenz dann hervorrufen, wenn die/der unfreiwillig Beobachtete im Ungewissen darüber gelassen wird wie der einsehbare Punktestand denn zustande gekommen ist. Unklar ist auch die Rechtslage, wenn sich beispielsweise eine Person, die sich aus ihrer Sicht zu Unrecht falsch bewertet sieht, mithilfe eines Rechtsmittels zur Wehr setzen möchte. Ob ein derart rechtsstaatliches Interve- nieren überhaupt möglich ist, dürfte eher zu bezweifeln sein. Entsprechende Quellen, die darüber Aufschluss geben könnten, ließen sich nicht auffinden.
Was die Struktur des chinesischen Social Credit Systems betrifft, bringen Kenner des Systems (u.a. Axel Dorloff, ARD-Studio Peking) immer wieder die Pilotprojekte in den Versuchszonen Shanghai, Suining oder der ostchinesischen Küstenstadt Rongcheng ins Spiel.36 Letzteres startete in der zweiten SCS-Probephase im April 2016 und ist nur eines von insgesamt 70 Vorhaben in China37, wo ein auf Betreiben des Staates installiertes Überwachungssystem erprobt wird.3839 In Rongcheng wurde die Bewertungsskala A, B, C und D zugrunde gelegt, wie IT- Spezialist Zhang Chengwei gegenüber der tagesschau mitzuteilen weiß.40
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Bewertungsskala des Social Credit System in Rongcheng (nach A. Dorloff, 2019)
Auf viele westliche Beobachter wirkt das Projekt in Rongcheng exemplarisch für das ab 2020 im ganzen Land verpflichtende System der Verhaltenskontrolle. Wie in anderen Versuchszonen wird auch in Rongcheng deutlich, dass das Bewertungssystem regionalen Standards folgt.41 Diese Tatsache erschwert die landesweite Implementierung eines einheitlichen Social Credit Systems, da die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen unterschiedlich sind. Vor allem das grobe Gefälle zwischen ländlichen Regionen und den Metropolen stellt die durchgängige Umsetzbarkeit des digitalen Bewertungssystems vor große Herausforderungen.
Parallel zu den staatlichen Projekten, deren prominentestes in Rongcheng experimentiert wird, gibt es auch von Staatsseiten lizensierte Unternehmen, die einen Beitrag zum Gelingen des Großprojektes leisten. Ihr Auftrag ist es, die eigenen IT-Kapazitäten in die Entwicklung ihres privat betriebenen, aber auf das Großprojekt 2020 ausgerichtete Bewertungsprogramm einzubringen. Dazu gehört Sesame Credit.42Sesame Credit gehört zum Online-Konzern Alibaba. Dieses Bonitätssystem hat ein anderes Punktemodell, verglichen mit dem zuvor dargestellten System (siehe Seite 16 ff.). Aber auch hier gibt es auch eine Punktwertung. Der untere Eckwert liegt bei 350 Punkten, maximal sind 950 Punkte erreichbar. Dieses Intervall von 600 Punkten hält für so manchen konsumfreudigen Nutzer der Plattform Verlockungen bereit. Allerdings ermöglicht die tatsächliche Kontrolle seines Konsumverhaltens Aufschlüsse über die Charakterstruktur des Kunden. Alibabas Sesame Credit lässt sich kurz skizziert wie folgt darstellen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Bewertungsskala des Sesame Credit von Alibaba (nach S. Scheuer, 2018)
Staatliche wie private Bewertungssysteme, die sich in ihren intensiven Probephasen befinden, dienen gleichermaßen dazu, das übergeordnete Großprojekt für das Jahr 2020 sukzessive aufzubauen. Bei den bisher existierenden Social Credit Systems handelt es sich im übertragenden Sinne um Insellösungen, die nur teilweise kompatibel sind, d.h. in sich geschlossene, individuell funktionierende und teils geografisch begrenzte Programme. Die Vereinheitlichung des Bewertungskonzepts und die landesweite Implementierung sind jedoch das übergeordnete Ziel. Dafür ist die Verbindung der digitalen Systemlandschaft, die Verflechtung der Datenbanken und die Verknüpfung der Informationsinfrastruktur notwendig. Die theoretische Funktionsweise des chinesischen Social Credit Systems wurde dargestellt. Die Sonderzone Rongcheng mit ihrem spezifischen Bewertungsmuster dient als aktueller Prototyp. Ein privates Bonitätssystem, ins Leben gerufen von Alibaba und durch die Regierung begünstigt, ist förderlich für die Entwicklung. Mit der Zusammenführung, Migration und Erweiterung der bestehenden Überwachungssysteme entsteht das Endprodukt. Dabei ist nicht ausgeschlossen, parallel an der Fortführung der privaten Scoring-Systeme festzuhalten. Wie aber die finale Version dieses Projektes aussehen wird, ist nicht abseh- bar. „Es ist eine Sache, die Daten zu erheben, eine andere aber, diese auch zusammenzuführen und auszuwerten.“43
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4: Aufbau des staatlichen Social Credit Systems 2020 (eigene Darstellung)
Die Errichtung eines weltweit einzigartigen Big-Data-Netzes zur Überwachung von mehr als 1,4 Milliarden Menschen stellt seine Entwickler vor Herausforderungen, die es zu meistern gilt. Fortgeschrittene Technologie und der fachkundige Umgang mit ihr schaffen dafür eine entscheidende Grundlage.
4.1.2 Big Data, Big Brother, Big Problem?
Wir haben gesehen: Befasst man sich mit dem chinesischen Social Credit System, kommt man nicht umhin, den Begriff Big Data in die Betrachtungen einzubeziehen. Die Realisierung von SCS wäre undenkbar ohne die digitaltechnischen Vorraussetzungen der schier unerschöpflichen Datenfülle, die Big Data hervorzubringen vermag. Die Informationsflut, von Menschen wie auch - unter Einsatz von Algorithmen - von Maschinen erzeugt, verknüpft und mit enormer Schnelligkeit verfügbar gemacht, ist so unvorstellbar groß, dass das menschliche Gehirn sich das Ausmaß der angehäuften Datenmenge nur noch abstrakt vorstellen kann. So sollen sich im Jahre 2011 weltweit in nur 48 Stunden durchschnittlich 4,7 Exabyte Daten (1 Exabyte = eine 1 mit 12 Nullen) angesammelt haben. Übertrüge man allein die im Jahr 2009 weltweit generierten Daten auf DVDs, türmte sich ein Stapel auf, der hin bis zum Mond und wieder zur Erde zurück reichte. Das IT-Marktforschungsunternehmen IDC ermittelte diese Zahlen zu Beginn des nunmehr bald zu Ende gehenden Jahrzehnts und schätzte damals die Situation so ein, dass der Stapel in 2020 44 mal so hoch sein würde.44 Bedenkt man, dass allein in den vergangenen zwei Jahren 90 % des derzeit gespeicherten Datenvolumens entstanden sind, so lässt sich erahnen, wie groß, aber auch wie risikobehaftet die Datenlawine rasant auf alle zurollt.45
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1 „China - Das Projekt Weltmacht“, deutschlandfunk.de, 11.01.2018
2 Bo, Jin: China verstehen, Peking 2010, S. 24
3 vgl. „Mao Zedong“, Thomas Grasberger, BR.de, 18.06.2018
4 vgl. Bo, Jin: China verstehen, Peking 2010, S. 148 ff.
5 vgl. Sommer, Theo: China First, Hamburg 2019, S. 60
6 vgl. „World Population Prospect“, United Nations 2015, S. 23
7 vgl. Sommer, Theo: China First, Hamburg 2019, S. 62 f.
8 vgl. Sommer, Theo: China First, Hamburg 2019, S. 64 f.
9 vgl. Statista (2019): „USA: Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 2008 bis 2018 (gegenüber dem Vorjahr)“
10 vgl. Statista (2019): Wirtschaftswachstum in Deutschland anhand der Veränderung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) gegenüber dem Vorjahr in den Jahren 1992 bis 2018“
11 vgl. Sommer, Theo: China First, Hamburg 2019, S. 68
12 Sommer, Theo: China First, Hamburg 2019, S. 68
13 vgl. Bo, Jin: China verstehen, Peking 2010, S. 181
14 vgl. Scheuer, Stephan: Der Masterplan, Freiburg im Breisgau 2018, S. 26
15 Scheuer, Stephan: Der Masterplan, Freiburg im Breisgau 2018, S. 26
16 Scheuer, Stephan: Der Masterplan, Freiburg im Breisgau 2018, S. 27
17 vgl. Hirn, Wolfgang: Chinas Bosse, Frankfurt am Main 2018, S. 8
18 Scheuer, Stephan: Der Masterplan, Freiburg im Breisgau 2018, S. 170
19 Scheuer, Stephan: Der Masterplan, Freiburg im Breisgau 2018, S. 148
20 vgl. „Solange es sich gut leben lässt“, zeit.de, 16.08.2016
21 Kühnreich, Katika: „Soziale Kontrolle 4.0? Chinas Social Credit System“, Blätter 7/2018, S. 66 f.
22 Kühnreich, Katika: „Soziale Kontrolle 4.0? Chinas Social Credit System“, Blätter 7/2018, S. 64
23 „Danwei“, handelsblatt.com, 21.04.2008
24 vgl. „Danwei“, handelsblatt.com, 21.04.2008
25 vgl. „QS World University Rankings 2019“, topuniversities.com, o.D.
26 „China schafft digitales Punktesystem für den "besseren" Menschen“, heise.de, 01.03.2018
27 Kühnreich, Katika: „Soziale Kontrolle 4.0? Chinas Social Credit System“, Blätter 7/2018, S. 63
28 vgl. Kühnreich, Katika: „Soziale Kontrolle 4.0? Chinas Social Credit System“, Blätter 7/2018, S.
29 vgl. „The complex implementation of China's Social Credit System“, merics.org, 12.12.2017
30 vgl. Scheuer, Stephan: Der Masterplan, Freiburg im Breisgau 2018, S. 149
31 vgl. Scheuer, Stephan: Der Masterplan, Freiburg im Breisgau 2018, S. 151
32 „China experimentiert mit dem gläsernen Bürger“, dw.com, 04.01.2018
33 vgl. „Die AAA-Bürger“, zeit.de, 30.11.2017
34 vgl. „Die AAA-Bürger“, zeit.de, 30.11.2017
35 vgl. „China formt sich seine Untertanen“, n-tv.de, 02.03.2018
36 vgl. „Pläne in Peking: Überwachung total made in China“, tagesschau.de, 01.03.2019
37 vgl. „Viele Chinesen haben noch nie von dem System gehört“, zeit.de, 29.12.2018
38 vgl. „The complex implementation of China's Social Credit System“, merics.org, 12.12.2017
39 vgl. „The complex implementation of China's Social Credit System“, merics.org, 12.12.2017
40 vgl. „The complex implementation of China's Social Credit System“, merics.org, 12.12.2017
41 vgl. „The complex implementation of China's Social Credit System“, merics.org, 12.12.2017
42 vgl. „The complex implementation of China's Social Credit System“, merics.org, 12.12.2017
43 „Wenn Bürger plötzlich für ihr Verhalten bewertet werden: Einblick in Chinas Überwachungs-System“, stern.de, 10.10.2017
44 vgl. Heuer, Steffan: Kleine Daten, Grosse Wirkung - Big Data, Düsseldorf 01/2013, S. 6
45 vgl. Klausnitzer, Rudi: Das Ende des Zufalls, Salzburg 2013, S. 9
- Citar trabajo
- Taha Guichard (Autor), 2019, Wenn ein Punktestand das Leben bestimmt. Social Rating in China, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1358170
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