Kierkegaard für Einsteiger enthält aus dem Dänischen ins Deutsche übersetzte Auszüge aus meinem Buch "Kierkegaards verdener" (Forlaget Bostrup 2016) und ist für diejenigen deutschsprachigen Leser, die zu dicken, philosophischen Werken weder Lust noch Zeit haben, aber trotzdem gern wissen möchten, wer Søren Kierkegaard war, welche Gedanken er sich über die menschliche Existenz gemacht hat, und inwiefern seine Gedanken in unserer Zeit immer noch relevant sind. Deshalb soll hier der Versuch unternommen werden, Søren Kierkegaards Leben und Denken in Kurzfassung und mit Kernzitaten aus seinen Hauptwerken zu präsentieren, sodass der moderne, eilige Mensch die Möglichkeit bekommt, den weltberühmten Philosophen kennenzulernen.
Inhalt
Vorbemerkung
1. LEBEN
Qualvolle Kindheit
Suche nach Identität
Kurze Verlobung
Schriftstellerische Berufung
Angriffe auf die Staatskirche
Zusammenbruch und Tod
2. DENKEN
„Wirksamkeit als Schriftsteller“
Lebensanschauungen
Die Möglichkeit des Glaubens
Das Wesen des Glaubens
Christliche Erbauung
Kierkegaards Schriften
Zum Weiterlesen
Zitathinweise
Vorbemerkung
Dänemarks bedeutendste Beiträge zur Weltliteratur sind die fantasievollen Märchen von Hans Christian Andersen und die existenzphilosophischen Schriften von Søren Kierkegaard.
Beide Schriftsteller lebten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und schrieben ihre Werke im „goldenen Zeitalter“ der „dänischen Klassik“. Ihre Persönlichkeiten waren sehr unterschiedlich. Beide haben sich mit den Grundfragen der menschlichen Existenz auseinandergesetzt, aber sie haben auf diese Fragen sehr verschiedene Antworten gegeben, die heute noch studiert und diskutiert werden. Ja, einige Literaturwissenschaftler und Philosophen haben tatsächlich Dänisch gelernt, um Andersens und Kierkegaards Texte in der Originalsprache lesen zu können!
Hans Christian Andersen und seine Märchen sind allgemein bekannt, aber nur wenige kennen Søren Kierkegaard und seine Schriften. Andersens Märchen sind meistens leicht zu lesen, Kierkegaards Schriften aber oft schwer – vor allem wegen der Themen und der Sprache.
Kierkegaard für Einsteigerenthält aus dem Dänischen ins Deutsche übersetzte Auszüge aus meinem BuchKierkegaards verdener(Forlaget Bostrup 2016) und ist für diejenigen deutschsprachigen Leser, die zu dicken, philosophischen Werken weder Lust noch Zeit haben, aber trotzdem gern wissen möchten, wer Søren Kierkegaard war, welche Gedanken er sich über die menschliche Existenz gemacht hat, und inwiefern seine Gedanken in unserer Zeit immer noch relevant sind.
Deshalb soll hier der Versuch unternommen werden, Søren Kierkegaards Leben und Denken in Kurzfassung und mit Kernzitaten aus seinen Hauptwerken zu präsentieren, so dass der moderne, eilige Mensch die Möglichkeit bekommt, den weltberühmten Philosophen kennen zu lernen.
In den Jahren 1997-2013 erschien in Dänemark eine neue Gesamtausgabe vonSøren Kierkegaards Skrifter(SKS) in 55 Bänden (28 Textbänden und 27 Kommentarbänden!). Eine elektronische Ausgabe ist abrufbar auf der Webseite: www.sks.dk. Hier findet man alle Texte und eine Suchfunktion.
Seit 2005 erscheint eineDeutsche Søren Kierkegaard Edition(DSKE) im Verlag De Gruyter. DSKE bietet Kierkegaards Texte aus der SKS in deutscher Übersetzung und adaptierte Kommentare. Von den ersten 11 Bänden mit Journalen und Aufzeichnungen sind bis jetzt nur 6 Bände erschienen. Zitate aus Kierkegaards Journalen und Notizbüchern sind der DSKE entnommen.
Neuere Übersetzungen von Kierkegaards Werken liegen im Deutschen Taschenbuchverlag vor:Entweder – Oder(dtv 13382) undDie Krankheit zum Tode, Furcht und Zittern, Die Wiederholung, Der Begriff der Angst(dtv 13384). Zitate aus diesen Werken sind diesen beiden Bänden entnommen. Die Rechtschreibung wurde behutsam modernisiert.
Für die sprachliche Korrektur danke ich Dr. Maren Ermisch, Universität Göttingen.
Für den Inhalt bin ich allein verantwortlich.
Henrik Borg Jensen
1. LEBEN
Søren Aabye Kierkegaard wurde am 5. Mai 1813 in Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen geboren. Die heutige Innenstadt war damals die ganze Stadt. Hinter Festungswällen und Stadtgräben, dicht gedrängt auf einer Fläche von nur 5 km² mit engen, schmutzigen Gassen, hausten 100.000 Menschen - und etwa 5.000 Pferde, Kühe und Schweine. Fast 90 Prozent der Menschen lebten in großer Armut, knapp 10 Prozent unter akzeptablen Bedingungen und weniger als ein Prozent in Reichtum.
Die seit Mitte des 18. Jahrhunderts reiche Handels- und Residenzstadt war wegen der Kriege gegen England 1807-1814 wirtschaftlich ruiniert, und 1813 musste Dänemark den Staatsbankrott erklären. Kierkegaard sah als Dreißigjähriger zurückblickend auf sein Geburtsjahr seine Existenz im Lichte dieses finanziellen Zusammenbruchs:
„1813 wurde ich geboren, in dem verrückten Geldjahr, da so mancher andere verrückte Zettel in Zirkulation gesetzt wurde. Und mit so einem Zettel scheint meine Existenz am besten verglichen werden zu können. Es ist etwas an mir, als wäre ich etwas Großes – aber aufgrund der verrückten Konjunktur gelte ich nur wenig.“1
Kierkegaards Vater, Michael Pedersen Kierkegaard (1756-1838), war ein sehr wohlhabender und angesehener Wollwarenhändler. Er stammte aus einer armen Bauernfamilie in Westjütland und hatte als Kind auf der Heide Schafe gehütet. Dieses mühsame, einsame und aussichtslose Leben führte dazu, dass der junge Schäfer eines Tages auf einen Hügel trat, seine Faust gegen den Himmel ballte und Gott verfluchte. Diese damals „sündige“ Tat und das daraus folgende Schuldbewusstsein quälten ihn sein Leben lang und machten ihn zu einem schwermütigen, tiefreligiösen und strengen Erzieher seiner sieben Kinder, von denen Søren das jüngste war.
Sørens Mutter, Ane Sørensdatter Lund Kierkegaard (1768-1834), war die zweite Frau seines Vaters und war in dessen erstem Haushalt Dienstmädchen gewesen. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann war sie eine gleichmütige, lebensfrohe und fürsorgliche Natur. Trotzdem wird sie in Kierkegaards Journalen nie erwähnt. Aber aus zeitgenössischen Quellen wissen wir, dass er (im Alter von nur 21 Jahren) von ihrem Tod tief betroffen war.
Qualvolle Kindheit
In einem Rückblick auf seine Kindheit schreibt Kierkegaard 1849 in seinem Journal: „Die Freude, Kind zu sein, habe ich doch niemals gehabt.“ Und drei Jahre später (1852): „O, mein Gott, mein Gott, unglücklich, qualvoll war meine Kindheit.“ Über seine Erziehung bemerkt er:
„Als Kind wurde ich streng und ernstlich im Christentum erzogen, menschlich geredet, unsinnig erzogen: an Eindrücken, worunter der schwermütige Greis, der sie auf mich legte, selbst erlag, hatte ich mich schon in frühester Jugend verhoben. Ein Kind, das unsinnigerweise wie ein schwermütiger Greis fühlen, denken, leben sollte! Schrecklich! Was Wunder da, wenn mir das Christentum zu Zeiten als die unmenschlichste Grausamkeit vorkam; wiewohl ich nie (auch als ich ihm am fernsten stand) die Ehrerbietung vor ihm verlor.“2
Wenn Søren nicht in der Schule ist, verlässt er nur selten das Haus. Meistens beschäftigt er sich mit sich selbst und seinen Gedanken. Oder sein Vater geht mit ihm im Esszimmer auf und ab und erzählt ihm lebhaft über das Leben außerhalb des Hauses. Der Junge erlebt also nur wenig in der wirklichen Welt, aber sehr viel in seiner Fantasie - und er fühlt sich damit „wohlversorgt“. Er entwickelt sein Vorstellungsvermögen und die Fähigkeit, wie ein Theaterregisseur seine Gedanken zu visualisieren und sein Leben zu inszenieren. Aber der Preis dafür ist Verschlossenheit und „die dunkelste Schwermut“:
„Der Vordergrund meines ganzen Lebens ist überhaupt in einem solchen Maß in die dunkelste Schwermut und die Nebel des zutiefst brütenden Elends gehüllt, dass es kein Wunder ist, dass ich war, wie ich war. Aber derlei bleibt alles mein Geheimnis. Auf einen anderen hätte es vielleicht keinen so tiefen Eindruck gemacht; aber meine Phantasie und besonders in ihren Anfängen, da sie noch keine Aufgaben hatte, denen sie sich zuwenden konnte. Eine derart primitive Schwermut, eine solch ungeheure Mitgift von Kummer und dem im tiefsten Sinne Traurigen, als ein Kind aufgezogen von einem schwermütigen Greis (…).“3
Die Folgen einer solchen Erziehung sind Lebensangst und Nachdenklichkeit, die dazu führen, dass er sich als Erwachsener nicht in das Leben, sondern in das Denken vertieft und all seine Energie darauf verwendet, über verschiedene Lebensanschauungen nachzudenken und zu schreiben.
Mit acht Jahren (1821) kommt Kierkegaard in die Schule. Er ist ein begabter und fleißiger Schüler, aber mehr von Zwang als von Lust getrieben. Wegen seiner Kleidung (Friesmantel, kurze Hosen und lange, dicke Wollstrümpfe) wird er oft von den anderen Schuljungen gehänselt. Fast 30 Jahre später erinnert er sich daran:
„Ich erinnere sehr gut von Kind auf, wie es mich betrübte, dass ich derartig kurze Beinkleider haben musste; ich erinnere auch die häufigen Witze meines Schwagers Christian (…) so dass ich der Wahrheit entsprechend sagen kann, dass es eigentlich mein verstorbener Vater ist, den man angreift, wenn man meine Kleidung angreift.“4
Dazu kommt, dass er schmächtig und kränklich ist - und seit seinem 12. Lebensjahr auch buckelig, weil er von einem Baum gefallen ist.
Trotz seiner Verschlossenheit übt er oft Vergeltung mit spitzen Bemerkungen und wird deshalb auch „die Gabel“ genannt. Oder er versteckt sich hinter Ironie und vorgetäuschter Ausgelassenheit.
Kierkegaards Intellekt entwickelt sich nicht nur im Schulunterricht, sondern auch zu Hause, wo oft Universitätsdozenten zu Besuch kommen, um mit seinem belesenen Vater philosophische Themen zu diskutieren. Der Sohn bemerkt die strategischen und rhetorischen Fähigkeiten seines Vaters. Plötzlich kann er wie durch einen Zauberstreich die Diskussionsgrundlage ändern und neue Schwerpunkte setzen. Was in der gelehrten Diskussion eben eine gemeinsame und einleuchtende Wahrheit gewesen ist, wird von seinem Vater mit einem Schlag kompliziert und zweifelhaft gemacht. Genau wie im Schulunterricht erlebt der Sohn zu Hause die Macht des Wortes: Wie ein einzelnes, neues Wort die Bedeutung eines ganzen Satzes ändern kann. Was er in der Schule gelernt hat, wird zu Hause bestätigt und hilft ihm, sein sprachliches Ausdrucksvermögen zu entwickeln – aber leider nicht seine Lebenstüchtigkeit. Obwohl er „durch Geistesgaben und äußere Verhältnisse auf jede Weise begünstigt“ ist, fühlt er sich ständig unter dem Druck der Schwermut seines Vaters und hat eine unmittelbare „Sympathie und Vorliebe für das Leiden“.
„Keinen Augenblick meines Lebens war ich von dem Glauben verlassen: man kann, was man will — nur eines nicht, sonst unbedingt alles, das eine aber nicht: die Schwermut heben, in deren Bann ich war (…) von deren Druck ich kaum einen Tag ganz frei gewesen bin.“5
Suche nach Identität
Nach seinem Abitur 1830 beginnt Kierkegaard – auf Wunsch seines Vaters – Theologie zu studieren. Aber das Studium im Rahmen der traditionellen Lehrpläne ist „eine Beschäftigung, die überhaupt nicht interessiert und deswegen auch nicht besonders schnell von der Hand geht. Ich habe immer mehr von dem freien, vielleicht deswegen auch ein bisschen unbestimmten Studium gehalten als von der Bewirtung in geschlossener Tischrunde, wo man im Voraus weiß, welche Gäste man trifft und welches Essen man an jedem Wochentag bekommt.“6
Als ein Gegengewicht zu diesem vorausbestimmten und verbindlichen Theologiestudium liest er philosophische und literarische Werke der deutschen Romantik, damals das große Vorbild für die bürgerliche Kulturelite in Kopenhagen.
Darüber hinaus studiert er die großen und berühmten Außenseiter der Weltgeschichte:Don Juan(die dämonische Sinnlichkeit),Faust(das ständige Wahrheitsstreben) undAhasverus(die ewige Heimatlosigkeit). Kierkegaard kann sich mit diesen Einzelgängern identifizieren, weil sie mit ihren Lebensanschauungen und Lebensführungen zu den moralischen Normen ihrer Zeit in Opposition standen. Doch der Zweifel nagt an ihm: In welche Richtung sollersich ausbilden? Welche Wahrheit ist fürihndie richtige?
„Jeder Mensch möchte natürlich gemäß seinen Fähigkeiten in der Welt wirken, aber daraus folgt ja wiederum, dass er seine Fähigkeiten in eine bestimmte Richtung ausbilden möchte, in die nämlich, die am besten zu seiner Individualität passt. Aber welche ist diese? Hier stehe ich vor einem großen Fragezeichen. Hier stehe ich (…) nicht am Scheideweg – nein hier zeigt sich eine weitaus größere Mannigfaltigkeit von Wegen, und umso schwieriger ist es also, den richtigen zu nehmen. Das ist vielleicht gerade das Unglück meiner Existenz, dass ich mich für allzu vieles interessiere und nicht entschieden für eines (…).“7
Wenn sich Kierkegaard „für allzu vieles und nicht entschieden für eines“ interessiert, denkt er vielleicht nicht nur an seine impulsive und planlose Lektüre, sondern auch an seinen umfassenden Privatkonsum: Bücher, Weine, Maßanzüge, Restaurant- und Theaterbesuche und dazu auch noch Pferdekutschenfahrten in der Umgebung von Kopenhagen und in sein geliebtes Nord-Seeland. In einem späteren Rückblick auf seine Jugendjahre charakterisiert er seine Lebensweise als „Verirrung, Lüste, Ausschweifungen, die vielleicht in Gottes Augen nicht so himmelschreiend sind, denn es war ja doch Angst, die mich irregehen ließ.“8
Wenn Kierkegaard in den Kopenhagener Caféhäusern am Studentenleben teilnimmt, ist es oft mit vorgetäuschter Fröhlichkeit, denn hinter seiner Fassade lauert eine ungeheure Schwermut. Die oberflächlichen Vergnügungen bringen ihm keine echte Begeisterung, sondern nur Langeweile und eine daraus folgende Zerrissenheit:
„Sowohl auf dem bodenlosen Meer der Vergnügungen als auch in den Tiefen der Erkenntnis habe ich vergebens einen Ankerplatz gesucht. Ich habe die nahezu unwiderstehliche Macht gespürt, mit der die eine Vergnügung der anderen die Hand reicht; ich habe diese Art von unechter Begeisterung empfunden, die sie imstande ist hervorzurufen; ich habe auch die Langeweile gefühlt, die Zerrissenheit, die daraus folgt.“9
Um seine Schwermut zu verbergen, versteckt er sich meistens hinter einer Fassade von Witzen:
„Ich komme jetzt eben aus einer Gesellschaft, wo ich die Seele war, die Witze strömten aus meinem Munde, alle lachten, alle bewunderten mich – aber ich, ja, der Gedankenstrich müsste genauso lang sein wie die Radien der Erde ging fort und wollte mich erschießen.“10
Der Sommer 1835 wird ein entscheidender Wendepunkt in Kierkegaards Leben. Am 1. August fährt er an die Nordküste Seelands, um sich im kleinen, abgelegenen Fischerdorf Gilleleje zu erholen. In seinem Journal schreibt er die berühmten Worte über die persönliche Wahrheit:
“Was mir eigentlich fehlt ist, dass ich mit mir selbst ins Reine darüber komme,was ich tun soll, nicht darüber, was ich erkennen soll – es sei denn soweit ein Erkennen jedem Handeln vorausgehen muss. Es kommt darauf an, meine Bestimmung zu verstehen, zu sehen, was die Gottheit eigentlich will, dass ich tun solle; es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheitfür michist,die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will.Und was nützte es mir, dazu, wenn ich eine so genannte objektive Wahrheit ausfindig machte (…), wenn es fürmichselbstundmeinLeben keine tiefere Bedeutung hätte? (…) Das war es, was mir fehlte: ein vollkommen menschliches Leben zu führen, und nicht bloß eins der Erkenntnis, um dadurch so weit zu kommen, dass ich meine Gedankenentwicklungen nicht gründete auf – ja auf etwas, was man ‚objektiv‘ nennt – etwas, was auf jeden Fall nicht mein eigen ist, sondern auf etwas, was mit der tiefsten Wurzel meines Daseins zusammenhängt, wodurch ich sozusagen im Göttlichen eingewachsen bin und fest darin hänge, wenn auch die ganze Welt zusammenstürzt. Schau,das ist es, was mir fehlt, unddahin strebe ich(…). Es ist dieses innere Handeln des Menschen, diese Gottes-Seite des Menschen, worauf es ankommt, nicht auf eine Masse von Erkenntnissen (…). Nur wenn der Mensch dergestalt sich selbst verstanden hat, vermag er sein selbständiges Dasein zu behaupten und somit zu vermeiden, dass er sein eigenes Ich aufgibt.“11
Westlich von Gilleleje (in Gilbjerg Hoved) steht seit 1935 ein Gedenkstein mit Kierkegaards rhetorischer Frage eingemeißelt: „Hvad er Sandhed andet end en Leven for en Idee?“ (d.h. „Was ist Wahrheit anders als ein Leben für eine Idee?“).
Nach dieser Erkenntnis im Sommer 1835 kommt Kierkegaard in Kontakt mit den führenden Philosophen in Kopenhagen, besonders denjenigen, die zu der systematischen und spekulativen, deutschen Philosophie vonGeorg Wilhelm Friedrich Hegel(1770-1831) in Opposition stehen:Frederik Christian Sibbern(1785-1872) undPoul Martin Møller(1794-1838). Beide vertreten die Ansicht, dass die Philosophie von der individuellen Persönlichkeit des einzelnen Menschen ausgehen muss. Oder wie es Kierkegaard später formuliert: „Die Subjektivität ist die Wahrheit“.
Irgendwann nach 1835 erfährt er - direkt oder indirekt -, dass sein Vater in seinen jungen Jahren schwere „Sünden“ begangen habe, und dass er deshalb Gottes Strafe auf sich gezogen habe. Dieses neue „Wissen“ ist für Kierkegaard „das große Erdbeben“, das mit einem Schlag das väterliche Vorbild vernichtet, zu dem er bis jetzt mit Respekt und Ehrfurcht aufgeblickt hat:
„Da geschah es, dass das große Erdbeben stattfand, die furchtbare Umwälzung, die mir plötzlich ein neues, unfehlbares Deutungsgesetz für sämtliche Phänomene aufnötigte. Da ahnte mir, dass meines Vaters hohes Alter nicht ein göttlicher Segen war, sondern eher ein Fluch; dass die ausgezeichneten Geistesgaben unserer Familie nur dazu da waren, damit wir uns gegenseitig aufreiben sollten; da fühlte ich wie die Stille des Todes um mich her zunahm, wenn ich in meinem Vater einen Unglücklichen erblickte, der uns alle überleben sollte, ein Friedhofskreuz auf dem Grab aller seiner eigenen Hoffnungen. Eine Schuld musste auf der ganzen Familie lasten, eine Strafe Gottes musste über ihr hängen; sie sollte verschwinden, ausgestrichen werden von Gottes gewaltiger Hand, ausgelöscht werden von Gottes gewaltiger Hand, ausgelöscht als ein misslungener Versuch; und nur zuweilen fand ich ein wenig Ruhe in dem Gedanken, dass meinem Vater die schwere Pflicht auferlegt worden war, uns durch den Trost der Religion zu beruhigen, uns allen zu erzählen, dass dennoch eine bessere Welt uns offenstehen sollte, wenn wir auch alles in dieser verloren, wenn auch die Strafe uns treffen würde, die die Juden immer auf ihre Feinde herab wünschten: dass unser Andenken vollständig ausgelöscht sein sollte, dass man uns nicht finden sollte.“12
Von jetzt an deutet Kierkegaard sein Leben im Lichte der „Sünden“ seines Vaters. Er fühlt, dass nicht nur sein Vater, sondern auch seine Familie unter Gottes Strafe steht. Den Beweis dafür sieht Kierkegaard darin, dass innerhalb von nur 15 Jahren (1819-1834) fünf von seinen sechs Geschwistern im jungen Alter zwischen 12 und 33 Jahren gestorben sind. Und er ist fest davon überzeugt, dass auch er – wie Jesus – vor seinem 34. Lebensjahr sterben wird.
Nur der Vater erreicht ein zu der Zeit ungewöhnlich hohes Alter von 81 Jahren. Dass er den Tod von fünf seiner sieben Kinder erleben muss, betrachtet er als Gottes Strafe für sein sündiges Leben, besonders für seine Gotteslästerung.
Am 8. August 1838 stirbt auch der Vater. Kierkegaard betrachtet seinen Tod als „das letzte Opfer“, das er aus Liebe zu ihm gebracht hat. „Denn er ist nicht von mir gegangen, sondern für mich dahingegangen, damit, wenn möglich, noch etwas aus mir werden könne (…).“13
Der Vater hinterlässt ihm eine große Summe, so dass seine wirtschaftliche Existenz gesichert ist, und er sich ganztags seinen Studien widmen kann. Zielbewusst setzt er sein Studium fort und beendet es zwei Jahre später (1840) als Kandidat der Theologie. Damit hat er den Wunsch seines Vaters erfüllt und hat vielleicht (so der Vater) Gottes Urteil über ihn milder gemacht.
Zwei Wochen nach dem Abschluss seines Studiums reist Kierkegaard nach Westjütland, um den Ort zu sehen, wo sein Vater als Kind Schafe gehütet und Gott verflucht hat.
„Ich sitze hier ganz allein (…) und zähle die Stunden, bis ich Sæding sehen werde. Ich kann mich nie an eine Veränderung an meinem Vater erinnern, und nun soll ich die Orte sehen, wo er als armer Junge Schafe gehütet hat, die Orte, nach denen ich aufgrund seiner Beschreibungen Heimweh gehabt habe. (…) Sein letzter Wunsch an mich ist erfüllt.- Sollte wirklich meine ganze irdische Bestimmung darin aufgehen? In Gottes Namen! Die Aufgabe war doch nicht so gering im Verhältnis zu dem, was ich ihm verdankte. Ich lernte von ihm, was Vaterliebe ist, und dadurch bekam ich einen Begriff von der göttlichen Vaterliebe, dem einzigen Unerschütterlichen im Leben.“14
Kurze Verlobung
Nach seiner Rückkehr aus Jütland Anfang August 1840 verlobt sich Kierkegaard im September mit der zehn Jahre jüngeren Bürgertochter Regine Olsen, die er im Mai 1837 kennen gelernt hat. Sie war damals 15 und er 24 Jahre alt.
In einer späteren Aufzeichnung in seinem Notizbuch schreibt er:
„Im August kam ich zurück. Die Zeit vom 9. August bis zum Anfang September habe ich im strengeren Sinne benutzt, mich ihr zu nähern. Den 8. September ging ich mit dem festen Vorsatz von zu Hause fort, nun das Ganze zur Entscheidung zu bringen. Wir trafen uns auf der Straße, gerade vor ihrem Haus. Sie sagte, es sei niemand daheim. Ich war dummdreist genug, dies eben als eine Invitation zu verstehen, als das, was ich brauchte. Ich ging mit hinauf. Da standen wir zwei allein in der Wohnstube. Sie war etwas unruhig. Ich bat sie, mir etwas vorzuspielen, wie sie es sonst tat. Sie tut das; aber es will mir nicht glücken. Da nehme ich plötzlich das Notenbuch weg, schlage es nicht ohne eine gewisse Heftigkeit zu, werfe es auf das Klavier hin und sage: „Ach, was kümmert mich jetzt Musik! Sie suche ich, Sie habe ich diese zwei Jahre gesucht!“ Sie verstummte. Übrigens habe ich nichts getan, sie zu überreden; ich habe sogar vor mir selbst, vor meiner Schwermut gewarnt. (…) Ich ging unmittelbar zum Staatsrat [d.h. Regines Vater] hinauf. Ich weiß, ich hatte eine schreckliche Angst, einen zu starken Eindruck auf sie gemacht zu haben, sowie, dass mein Besuch auf irgendeine Weise Anlass zu Missverständnissen, wohl gar zur Schädigung ihres Rufs geben könnte. Der Vater sagte weder ja noch nein, war aber doch durchaus willens, wie ich leicht verstand. Ich verlangte eine Unterredung; ich erhielt sie am Nachmittag des 10. Sept. Ich habe kein einziges Wort gesagt, um zu betören – sie sagte ja.“15
Es ist Kierkegaards Hoffnung, durch Regine von seiner Schwermut befreit zu werden:
„Ich liebte sie sehr. Sie war so leicht wie ein Vogel, so dreist wie ein Gedanke; ich ließ sie höher und höher steigen, ich streckte meine Hand aus, und sie stand darauf und schlug mit den Flügeln und rief zu mir herunter: Hier ist‘s herrlich. Sie vergaß es, sie wusste nicht, dass ich es war, der sie leicht machte, ich, der ihrem Gedanken Dreistigkeit gab, der Glaube an mich, der sie auf dem Wasser gehen ließ, und ich huldigte ihr, und sie nahm meine Huldigung an.“16
Regines Gefühle für Kierkegaard kennen wir nicht, aber im Alter von 76 Jahren (!) erzählt sie, dass er einen sehr starken Eindruck auf sie gemacht hat. Vieles deutet darauf hin, dass er ihre für die Zeit typische Lebensanschauung verändert und ihre traditionelle Rolle als Frau in Frage gestellt hat. Vielleicht hat sie mit Kierkegaard Mitleid gehabt und hat es als ihre Lebensaufgabe gesehen, ihn von seiner Schwermut zu befreien. Im hohen Alter erinnert sie sich daran, dass in ihrer Jugend die französische, christliche MärtyrerinJeanne d’Arcihre Heldin war. Vielleicht hat sie die dänische Übersetzung von Friedrich Schillers TragödieDie Jungfrau von Orleansgelesen, die 1813 in Kopenhagen erschienen war, und hat sich mit der aufopfernden Heiligen identifiziert.
Kierkegaard erwähnt Regine nicht direkt in seinen Schriften, aber als er 1851 zwei religiöse Reden veröffentlicht, widmet er „einer Ungenannten, deren Name einmal genannt werden wird“ sein gesamtes, schriftstellerisches Wirken.
Doch schon wenige Tage nach der Verlobung mit Regine beginnt Kierkegaard, eine gemeinsame Zukunft mit ihr zu bezweifeln. Immer wieder melden sich die Fragen in ihm: Kann er mit seiner Nachdenklichkeit, Schwermut und inneren Zerrissenheit eine Ehe schließen und ein unmittelbares, lebensfrohes Mädchen wie Regine glücklich machen? Und ist ein bürgerliches Leben mit ehelichen Pflichten überhaupt vereinbar mit seiner freien, schriftstellerischen Tätigkeit?
In seinem Journal im Mai 1843 macht er diese rückschauende, aber später durchgestrichene Notiz:
„Aber hätte ich mich ihr erklären sollen, hätte ich sie in entsetzliche Dinge einweihen müssen, mein Verhältnis zu Vater, seine Schwermut, die ewige Nacht, die im Innersten brütet, meine Verirrung, Lüste, Ausschweifungen, die vielleicht in Gottes Augen nicht so himmelschreiend sind, denn es war ja doch Angst, die mich irregehen ließ, und wo hätte ich Zuflucht suchen sollen, wusste oder ahnte ich doch, dass der einzige Mann, den ich um seiner Stärke und Kraft willen bewundert hatte, schwankte.“17
Im selben Jahr (1843) stellt einer von Kierkegaards pseudonymen Verfassern folgende kritische Frage nach dem Verhältnis zwischen Leidenschaft und Reflexion:
„(…) ist es nicht eine Art von Wahnsinn, in solchem Grad jede Leidenschaft, jede Rührung des Herzens, jede Stimmung dem kalten Regiment der Reflexion unterworfen zu haben! Ist es nicht Wahnsinn, in solcher Weise normal zu sein, nur Idee, nicht Mensch, nicht wie wir anderen, biegsam und nachgiebig, verloren und sich verlierend! Ist es nicht Wahnsinn, in solcher Weise immer wach zu sein, immer bewusst, niemals dunkel und träumend!“18
Diese Kritik trifft auch Kierkegaard selbst. In seinem Leben unterwirft auch er „jede Leidenschaft, jede Herzensrührung (…) dem kalten Regiment der Reflexion“. Er ist „immer bewusst, niemals dunkel und träumend“. Die Schwermut seines Vaters und die Frohnatur seiner Mutter kämpfen in ihm, und die Schwermut gewinnt. Kierkegaard muss erkennen, dass er nicht den Mut hat zu heiraten. Seine eigene ethische Forderung nach einer Ehe in totaler Offenheit und Vertrautheit kann er nicht erfüllen. Deshalb muss er auf Regine verzichten. Aber wie? Um alles in der Welt will er im kleinbürgerlichen Kopenhagen den unerhört peinlichen Skandal vermeiden, dasserdie Verlobung aufhebt, und dasssieals eine gekränkte und verletzte Frau zurückbleibt. Deshalb tut er alles, was er kann, um auf sie unsympathisch und abstoßend zu wirken, so dasssiedie Verlobung aufhebt. Damit wird Regine in der Öffentlichkeit in einem besseren Licht stehen, und sie wird ihr Minderwertigkeitsgefühl ihm gegenüber loswerden. Also soll es ihr und der Umwelt klar sein:erhat nichtsieverlassen, sondernsiehatihndurchschaut und demnachihnverlassen. In seinemTagebuch des Verführerslässt Kierkegaard den Verführer etwas Ähnliches ausdrücken: „Ich möchte wohl wissen, ob man sich so aus einem Mädchen heraus dichten kann, dass sie sich stolz einbildete, sie habe das Verhältnis gelöst, weil sie desselben überdrüssig geworden sei.“
1849 erinnert sich Kierkegaard an diese Zeit „des Betrugs“:
„In diesen zwei Monaten des Betrugs trug ich vorsichtshalber Sorge, ihr von Zeit zu Zeit direkt zu sagen: gib nach, lass mich los; Du erträgst es nicht. (…) Ich schlug auch vor, der Sache die Wendung zu geben, dass sie es sei, die mit mir gebrochen habe, um ihr alle Kränkungen zu ersparen. Das wollte sie nicht, sie erwiderte, wenn sie das andere ertragen würde, ertrüge sie wohl auch das (…).“19
Kierkegaards „Spiel“ mit Regine gelingt nicht. Regine hat wohl bei ihrem Verhältnis Bedenken gehabt, aber sie will – schreibt Kierkegaard – die Verlobung nicht lösen. Kierkegaard muss selbst den entscheidenden Schritt tun und die „Wahl“ treffen. Am 11. August schickt er Regine seinen Verlobungsring zurück, aber erst zwei Monate später ist der Bruch endgültig. (Mehr als 50 Jahre später glaubt Regine tatsächlich, dasssieund nicht Kierkegaard die Verlobung aufgelöst habe!)
Warum konnte Kierkegaard mit Regine keine intime Beziehung eingehen? Welche Barrieren haben ihn zurückgehalten? Sein abnormes Aussehen? Physische Impotenz? Seine intellektuelle Potenz? Sein antibürgerliches Denken? Bindungsangst? Es gibt keine eindeutige Antwort auf diese Fragen. Aber unter allen Umständen hat seine strenge, christliche und einseitig intellektuelle Erziehung ihn überspannt gemacht und hat ihm früh eine existentielle Lebensangst eingeflößt, so dass er keine unmittelbare Beziehung zu anderen Menschen – besonders Frauen – herstellen oder pflegen konnte.
„Ich habe keine Unmittelbarkeit gehabt, habe daher, schlecht und recht menschlich verstanden, nicht gelebt; ich habe sogleich mit Reflexion begonnen, habe nicht erst in späteren Jahren ein bisschen Reflexion gesammelt, sondern ich bin eigentlich Reflexion von Anfang bis Ende.“20
Kierkegaards Charakteristik seiner Zeitgenossen trifft auch ihn selbst:
„Ein jeder, welcher die trügliche Beute davongetragen hat, abnorme Verständigkeit zu gewinnen durch den Verlust der Fähigkeit zu wollen und der Leidenschaft zu handeln, hat darum eine starke Neigung, seine Haltlosigkeit abzusteifen mit allerhand Vorausbetrachtungen, die sich vortasten und unterschiedlichen Nachbetrachtungen, die das Geschehene umerklären.“21
Auch Kierkegaard hatte „abnorme Verständigkeit“ gewonnen und dadurch die „Leidenschaft zu handeln“ verloren. Seine Leidenschaft war nicht körperlich, sondern innerlich, d.h. intellektuell:
“Menschlich gesprochen ist mein Unglück, dass ich zu wenig Leiblichkeit habe; meine Innerlichkeit [...] zittert beinahe in der kleinsten Nebensächlichkeit, die ich mir vornehme (…). Ein gesunder, starker Mensch zu sein, der an allem teilnehmen könnte, der körperliche Kraft hätte und ein sorgloses Gemüt: o, wie oft habe ich mir das in früheren Zeiten gewünscht. In der Zeit der Jugend ist meine Qual furchtbar gewesen.”22
Kierkegaards ironische Distanz zum animalischen Körper macht ihn unmittelbar zu einer tragischen Figur. Seine tiefen, philosophischen Reflexionen über das Leben kompensieren einigermaßen die unrealisierten, körperlichen Triebe. Das Missverhältnis zwischen Geist und Körper, Seele und Leib, scheint zwar krankhaft, ist aber eine Voraussetzung für seine intellektuelle Produktivität.
Ein halbes Jahrhundert nach Kierkegaards Tod erklärt der österreichische Arzt und PsychologeSigmund Freuddieses Phänomen als ein Symptom eines ungelösten, psychischen Konflikts im „Ich“ zwischen dem „Lustprinzip“ (den unbewussten Trieben) und dem „Idealprinzip“ (den durch die Erziehung eingepflanzten Moralnormen). Das „Ich“ wehrt sich gegen das „Unbehagen“ in diesem Konflikt zwischen „Natur“ und „Kultur“, indem es die Triebe in geistige (intellektuelle / künstlerische / religiöse) Aktivität verschiebt und dadurch eine Ersatzbefriedigung auf einer feineren und höheren Ebene bekommt. Die „Natur“ wird sozusagen in „Kultur“ umgebildet.
Schriftstellerische Berufung
Als Kierkegaard am 12. Oktober 1841 endgültig seine Verlobung mit Regine löst, trifft er eine existentielle Wahl: Er verzichtet auf das irdische Glück und folgt seiner Berufung zum Schriftsteller – genau wie der junge Mensch inDie Wiederholung(1843):
”Wenn die Idee ruft, verlasse ich alles (…). Es lebe der Flug der Gedanken, es lebe die Lebensgefahr im Dienst der Idee.“23
Nach dem Bruch mit Regine verlässt Kierkegaard am 25. Oktober 1841 Kopenhagen und reist nach Berlin, dem damaligen Kulturzentrum Europas, um dort an der Universität Friedrich Schellings philosophische Vorlesungen zu hören. Besonders seine Idee vom „Verhältnis der Philosophie zur Wirklichkeit“ macht ihn froh: „Als er das Wort „Wirklichkeit“ nannte, da hüpfte die Frucht des Gedankens in mir vor Freude”. „Wirklichkeit“ ist das, was er in seinem gedankenschweren Leben und in der spekulativen Philosophie seiner Zeit vermisst.
”Was die Philosophen über die Wirklichkeit sagen, ist oft ebenso irreführend, wie wenn man bei einem Trödler auf einem Schilde liest: Wäschemangel. Würde man mit seiner Wäsche kommen, um sie mangeln zu lassen, so wäre man angeführt; denn das Schild steht dort nur zum Verkauf.“24
In Berlin arbeitet er an seinem philosophischen HauptwerkEntweder – Oder.Hier beschreibt und analysiert er die Widersprüche seines Lebens: einerseits das süße, unverbindliche Leben als junger Student und andererseits das in seinen Gedanken konstruierte, verantwortungsvolle Leben als reifer Ehemann. Diese beiden „Stadien auf dem Lebensweg“ werden nicht als Entwicklungsstufen dargestellt, sondern als zwei unterschiedliche Lebensanschauungen und Lebensführungen, von denen jeder einzelne Menschentwederdie eineoderdie anderewählenmuss. Und es regt zum Nachdenken an, dass Kierkegaard mit dem zweiten Teil, dem Leben als Ehemann, anfängt! Seine Erinnerungen an die verlassene Regine sind ihm offenbar nicht aus dem Kopf gegangen.
Im März 1842 kehrt Kierkegaard aus Berlin nach Kopenhagen zurück, umEntweder – Oderzu vollenden. In den folgenden Jahren wird er in Kopenhagen wegen seiner täglichen Spaziergänge durch die Stadt, wegen seines merkwürdigen Aussehens und seiner Lebensweise eine bekannte Gestalt. Der dänische Literaturkritiker und Schriftsteller Georg Brandes (1842-1927) hat 1877 folgendes „Charakterbild“ von Kierkegaard gegeben:
„Der merkwürdige Mann war in Kopenhagen als ein Straßenoriginal bekannt. Die Außenseite seines Lebens war wunderlich und monoton. Man konnte ihm in früher Morgenstunde auf den abgelegenen Pfaden längs des Stadtgrabens begegnen, für den er, humoristisch genug, eine Fischereimarke gelöst hatte, um ungestört denken und dichten zu können (…).
An einem anderen Tage konnte man auf der Østergade [Oststraße] um die Mittagszeit zwischen zwei und vier Uhr im Menschenschwarme die hagere und dürre Gestalt mit dem gebeugten Haupte und dem Regenschirm unterm Arme verfolgen (…). Er grüßte jeden Augenblick nach rechts und nach links, unterhielt sich bald mit Diesem bald mit Dem, hörte ein vereinzeltes Mal einen kleinen Gassenjungen „Entweder – Oder“ hinter sich her schreien, ließ sich mit Krethi und Plethi [allen möglichen Leuten] ein, ebenso zugänglich für Jeden hier auf der Straße wie unzugänglich in seinem Daheim (…).
Aber, ging man dann eines Winterabends an seinem Hause vorüber, und fiel der Blick auf die lange Reihe erhellter Fenster, welche der von ihm bewohnten Etage das Aussehen gaben, als sei dieselbe illuminiert, so ahnte oder gewahrte man eine Flucht schön möblierter, sämtlich geheizter Zimmer, in welchen der seltsame Denker auf und ab schritt unter einer Stille, die nur durch das Kritzeln der Feder auf dem Papier unterbrochen ward, wenn er stehen blieb, um einen Einfall in sein Manuskript oder eine Notiz in sein Tagebuch zu schreiben; denn in allen Zimmern fand sich Tinte, Feder und Papier.“25
In dem Kopenhagener SatireblattCorsaren(Der Korsar) wird Kierkegaard Anfang 1846 wegen seiner Schriften und seines Aussehens kritisiert und lächerlich gemacht. Auf seinen täglichen Spaziergängen wird er von Schuljungen und Studenten verhöhnt. Diese Angriffe erschüttern ihn und tragen dazu bei, dass er sich als einen Märtyrer sieht, der verfolgt wird und allein gegen die Welt kämpft.
Angriffe auf die Staatskirche
Im September 1851 zieht sich Kierkegaard von der Öffentlichkeit zurück und gibt die nächsten drei Jahre keine Schriften heraus. Aber nur um seinen Kampf gegen die dänische Staatskirche gründlich vorzubereiten.
[...]
1 Kierkegaards Journal 1844. In: Ausgewählte Journale, Band 1. Herausgegeben von Markus Kleinert und Gerhard Schreiber, Walter de Gruyter 2013, S. 386
2 Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller (1848/1859), zitiert nach Chr. Schrempf, S. 540
3 Kierkegaards Journal 1848. In: Deutsche Sören Kierkegaard Edition, Band 4, Walter de Gruyter 2013
4 Kierkegaards Journal 1848. In: Deutsche Sören Kierkegaard Edition, Band 5, Walter de Gruyter 2015
5 Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller (1848/1859), zitiert nach Chr. Schrempf, S.550
6 Kierkegaards Journal 1835. In: Deutsche Sören Kierkegaard Edition, Band 1, Walter de Gruyter 2005
7 Ebd.
8 Kierkegaards Journal 1843. In: Deutsche Sören Kierkegaard Edition, Band 2, Walter de Gruyter 2005
9 Kierkegaards Journal 1835. In: Deutsche Søren Kierkegaard Edition, Band 1, Walter de Gruyter 2005
10 Sören Kierkegaard in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Peter R. Rohde. Aus dem Dänischen übertragen von Thyra Dohrenburg. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH 1959, S. 34
11 Kierkegaards Journal 1835. Zitiert nach Hermann Deuser / Markus Kleinert (Hrsg.): Sören Kierkegaard: Entweder – Oder, Walter de Gruyter 2017
12 Sören Kierkegaard in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Peter R. Rohde. Aus dem Dänischen übertragen von Thyra Dohrenburg. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH 1959, S. 42f.
13 Ebd. S. 43
14 Kierkegaards Notizbuch 1840. In: Deutsche Sören Kierkegaard Edition, Band 3, Walter de Gruyter 2011
15 Kierkegaards Notizbuch 1849. In: Deutsche Sören Kierkegaard Edition, Band 3, Walter de Gruyter 2011
16 Kierkegaards Notizbuch 1840. In: Deutsche Sören Kierkegaard Edition, Band 3, Walter de Gruyter 2011
17 Kierkegaards Journal 1843. In: Markus Kleinert / Gerhard Schreiber (Hrsg.): Ausgewählte Journale, Band 1, Walter De Gruyter 2013
18 Kierkegaard: Die Wiederholung (1843). Aus dem Dänischen von Günther Jungbluth, dtv 2005 / 2020, S. 399
19 Kierkegaards Notizbuch 1849. In: Deutsche Sören Kierkegaard Edition, Band 3, Walter de Gruyter 2011
20 Kierkegaard: Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller (1848/1859). Zitiert nach Chr. Schrempf
21 Kierkegaard: Literarische Anzeige (1846). In: Sören Kierkegaard. Gesammelte Werke, Band 17, E. Diederich 1954
22 Kierkegaards Journal 1848. In: Gesammelte Werke, Anhang. E. Diederich 1974
23 Kierkegaard: Die Wiederholung (1843). Aus dem Dänischen von Günther Jungbluth, dtv 2005 / 2020, S. 432
24 Kierkegaard: Entweder - Oder (1843). Aus dem Dänischen von Heinrich Fauteck, dtv 2005 /2020, S. 42
25 Georg Brandes: Sören Kierkegaard. Ein literarisches Charakterbild (1879). Nachdruck 2013
- Citation du texte
- Henrik Borg Jensen (Auteur), 2023, Kierkegaard für Einsteiger, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1356729
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