In dieser Arbeit wird das Hauptaugenmerk auf die Großstadtdarstellung in der Neuen Sachlichkeit gerichtet. War Berlin in den zwanziger Jahren so, wie man es in seinem Buch lesen kann? Hatte er vielleicht nur eine spezielle, andere Wahrnehmung? Dazu wird das Licht auch auf den Menschen Döblin (1878-1957) und seine Verwobenheit mit der Hauptstadt zu richten sein.
Zudem war dieser Autor nicht der einzige, der sich mit dem Motiv beschäftigte – um ein objektiveres Bild zu erhalten, soll noch Erich Kästners (1899-1974) Fabian herangezogen werden.
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen also vor allem zwei Faktoren: die Großstadt und die epochenspezifische Darstellungsweise, die Neue Sachlichkeit. Wie stehen sich Motiv und Strömung gegenüber, bedingen sie einander? Wie verhalten sich der in dem jeweiligen Werk im Fokus stehende Mensch und die Stadt Berlin konkret zueinander bzw. weshalb kommt es überhaupt zu einem Konflikt zwischen ihnen, da doch der Mensch in der Stadt lebt und die Stadt ein vom Menschen geschaffener Lebensraum ist?
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Die Neue Sachlichkeit und Berlin
2.1 Die Wirkungskraft Berlins
2.2 Döblin, der Döblinsche Stil und Berlin
2.3 Kästner und Berlin
3. Berlin in der Neuen Sachlichkeit
3.1 Personifikation der Stadt versus Depersonation des Menschen
3.2 Dokumentarismus und Reportagestil
3.3 Neue Grenzen der Sachlichkeit
4. Zur Sinn- und Zweckhaftigkeit der Großstadtmotivik
Quellen
1. Einführung
Jede Literaturepoche zeichnet sich durch eine bestimmte Darstellungs- und Verarbeitungswei-se aus, wonach sie – zumeist Jahre oder Jahrzehnte später – dann auch benannt wird. So war es bei der Klassik, beim Sturm und Drang, ebenso im Expressionismus. Dabei ging es weni-ger um die Motive, um den verarbeiteten Stoff oder die Themen, denn diese konnten durchaus epochenübergreifend Eingang in Kunst und Literatur finden.
Obwohl also die Motivik weniger im Vordergrund steht, lassen sich daran doch die spezifi-schen Qualitäten und Eigenheiten der jeweiligen Epoche bemessen. Man betrachte zum Bei-spiel das Motiv der Großstadt. Seit es sie gibt, beschäftigt man sich stets in irgendeiner Form mit ihr, denn sie vermag zu polarisieren und faszinieren, sie bot und bietet immer wieder ein scheinbar unerschöpfliches Repertoire an Stoffen für die Auseinandersetzung mit ihr selbst. Ein Faktor für die Begründung des nicht versiegen wollenden Interesses scheint die Wandel-barkeit der Großstadt zu sein, ihre immerwährende Bereitschaft zur Veränderung.
Vor allem der deutschen Hauptstadt Berlin scheinen all die Attribute anzuhaften. Es gibt zahl-reiche Geschichten, Gedichte und Gemälde, die die Stadt für den Moment festhalten wollten und in vielerlei Weise für die Nachwelt wertvoll sind und bleiben – für Historiker, für Sozio-logen, Kunst- und Literaturwissenschaftler.
Innerhalb eines bestimmten Zeitraumes – nämlich dem zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg – wurde die Metropole beispielsweise auf eine sehr spezielle, ungewöhnliche Art und Weise wahrgenommen und verarbeitet:
Am Alexanderplatz reißen sie den Damm auf für die Untergrundbahn. Man geht auf Brettern. Die Elektrischen fahren über den Platz die A-lexanderstraße herauf durch die Münzstraße zum Rosenthaler Tor. Rechts und links sind Straßen. In den Straßen steht Haus bei Haus. Die sind vom Keller bis zum Boden mit Menschen voll. Unten sind die Läden. (Berlin Alexanderplatz, S. 123)
Diese Beschreibung stammt aus dem Werk Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin und verweist bereits recht deutlich auf die außergewöhnliche Darstellungsweise der Stadt. Sie entspringt keineswegs einer spontanen Eingebung des Autors, sondern ist Ergebnis einer „see-lisch-geistige[n] Tendenz“1, die sich Neue Sachlichkeit nannte und eng mit Alfred Döblin selbst zusammenhing, letztlich aus dem Döblinschen Stil heraus zur Strömung avancierte.
In dieser Arbeit wird das Hauptaugenmerk auf genau diese Art der Großstadtdarstellung ge-richtet; warum überhaupt hat Döblin diese Stadt nicht anders dargestellt? War Berlin in den zwanziger Jahren so, wie man es in seinem Buch lesen kann? Hatte er vielleicht nur eine spe-zielle, andere Wahrnehmung? Dazu wird das Licht auch auf den Menschen Döblin (18781957) und seine Verwobenheit mit der Hauptstadt zu richten sein.
Zudem war dieser Autor nicht der einzige, der sich mit dem Motiv beschäftigte – um ein ob-jektiveres Bild zu erhalten, soll noch Erich Kästners (1899-1974) Fabian herangezogen wer-den:
Soweit diese riesige Stadt aus Stein besteht, ist sie fast noch wie einst. Hinsichtlich der Bewohner gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang. (Fabian, S. 77)
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen also vor allem zwei Faktoren: die Großstadt und die epochenspezifische Darstellungsweise, die Neue Sachlichkeit. Wie stehen sich Motiv und Strömung gegenüber, bedingen sie einander? Wie verhalten sich der in dem jeweiligen Werk im Fokus stehende Mensch und die Stadt Berlin konkret zueinander bzw. weshalb kommt es überhaupt zu einem Konflikt zwischen ihnen, da doch der Mensch in der Stadt lebt und die Stadt ein vom Menschen geschaffener Lebensraum ist?
Dazu werden zunächst die genannten Faktoren einzeln beleuchtet. Die Neue Sachlichkeit, das Großstadtmotiv, das reale Verhältnis der Autoren zu Berlin und schließlich wird sich der Kreis durch eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung anhand der bisherigen Er-kenntnisse über Zusammenhänge und eine Stereotypenkontrolle schließen.
2. Die Neue Sachlichkeit und Berlin
Lion Feuchtwanger versucht der Frage nach den Ursprüngen dieser Strömung in seinem Auf-satz Die Konstellation der Literatur auf den Grund zu gehen. Dabei blickt er zurück auf die Zeit vor der Neuen Sachlichkeit, eine Zeit voller „sinn- und zwecklose[r] Spielerei, ohne Zu-sammenhang mit dem Leben“, zudem attestiert er Einflüsse aus „Krieg, Revolution, gestei-gerte[r] Technik“ ebenso wie einen Überdruss der Menschen an „formalistischen, ästhetisch tändelnden Kram, [...] alle[m] Ekstatische[n], gefühlsmäßig Übertonte[n]“. Stattdessen ging das subjektive Interesse nun in Richtung „Anschauung des Objekts: anschaulich gemachtes Leben der Zeit, dargeboten in einleuchtender Form“2.
Ebenso wie die Erfahrungen des ersten Weltkrieges wirkten sich noch einige andere Faktoren auf die Künstler, Autoren und ihre Werke dieser Zeit aus, die im Laufe der folgenden Be-trachtung aber nur gestreift werden können.
Der Rahmen dieser Strömung ist etwa um die politisch-wirtschaftliche Konsolidation und die Weltwirtschaftskrise abzustecken3, es geht epochenspezifisch also um eine Erscheinung nach dem Naturalismus und Expressionismus und vor der Literatur unterm Hakenkreuz . Trotz der Stärke und Eigenheit der Neuen Sachlichkeit wird die Bezeichnung kaum mit einer literari-schen, vielmehr mit einer kunstgeschichtlichen Epoche in Verbindung gebracht. Insbesondere wird die soziologische Komponente wahrgenommen, d.h. dass der Begriff „Neue Sachlich-keit“ allem voran mit „Verhaltenslehre zum Überleben“ und „ethischer Grundbegriff“ assozi-iert wird.4 So interessant und maßgeblich die historischen und soziologischen Aspekte für die Entstehung der Neuen Sachlichkeit auch sind, so soll es nun doch mehr als siebzig Jahre nach dem Ende der Strömung um das literarische Werk und seine Besonderheiten gehen.
2.1 Die Wirkungskraft Berlins
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: siehe Quellenverzeichnis
Bei vergleichender Betrachtung neusachlicher Werke lassen sich wie bei jeder anderen Strömung Gemeinsamkeiten feststellen. Auch hier gibt es Verbindungen von Darstellungsweisen wie von The-men und Motiven – hier war „nur das darzustellen, was tatsächlich sicht-, hör- und erfahrbar ist“5. Ein starkes Motiv ist wie schon erwähnt die Großstadt, die Metropole, Berlin. Berlin vor allem als Manifestation der Technik.
Nun ein exkursiver Überblick:
1927 erscheint der Film Berlin – Die Sinfonie der Großstadt von Walter Ruttmann, ein stark inszenierter Film, wenngleich er über seine Bilder in gleicher Weise das transportiert, was sich auch in Berlin Alexanderplatz oder Fabian oder Keuns Kunstseidenem Mädchen bemerkbar macht und was folgend analysiert werden soll. Die technisierte Stadt eroberte damals alle zur Verfügung stehenden Medien.
Das Industriebild (um 1924) von dem Maler, Grafiker und Architekten Karl Völker (18891962) kann an dieser Stelle durchaus als Äquivalent aus der Malerei angeführt werden. Völ-ker malte eine Reihe von Industriebildern „in einer vom Konstruktivismus geprägten Neuen Sachlichkeit“6. Das neusachliche Credo scheint gelautet zu haben:
Hier schreibt Berlin. Die Stadt Berlin schreibt. Die Stadt diktiert. Schreibt in fünfzig Herzen und Hirne, - schreibt aus fünfzig Herzen und Hirnen.7
Der Topos der Großstadt scheint im Rückblick besonders geeignet gewesen zu sein, wirft aber gleichzeitig die Frage nach dem Warum auf. Zumindest für das literarische Ergebnis lassen sich Anhaltspunkte zur Begründung der Frage in den Texten selbst finden (und sich vor dieser Folie vermutlich auch auf die anderen Kunstrichtungen übertragen). Fest steht zumindest be-reits an dieser Stelle, dass Berlin „schon als Synonym für Industrialisierung und technische Modernität [...] somit imaginär [ist], noch mehr als ästhetisches Ab- und Gegenbild“8. 1928, so Jungen weiter, findet sich in der Literatur vor allem das Gegenbild: „der Topos der Stadt als Moloch“9. Berlin also als eine unersättliche, alles verschlingende Macht.
An dieser Stelle bereits lässt sich Folgendes zusammenfassen: es ist angedeutet worden, dass die Strömung der Neuen Sachlichkeit einem bestimmten Ideal folgte, welches sich aus den Umständen und Gegebenheiten der Zeit und Gesellschaft herauskristallisierte. Es wurde pos-tuliert, dass diesem in literarischen Werken umgesetzten Ideal etwas Besonderes anhaftet, das es so vorher und auch danach nicht in der Form gab, dass Alfred Döblin eine große Rolle in der Verwirklichung der Ideen spielte. Dies soll nun überprüft werden anhand ausgewählter Textstellen, durch die Kästner und Döblin die Umrisse der Stadt neusachlich nachzeichnen, also wie die Autoren Berlin wahrgenommen und in der Folge ver- und bearbeitet haben, wel-che Wirkungskraft von Berlin ausgehen musste .
Die Elemente und Ideen der Neuen Sachlichkeit werden in der Betrachtung der Verarbeitung des Großstadttopos durchaus ersichtlich. Döblin und Kästner waren selbst keine gebürtigen Berliner – wie kamen sie dorthin und was begründete ihre Faszination für die Großstadt?
2.2 Döblin, der Döblinsche Stil und Berlin
„In den poetologischen Positionen Döblins, zumal in den frühen, findet sich die[...] Grund-signatur der Stadt wieder.“10 Um Döblin und sein Werk zu verstehen, kommt man nicht um-hin, seine symbiotische Verbindung mit der Hauptstadt zu bemerken, die seit der Ankunft des damals Zehnjährigen eine große Rolle für seine Person und sein Schaffen spielte. Hintergrün-de für seine Affinität zu Berlin und die Grundlage für seine Neudefinition der Großstadtdich-tung lassen sich in seinen autobiografischen Schriften finden.
Wir fuhren also von Stettin nach Berlin. [...] Ich saß in Geburtswe-hen. Mir wurde bänglich und immer bänglicher. Es betraf meinen Bauch. Die Wehen nahmen an Heftigkeit zu. Und als wir uns den Häusern Berlins näherten, war ich am Ende meiner Kraft. [...] Das Kind war da, es lief in meine Hose, mir wurde wohler, ich stand in ei-ner Pfütze. Dann setzte ich mich beruhigt.11
[...]
1 Philosophisches Wörterbuch, hgg. von Schmidt, Heinrich, Stuttgart 1991.
2 Feuchtwanger, Lion: Die Konstellation der Literatur. In: Berliner Tageblatt, Nr. 518 vom 02.11.1927.
3 Vgl. Hima, Gabriella: Dunkle Archive der Seele in hellen Gebärden des Körpers: die Anthropologie der neu-sachlichen Prosa, in: Europäische Hochschulschriften: Reihe 18, Frankfurt am Main 1999, S. 18.
4 Vgl. ebenda, S. 15-18.
5 Hima: die Anthropologie der neusachlichen Prosa, S. 22.
6 http://www.kunstmuseum-moritzburg.de/ausstell/Archiv/archiv14.html
7 Günther, Herbert: Hier schreibt Berlin, 1929, S. 13.
8 Jungen, Oliver: Döblin, die Stadt und das Licht. Die Technisch-elektrische Hintergrundmetaphorik der urbanen Moderne. Zur Autopoiesis einer Stadtpoetik als Poetik des Lichts, München 2001, S. 42.
9 Döblin, Alfred: Schriften zu Leben und Werk, Freiburg/ Br. 1986, S. 33.
10 Jungen, Oliver: Döblin, die Stadt und das Licht, S. 29.
11 Döblin, Alfred: Schriften zu Leben und Werk, Freiburg/ Br. 1986, S. 110.
- Arbeit zitieren
- René Ferchland (Autor:in), 2008, Berlin in der Neuen Sachlichkeit , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/135634
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