Die ambivalente Rolle der Mutter-Figur – einerseits eine wichtige Handlungsträgerin zu sein, andererseits ohne wirkliche personale Identität zu bleiben – möchte das vorliegende Essay näher beleuchten. Zu diesem Zwecke soll zunächst eine Charakterisierung der Gregorius-Mutter vorgenommen werden, bevor die Figur auch in ihrer Mutterrolle sowie in der Beziehung zu ihrem Kind beleuchtet wird. Darauf aufbauend soll die Mutter-Figur dann, auch unter Bezugnahme auf Ingrid Kastens Aufsatz „Schwester, Geliebte, Mutter, Herrscherin: Die weibliche Hauptfigur in Hartmanns »Gregorius«“, wieder in den Gesamtzusammenhang der Legende eingeordnet werden, um ein abschließendes Bild dieser ambivalent angelegten Figur zu erhalten.
Inhalt
1. Einleitung: Gregorius Mutter - wichtig und doch namenlos
2. Eine Vielzahl an Rollenidentitäten
3. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung: Gregorius Mutter - wichtig und doch namenlos
Hartmann von Aues höfische Legende Gregorius begleitet nicht nur die namensgebende Figur auf dessen Weg von der Sünde über die Buße zur Gnade, sondern veranschaulicht eben jenen Weg auch an dessen Mutter. Dass der Mutter-Figur innerhalb der Geschichte um Gregorius eine Schlüsselrolle zugedacht ist, wird dabei bereits daran ersichtlich, dass die Vorgeschichte um den Inzest zwischen Bruder und Schwester, aus welchem Gregorius ja schließlich als Kind hervorgeht, in der Legende eine wichtige Stellung einnimmt. Auch an dem zweiten Inzest, dieses Mal direkt zwischen Mutter und Sohn, ist die Mutter-Figur beteiligt. Dennoch aber bleibt sie in der Legende eine Namenlose; Ingrid Kasten schreibt der weiblichen Hauptfigur der Legende in diesem Zusammenhang einen Mangel an personaler Identität zu (vgl. Kasten 1993, 401). Gleichzeitig stellt Kasten aber auch fest, dass die Mutter-Figur als funktionale Schlüsselfigur Vor- und Hauptgeschichte miteinander verknüpft und dass das zentrale Themenfeld von Hartmann von Aues Bearbeitung des altfranzösischen Legendenstoffes, der Zusammenhang von Sünde, Buße und Gnade, ebenso wie an Gregorius selbst auch an dessen Mutter „exemplifiziert" werde (ebd., S. 414).
Diese ambivalente Rolle der Mutter-Figur - einerseits eine wichtige Handlungsträgerin zu sein, andererseits ohne wirkliche personale Identität zu bleiben - möchte das vorliegende Essay in der Folge näher beleuchten. Zu diesem Zwecke soll zunächst eine Charakterisierung der Gregorius-Mutter vorgenommen werden, bevor die Figur auch in ihrer Mutterrolle sowie in der Beziehung zu ihrem Kind beleuchtet wird. Darauf aufbauend soll die Mutter-Figur dann, auch unter Bezugnahme auf Ingrid Kastens Aufsatz „Schwester, Geliebte, Mutter, Herrscherin: Die weibliche Hauptfigur in Hartmanns »Gregorius«“, wieder in den Gesamtzusammenhang der Legende eingeordnet werden, um ein abschließendes Bild dieser ambivalent angelegten Figur zu erhalten.
2. Eine Vielzahl an Rollenidentitäten
Die Mutter des Gregorius tritt in Hartmanns Legende in verschiedenen Rollen auf, an welchen sich auch Ingrid Kasten mit dem Titel ihres oben genannten Aufsatzes orientiert: Die weibliche Hauptfigur der Legende wird zu Beginn der Vorgeschichte als Tochter des Herrschers von Aquitanien eingeführt. Allerdings füllt sie eine etwaige ,Tochter-Rolle‘ nicht nachdrücklich aus; vielmehr findet sie sich, nachdem sie und ihr Bruder jung zu Waisen werden, schon früh in der Rolle der Schwester wieder. So ist es der Bruder, dem nach dem frühen Tod des Vaters dessen Herrschaftsanspruch zufällt, einhergehend mit der eigentlich väterlich definierten Fürsorgepflicht für die Schwester. Diese wird ihm vom Vater auf dessen Sterbebett gewissermaßen übertragen, indem der sterbende Herrscher seinem Sohn die Schwester „anbefiehlt" (V. 2601). Wie dem hartmännschen Text zu entnehmen ist, erfüllt der Bruder seine Pflichten in der Folge „sô er beste mohte" (V. 277). In der Rolle der brüderlich umsorgten Schwester bleibt die weibliche Protagonistin der Legende allerdings nicht lange. Schon bald kommt es in der Vorgeschichte durch die Vergewaltigung der Schwester durch den Bruder zum ersten Inzest, welcher sich, dann auch einvernehmlich, wiederholt. Hier wechselt die spätere Gregorius-Mutter für ein erstes Mal in der Geschichte in die Rolle der Geliebten. So umstritten eine etwaige Mit- beziehungsweise Teilschuld des Mädchens am ersten Beischlaf in der Sekundärliteratur auch sein mag (vgl. Kasten, S. 402 f.), lässt Hartmann von Aue in seiner Bearbeitung des Stoffes doch keinen Zweifel daran, dass das Mädchen in der Folge Gefallen an dem Inzest findet. So heißt es im Text: „der tiuvels schünde luoder begunde si mêre schünden, daz in mit den sünden lieben begunde" (V. 400-404). Ingrid Kasten folgert, dass „das aber heißt, daß die Schwester nicht mehr Opfer ist, sondern wissentlich und willentlich gegen die Gebote der gesellschaftlichen und religiösen Ordnung verstößt" (S. 409). Die Schwester wird hier demnach endgültig zur Sünderin; mit dem aus der Sünde hervorgehenden Kind wird die Schwester zur Mutter. Auffällig ist hier bereits, dass die weibliche Hauptfigur der Geschichte schon von Anfang an fast ausschließlich in Abhängigkeit von der ihr jeweils am nächsten stehenden männlichen Figur definiert wird. Je nach Beziehung ist sie deshalb Tochter, Schwester, Geliebte und Mutter. Insofern scheint die Identität der Gregorius-Mutter immer vom männlichen Gegenstück abhängig zu sein; eine wirkliche individuelle Identität besitzt sie nicht. Passenderweise bleibt in Hartmanns Bearbeitung des Stoffes eine tiefergreifende Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit der weiblichen Hauptfigur, mit ihren Ängsten, Hoffnungen und inneren Konflikten, aus. Besonders offensichtlich ist dies vor allem dann, wenn der kleine Gregorius auf dem Meer ausgesetzt wird; von einem inneren Konflikt der Mutter ist an dieser Stelle -zumindest in Hartmanns Version des altfranzösischen Legendenstoffes- keine Spur. Kasten merkt diesbezüglich an, dass Hartmann die Verantwortung an dieser Stelle auf Gott verlagere und somit die Mutter entlaste (vgl. ebd. S. 411). Erst nachträglich ist kurz von dem Schmerz der Mutter und von ihrer Sehnsucht nach ihrem geliebten Kind die Rede: „Der leide waren driu [...] daz dritte was diu vorhte die ir der jâmer worhte nâch ir lieben kinde" (V. 805 ff.).
Die nächste Rolle, in welcher die Gregorius-Mutter der Leserschaft begegnet, ist die der Herrscherin von Aquitanien. Nachdem der Bruder auf seiner Pilgerfahrt stirbt, übernimmt sie die Landesherrschaft. In dieser Rolle der Herrscherin tritt die Mutter nun zunächst als eine Entsagende auf, die sich, um für ihre Sünde zu büßen, einem streng religiösen und asketischen Lebensstil verschrieben hat (vgl. V. 885 ff.). Kasten stellt diesbezüglich fest, dass die Figur der Mutter in Hartmanns Bearbeitung des Stoffes, im Unterschied zur altfranzösischen Vorlage, mit einem individuellen Sündenbewusstsein ausgestattet sei (vgl. Kasten 1993, S. 414). Die Mutter ist sich ihrer eigenen Sünde demnach wohl bewusst. Dabei darf allerdings auch nicht unerwähnt bleiben, dass die Mutter hier eher dem Rat des Vasallen folgt, als wirklich eine eigene Entscheidung zu treffen. Dies passt in das oben bereits dargelegte Bild der steten Abhängigkeit und Rückbindung der weiblichen Figur an männliche Figuren in ihrem Umfeld. Um ihrem entsagenden Lebensstil und ihrer Buße weiter treu zu bleiben, schlägt die Gregorius- Mutter in der Folge auch das Heiratsangebot eines anderen Herrschers aus, welcher daraufhin gegen sie und ihr Land in den Krieg zieht. Schließlich ist es ihr Sohn Gregorius, in der Zwischenzeit herangewachsen, der das Land der Mutter befreit und so den Frieden wiederbringt.
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1 Bei direkten und indirekten Zitaten aus Hartmanns Gregorius wird stets unter Angabe des Verses im Fließtext auf diesen verwiesen: Hartmann von Aue: Gregorius. Nach dem Text von Friedrich Neumann neu herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Waltraud Fritsch-Rößler. Reclam 2018.
- Quote paper
- Anonymous,, 2020, Zwischen Schlüsselrolle und Namenlosigkeit – die ambivalente Rolle der Mutter-Figur in Hartmanns von Aue "Gregorius", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1354967
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