Eine Arbeit über Franz Kafkas Werke sieht sich besonders dem Problem ausgeliefert, daß es nicht am Interesse diesem Autor gegenüber mangelt. Kaum ein Untersuchungsgegenstand fehlt; Literaturwissenschaftler und Linguisten, Psychoanalytiker und Mediziner, Soziologen und Historiker, Philosophen und Theologen haben sich Kafka und sein schwerverständliches Werk zum Forschungsobjekt auserkoren. So mangelt es auch nicht an Untersuchungsmethoden. Die vorliegende Arbeit mit dem Anliegen der Betrachtung von Schuld und Strafe versucht einen Teilbereich auszufüllen, der moralische Aspekte von Literatur berührt. So ist davon auszugehen, daß interdisziplinär interpretiert werden muß; die oben aufgezählten Richtungen werden der Literaturwissenschaft
als Gerüst dienen, dem Thema eine objektivierende Form zu geben. Es ist zu bedauern, daß zur Zeit der Niegerschrift dieser Arbeit die kritische Ausgabe von Kafkas Werken gerade erst begonnen wurde, denn es kann davon ausgegangen werden, daß von deren Lektüre viele neue Interpretationsimpulse ausgehen werden.
INHALTSVERZEICHNIS
1. VORWORT Seite
2. EINLEITUNG
2.1. Zur Themenwahl
2.2. Zur Problematik der psychoanalytischen Interpretation
2.3. Zur auf Kafka angewandten psychoanalytischen Interpretation
3. PSYCHOLOGISCHE BETRACHTUNGEN ZUR BIOGRAPHIE PRANZ KAEKAS
3.1. Kafka und seine Objektbeziehungen
3.2. Die besondere Schuld - und Strafproblematik
4. SCHULD UND STRALE IN AUSGEWÄHLTEN WERKEN
4.1. "Amerika"
4.2. "Das Urteil"
4.3. "Die Verwandlung
4.4. "Der Prozeß"
4.5. "In der Strafkolonie"
4.6. "Brief an den Vater"
5. DIE EAMILIE ALS VERMITTLER GESELLSCHAETLICHER NORMEN
5.1. Eamilie als Ideal und Trauma
5.2. Das außerfamiliäre Umfeld
6. SCHLUSSWORT
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
a) Quellen
b) Sekundärliteratur über Kafka
c) Allgemeine Sekundärliteratur
1. VORWORT
Eine Arbeit über Franz Kafkas Werke sieht sich besonders dem Problem ausgeliefert, daß es nicht am Interesse diesem Autor gegenüber mangelt. Kaum ein Untersuchungsgegenstand fehlt; Literaturwissenschaftler und Linguisten, Psychoanalytiker und Mediziner, Soziologen und Historiker, Philosophen und Theologen haben sich Kafka und sein schwerverständliches Werk zum Forschungsobjekt auserkoren. So mangelt es auch nicht an Untersuchungsmethoden.
Die vorliegende Arbeit mit dem Anliegen der Betrachtung von Schuld und Strafe versucht einen Teilbereich auszufüllen, der moralische Aspekte von Literatur berührt. So ist davon auszugehen, daß interdisziplinär interpretiert werden muß; die oben aufgezählten Richtungen werden der Literaturwissenschaft als Gerüst dienen, dem Thema eine objektivierende Form zu geben.
Es ist zu bedauern, daß zur Zeit der Niederschrift dieser Arbeit die kritische Ausgabe von Kafkas Werken gerade erst begonnen wurde, denn es kann davon ausgegangen werden, daß von deren Lektüre viele neue Interpretationsimpulse ausgehen werden.'
2. EINLEITUNG
2.1.Zur Themenwahl
Die Begriffe 'Schuld.' und 'Strafe' spielen eine bedeutende Rolle in Kafkas Werken. Sowohl in den biographischen Quellen, aber auch in den Erzählungen, Romanen und Aphorismen ist die damit verbundene Problematik überrepräsentiert. Die Parallelen zwischen Privatem und dem - teilweise schon zu Lebzeiten Kafkas veröffentlichten - Werk stellen sicher, daß Kafka sehr unter Schuldvorstellungen litt, diese literarisch zu be - und verarbeiten suchte und seine Strafphantasien in sein Werk einfließen ließ. Daraus ergeben sich Prägen nach den Mechanismen, die zum einen das Leseinteresse erwecken und zum anderen die Vielfalt von Deutungen, Interpretationen oder Decodierungsversuchen hervorrufen. Das Leseinteresse wird u.a. dadurch hervorgerufen, daß in Texte verbotene Wünsche eingegangen sind, die dem Leser teilweise oder ganz verborgen bleiben; sie sind schwer auffindbar, weil die enthaltenen Mitteilungen ästhetisch bearbeitet worden sind.2Die Wünsche werden abgeschwächt, indem'ihnen Strafen folgen. Es ist so möglich, sich den fremden Phantasien anzuschließeri, sie teilweise lediglich zu empfinden, sie nur zu ahnen. Dieser Genuß bleibt ungestraft, er verläuft streckenweise völlig unbewußt; es bleiben höchstens Gefühle beklemmender Art und Weise zurück, aber auch Fragen über Fragen. Eine dieser Fragen beinhaltet die Vermutung, daß Schuld-und StrafZusammenhänge den Handlungsverlauf wesentlich mitbestimmen könnten. Das steht im Vordergrund dieser Untersuchung. Damit in Verbindung stehen Fragestellungen nach dem Sinn einer literaturpsychologischen Untersuchung. Als literaturwissenschaftliche Untersuchung festgelegt, orientiert sich die Arbeit vor allem an psychoanalytischen Grundlagen der davon ausgegangen wird, daß gerade psychoanalytische Erkenntnisse geeignet sind, noch vorhandene Interpretationslücken zu. schließen.
2.2. Zur Problematik der psychoanalytischen.Interpretation tion
Sigmund Freud, der Grundpfeiler der psychoanalytischen Theorie und Praxis errichtete, gebrauchte von Anfang an auch Beispiele aus Werken der schönen Literatur, um seine Erkenntnisse zu untermauern. Bereits im Briefwechsel mit Wilhelm Fließ bezog er sich auf Sophokles, Shakespeare, Goethe u.a. Sein Leben lang nahm er immer wieder zu Fragen von Kunst und Literatur Stellung. An seinen Schriften zu Jensen, Dostojewski, Leonardo da Vinci, Michelangelo aber auch an der "Traumdeutung", an "Der Dichter und das Phanta- sieren" und an "Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten" orientierten sich seine Schüler, wenn sie Werke der schönen Literatur oder der bildenden Kunst untersuchten. Auch heute kommt psychoanalytische Literaturbetrachtung nicht ohne Freud aus; er hat an Bedeutung und Aussagekraft kaum verloren.
Diente zunächst die schöne Literatur der Entwicklung der psychoanalytischen Theoriebildung - oft vor allem dem Verdeutlichen eines Zusammenhangs - wurde später zunehmend die Psychoanalyse ein Hilfsinstrument der literaturwissenschaftlichen Erkenntnis. Pech (1980) hat diesen Weg genau verfolgt. Wie auch andere Autoren vermißt er die Auseinandersetzung mit ästhetischen Fragen; er registriert "Ansätze . 12 ..
einer gewissen Theoriefeindschaft" . In der Übersetzung dichterischer Symbole sieht er die Gefahr, "das nicht Berechenbare von Kunst zu registrierbaren Tatsachen zu machen. Kunst soll den herrschenden Denkformen konform werden...".'3 Pech, der sich u.a. an Adorno orientiert, scheint hier ei em Fehlschluß zu unterliegen, denn einerseits ist Psychoanalyse durch die Vielschichtigkeit der Theoriebildungen schwer integrierbar, andererseits vertreten Psychoanalytiker häufig Standpunkte, die überhaupt nicht herrschenden Denkformen entsprechen. Außerdem idealisiert Pech mit dieser Feststellung die Kunst und ignoriert, daß auch sie einen Beitrag zur Festverschreibung herrschender Denkformen leistet, indem gerade sie mittels der unbewußt integrierten moralischen Regeln ethische Tradition zur Verinnerlichung des Lesers freigibt. Allerdings findet dieser Prozeß in einer sehr widersprüchlichen Art und Weise statt, wie es auch bei Kafka deutlich wird. Also gerade in dem Zusammenhang der kommunikativen Einheit Schriftsteller und Leser ist Psychoanalyse ein Instrument der Literaturwissenschaft. Das Angebot von schöner Literatur an den Leser, sich mit bestimmten Personen identifizieren zu können, Handlungsverläufe mit eigenen kognitiven Mustern stellenweise in Übereinklang bringen zu können, stellt ein ideales Übertragungsfeld dar. Auch der literaturwissenschaftliche Interpret unterliegt diesem Mechanismus, was zu einem gewissen Teil die Vielfalt der Interpretationen miterklärt. Die Sozialisation des Interpreten mitbestimmt seine Herangehensweise an den zu untersuchenden Text; seine 'Schule' ist teilweise seine Wahl gewesen; seine Interpretationsfehler sind stellenweise verursacht durch Widerstände, die aus seiner Entwicklungsproblematik entstanden sind. Somit ist die Skepsis der Psychoanalytiker Laien gegenüber angebracht. Andererseits entgeht der außerhalb des Psychoanalytiker - Standes stehende Interpret eher der Gefahr,nichtanalytische Aspekte zu vernachlässigen, womit vor allem die Beachtung historischer Prozesse, gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und somit ökonomischer Probleme gemeint ist. Was sollte psychoanalytische Literaturwissenschaft vor allem leisten ? Zunächst sollte sich die Arbeit einem konkreten Werk des Schriftstellers zuwenden und - daneben - biographische Erörterungen vornehmen, die den Text aufklä- ren. Diese Untersuchung der Entwicklung des Autors geht davon aus, daß seine besondere Sozialisation den entstandenen literarischen Text mitbestimmt hat. Nur in diesem Zusammenhang sind die Ergebnisse psychoanalytischer Herangehensweise bezogen auf den Autor von Bedeutung. Eine Untersuchung, die herausfindet, daß ein fiktiver Autor unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leide, ist nur dann von literaturwissenschaftlichem Interesse, wenn im Zusammenhang mit dieser Erkenntnis Einflüsse auf das Werk beschrieben werden können oder Beziehungen zum Leser hergestellt werden, die vielleicht mit seinen Reaktionen auf den Text zu tun haben oder miterklären können, warum ein Autor überhaupt gelesen wird.
Ist die Autorpersönlichkeit dargestellt, das Verständnis seiner Sozialisation mitgeteilt worden, beginnt die themengerechte Textarbeit. Hier muß zunächst der Unterschied zwischen der therapeutischen Psychoanalyse und der psychoanalyitischen Literaturinterpretation angedeutet werden. Wie Lorenzer (1981) feststellt, besteht der Unterschied zwischen einer tatsächlichen analytischen Situation und einer Literaturinterpretation vor allem darin, daß die Schriftstellerpersönlichkeit unveränderbar ist. Der Interpret dagegen verändert sich ständig entsprechend seinem sich wandelnden Erkenntnisstandes. Die analytische Situation wäre dann so gestaltet, daß "der Autor seinerseits nicht Subjekt des künstlerischen Prozesses" ist-, "sondern . 16 es ist die Einheit von Autor und Leser". Lorenzer macht.-auf eine Erkenntnis Volmergs aufmerksam, wonach ein weiterer Unterschied zwischen Analyse und Literaturinterprétâtion darin besteht, daß "die Verständigung in der Analyse auf die Herausarbeitung des Gefüges individueller Interaktionsformen (zielt), während die literarische Darstellung auf eine Präsentation überindividueller Eormen hinzielt.
Die sogenannte psychoanalytische Grundregel, wonach der Analysand dem Analytiker alle Einfälle mitzuteilen hat, weist auf ein besonderes Problem der Textinterpretation hin.
Der Schriftsteller hat seinen Text bereits Kontrollen unterzogen; zum einen hat er selbst zensiert - vergleichbar einem Instrumentarium der Traumarbeit ist die Zensur teilweise unbewußt - zum anderen hat bei veröffentlichten Texten das Lektorat verändernd eingegriffen; dabei wurde zum Teil auch Textmaterial herausgefiltert, das von Interesse für eine psychoanalytische Interpretation wäre, diese sogar in eine andere Richtung lenken könnte. Wird das gesamte Werk herangezogen, liegen auch noch umfangreiche biographische Materialien vor, wird sich die Möglichkeit von Eehlinterpretationen in Grenzen halten.
Die Arbeit am Text müßte sich auf den verschiedensten Ebenen bewegen, um möglichst viele Einflüsse auf seine Gestaltung nachvollziehen zu können. Wie in der psychoanalytischen therapeutischen Situation das analytische Geschehen auf mehreren Ebenen verläuft - so auf verschiedenen Zeitebenen, in sich wandelnden sozialen Strukturen - so beinhaltet auch der literarische Text neben dem manifesten Inhalt, der geschrieben vorhanden ist, Einflüsse der zum Teil nur unbewußt vorhandenen Sozialisationserfahrungen, gesellschaftliche Konflikte, Erlebnisse anderer Personen, die dem Autor so bedeutend erschienen, daß er sie ins Erzählen einbezog. Strelka(1973)sieht gerade in der psychoanalytischen Arbeitsweise eine Gefahr für literaturwissenschaftliche Erkennt- -nis:"Die offenen und verstecktenLeidenschaften dieser dichterischen Gestalten werden jenen des Autors entgegengehalten, probeweise füreinander eingesetzt, die einen aus den anderen abgeleitet und entwickelt und zuletzt zur Aufstellung einer psychologischen Eormel verwendet. Diese ist weder mit der Dichtung noch mit der Dichterbiographie identisch, sondern von beiden relativ unabhängig. Ihr sind jedoch als ei.. 18 ner dritten Große die beiden anderen unterworfen." Strelka begrüßt es, daß mittels der psychoanalytischen Methode "Aufhellungen und Einsichten" möglich sind, fürchtet aber auch "überraschend übersimplifizierende(n) Trugschlüsse(n)". Diese und andere Einwände werden aber dadurch abgeschwächt, daß mittels einer wissenschaftlichen Methode wie der psychoanalytischen ein Begriffsbestand verwendet wird, der schon sehr lange der empirischen Überprüfung ausgesetzt ist und somit geeignet ist, das Chaos literaturwissenschaftlicher Hermeneutik etwas ordnen zu helfen. Diesem Umstand ist es sicher zu verdanken, daß immer mehr Interpretationen Ansätze der Psychoanalyse als Hilfsmittel nutzen.
2.3· Zur auf Kafka angewandten psychoanalytischen Interpretation
Bereits zu Lebzeiten Pranz Kafkas erregte eines seiner Werke die Aufmerksamkeit von Psychoanalytikern bzw. psychologisch orientierten Interpreten. Loewenstein interpretierte "Die Verwandlung" 1916 im "Prager Tagblatt", Stekel bezog sich.auf diese Erzählung in "Onanie und Homosexualität" (1917 ? ; 1921 ! )2j sowie in "Psychosexueller Infanti- 22 lismus"(1922). Eine umfangreichere Beschäftigung mit Kafka erfolgte 1931 durch Kaiser; die behandelte Thematik steht in direktem.Zusammenhang mit hier vorliegender Arbeit; Kaiser wird, soweit den Autoren bekannt, des öfteren herangezogen-, insbesondere wenn es um die Strafproblematik im Werk Kafkas geht.
Nach dem 2.Weltkrieg stieg das Interesse an Kafka in bedeutendem Umfang an. Insbesondere in den USA nahm die Veröffentlichung von Arbeiten über Kafka zu. Etwas spüter war auch ein Anstieg in Europa zu verzeichnen. Da die meisten Psychoanalytiker emigriert waren - insbesondere in die USA - kamen die ersten de_r_ psychoanalytisch orientierten Interpretationsmethode zuzurechnenden Arbeiten aus dem Ausland. Dabei ergaben sich zuweilen Betrachtungsweisen, die sich zu sehr an Ereuds Methode der Traumdeutung orientierten, ohne die konkreten Bedingungen Kafkas zu kennen, die ebenfalls von-psychoanalytischem Interesse sein müssen. Freilich waren biographische .Quellen zunächst recht seltenverfügbar. Aber auch andere Probleme mußten Schwierigkeiten bereiten. So ist eine weitere Fehlerquelle darin zu sehen, daß unklar ist, in welchem Umfang Kafka mit der Psychoanalyse vertraut war und die daraus resultierenden Einsichten ins Werk einfließen ließ, wie es teilweise Stefan Zweig, 25 ·
Hermann Hesse oder Arnolt Bronnen taten! Zwar wissen wir, daß Kafka im Zusammenhang mit "Das Urteil" mit "Gedanken an Preud natürlich"(T 184) spielte, nachdem er 1912 durch Vorträge bei Berta Fanta auf die Psychoanalyse aufmerksam geworden war, doch ge mehr er über die Psychoanalyse gewußt haben könnte, desto eher ist die Möglichkeit in die Interpretation einzubeziehen, daß er Konstruktionen verwendete, die wenig mit ihm selbst zu tun haben, oder die er benutzte, um neue ästhetische Mittel zu verwenden, oder um sich besser tarnen zu können. Jedenfalls ist heute bekannt, daß er sich mit Blüher befaßte, auch Stekel las, nachdem er erfuhr, daß dieser "Die Verwandlung" erwähnt hatte, und daß er der Psychoanalyse - jedenfalls "dem therapeutischen Teil"(H 243) - zunehmend ablehnend gegenüber stand.
Während sich die psychoanalytische Theorie und Praxis bereits Mitte der Zwanzigergahre zunehmend der Ich - Entwicklung zuwendete, so als Autoren Freud, später Hartmann, wurde dieser.-Problemkreis von der auf Literatur bezogenen Forschung, erst später auf gegriffen; insbesondere dann, als Kohut Erkenntnisse über den Narzißmus veröffentlichte, mehr und mehr über präödipale Entwicklungsmöglichkeiten bekannt wurde - so durch die Forschungsergebnisse von Mahler(1980)*'- nahm auch die Kafka - bezogene Forschung die Möglichkeit wahr, Neues zum Werk und der Biographie hinzuzufügen. Da ge- doch die Theoriebildung in Fragestellungen zur oralen und analen Phase, insbesondere zum Narzißmus, zur Borderline- Problematik, zum Feld der Psychosen oder der Entwicklung der Homosexualität/Heterosexualität widersprüchlich ist, kommt es zu Ungenauigkeiten oder vielleicht leeren Begriffsbräuchen in der Literaturwissenschaft, wenn nicht versucht wird, verwendete Begriffe ihrer Herkunft nach zu belegen, sie, wo nötig, in Frage zu stellen oder zu ergänzen. Im Zusammenhang mit Franz Kafka ist eine Erwähnung dieser möglicherweise auftretenden Schwierigkeiten geradezu zwingend, wie die zahllosen sich teilweise widersprechenden Arbeiten zeigen.
Schon immer spielt im Zusammenhang mit Kafka die Beschreibung des Vater - Sohn - Konfliktes eine wesentliche Rolle. Ödipale Probleme standen im Vordergrund, wenn es sich um psychoanalytische Arbeiten handelte. Da sich die Interessen der allgemeinen psychoanalytischen Forschung und auch die auf Kafka bezogenen Untersuchungen mehr und mehr früheren Phasen der Kindheitsentwicklung zuwenden, folgt die hier vorliegende Arbeit diesen neueren Ansätzen, die auch vermehrt der Mutter - Kind - Beziehung Aufmerksamkeit schenken.
3. PSYCHOLOGISCHE BETRACHTIMGEN ZUR BIOGRAPHIE FRANZ KAEKAS
3.1. Kafka und seine ObjektbeZiehungen
Eranz Kafka wurde am 3-Juli 1883 in Prag geboren, das zu dieser Zeit zum monarchistischen Staatssystem ÖsterreichUngarn gehörte. Seine Eltern, Hermann und Julie Kafka, Angehörige der jüdischen Volks - und Religionsgemeinschaft, betrieben zu dieser Zeit ein "Galanteriewarengeschäft" , das im Aufschwung begriffen war. Wegen ihrer erforderlichen Mitarbeit im Geschäft konnte die Mutter nur unzureichend Erziehungs - und Versorgungsaufgaben wahrnehmen. Die Pflege des Kleinkindes übernahmen hauptsächlich Hausangestellte, anfänglich auch eine Amme. Geht man von der Erkenntnis der modernen psychoanalytischen Theorie aus, daß Kinder in den Monaten zwischen Geburt und Individuation besonders der einfühlenden Aufmerksamkeit der Mutter bedürfen, liegt der Gedanke nahe, daß die Hausangestellten diese Aufgabe nicht gleichwertig bewältigen konnten. Knüpft man an Grunberger (1982) an, kommt man sogar zu dem Schluß, daß ein optimaler Versorgungszustand - bei gesunder Mutter - lediglich während der pränatalen Entwicklung des Kindes anzunehmen ist.30 Bereits der Vorgang der Geburt ist fur das Kind traumatisch. Von nun an auf jcrale Ernährungsweise angewiesen, erlebt das Kind bald erste Frustrationen, die normalerweise recht selten auftreten dürften, so lange das Kind noch nicht allzu oft hilfe - bzw. zuwendungsbedürftig ist. Die Frustrationen nehmen zu, wenn zum einen die Eltern oder andere für die Pflege zuständige Personen aus Zeitmangel nicht in der Lage sind, genügende Aufmerksamkeit und Pflege zuzuwenden oder zum'anderen wegen'eigener Sozialisationsschäden, insbesondere wegen schlechter Erfahrungen aus der Symbiose Tnennungs - Individuations - Zeit, als Bezugspersonen versagen. Ein besonderer Erustrationsgrund dürfte mangelnde Ernährung sein. Es ist möglich, daß Kafka auch ungenügend ernährt wurde.
Das Erlebnis der teils guten, teils schlechten Versorgung und Zuwendung schafft die Grundlagen für die Fähigkeit, Objekte, z.B. die Eltern, in gute und schlechte (böse) aufzuteilen. Dies geschieht unbewußt und ist insofern von besonderer Bedeutung, als das Kind sich zunächst als Einheit mit der Mutter erfährt: sind die Frustrationen besonders groß-, ist die Wut stärker ; die Mutter. ist wegen solcher Erfahrungen dann eher das schlechte Objekt, und da sie aber vom Kind zunächst als symbiotischer Bestandteil-erlebt wird, erfährt sich-das Kind selbst als böse(schlecht). Aus Kafkas biographischen Quellen ist diese Selbsteinschätzung deutlich geworden.33 Sie hat für den Erwachsenen nicht an Bedeutung verloren, wenn der Erwachsene. Kafka freilich auch andere Ursachen angibt. Diese für das Kind.zunächst unbewußte Tendenz, Objekte oder sich selbst zu teilen, kann eine der Grundlagen für eine pathologische Fehlentwicklung sein.34 In der neueren Literatur zu Kafka werden mehr und mehr Grundzüge der ganz frühen Kindheit aufgezeichnet, Diagnosen angedeutet. Böhme (1978) beschreibt Kafka als identitätsgestört, narzißtisch neurotisch.35Dettmering (1981) macht darauf aufmerksam, daß Kafkas Figuren Züge der "'Borderline'- Persönlichkeit" tragen. Kafkas Gefühlsäußerungen, soweit sie den Briefen oder dem Tagebuch zu entnehmen sind, weisen oft in diese Richtungen, berühren Eigenschaften, die durch Erfahrungen der ersten Monate und Jahre geprägt worden sein müssen. Er sieht sich "aus innersten Gründen nahe dem Irresein, also an den Grenzen seines Daseins"(F 4-08), er fühlt sich "unfähig zur Freundschaft"(T 138), schildert einen Menschen, der sich "im Grunde nach Unselbständigkeit verlangend empfindet"(0 23), er meint in zwei Teile getrennt zu sein (F 617)i sein "Leben ist Zögern vor der Geburt" (T 305).37 Auch die Vorstellung des Todes ist daher eine besondere für ihn* Noch 1922 schreibt er:"Mein Leben lang bin ich gestorben und nun werde ich wirklich sterben."(Br 385) Die genaue Entwicklung von Kafkas Emfindungen und Einschätzungen läßt sich nicht mit Sicherheit beschreiben. Später nachfolgende Erfahrungen werden den vorhergehenden entsprechend verarbeitet. Recht exakt nachvollziehbare Belege sind nicht umfangreich vorhanden. Von großer Bedeutung sind Ereignisse, auf die Mitscherlich-Nielsen(1977) hingewiesen hat, und dies insbesondere im Schuld-und Straf Zusammenhang.38 Trotz der starken beruflichen Belastung gebar Julie Kafka _nach Eranz noch fünf Kinder, zwei Jungen, drei Mädchen.
Ein Bruder Kafkas starb, als Eranz drei Jahre alt war, der andere, als er fünf Jahre alt war. Da Kinder nachfolgende Geschwister als Konkurrenten sehen, sie deshalb tot - bzw. wegwünschen, ist' anzunehmen, daß sie Schuldgefühle entwik- keln, wenn ein Todesfall tatsächlich eintritt. Ein Bruder Kafkas starb zudem während der ödipalen Phase von Franz, in der Schuldgefühle besonders stark auftreten können. Aber auch für die Mutter war die Zeit psychisch sehr belastend und konfliktreich. Nach dem Tod der beiden Kinder empfand sie Trauer und vielleicht auch Schuld. Zunächst wurde vermutlich Aufmerksamkeit von Eranz Kafka abgezogen. Als Versuch, den Verlust der Söhne zu kompensieren, kann als Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß sich später die Mutter verstärkt dem verbleibenden Sohn gewidmet hat, was ihn auch wieder stark irritiert haben könnte; alles war eben zu wechselhaft. Insgesamt.war die Mutter - Kind - Beziehung auch dadurch erschwert, daß Kafkas Mutter selbst bedeutende Traumata in der Kindheit erfuhr. Als sie drei Jahre alt war, starb ihre Mutter, woraufhin sich deren Mutter ein Jahr· später das Leben nahm. Mitscherlich - Nielsen hält eine depressive .Grundstörung für eine Folgeerscheinung.dieser Erlebnisse. Wie Mahler et. al.(1980) beobachteten, spüren Kinder die emotionale Distanz der Mutter bereits im frühen Kindesalter deutlich und antworten ihrerseits mit pathologischen Reaktionen. "Psychologen und Psychiater, oh psychoanalytisch orientiert oder nicht, erwarten z.B. gewohnheitsmäßig, daß die Neigung zu späteren schweren Persönlichkeitsstörungen, einer Borderline - Pathologie oder gar einer Psychose desto stärker ist, je früher es zu Traumata kommt oder je ungünstiger die frühesten Phasen extrauterinen Lebens - symbiotische Phase, Differenzierungs - und Übungssubphase, d.h. die ersten 14 bis 15 Lebensmonate - verlauft) .. ..
fen." Der Einfluß des Vaters durfte sich dagegen erst spater bemerkbar gemacht haben, vermutlich dann, wenn die motorischen Fähigkeiten des Kindes so stark entwickelt sind, daß es dem Vater eher Spaß macht, mit dem Kind zu spielen. Das bereits beeinträchtigte Selbstwertgefühl - hervorgerufen durch die beschriebenen Bedingungen der Mutter - Kind - Beziehung wird nun auch noch vom Vater beschädigt. Die vorhandenen Erinnerungen Franz Kafka beschreiben diesen Vater als Menschen, der übermächtig erscheint, furchtbare Strafen verhängt oder diese zumindest androht und so günstige Bedingungen für Projektionen des kleinen Kindes schafft, das mit .seinen phantasierten Aggressionen und libidinösen Wünschen und den daraus resultierenden Ängsten nicht fertig wird. Erschwert wird die Situation dadurch, daß frühzeitig die Pf licht , die. Eltern zu lieben, verinnerlicht wird.4'Lassen-.gestörte Eltern - Kind - Beziehungen.positive. Empfindungen des Kindes kaum oder gar nicht zu, erlebt das Kind seine angenommene Liebesunfähigkeit als schweren Mangel, der das bereits vorhandene Unvollkommenheitsgefühl verstärkt und gleichzeitig Schuldgefühle - z.B. wegen Undankbarkeit - aufkommen läßt. Insbesondere der "Brief an den Vater" und.zwei Briefe an seine Schwester Elli zeigen, wie sehr sich Kafka später als Erwachsener mit der Erziehungsproblematik beschäftigte. Wohlweislich ist der "Brief an den Vater" von Kafka als "Advokatenbrief"(M 61) bezeichnet worden; Kafka muß die im Brief enthaltenen Vorwürfe stel- lenweise als ungerechtfertigt empfunden haben, da neben den häufigen Versicherungen, der Vater sei unschuldig, auch unwirklich anmutende Passagen vorhanden sind, denen es an Objektivität mangelt. Kafka verstand den Vater kaum als Opfer seiner eigenen Entwicklung. Hermann Kafka wird mit bedrohlichen Zügen ausgestattet. Sein.Sohn fühlte sich körperlich völlig unterlegen. Der Eindruck, der Vater sei allmächtig, ließ diesen später zur letzten Instanz werden.(H 122) Ein Erlebnis, das vermutlich in die ödipale Phase zu verlegen ist, hatte.wesentlichen Einfluß auf Kafkas spätere Strafphantasien. Erzählt wird von der Erinnerung, daß Eranz Kafka eines Nachts Durst hatte, den Trinkwunsch mehrmals nachdrücklich äußerte, woraufhin ihn der Vater auf die "Pawlat- sche"(H 122) - eine Art Veranda - trug. Dort verbrachte er den Rest der Nacht. Der verbliebene Eindruck war der, daß auf einen recht geringen Anlaß eine harte Strafe folgte. Damit hat es aber eine besondere Bewandtnis: Wahrscheinlich war dieses Erlebnis so gut in Erinnerung geblieben und gleichzeitig so traumatisch, weil dahinter eine Deckerinne- rung43verborgen ist, die Urszene, die Beobachtung des elterlichen Koitus; die Beobachtungsmöglichkeit war dadurch gegeben, daß Kafka im Zimmer der Eltern schlief, was auch zu dieser Zeit durchaus nicht imüblich war.44 Da er nun im Zusammenhang mit den Ereignissen um diese Beobachtung bestraft wurde, konnte es später möglich werden., daß er Eurcht vor heterosexueller genitaler Betätigung hatte., faßt, doch das kleine.Kind den kognitiven Fähigkeiten entsprechend den Koitus u.a. Möglichkeiten auch als Kampf auf. Doch hat diese Auffassung bei Kafka vielleicht besondere Konsequenzen gehabt, weil sie zu seinem Erfahrungshorizont paßte. Da im Zusammenhang mit frühen Frustrationen Aggressionsphantasien auftreten - so, wenn ein Kind seinen Empfindungen nach ungenügend . versorgt wird - entstehen frühe Formen von Schuldgefühlen, die zur Entlastung Projektionen auslösen. Das Kind erwartet Aggressionen von seinen Bezugspersonen; es entstehen z.B. paranoide Verzerrungen der"frühen Elternima- gines". Die im Dalle Kafkas fur möglich gehaltene Beobachtung des elterlichen Koitus würde so eine Entwicklung wesentlich beeinflussen. Die Eltern erscheinen als bedrohlich vereinigtes Paar, es entsteht "mangelnde Differenzierung zwischen verschiedenen Objekten unter dem Einfluß exzessiver Spaltungsprozesse". Die dafür notige Grundlage ist aber das ungünstige Durchlaufen der Entwicklungsphasen zwischen Symbiose und Individuation; die Empfindung der Symbiose mit der Mutter konnte vom Kind nicht optimal von anderen Empfindüngen abgelöst werden. Diese Entwicklung ermöglichte spater, was Kernberg(1980) die "Verinnerlichung einer als überaus gefährlich erlebten 'vereinigten Vater - Mutter - Imago"' nennt; für Kafka bedeutete dies später, daß er Angst vor Beziehungen zu Dräuen hatte und vor allem Liebesobjekte wähl-. te, die nicht an die Mutter erinnern konnten oder einen Vergleich mit den frühen Elternimagines auslösen konnten. Prä- ödipale und ödipale Ängste fallen zusammen. Zu den beschriebenen Konflikten kommt die Kastrationsdrohung; bei Kafka war sie so stark, daß er sich dem Vater unterwarf, wie aus seinen Erzähltexten ersichtlich ist. Dieser Vorgang verhinderte den normalen Ausgang der ödipalen Phase; Kafka konnte sich nicht mit seinem Vater identifizieren. Wo normalerweise Identifikationen stattfinden, reagierte Kafka mit Verschmelzungswünschen, regrediente also zur oralen und der Art der Unterwerfungen nach auch zur analen Phase, wie sein Werk auch zeigt. Da während dieser Zeit. ..nur schwache und unbefriedigende Objektbeziehungen bestanden, unternahm der Erwachsene Dranz Kafka - in der Realität und in seiner Phantasie - immer wieder neue Versuche, vollkommene Objektbeziehungen zu finden, was nicht gelingen konnte. Parallel zu diesen.frustrierenden Bemühungen nahm er sich selbst zum Objekt, und es deutet viel daraufhin, daß er auch sein wichtigstes Objekt war. Kernberg verweist auf die Möglichkeit, daß es Männer gibt, die homosexuell werden, um doch noch zur Befriedigung oraler Bedürfnisse zu gelangen. Daneben bedeutet dies Verzicht auf die Mutter im ödipalen Kontext, also eine Abschwächung der Kastrationsdrohung. Die Kompliziertheit dieser psychosexuellen Entwicklung deutet Morgenthaler(1967) an:"Das klinische Bild der Homosexualität (ist) in seiner Pathogenese heterogen (und) gründet sich auf mannigfaltige Konstellationen und Konfigurationen." Kernberg untergliedert nach therapeutischen Schwierigkeitsgraden und zeigt, daß das Spektrum von im Vordergrund stehenden ödipalen Konflikten bis zu schwersten narzißtischen Störungen reicht. Auf Kafka zutreffende, von Kernberg aufgezählte narzißtische Symptome sind exzessive Beschäftigung mit sich selbst, oberflächlich glatte Anpassung an soziale Bedingungen, Verzerrung der inneren Beziehungen zu anderen Menschen, das Verhalten ist "geprägt von starkem Ehrgeiz, Größenphantasien, Minderwertigkeitsgefühlen und übermäßiger Abhängigkeit von äußerer Bestätigung und Bewunderung." Weiter zählt Kernberg auf :Langeweile, Leeregefühle, Liebesun- fähigkeit, chronische Unsicherheit, Unzufriedenheit mit dem Leben, bewußte oder unbewußte Ausbeutung anderer u.a.52 Andererseits sind Ähnlichkeiten mit.den Symptomen der Borderline - Persönlichkeitsstruktur vorhanden, wie bereits, festgestellt wurde. Es gibt Unterscheidungsmöglichkeiten, die hauptsächlich von therapeutischer Bedeutung sind, hier also vernachlässigt werden können.
Es läßt sich nicht überzeugend nachweisen, daß Kafka nicht- homosexuell war. Von Bedeutung ist dies., wo die Möglichkeit besteht, daß Interpretationsfehler gemacht werden, wo Interaktionen beschrieben werden, die schwer zugänglich sind. Zum einen sprechen Kafkas Sprachcodes53für homosexuelle Phantasien, zum anderen geben seine biographischen Quellen Hinweise darauf, daß sich Kafka homosexueller Konflikte bewußt war. Las ist auch ^deshalb von Wichtigkeit', weil sein Selbstwertgefühl unter diesen Konflikten noch mehr gelitten haben dürfte, hieß das doch, noch viel weiter vom.Familienvater Hermann Kafka entfernt zu sein, der sechs Kinder zeugte. In diesem 'Zusammenhang ist wohl auch der folgende Briefausschnitt zu lesen:
...jetzt und später werde ich aber einiges verschweigen müssen, was - vor Dir und mir - einzugestehen, mir noch zu schwer ist. Ich-sage das deshalb, damit Du, wenn das Gesamtbild hie und da etwas undeutlich werden sollte, nicht glaubst, daß Mangel an Beweisen daran schuld ist, es sind vielmehr Beweise da, die das Bild unerträglich kraß machen könnten. (...) Hier genügt es übrigens, an Früheres zu erinnern: Ich hatte vor Dir das Selbstvertrauen verloren, dafür.ein grenzenloses Schuldbewußtsein eingetauscht. (In Erinnerung an diese Grenzenlosigkeit schrieb ich von jemandem einmal richtig:'Er fürchtet, die Scham werde ihn noch überleben.')(H 143) Die wichtigsten Objektbeziehungen Kafkas waren die zu Männern wie Brod, Baum und Weltsch. Zu diesem Freundeskreis liegt umfangreiches Material vor, das interessant genug erscheint, gesondert betrachtet zu werden. Dennoch liegt wenig vor, was ausführliche Wertungen betrifft. Insbesondere Max Brods Beziehung zu Kafka läßt sich den Quellen nach gut erfassen, aber Brod hat auch viel über den "Prager Kreis" geschrieben. Interessant wäre es, "Stefan Rott oder das Jahr der Entscheidung" (1931) und- "Zauberreich der Liebe" (1928) in psychoanalytischen Arbeiten zu interpretieren, sind dort doch zum einen Beschreibungen Franz Kafkas enthalten, zum anderen würde Brods Persönlichkeit besser zu bewerten sein.
Frauen spielten für Kafka besonders da eine Rolle, wo sie ihm die Selbstreflexion ermöglichten - psychogenetisch anknüpfend an die Situation des frustrierten Kleinkindes, das sich in Ermangelung von zuwendenen Objekten sich selbst, zum Objekt nimmt. So handeln die vielen Briefe an Felice Bau- er(1912 - 1917) hauptsächlich von ihm selbst, seinen Ängsten und den Befürchtungen im Zusammenhang mit der anstehenden Festigung der Beziehung. Ein besonderes Verhältnis bestand zu seiner Schwester Ottla, zu der er großes Vertrauen besaß, und mit der er während seiner Krankheit zeitweise zusammenlebte. Milena Jesenska lernte Kafka 1920 kennen, nachdem er zuvor einen erneuten Bindungsversuch unternommen hatte, der hauptsächlich an der Ablehnung seines Va— ters scheiterte. Milena Jesenska war verheiratet, Kafka und. sie zu verschieden in ihren Vorstellungen, als das diese Beziehung befriedigend und harmonisch verlaufen konnte. Nach drei Jahren Dauer wurde der Kontakt eingestellt. Die letzten Jahre seines Lebens lebte er in Berlin mit Dora Dymant zusammen, die er auch geheiratet hätte, wäre nicht der Rabbi ihrer Eltern gegen die Verbindung gewesen. - Kafka erschien zu assimilatorisch, nicht orthodox genug.58Die ¿jüdische Abstammimg war vermutlich zeit seines Lebens ein weiterer Konflikt.' Während seiner Kindheit fanden in Böhmen noch antijüdische Ausschreitungen statt, auch dürften die ständigen verbalen Angriffe in Zeitungen und in der Öffentlichkeit ihre Spuren hinterlassen haben.59 Sie stellten ebenfalls Angriffe auf Kafkas Selbstwertgefühl dar; teilweise machte sich Kafka - obwohl er Jude war - antijüdische Ansichten zu eigen. Das mag stellenweise intellektuelle Ursachen gehabt haben, wird aber zu einem gewissen Teil auch auf Verinnerlichung zurückzuführen sein. 3#2. Die besondere Schuld - und Strafproblematik Die ungünstigen Bedingungen während der ersten Lebensjahre Eranz Kafkas sorgten für besonders starke aggressive Gefühle den Objekten und damit auch sich selbst gegenüber. Zunächst waren die aggressiven Tendenzen mit der Mutteroder Ammen - Brust verbunden. Um ständig die Möglichkeit zum Saugen zu haben, wird die Brust einverleibt; Grundlage dessen ist die Fähigkeit des Kindes, andere Dinge zum Saugen zu gebrauchen; es kann z.B. am Daumen saugen, dient sich somit selbst als Objekt oraler Befriedigung, die allerdings nur so lange anhält, als der Hunger noch nicht groß genug ist. Hieraus ist deutlich der orale Charakter der Mutter - Kind - Symbiose erkennbar. Innerhalb dieser Verbindung sind erste Identifizierungsmöglichkeiten gegeben; archaische Überichbildungen gehen vor sich.61 Aus der Empfindung der Einverleibung des Objekts entsteht Angst, erste Schuldgefühle werden möglich; es wird versucht, auf das Objekt zu verzichten. Der Verzicht gelingt mehr oder weniger; bei Kafka mißlangen die Trauerbewältigungsversuche. Ereud(1975) sieht darin die Entwicklung zur Melancholie.
Er beschreibt "eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt,(...) den Verlust der Liebesfähigkeit, (...) die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahn— haften Erwartung von Strafe steigert." Weitere Folgen sind "Schlaflosigkeit, Ablehnung der Nahrung und eine psychologisch höchst merkwürdige Überwindung des Triebes, der alles Lebende am Leben festzuhalten zwingt."Freud nimmt an, daß die Angriffe auf die eigene Person aber eigentlich gegen eine andere gerichtet sind. Diese Wechselbeziehung ist möglich, weil die Erfahrung der'Vermischung von Selbst und Objekt erhalten bleibt. Somit sind die beschriebenen Symptome der Melancholie regressiver Natur, sie gehen auf die orale Phase zurück. Verluste von Objekten werden als selbstverschuldet angesehen. Der daraus entstehende Bestrafungswunsch, der gegen sich selbst gerichtet ist, gilt eigentlich Objekten, die aber gefürchtet sind. Kafkas Selbstmordphantasien stehen damit in Verbindung
Die Schuldgefühle wurden nun während der ödipalen Phase wesentlich verstärkt. Aus dem Erlebnis der Bestrafung, . das - wie beschrieben - auf Franz Kafka so traumatisierend wirkte, resultierte eine Weiterentwicklung von Strafbedürfnissen. Kafkas Vater förderte lediglich einen Prozeß. Win- terstein(1932) nennt das Strafbedürfnis "eine pseudomoralische Verkleidung des masochistischen Wunsches, überwältigt, vernichtet zu werden. In ihm erkennen wir den ursprünglichen, erogenen Masochismus wieder, der bereits die frühinfantile Angst, gefressen zu werden, zu einer libidinösen Wunschsituation umgestaltet. "68Die ödipale Phase findet be- kainitiiôh ihféñ Auágähg in dèi1 Ihdéh-biŕibiéfUhg ttít déni Väter und der Gewissensbildung. Das männliche Kind nimmt sich normalerweise den Vater zum Vorbild. War aber, wie bei Kafka, der Vater zu dominierend, war der Vorgang der Identifizierung teilweise beeinträchtigt, zumal auch der schwache Körper des Sohnes und der kräftige Körper des Vaters einen krassen Gegensatz bildeten. So entstand wegen der empfundenen Grausamkeit des Vaters, die teilweise als Projektion aufgefaßt werden muß - das Kind projiziert eigene aggressive Phantasien auf andere, wodurch Gefühle des Bedrohtseins entstehen - "ein großes Strafbedürfnis im Ich, das teils als solches dem Schicksal bereitliegt, teils in der Mißhandlung.durch das Uber-Ich (Schuldbewußtsein) Befriedigung findet." Wie kompliziert diese Schuld - und StrafZuweisungen sind, zeigen einerseits die Diskussionen innerhalb der psychoanalytischen Literatur, aber andererseits auch Kafkas Vorstellungen von Schuld, die recht diffus sind.
Ein Teil dieser Schuldgefühle findet sich da, wo es um die Problematik geht, Jude ζμ .sein. Schließlich wird von den Christen seit Jahrhunderten der Vorwurf der Kreuzigung Jesu Christi zum Anlaß antijüdischer Einstellungen' und Handlungen genommen, Ritualmorde wurden den Juden vorgeworfen, aber auch sexuelle Schandtaten. Kafka verfolgte Berichte in der Presse, aber auch Gerichtsprözesse, die mit solchen Vorwürfen zu tun haben. Auch die Erkenntnis, von den Eltern nicht konsequent jüdisch erzogen worden zu sein, hatte zur Folge, daß Schuldgefühle auftreten konnten. Einerseits verstärkte dieses Bewußtsein die Unvollkommenheitsgefühle, andererseits haben die Vorwürfe gegenüber dem Vater, der sich aus geschäftlichen Gründen assimilierte, neue Schuldgefühle aufkommen lassen, da die Vorwürfe Verständnis für die Lage des Vaters fraglich erscheinen lassen, das Wissen um die Problematik aber vorhanden gewesen sein muß.
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- Arbeit zitieren
- Wolfgang Kölbel (Autor:in), 1982, Schuld und Strafe - Literaturpsychologische Untersuchungen von ausgewählten Werken Franz Kafkas, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/135286
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