Um die Antizipation bereits im Jugendalter als eine (mögliche) Determinante sportlicher Leistung in der Talentsichtung von Nachwuchsfußballern identifizieren zu können, müssten deutliche Leistungsunterschiede zwischen definierten Leistungsgruppen von Nachwuchsfußballern festgestellt werden. Nur minimale Unterschiede oder ein uneinheitliches Bild der Leistungsfaktoren Antizipationskorrektheit und Antizipationsleistung reichen nicht aus, um die notwendige Trennschärfe dokumentieren zu können. Diese Trennschärfe sollte im Rahmen der Studie herausgearbeitet werden, in dem der Leistungsfaktor Antizipation im Vergleich zwischen den Leistungsgruppen Hobbyfußballer, DFB-Stützpunktspieler und NLZ-Spieler in der Altersklasse der 10- bis 13-Jährigen untersucht wurde.
Im Rahmen eines Leistungstests bekamen die Versuchsteilnehmer (n = 93) unter Laborbedingungen Filmsequenzen unter Verwendung des Temporal-Occlusion-Paradigmas präsentiert. Die Filmsequenzen im Point-Light-Display-Format zeigten eine 1-gegen-1-Situation im Fußball, in der aus Verteidigersicht vorhergesagt werden sollte, ob Angreifer rechts oder links vorbeigehen. Die Stimulussequenzen waren bewusst so kurzgehalten, dass eine Entscheidung nur über die Antizipation der Bewegungsausführung der Angreifer möglich war. Da die Mannschaftssportart Fußball durch viele komplexe Spielsituationen geprägt ist, wurde auch überprüft, inwiefern sich eine Erhöhung der Situationskomplexität auf die Antizipationsleistung auswirkt. Dazu wurden in randomisierter Form Stimulussequenzen mit und ohne Täuschungshandlungen präsentiert.
Hinsichtlich der Leistungsunterschiede der Gruppen konnte kein einheitliches Bild gezeichnet werden. Zwar konnte mit Blick auf die durchschnittliche Anzahl der korrekten Antizipationsentscheidungen eine signifikant bessere Leistung der Expertengruppe NLZ-Spieler gezeigt werden. Wenn zum Faktor Antizipationskorrektheit aber der Faktor Antizipationsschnelligkeit zum Produkt Antizipationsleistung hinzugerechnet wird, wurde in der Bewegungsausführung ohne Täuschungshandlung kein signifikanter Leistungsunterschied dokumentiert. Bei Bewegungen mit Täuschungshandlung war die Leistung der mittleren Leistungsgruppe DFB-Stützpunktspieler sogar signifikant höher als bei der Expertengruppe NLZ-Spieler. Daher fehlt es an der notwendigen Trennschärfe, um Antizipation bereits im Jugendalter als eine (mögliche) Determinante sportlicher Leistung in der Talentsichtung von Nachwuchsfußballern zu identifizieren.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Zusammenfassung
1. Einleitung und Problemstellung
2. Theoretischer und empirischer Hintergrund
2.1 Problemstellung: Leistungsfaktoren im Fußball
2.2 LeistungsfaktorTaktik
2.3 LeistungsfaktorTechnik
2.4 Leistungsfaktor Kondition
2.5 Verzahnung der Leistungsfaktoren
2.6 LeistungsfaktorKognition?
2.7 Talentprognose des Leistungsfaktors Schnelligkeit
2.7.1 Leistungsfaktor Schnelligkeit
2.7.2 Prospektive Talentdiagnose
2.7.3 Herausforderungen in der Talentprognose
2.8 LeistungsfaktorAntizipation
2.9 Wahrnehmung
2.10 Wahrnehmungsprozesse
2.10.1 Bottom-up-Prozess
2.10.2 Perzeptuelle Organisation
2.10.3 Top-down-Prozess
2.10.4 Wahmehmungsebenenim Sport
2.10.4.1 Direkte Parameterwahrnehmung
2.10.4.2 Feature-Wahrnehmung
2.10.4.3 Wissensbasierte Wahrnehmung
2.10.5 Aufmerksamkeit
2.10.5.1 Internale versus extemale Aufmerksamkeitsfokussierung
2.10.5.2 Subprozesse der Aufmerksamkeit
2.10.6 Gedächtnis
2.10.6.1 Sensorisches Gedächtnis
2.10.6.2 Kurzzeitgedächtnis
2.10.6.3 Langzeitgedächtnis
2.10.6.4 Abruf von Gedächtnisinhalten
2.10.6.5 Arbeitsgedächtnis
2.10.6.6 Informationsverarbeitung im Arbeitsgedächtnis
2.11 Analyse derperzeptuell-kognitivenFaktoren
2.11.1 Laboratory Approach der Expertisenforschung
2.11.2 Temporal-Occlusion-Paradigma
2.11.3 PointLightDisplay
3. Forschungshypothesen
4. Methode
4.1 Vorüberlegungen, Versuchsdesign und Versuchsplanung
4.1.1 Diagnostische Gütekriterien
4.1.2 Operationalisierung, Versuchsdesignund Versuchsplanung
4.1.2.1 Informationsgehalt
4.1.2.2 Situationskomplexität
4.1.2.3 Antizipationsschnelligkeit
4.1.2.4 Antizipationsleistung
4.1.2.5 Antizipationsschnelligkeit in den Leistungsgruppen
4.1.2.6 Alter und Erfahrung
4.2 Empirisch-inhaltliche Hypothesen
4.3 Stichprobe
4.4 Material, Geräte und Hilfsmittel
4.5 Versuchsdurchführung
4.5.1 Testinstruktionen und Probeversuche
4.5.2 Testablauf
4.5.3 Fragebogen
4.5.4 Tatsächlicher Testverlauf
4.6 Datenaufbereitung
4.7 Statistik
4.7.1 Statistische Kennzahlen
4.7.2 Statistische Methoden
4.7.2.1 Ausreißer
4.7.2.2 Normalverteilung
4.7.2.3 Inferenzstatistische Varianzanalyse (ANOVA)
4.7.2.4 Kruskal-Wallis-Test
4.7.2.5 T-Test für abhängige Stichproben
4.7.2.Ó Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test
4.7.2.7 Zusammenhangshypothesen
4.7.2.7.1 Persons-Produkt-Moment-Korrelation
4.7.2.7.2 BivariateRegressionsanalyse
4.7.2.7.3 Streudiagramm für Korrelation und Regressionsanalyse
5. Ergebnisse
5.1 Deskriptive Analyse der Antizipationsentscheidungen
5.2 Unterschiedshypothesen
5.2.1 Hypothese 1
5.2.2 Hypothese2
5.2.3 Hypothese3
5.2.4 Hypothese 4
5.2.5 Hypothese 5
5.2.6 Hypothese 6
5.2.7 Hypothese 7
5.3 Zusammenhangshypothesen
5.3.1 Antizipationskorrektheit
5.3.1.1 Hypothese 1
5.3.1.2 Hypothese 2
5.3.1.3 Hypothese 3
5.3.1.4 Hypothese 4
5.3.2 Antizipationsleistung
5.3.2.1 Hypothese 1
5.3.2.2 Hypothese 2
5.3.2.3 Hypothese 3
5.3.2.4 Hypothese 4
6. Diskussion und Ausblick
6.1 Diskussion der empirisch-inhaltlichen Hypothesen
6.2 Diskussion Leistungsfaktor Antizipation
6.3 Antizipation als Determinante der Talentsichtung
6.4 Ausblick
7. Literatur
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Faktoren der Wettspielleistung (Bisanz & Gerisch, 2010, S. 51)
Abbildung 2: Schematische Darstellung der Kognitiven Psychologie nach Schwerpunkten (Gerrig & Zimbardo, 2010, S. 286)
Abbildung 3: Prospektive Talentforschung (Schultz, 2013, S. 70; mod. nach Cobley et al., 2012; Hohmann, 2005, S. 237): Lässt sich aus den Testergebnissen zu einem leistungsdefinierenden Merkmal eine Prognose zu einem späteren Erfolg als Spitzenathlet ableiten?
Abbildung 4: Die konditionellen Faktoren derSchnelligkeit (Deutscher Fußball-Bund, 2018a, S. 7)
Abbildung 5: Handlungsschnelligkeit (Deutscher Fußball-Bund, 2011, S. 37)
Abbildung 6: Fußballtalente müssen in 1 gegen 1-Situationen unter hohem Gegner- und Zeitdruck die Spielerbewegungen und Täuschungen ihrer Gegenspieler „lesen" und antizipieren, um eigene Aktionen und Bewegungen frühzeitig einleiten zu können. Der Verteidiger (grün) agiert in einer seitlichen
Stellung zum Angreifer (rot). Foto: Jens Kamm
Abbildung 7: Unterschiedliche Situation im 1 gegen 1: Angreifer direkt vor dem Verteidiger (Deutscher Fußball-Bund, 2018b, S. 3)
Abbildung 8: Unterschiedliche Situation im 1 gegen 1: Angreifer mit viel Aktionsraum vor dem Verteidiger (Deutscher Fußball-Bund, 2018b, S. 3)
Abbildung 9: Strukturmodell derSchnelligkeit im Fußball (Bisanz & Gerisch, 2010, S. 183)
Abbildung 10: Potenzielle Talentprädiktoren im Fußball (Schultz, 2013, S. 79)
Abbildung 11: Die drei Stufen des Wahrnehmungsprozesses: Empfindung, Organisation und Identifizierung/Einordnung (modifiziertnach Conzelmann etal., 2013, S. 290)
Abbildung 12: Die Dimensionen der Aufmerksamkeit (Nideffer, 1976; Williams, J.M., Nideffer, R.M., Wilson, V. E. & Sagal, M.-S., 2015, S. 307.
Abbildung 13: Größe des maximalen Aufmerksamkeitsfensters [in °] für zwei verschiedene Athleten aus dem Fußball, innerhalb dessen gleichzeitig zwei Reize peripher wahrgenommen werden können. Da jedes Stimuluspaar symmetrisch über die Mitte präsentiert wurde, werden di Daten ebenfalls symmetrisch für die einzelnen Achsen (horizontal, diagonal, vertikal) dargestellt. Das äußere Aufmerksamkeitsfenster präsentiert die gemittelten Werte eines Bundesligaspielers, das innere Fenster die gemittelten Werte eines Bezirksligaspielers; die Fehlerbalken geben die jeweiligen Standardabweichungen an (Memmert, 2019, S. 43)
Abbildung 14: Die Hauptmerkmale des Gedächtnisses (Conzelmann et al., 2013, S. 293)
Abbildung 15: Baddeleys überarbeitete Version des Arbeitsgedächtnismodells. Zentrale Element sind der episodische Puffer, der visuelle und phonologische Informationen zu Episoden zusammenfasst und die zentrale Exekutive, die alle drei Systeme kontrolliert. (Baddeley, 2003, S. 853)
Abbildung 16: Abbildung 4: Beanspruchung des Arbeitsgedächtnisses als Funktion der Lernerfahrung des Sportlers in Anlehnung an Fitts' und Posners (1967) Modell des motorischen Lernens (Furley 2013, 573)
Abbildung 17: Eine modifizierte Darstellung des in derStudie verwendeten Point Light Displays
Abbildung 18: Die grafische Darstellung der Geradengleichung (Schäfer, 2016, S. 103)
Abbildung 19: Die Bestimmung der Regressionsgeraden (Schäfer, 2016, S. 104)
Abbildung 20: Vorhersage und Vorhersagefehler bei der Regressionsgeraden am Beispiel der Variablen Schulerfolg und Intelligenz. (Schäfer, 2016, S. 105)
Abbildung 21: Positiv korrelierte, negativ korrelierte und unkorrelierte Daten im Streudiagramm (Schäfer, 2016, S. 92)
Abbildung 22: Nicht-lineare Zusammenhänge im Streudiagramm (Schäfer, 2016, S. 93)
Abbildung 23: Der prozentuale Anteil korrekter Antworten bei Bewegungen ohne (genuine) und mit (deception) Täuschungen zu den vierAbbruch-Zeitpunkten
Abbildung 24: Deskriptive Verlaufskurve der durchschnittlichen Antizipationsschnelligkeit (in
Sekunden) zu den unterschiedlichen Abbruchzeitpunkten gen tl bis gen t4
Abbildung 25: Deskriptive Verlaufskurve der durchschnittlichen Antizipationsschnelligkeit (in
Sekunden) zu den unterschiedlichen Abbruchzeitpunkten dec tl bis dec t4
Abbildung 26: Die Verlaufskurve der durchschnittlichen Rangwerte der Antizipationsleistung (AL) über die Abbruch-Zeitpunkte dec tl bis dec t4 (n = 93)
Abbildung 27: Die durchschnittlichen Rangwerte der Antizipationsleistung (AL) in den Abbruchzeitpunkten im Paarvergleich der Bewegungsausführungen genuine und deception
Abbildung 28: Deskriptive Darstellung der durchschnittlichen Rangwerte (dec t4) zwischen den Leistungsgruppen
Abbildung 29: Streudiagramme der Variablen Alter und korrekte Antworten der Antizipationsentscheidungen in der Bewegungsausführung genuine
Abbildung 30: Streudiagramme der Variablen Alter und korrekte Antworten der Antizipationsentscheidungen in der Bewegungsausführung deception
Abbildung 31: Streudiagramme der Variablen Zeitraum Spiel- und Trainingserfahrung sowie korrekte Antworten derAntizipationsentscheidungen in der Bewegungsausführung genuine
Abbildung 32: Streudiagramme der Variablen Zeitraum Spiel- und Trainingserfahrung sowie korrekte Antworten derAntizipationsentscheidungen in der Bewegungsausführung deception
Abbildung 33: Streudiagramme der Variablen Trainingsumfang pro Woche und korrekte Antworten der Antizipationsentscheidungen in der Bewegungsausführung genuine
Abbildung 34: Streudiagramme der Variablen Trainingsumfang pro Woche und korrekte Antworten der Antizipationsentscheidungen in der Bewegungsausführung deception
Abbildung 35: Streudiagramme der Variablen Wettkämpfe pro Jahr und korrekte Antworten der Antizipationsentscheidungen in der Bewegungsausführung genuine
Abbildung 36: Streudiagramme der Variablen Wettkämpfe pro Jahr und korrekte Antworten der Antizipationsentscheidungen in der Bewegungsausführung deception
Abbildung 37: Streudiagramme der Variablen Alter der Testteilnehmer und Antizipationsleistung in der Bewegungsausführung genuine
Abbildung 38: Streudiagramme der Variablen Alter der Testteilnehmer und Antizipationsleistung in der Bewegungsausführung deception TestteilnehmersowieAntizipationsleistung in der Bewegungsausführung genuine
Abbildung 40: Streudiagramme der Variablen Zeitraum der Trainings- und Spielerfahrung der TestteilnehmersowieAntizipationsleistung in der Bewegungsausführung deception
Abbildung 41: Streudiagramme der Variablen Trainingsumfang der Testteilnehmer pro Woche und Antizipationsleistung in der Bewegungsausführung genuine
Abbildung 42: Streudiagramme der Variablen Trainingsumfang der Testteilnehmer pro Woche und Antizipationsleistung in der Bewegungsausführung deception
Abbildung 43: Streudiagramme der Variablen Wettkämpfe der Testteilnehmer pro Jahr und Antizipationsleistung in der Bewegungsausführung genuine
Abbildung 44: Streudiagramme der Variablen Wettkämpfe der Testteilnehmer pro Jahr und Antizipationsleistung in der Bewegungsausführung deception
Abbildung 45: Die durchschnittlichen Prozentwerte der Leistungsgruppen im Abbruchzeitpunkt dec t4
Abbildung 46: Die durchschnittlichen Antwortzeiten (AZ) der Leistungsgruppen im Abbruchzeitpunkt dec t4
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Mean percentage of correct responses for experienced and inexperienced goalkeepers in each offour conditions (SD±): [...] the superior performance of the experiencend group was significant [...] only under the shortest durations (pre-impact conditions 1 and 2) (mod. nach Williams & Burwitz, 1993, S. 240)."
Tabelle 2: Ausschlusswerte (in Sekunden), die in den unterschiedlichen Abbruchzeitpunkten aus dem Datensatz entfernt wurden
Tabelle 3: Ermittlung des Punktwertsfür den Faktor Qualität der Zeit
Tabelle 4: Allgemeine und fußballspezifische Erfahrungswerte aller Teilnehmer der Studie: Alter, Wettkämpfe im Jahr, Trainingsstunden pro Woche und Fußballtraining seit Jahren
Tabelle 5: Allgemeine und fußballspezifische Erfahrungswerte aller Teilnehmer der Studie (getrennt nach Leistungsgruppen): Alter, Wettkämpfe im Jahr, Trainingsstunden pro Woche und Fußballtraining seit Jahren
Tabelle 6: Post-hoc-Vergleiche: Abbruch-Zeitpunkte gen
Tabelle 7: Post-hoc-Vergleiche: Abbruch-Zeitpunkte dec
Tabelle 8: Die Post-hoc-Vergleiche der Reaktionszeiten für die Abbruch-Zeitpunkte der Bewegungsausführung deception
Tabelle 9: Die Ergebnisse des paarweisen Vergleichs der Antizipationsleistung (AL) im Rahmen des Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test zwischen den Abbruchzeitpunkten der Bewegungsausführungen genuine und deception
Tabelle 10: Ergebnisse des Kruskal-Wallis-Tests zu den Unterschieden der Antizipationsleistung zwischen den Leistungsgruppen Hobbyspieler, DFB-Stützpunktspieler und NLZ-Spieler
Tabelle 11: Dunns Post-hoc-Vergleichefür den Abbruchzeitpunkt dec t4
Zusammenfassung
Um die Antizipation bereits im Jugendalter als eine (mögliche) Determinante sportlicher Leistung in der Talentsichtung von Nachwuchsfußballern identifizieren zu können, müssten deutliche Leistungsunterschiede zwischen definierten Leistungsgruppen von Nachwuchsfußballern festgestellt werden. Nur minimale Unterschiede oder ein uneinheitliches Bild der Leistungsfaktoren Antizipationskorrektheit und Antizipationsleistung reichen nicht aus, um die notwendige Trennschärfe dokumentieren zu können. Diese Trennschärfe sollte im Rahmen der begleitenden Studie herausgearbeitet werden, in dem der Leistungsfaktor Antizipation im Vergleich zwischen den Leistungsgruppen Hobbyfußballer, DFB-Stützpunktspieler und NLZ-Spieler in der Altersklasse der 10- bis 13-jährigen untersucht wurde. Im Rahmen eines Leistungstests bekamen die Versuchsteilnehmer (n = 93) unter Laborbedingungen Filmsequenzen unter Verwendung des Temporal-Occlusion-Paradigmas präsentiert. Die Filmsequenzen im Point-Light-Display-Format zeigten eine 1-gegen-l-Situation im Fußball, in der aus Verteidigersicht vorhergesagt werden sollte, ob Angreifer rechts oder links vorbeigehen. Die Stimulussequenzen waren bewusst so kurzgehalten, dass eine Entscheidung nur über die Antizipation der Bewegungsausführung der Angreifer möglich war. Da die Mannschaftssportart Fußball durch viele komplexe Spielsituationen geprägt ist, wurde auch überprüft, inwiefern sich eine Erhöhung der Situationskomplexität auf die Antizipationsleistung auswirkt. Dazu wurden in randomisierter Form Stimulussequenzen mit und ohne Täuschungshandlungen präsentiert.
Insgesamt konnte hinsichtlich der Leistungsunterschiede der Gruppen kein einheitliches Bild gezeichnet werden. Zwar konnte mit Blick auf die durchschnittliche Anzahl der korrekten Antizipationsentscheidungen eine signifikant bessere Leistung der Expertengruppe NLZ-Spieler gezeigt werden. Wenn zum Faktor Antizipationskorrektheit aber der Faktor Antizipationsschnelligkeit zum Produkt Antizipationsleistung hinzugerechnet wird, wurde in der Bewegungsausführung ohne Täuschungshandlung kein signifikanter Leistungsunterschied mehr dokumentiert. Bei Bewegungen mit Täuschungshandlung war die Leistung der mittleren Leistungsgruppe DFB-Stützpunktspieler sogar signifikant höher als bei der Expertengruppe NLZ-Spieler. Daher fehlt es an der notwendigen Trennschärfe, um Antizipation bereits im Jugendalter als eine (mögliche) Determinante sportlicher Leistung in der Talentsichtung von Nachwuchsfußballern zu identifizieren.
1. Einleitung und Problemstellung
Jamal Musíala, 19-jähriger Fußball-Nationalspieler vom FC Bayern München (transfer- markt.de, 2022a) begeistert mit seinen geschmeidigen Bewegungen derzeit die Fußballfans und spielt im Dribbling seine Gegner mit spielerischer Leichtigkeit aus. Sein 21jähriger Teamkollege Alphonso Davies (transfermarkt.de, 2022b) erkennt als Verteidiger instinktiv die Körpertäuschung seiner Gegenspieler und erobert scheinbar mühelos den Ball. Solche sportlichen Höchstleistungen sind nach Loffing, Cañal-Bruland und Hagemann (2014, S. 138) nur möglich, wenn es den Spielern gelingt, neben der Ausbildung außergewöhnlicher motorischer Fähigkeiten, die zeitlich-räumlichen Einschränkungen, die sich durch die dynamischen Interaktionen des Fußballspiels ergeben, durch Antizipation zu umgehen. Der ehemalige Weltklasse-Eishockeyspieler Wayne Gretzky hat den Leistungsvorteil durch Antizipation treffend auf den Punkt gebracht: „Gehe nicht da hin, wo der Puck ist. Gehe dahin, wo der Puck sein wird.“ (sportunterricht.ch, 2022).
Hagemann und Loffing (2013, S. 562) definieren die Antizipation als „die gedankliche Vorwegnahme eines (Bewegungs-)Ereignisses [...], mit dem Ziel, die eigene motorische Handlung zeitlich adäquat daran ausrichten zu können“. Denn gerade im Bereich sportlicher Höchstleistung verbleiben den Spielern durch den hohen Zeit- und Gegnerdruck in den Spielsituationen nur sehr kurze Zeiträume, um eine Handlungsentscheidung treffen zu können (Yarrow, Brown & Krakauer, 2009, S. 591). Die Entscheidung für eine erfolgreiche Handlungsoption ist aber nur möglich, wenn die Spieler in der Lage sind, „u.a. von (Be- wegungs-)Merkmalen in der frühen Phase der Bewegungsausführung auf die eigentliche Aktionsrichtung des Gegenspielers [zu] schließen, d. h., das Ergebnis der Bewegungsausführung muss antizipiert werden“ (Yarrow et al., 2009, S. 562).
In früheren Forschungen wurde immer wieder belegt, dass sportliche Experten gegenüber weniger erfahrenen Sportlern überlegen sind, wenn es darum geht, die Intentionen eines Gegners mit hoher Wahrscheinlichkeit genau vorherzusagen (Baker, Hagemann, & Loffing, 2015, S. 411; Janelle, Mann, Ward & Williams, 2007, S. 98ff). Im Rahmen ihrer Meta-Literaturanalyse sahen Janelle et al. ihre Hypothese bestätigt, dass Experten im Vergleich zu ihren weniger erfahrenen Kollegen genauere und schnellere Entscheidungen treffen (2007, S. 460, 472f). Die Gründe für die besseren Leistungskennzahlen werden vor allem über einen höheren Erfahrungsschatz in domänenspezifischen Aktionen in Training und Wettkampf, und nicht schon per se über das höher entwickelte Wahrnehmungssystem eines sportlichen Experten, erklärt (Baker et al., S. 411; Yarrow et al., 2009, S. 591f).
Aber wer gilt in seiner sportlichen Domäne überhaupt als Experte? Als Experten in ihrer sportlichen Domäne bezeichnet Munzert (1995, S. 123) Sportler, die „auf Basis langer Übungs- und Trainingsprozesse in ihrer Sportart, besondere, überdurchschnittliche Leistungen erzielen“. Die Expertenleistung müsse aber aus einem differenzialpsychologischen Blickwinkel betrachtet und in Relation zu einer Bezugsgruppe gesetzt werden. „Eine langfristige und systematische Beschäftigung mit dem Gegenstand“ als ein wesentliches Merkmal von Expertenleistung wird von Hagemann, Tietjens und Strauß (2007, S. 9) hervorgehoben:
„Durch diverse retrospektive Befragungen konnte ermittelt werden, dass mindestens 10 Jahre oder 10.000 Trainingsstunden notwendig sind, um nationale oder internationale Spitzenleistungenzuvollbringen. Dieser Zeitraum wurde schon von Simon und Chase (1973)fürdas Erreichen des Niveaus eines Großmeisters im Schach geschätzt: [...]“.
Auch Janelle und Hillman (2003, S. 21) erläutern mit Verweis auf Starkes (1993), dass besondere, überdurchschnittliche Leistungen über einen längeren Zeitpunkt erbracht werden müssen, um als Experte in einer sportlichen Domäne zu gelten: „Expert performance in sport can be defined as the consistent superior athletic performance over an extended period ...“. In der Literatur existieren zahlreiche Studien, in denen Leistungen von Experten, weniger erfahrenen Sportlern und Novizen in unterschiedlichen sportlichen Domänen gegenübergestellt werden. Um auf ein nationales oder gar internationales Leistungsniveau zu gelangen, sind in den Studien überwiegend Leistungen erwachsener Sportler untersucht worden. In einigen Fällen wurden auch sportliche Leistungen von jugendlichen Heranwachsenden untersucht (siehe auch die vergleichende Literaturstudie zur Definition des Elite-Athleten: Swann, Moran & Piggott, 2015). In der Expertisenforschung wird immer wieder darauf hingewiesen, dass der Expertenbegriff zu weit gefasst ist und es ihm im Einzelfall an der notwendigen Trennschärfe fehlt. So kann ein Rugby-Nationalspieler in Deutschland mit seiner langjährigen Trainings- und Spielerfahrung als sportlicher Experte angesehen werden, im internationalen Vergleich mit den Spitzen-Rugbyspielern klassischer Rugbynationen gilt er aber nicht als sportlicher Experte (Schorer, 2006, S. 24).
Auf die Diskussionen in der Literatur zur fehlenden Trennschärfe zwischen sportlichen Experten und weniger erfahrenen Sportlern möchte ich in dieser Arbeit aber nicht näher eingehen. Vielmehr möchte ich in meiner Masterarbeit untersuchen, ob es bereits im frühen Jugendalter signifikante Leistungsunterschiede in der Antizipationsfähigkeit im Vergleich zwischen Experten, Fortgeschrittenen und Hobbysportlem gibt. Schorer (2006, S. 129) verweist für den Bereich der senso-motorischen Expertise darauf, dass ein Vorliegen signifikanter Leistungsunterschiede im Experten-Novizen-Vergleich einer bestimmten Altersstufe auch Auswirkungen auf die Talentforschung haben könnte und entsprechende Tests zusätzlich zur Talentsichtung genutzt werden könnten. Schorer erwartet in diesem Zusammenhang aber lediglich „minimale Unterschiede zwischen den Experten und den Fast-Experten [...], so dass eine sehr hohe Trennschärfe erreicht werden müsste. Möglicherweise sind aber im jugendlichen Alter noch keine Unterschiede zu finden (Schorer, 2006, S. 129)“.
In meiner Masterarbeit werde ich daher untersuchen, ob im Fußball bereits in der Altersklasse lObis 13 Jahre (E-und D-Junioren) signifikante Leistungsunterschiede in der Antizipationsleistung von Nachwuchsfußballern verzeichnet werden können. Die Dauer ihrer eigenen Trainings- und Spielerfahrung haben die Studienteilnehmer selber im Mittelwert mit 7.59 Jahren angegeben. Grundsätzlich kann daher zunächst angenommen werden, dass die Teilnehmer der Studie nach der klassischen Definition nicht als sportliche Experten gelten. Selbst wenn sie in bestimmten Fällen „besondere, überdurchschnittliche Leistungen“ (Mun- zert, 1995, S. 123; Hagemann, Tietjens & Strauß, 2007, S. 9; Janelle & Hillman, 2003, S. 21) zeigten, wurden diese nicht komplett über die genannten Zeiträume erzielt. Da es in dieser Altersklasse im Fußball auch noch keine Landesauswahlen oder Nationalmannschaften gibt, wurde eine andere Klassifizierung der Studienteilnehmer vorgenommen. Die Teilnehmer wurden aufsteigend in die Leistungsstufen Hobbyspieler, DFB-Stützpunktspieler und NLZ-Spieler eingeteilt.
Im entwickelten Versuch bekommen die Nachwuchsfußballer am Computer Filmsequenzen von Dribblings gegnerischer Fußballer gezeigt. Sie sollen aus Verteidigersicht vorhersagen, ob anlaufende Angreifer in einer 1-gegen-l-Situation rechts oder links vorbeilaufen werden. Die Filmsequenzen im Point-Light-Display-Format sind so kurz gestaltet, dass eine eigene Entscheidung zum Bewegungsverhalten der Angreifer nur antizipiert werden kann. Darüber hinaus wechseln sich normale Laufbewegungen und Laufbewegungen mit Täuschungen in randomisierter Form ab.
Wenn im Rahmen des Versuchs signifikante Leistungsunterschiede zwischen den gewählten Leistungsstufen festgestellt werden können, soll diskutiert werden, inwieweit dieser Test auch als Ergänzung zur klassischen Talentsichtung im Fußball genutzt werden könnte.
2. Theoretischer und empirischer Hintergrund
2.1 Problemstellung: Leistungsfaktoren im Fußball
In seiner Broschüre zur Talentförderung „Training des 1 gegen 1 in der Defensive - Tipps für Vereinstrainer“ hebt der Deutsche Fußball-Bund (DFB) die Wichtigkeit einer systematischen Schulung aller 1 gegen 1-Situationen für Fußballtalente im Junio- renbereichhervor(DeutscherFußball-Bund, 2006, S. 13):
„Nur wennjeder Spieler im 1 gegen 1 taktisch geschickt agiert und fürjede Situation die richtigen Lösungen parat hat, kann eine Mannschaft funktionieren. Das gilt gleichermaßen für Offensive und Defensive. [...] Spätestens ab der D-Jugend muss eine intensive individualtaktische Schulung ein regelmäßiger Schwerpunkt des Trainings sein. Die Spielerinnen und Spieler müssen Schritt für Schritt alle Situationen kennenlemen, in denen sie sich im direkten Duell mit einem Gegner behaupten müssen.“
Ein taktisch geschicktes Agieren in Offensive und Defensive wird für Fußballtalente als Prädiktor angesehen, um in Zukunft dauerhaft überragende Leistungen erbringen zu können. Ein planvoll gesteuertes, systematisches Training der Individualtaktik in 1 gegen 1-Situationen soll nach diesem Ansatz ab der Altersklasse U12/U13 beginnen (Deutscher Fußball-Bund, 2006, S. 13) - also bei Fußballnachwuchsspielern im Alter zwischen 10/11 und 12/13 Jahren. Taktisch geschicktes Agieren setzt allerdings auch kognitive Prozesse, wie Antizipation, Planung, Entscheidung und Durchführung von Handlungen, voraus, die leistungsbestimmend sein könnten.
In meiner Studie werde ich untersuchen, ob es bereits am Anfang der Talententwicklung in dieser Altersklasse signifikante Unterschiede in der kognitiven Leistungsfähigkeit gibt, die im Rahmen einer Potenzialeinschätzung eine Prognose zulassen, ob Fußballer zukünftig dauerhaft herausragende Leistungen erbringen können. Dazu werde ich das Defensivverhalten in 1 gegen 1-Situationen betrachten und untersuchen, inwieweit über die fußballerischen Leistungsfaktoren Taktik, Technik und Kondition hinaus auch ein kognitiver Prozess, wie die Antizipationsleistung, eine (mögliche) Determinante sportlicher Leistung in der Talentsichtung von Nachwuchsfußballern sein kann.
2.2 Leistungsfaktor Taktik
Der Begriff Taktik beschreibt alle organisierten Maßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, die Spielziele des Fußballs in Offensive und Defensive zu erreichen. Strategische Planungs-, Entscheidungs- und Vollzugssysteme sind einzelne Spieler (Individualtaktik), Teile der Mannschaft (Gruppentaktik) und die gesamte Mannschaft (Mannschaftstaktik). Alle geplanten und durchgeführten taktischen Maßnahmen, die sich auf ein Spiel beziehen, werden der Spieltaktik zugeordnet (Bisanz & Gerisch, 2010, S. 377).
Damit die Spieler in den vielfältigen Angriffs- und Abwehrsituationen des Fußballspiels auf hohem Leistungsniveau dauerhaft erfolgreich sein können, müssen sie zielgerichtet handeln können, um richtige Lösungen treffen zu können. Bisanz und Gerisch (2010, S. 389) verweisen dahingehend auf ein breites Spektrum an individualtaktischen Handlungsalternativen (allgemeine und spezielle, positionsspezifische Handlungsmöglichkeiten), das Fußballer erwerben müssen, um Spielsituationen erfolgreich bewältigen bzw. gestalten zu können:
„Mit Individualtaktik wird das zielgerichtete Verhalten der einzelnen Spieler in den vielfältigen Angriffs- und Abwehrsituationen des Wettspiels bezeichnet. Unter dem Gesichtspunkt, dass Spieler fundierte Fertigkeiten zur Bewältigung bzw. Gestaltung von Spielsituationenbenötigen, muss die Verbesserung bzw. Stabilisierung technischer Fertigkeiten im Training sich stets auf Wettspielsituationen beziehen. Damit ist das Techniktraining immer auch ein Taktiktraining. Leitgedanke ist dabei, dass alle Spieler eine variabel verfügbare Fußballtechnik und damit ein breites Spektrum an Handlungsaltemativen für das Wettspiel erwerben (allgemeine individualtaktische Handlungsmöglichkeiten). Darauf aufbauend, müssen die Spieler im Training auf ein spezielles individualtaktisches Handeln vorbereitet werden, das sich auf die jeweiligen Spielpositionen und die damit verbundenen Aufgaben innerhalb der Mannschaft bezieht (spezielle individualtaktische Handlungsmöglichkeiten.“
2.3 Leistungsfaktor Technik
Fußballtechniken sind
„alle fußballspezifischen Bewegungsabläufe [...], die zielgerichtete und regelgerechte Spielhandlungen ermöglichen. Demnach bezeichnet Technik im Fußball alle motorischen Spielhandlungen, die situationsspezifisch effizient, d.h. unter Zeit-, Raum- und Gegnerdruck, präzise und zielbestimmt ausgeführt werden“ (Bisanz & Gerisch, 2010, S. 317).
Zu den spezifischen Techniken im Fußball werden Dribbling, Finten, Pass, Schuss, Ballkontrolle (An- und Mitnahme) und Kopfball (Bisanz & Gerisch, 2010, S. 321) gerechnet.
2.4 Leistungsfaktor Kondition
Der Leistungsfaktor Kondition beinhaltet die physische und psychische Leistungsfähigkeit von Fußballspielern. Physische Faktoren sind Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Koordination, während psychische Eigenschaften motivationale, mentale und emotionale Faktoren umfassen (Bisanz & Gerisch, 2010, S. 71).
2.5 Verzahnung der Leistungsfaktoren
Einerseits wird deutlich, dass zur erfolgreichen, zielgerichteten Bewältigung von Spielsituationen im Bereich der Taktik kognitive Prozesse des Planens, Entscheidens und Vollziehens von Handlungen eine große Rolle spielen, andererseits wird auch auf die hohe Bedeutung von technischen Fertigkeiten hingewiesen. Bisanz und Gerisch (2010, S. 51) heben für die Wettspielleistung und Spielhandlungsfähigkeit explizit hervor, dass ein „zielgerichtetes, effektives, situationsangemessenes Handeln“ nur möglich ist, wenn technische und taktische Fähigkeiten auch eng mit konditionellen Faktoren verzahnt sind:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Faktoren der Wettspielleistung (Bisanz & Gerisch, 2010, S. 51).
Die Leistungsfaktoren Taktik, Technik und Kondition stehen in enger Wechselbeziehung zueinander. So bilden technische Fertigkeiten die Grundlage für eine erfolgreiche Durchführung des taktischen Spielkonzepts (Bisanz & Gerisch, 2010, S. 51, 317). Vor allem der konditionelle Faktor Schnelligkeit wird als leistungsbestimmende Determinante angesehen (Höner, 2O12,S.27O).
2.6 Leistungsfaktor Kognition?
Kognitive Fähigkeiten werden zwar ausdrücklich nicht als leistungsbestimmende Faktoren im Fußball benannt, es wird aber deutlich, dass sie implizit durch die enge Verknüpfung in den Leistungsfaktoren Taktik, Technik und Kondition enthalten sind.
Kognition wird grundsätzlich als Gesamtheit der nichtemotionalen und nicht den Willen betreffenden psychischen Funktionen beschrieben, die etwas mit der Entstehung von Erkenntnis und Wissen zu tun haben: Wahrnehmung, Vorstellen, Denken, Verstehen und Urteilen (Städler,1998, S. 544). Auchfür Gerrig und Zimbardo (2015, S. 286f) reduziert sich der Begriff der Kognition nicht nur auf die Entstehung von Wissensinhalten (Begriffe, Fakten, Regeln und Gedächtnisinhalte), sondern auch auf kognitive Prozesse der Wissensaufnahme, -Verarbeitung, -interpretation und -Speicherung, um sie unter anderem für die Planung eigener Handlungen bzw. Problemlösung nutzen zu können. Die kognitiven Teilbereiche Intelligenz, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Denken und Problemlosen sowie Sprache stehen in einer direkten Wechselwirkung zueinander.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung2: Schematische Darstellung der Kognitiven Psychologie nach Schwerpunkten (Gerrig & Zimbardo, 2010, S. 286).
2.7 Talentprognose des Leistungsfaktors Schnelligkeit
2.7.1 Leistungsfaktor Schnelligkeit
Höner (2012, S. 270) verweist darauf, dass ,,[h]och ausgeprägte Schnelligkeitsfähigkeiten sowie eine herausragende Technik wesentliche Merkmale von Fußballtalenten [sind].“ Im DFB-Stützpunktprogramm werden mit DFB-Stützpunktspielem der Altersklasse U12/U13 halbjährlich ganz bestimmte, leistungsdefinierende Schnellig- keits- und Technikmerkmale durch eine technomotorische Leistungsdiagnostik ermittelt (Höner, 2012, S. 270). Der Test besteht aus Schnelligkeitstests ohne Ball (20-Me- ter-Sprint, Gewandtheitslauf) und Techniktests mit Ball (Dribbling, Ballkontrolle, Balljonglieren, Torschuss) und wird seit einigen Jahren von den Instituten der Universitäten Tübingen und Heidelberg sportwissenschaftlich begleitet (Höner, 2012, S. 270; detailliert zur Testentwicklung und den individuellen Spielerauswertungen im Rahmen der technisch-motorischen Leistungsdiagnostik an den DFB-Stützpunkten: Höner, 2015).
2.7.2 Prospektive Talentdiagnose
Höner (2012, S. 270) hebt mit Verweis auf die Längsschnittauswertung der Leistungsergebnisse hervor, dass Fußballspieler mit sehr guten Ergebnissen zukünftig mit höherer Wahrscheinlichkeit ein hohes Leistungsniveau (Jugendnationalspieler) erreicht haben. Die oben beschriebenen Faktoren der Schnelligkeit und Technik werden daher als ,,offensichtlich[e] Merkmale mit einer Prognoserelevanz“ (2012, S. 270) klassifiziert. Bei der Leistungsermittlung der DFB-Stützpunktspieler „geht es weniger um die Erfassung eines Ist-Zustandes, sondern vor allem um eine Potenzialeinschätzung und Abwägung, ob der Spieler in Zukunft wirklich außergewöhnliche Leistungen und Erfolge erwarten lässt“ (Backfisch, 2021, S. 60).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung3: Prospektive Talentforschung (Schultz, 2013, S. 70; mod. nachCobley et al., 2012; Hohmann, 2005, S. 237): Lässt sich aus den Testergebnissen zu einem leistungsdefinierenden Merkmal eine Prognose zu einem späteren Erfolg als Spitzenathlet ableiten?
2.7.3 Herausforderungen in der Talentprognose
Allerdings werden auch nur einige technischen Merkmale und ausgewählte Schnelligkeitsfaktoren durch den techno-motorischen Leistungstest abgebildet. In seiner Trainerausbildung definiert der Deutsche Fußball-Bund die Faktoren der Schnelligkeit. Einige Faktoren, wie Antrittsschnelligkeit, Gewandtheit und bedingt auch Reaktionsschnelligkeit, werden im Rahmen des Leistungstests überprüft. Die Antizipations schnelligkeit, Handlungsschnelligkeit und Wahrnehmungsschnelligkeit, also Prozesse der Informationsaufnahme und -Verwertung sowie des vorausschauenden Erkennens bzw. der Handlungsplanung und Entscheidungsfindung, werden hier eher peripher
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung4: Die konditionellen Faktoren der Schnelligkeit (Deutscher Fußball-Bund, 2018a, S. 7).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Handlungsschnelligkeit (DeutscherFußball-Bund, 2011, S. 37)
Die Herausforderungen in der Talentprognose bestehen also darin, aus einer Vielzahl potenziell leistungsbestimmender Talentmerkmale diejenigen herauszufiltern, die eine verlässliche Prognose für einen späteren Erfolg als Spitzenathlet unterstützen können:
„Herausforderungen zur Verbesserung der Talentprognose bestehen u. a. in der geeigneten Merkmalsauswahl. Die bisher genannten personalen Talentmerkmale können nur einen Mosaikstein des Talents abbilden. Für verlässlichere Prognosen sind Erweiterungen der Merkmalsbereiche notwendig (z. B. physiologische Parameter, psychologische Persönlichkeitsmerkmale undKompetenzen)“ (Höner, 2012, S. 270).
2.8 Leistungsfaktor Antizipation
Ein weiterer leistungsbestimmender Talentparameter mit Prognoserelevanz könnten herausragende Leistungen im Rahmen der Antizipationsfähigkeit von Fußballern sein.
Dicks und Noël (2013, S. 564f) weisen allgemein für alle Sportspiele daraufhin, dass
„Expertise im Sportspiel [...] sich [...] auch durch eine bessere Wahrnehmung und Nutzung von Informationen für die eigene Handlungsplanung und -durchführung aus[zeichnet].“
Memmert (2019, S. 27) hebt mit Verweis auf Hagemann und Loffing (2013, S. 564) dabei die herausragende Rolle der Antizipation in vielen Sportspielen explizit hervor. Vor allem in Sportspielen, in denen Sportler unter hohem zeitlichem Druck auf Aktionen ihrer Mit- und Gegenspieler reagieren und eigene Handlungsentscheidungen treffen müssen, sind sie gezwungen, Handlungen ihrer Mit- und Gegenspieler vorherzusagen, bevor sie tatsächlich ausgeführt worden sind. Die richtige Vorhersage der Handlungseffekte anderer Spieler ist ein leistungsbestimmender Faktor im Sportspiel (Balser, 2014, S. 18).
Ritzdorf (1982, S. 206) definiert die Antizipation als
„[die] Fähigkeit des einzelnen, Aktionen des Gegners vorherzusehen und bereits während deren Ablauf eine zielgerichtete Entscheidung zu treffen [.. ,].Wir verstehen darunter einen kognitiven Prozeß, durch den für die nachfolgende Handlung relevante Merkmale frühzeitig erkannt, bewertet und bei der Programmierung der eigenen Bewegung berücksichtigt werden können.“
Auch er hebt noch einmal die besondere Bedeutung der Antizipation unter Zeitdruck hervor,wenn die Antwortreaktion nicht erst nach Beendigung der gegnerischen Handlung erfolgen kann, weil in diesem Fall die zur Verfügung stehende Zeit nicht ausreicht“ (Ritzdorf, 1982, S. 206). Gabler spezifiziert Ritzdorfs Definition noch einmal dahingehend, dass er nicht nur von Antizipations-Handlungen spricht, sondern unter Antizipation im Sport in erster Linie die vorstellungsmäßige Vorwegnahme fremder Bewegungen versteht, die beim Bewegungsentwurf der folgenden eigenen Bewegung berücksichtigt wird (Gabler, 2000, S. 189).
Als Grundlage für die Antizipationsphase nennt Gabler vorausgegangene Erfahrungen und aktuelle Informationen sowie daraus abgeleitete Vorhersagen. Die Vorhersage zukünftiger Gegebenheiten und die funktionale Integration dieser Vorhersage in die aktuelle Handlungsregulation sieht Gabler als zentrale Prozesse der Antizipation. Für die Antizipationsphase werden Kalkulationsprozesse und Planungsprozesse näher beschrieben (Gabler, 2000, S. 112f):
- In den Kalkulationsprozessen erfolgt eine Bewertung der Ausgangssituation und ihrer möglichen Konsequenzen sowie vorliegender Handlungsalternativen zur Situationsveränderung.
- Planungsprozesse entwickeln Möglichkeiten der gezielten Situationsveränderung, also den Entwurf von Handlungsplänen.
Beide Prozesse stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander: „Bestimmte Kalkulationsprozesse gehen der Handlungsplanung voraus, und die entwickelten Pläne werden selbst wiederum in Kalkulationsprozessen erneut bewertet“ (Gabler, 2000, S. 113).
Auch für den Fußball weist der Deutsche Fußball Bund (2016a, S. 5) in seinem Talentförderprogramm auf die Antizipation als leistungsbestimmenden Faktor hin:
„Das immer variablere, dynamischere und komplexere Spiel stellt ganz spezielle Anforderungen an die Spieler von heute und morgen. Sie müssen immer neue Spielsituationen in kürzester Zeit erfassen, blitzschnell bewerten, bestenfalls sogar vorausschauend erkennen („antizipieren”) und in Augenblicken mit einer passenden Lösung reagieren. [...] [Die Talente] müssen ein Spiel „lesen” können, um Spielverläufen gedanklichvorzugreifen und Aktionen/Bewegungsabläufe vorzeitig einzuleiten! [...] Sie müssen in kürzester Zeit auf plötzliche, überraschende Situationswechsel reagieren und Spiellösungen finden! Sie müssen Spielsituationen in kürzester Zeit erfassen und Veränderungen blitzschnell erkennen!“
Im Rahmen seines Talentförderprogramms skizziert der Deutsche Fußball Bund die Entwicklung von Fußballtalenten bis hin zu den Höchstleistungen späterer Spitzenfußballer. Mit Blick auf die Leistungsentwicklung der Talente über die unterschiedlichen Altersklassen hinweg wird deutlich, dass sich Höchstleistungen im Fußball - in Offensive und Defensive - nur mit höchster Dynamik unter Gegner- und Zeitdruck ausbilden können (Deutscher Fußball Bund, 2016b, S. 5; Deutscher Fußball Bund, 2007, S. 12, 24, 30, 32).
Anm. der Red.: Die Abb. wurde aus datenschutzrechtlichen Gründen entfernt.
Abbildung 6: Fußballtalente müssen in 1 gegen 1-Situationen unter hohem Gegner- und Zeitdruck die Spielerbewegungen und Täuschungen ihrer Gegenspieler „lesen“ und antizipieren, um eigene Aktionen und Bewegungen frühzeitig einleiten zu können. Der Verteidiger (grün) agiert in einer seitlichen Stellung zum Angreifer (rot). Foto: Jens Kamm
Auf Grund der eingeschränkten Zeitfenster können erfolgreiche Entscheidungen nur getroffen werden, wenn Spielsituationen schnell erfasst und im Voraus erkannt (antizipiert) werden. Spitzenspieler müssen das Spiel aufgrund von Ball- und Spielerbewegungen „lesen” [können]“ (Deutscher Fußball Bund, 2016b, S. 5): Sie antizipieren im 1 gegen 1 die Bewegungen ihrer Gegenspieler, erahnen die Lauf- und Passwege ihrer Mit- und Gegenspieler im Voraus oder können die Flugbahn von Schüssen sehr gut einschätzen (Memmert, 2018, S. 9).
Angreifer direkt vor dem Verteidiger Angreifer mit viel Aktionsraum
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung?: Unterschiedliche Situation im 1 gegen 1 : Angreifer direkt vor dem Verteidiger (Deutscher Fußball-Bund, 2018b, S. 3).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 8: Unterschiedliche Situation im 1 gegen 1: Angreifer mit viel Aktionsraum vor dem Verteidiger (Deutscher Fußball-Bund, 2018b, S. 3).
Für das erfolgreiche Defensivverhalten von Spielern gegen andere Gegenspieler haben Bisanz und Gerisch (2010, S. 390) - je nach individueller Spielsituation - umfangreiche Leistungskriterien aufgestellt (vgl. auch Kollath, 2013, S. 581):
„Schnell zum Ballbesitzer starten und ihn unter Druck setzen, ihm keine Zeit lassen, sich zu orientieren.
Stärken und Schwächen von Gegenspielern erkennen und berücksichtigen.
Bei schnellen Dribblern den Abstand entsprechend einrichten, sich nicht überlaufen lassen.
Bei dribbelstarken Spielern nicht zu früh attackieren; aus der Rückwärtsbewegung heraus eine günstige Chance zum Eingreifen finden.
Stellungsspiel: innere Linie zum Tor, den direkten Weg zum Tor zustellen.
Den Gegner durch gutes Stellungsspiel bzw. abschirmendes Decken nach außen abdrängen.
Den Gegner stellen, aktiv bekämpfen und Abwehrfinten einsetzen.
Je nach Situation mit zwei Abwehrspielern gegen den Ballbesitzer spielen.
Anpassen der Laufgeschwindigkeit an die des Angriffsspielers - rückwärts, seitwärts laufen.
Durch verzögernde Bewegungen das Tempo des Gegners verlangsamen.
Zum richtigen Zeitpunkt den Ball abblocken, eventuell regelgerechtes Tackling einsetzen.
Keine Gegner an sich vorbeiziehen lassen.
Sich nicht durch Finten ausspielen lassen, Aufmerksamkeit auf den Ball richten.
Doppelpasssituationen erkennen und entsprechend reagieren.
Pässe, Flanken, Schüsse abblocken.“
Schnelligkeit im Fußball
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 9: Strukturmodell der Schnelligkeit im Fußball (Bisanz & Gerisch, 2010, S. 183).
Bei der Betrachtung der umfangreichen Leistungskriterien im Bereich der Individualtaktik wird deutlich, dass vor allem Merkmale der Handlungsschnelligkeit eine große Rolle spielen. Die spielspezifischen Handlungen müssen mit hoher technischer und taktischer Aktionsschnelligkeit ausgeführt werden, um erfolgreich sein zu können. Dabei müssen Bewegungen von Gegenspielern und komplexe Spielsituationen wahrgenommen, analysiert und für eine eigene Entscheidung bewertet werden, um anschließend eine eigene technomotorische Handlung als Lösung generieren zu können. Bisanz und Gerisch (2010, S. 380) sehen ein hohes Niveau technomotorischer Fertigkeiten und die „Antizipation (Voraussehen, gedankliche Vorwegnahme) von Spielsituationen und Handlungsentscheidungen der Mit- und Gegenspieler im rasch wechselnden Wettkampfgeschehen“ als grundlegende Voraussetzungen für ein planvolles und zielgerichtetes taktisches Handeln. In diesem Zusammenhang beschreiben die Autoren folgende Hauptphasen der taktischen Handlung näher (Bisanz & Gerisch, 2010, S. 380):
„Wahrnehmung und Analyse der Spielsituation (Überblick verschaffen und die Informationen einordnen).
Gedankliche Lösungsmöglichkeiten finden.
Entscheidungen treffen.
Technomotorisch ökonomisch und effizient handeln.“
In der Gesamtbetrachtung ist herausgearbeitet worden, dass die Antizipationsleistung von Fußballspielern ein leistungsbestimmender Talentparameter mit Prognoserelevanz in der Talentsichtung von Nachwuchsfußballem sein kann. Dieses Ergebnis hat Schultz (2013, S. 78f; vgl. auch weitere Literaturhinweise zu potentiellen Talentprä- diktoren) anschaulich zusammengestellt und die Antizipation als wichtige perzeptuell- kognitive Fertigkeit im Rahmen der psychologischen Talentprädikatoren ausdrücklich hervorgehoben.
In der Übersicht der psychologischen Prädiktoren für Fußballtalente wird aber auch noch einmal der enge Zusammenhang zwischen den perzeptuell-kognitive Fertigkeiten Aufmerksamkeit, Antizipation, Entscheidungsfindung, Spielintelligenz und kreativem Denken einerseits und den techno-motorischen Fertigkeiten andererseits dargestellt, der im Rahmen dieser Masterarbeit bereits herausgearbeitet wurde:
Physiological predictors
- Aerobiccapacity
- Anaerobic endurance
- Anaerobic power
Psychological predictors
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 10: Potenzielle TalentprädiktorenimFußball (Schultz, 2013, S. 79).
Eine überlegene Antizipationsfähigkeit wurde in unterschiedlichen Studien allerdings bisher vor allem im Vergleich von Novizen und Experten festgestellt: Bishop, Wright, Jackson und Abernethy (2013, S. 98) verweisen darauf, dass der Vorsprung von Experten in interzeptiven Sportarten wie Fußball gegenüber weniger geübten Spielern unter anderem auf ihre überlegene Antizipationsfähigkeit zurückzuführen ist (mit Verweis aufReilly, Williams, Nevill, & Franks, 2000, S. 696). Sie führen die Überlegenheit darauf zurück, dass Experten in der Lage sind, frühzeitiger Bewegungsinformationen aufzunehmen und auf dieser Basis eine angemessene Handlungsreaktion auszuführen (vgl. auch Savelsbergh, Van der Kamp, Williams, & Ward, 2005, S. 701f; Williams, Ford, Eccles, & Ward, 2011, S. 433). Für eine ausführliche Übersicht zu inter- zeptiven Handlungen im Sport siehe Davids, Savelsbergh, Bennett & Van der Kamp (2004, PrefaceIV, S. 1-39).
Auch für andere Sportarten konnte festgestellt werden, dass die Antizipationsfähigkeit bei Experten besser ausgeprägt ist als bei Novizen (vgl. auch Balser, 2014, S. 19; für den Fußball insbesondere: Roca, Ford, McRobert & Williams, 2011; Savelsbergh, Williams, van der Kamp & Ward, 2002). Wie zahlreiche Forschungsarbeiten belegen (zusammenfassend: Hodges, Huys & Starkes, 2007; Williams & Ward, 2007), antizipieren Experten den Ausgang einer Situation vor allem auf der Grundlage der Haltungsbewegungen ihres Gegners bzw. ihrer Gegner besser als weniger erfahrene Sportler. In schnellen Ballsportarten ermöglicht diese ausgeprägte Antizipationsfähigkeit den Sportlern, ihre eigene Reaktion vorzubereiten und auszuführen, um den Absichten ihrer Gegner, u.a. auch von Täuschungen, früh entgegenwirken zu können (Williams etal.,2011, S. 433).
In der prospektiven Talentforschung im Fußball fehlen bisher umfangreiche Untersuchungen zum Leistungsfaktor Antizipation. Wenn entsprechende Untersuchungsergebnisse die Antizipation als eine wichtige Determinante der sportlichen Leistung in der Talentsichtung von Nachwuchsfußballern feststellen sollten, könnte dieser „Mosaikstein des Talents“, gemeinsam mit dem techno-motorischen DFB-Leistungstest, dem eine hohe Prognoserelevanz hinsichtlich bestimmter Fußballtechnik-Merkmale und einiger Schnelligkeitsaspekte zugewiesen wurde, die Talentprognose zukünftig verbessern und das „Gesamtbild des Fußballtalents“ an einer wichtigen Schnittstelle zwischen Taktik, Technik und Kondition entscheidend ergänzen (vgl. auch Höner, 2012, S. 270f).
Dazu müssten aber bereits in der Phase der ersten Talentsichtung von Nachwuchsfußballern signifikante Unterschiede in der Antizipationsleistung sichtbar werden. Da bereits in der Altersklasse 10 bis 13 Jahre Ergebnisse hinsichtlich der techno-motorischen Leistungsfähigkeit vorliegen, werde ich den Fokus meiner Untersuchungen zur Antizipationsleistung auch auf diese Altersklasse legen.
2.9 Wahrnehmung
Zur Identifikation von Antizipationsleistung werde ich im Versuch die Wahrnehmung relevanter Merkmale einer fremden Bewegung untersuchen. Wie bereits dargestellt, stehen Wahrnehmung und Antizipation in einem direkten Zusammenhang. Die Wahrnehmung hat die Aufgabe, über die Sinnesorgane (visuell, auditiv, vestibulär, gustato- risch, haptisch-taktil und olfaktorisch) einen umfangreichen Informationspool aufzubauen, um auf dieser Basis die für eine Entscheidungsfindung relevanten Informationen über die Aufmerksamkeitslenkung herauszufiltern. Aus dem vielfältigen Informationspool von Umweltreizen muss das Wahrnehmungssystem die für die konkrete Aufgabe benötigten Informationen auswählen, um zielgerichtet eine Handlungsentscheidung vorbereiten zu können (Furley & Memmert, 2009, S. 33f). Die benötigten Informationen werden über die Selbst- und/oder Fremdbeobachtung in den Informationspool aufgenommen. Für die Handlungssteuerung wurde in der sportpsychologischen Forschung vor allem die visuelle Wahrnehmung eingehend analysiert:
„Die Wahrnehmung befähigt den Sportler, Informationen aufzunehmen, und kann nach innen oder außen gerichtet sein (Selbst- oder Fremdbeobachtung). Sie ist ein aktiver psychischer Prozess, bei dem ein Sportler auf Basis von Lemerfahrungen ein subjektives Abbild eines Objekts konstruiert [...]. Die für die Handlungssteuerung aufzunehmende Information ist multimodal, d. h., sie basiert auf verschiedenen Analysatoren (z. B. akustisch, visuell, taktil, Unästhetisch, vestibulär). Dies führt zu ganzheitlichen Wahmeh- mungsempfindungen [...]. Die sportpsychologische Forschung untersuchte bisher vor allem die visuelle Wahrnehmung im Sport, da die visuelle Information dem Sportler in zahlreichen Sportarten als dominante Informationsquelle zur Orientierung in der Handlungssituation, zur Eigenkontrolle sowie zur Antizipation von Fremdbewegungen dient [...] (Conzelmann, Hänsel & Höner, 2013, S. 288).“
Die visuelle Wahrnehmung wird dahingehend als dominanten Informationsquelle zur
Antizipation von Fremdbewegungen klassifiziert.
2.10 Wahrnehmungsprozesse
Um die Fremdbewegung von Gegenspielern in einer 1 gegen 1-Situation überhaupt wahrnehmen und ggfs. antizipieren zu können, durchläuft der Wahrnehmungsprozess drei Stufen, in denen die Spieler aus den unterschiedlichen, multimodalen Wahrnehmungsfaktoren ein ganzheitliches Wahrnehmungsempfinden entwickeln:
2.10.1 Bottom-up-Prozess
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 11: Die drei Stufen des Wahmehmungsprozesses: Empfindung, Organisation und Identifizie- rung/Einordnung (modifiziert nach Conzelmannetal., 2013, S. 290).
Die Wahrnehmung ist auf der ersten Stufe während des Bottom-up-Prozesses darauf ausgerichtet, über die Körpersinne Daten aufzunehmen. In einer 1 gegen 1- Situation könnten für Verteidiger auf visueller Ebene unter anderem Daten zur Körperhaltung, zur Laufrichtung und zur seitlichen Stellung und Position der Gegenspieler aufgenommen werden. Aber auch vestibuläre (ein nasser, rutschiger Untergrund) oder akustische Reizmuster (Zuruf von Mitspielern) aus der Umwelt können erfasst werden. Auf interner Ebene werden selbstbezogener Informationen, wie ein gutes Bewegungsgefühl oder Verspannungen der Muskulatur aufgrund hochintensiver Belastungen, in den Informationspool integriert (Conzelmann et al., 2013, S. 289).
2.10.2 Perzeptuelle Organisation
Mit der perzeptuellen Organisation werden die äußeren Reize zu einem inneren, ganzheitlichen Wahmehmungsbild (Perzept) zusammengesetzt. Die aufgenommenen Daten werden im Rahmen eines aktiven Prozesses, bei dem immer auch motorische Komponenten beteiligt sind, organisiert und eingeordnet. Auf der Grundlage von bereits erworbenem Vorwissen können Wahmehmungs- und Bewegungsprozesse, die Empfindungen des eigenen Körpers und Umwelteinflüsse in das dynamische, dreidimensionale Wahmehmungsbild eingefügt werden. (Conzelmann etal.,2013, S. 289).
2.10.3 Top-down-Prozess
Auf der dritten Stufe beeinflussen aber im Top-down-Prozess auch andere kognitive Prozesse höheren Niveaus, wie Vorwissen, Erfahrungen oder Erwartungen, die im Gedächtnis abgespeichert sind, das gesamte, innere Wahmehmungsempfinden und ergänzen ggfs. unvollständige oder fehlende Informationen. Darüber hinaus wird die Wahrnehmung aber auch über motivationale und volotionale Prozesse der Handlungsregulation gesteuert. Dem inneren Wahrnehmungsbild wird im Top-down-Prozess durch die verschiedenen Teilprozesse eine inhaltliche Bedeutung zugewiesen (Conzelmann etal.,2013, S. 290).
Fußballspieler, die nach dem Ansatz der deliberate practice mindestens 10 Jahre oder 10 000 Trainings- und Spielstunden intensive Fußballerfahrung gesammelt haben, haben im Gedächtnis eine wesentlich höhere Wissensrepräsentation in ihrer Domäne aufgebaut als Fußballer mit nur wenigen Jahren oder Stunden im Trainings- und Spielbetrieb. Wissen und Vorerfahrung lenken die Wahrnehmung differenziert auf wesentliche Details, die für die erfolgreiche Lösung der Spielsituation wichtig sind. Erfahrene Fußballspieler benötigen daher gegenüber Fußballanfängern auch weniger Zeit, um ihrem inneren Wahrnehmungsbild eine inhaltliche Bedeutung zuzuweisen. Sie sind daher eher in der Lage, sich einen Überblick zu verschaffen, die Informationen einzuordnen, gedankliche Lösungsmöglichkeiten zu finden, eine Entscheidung zu treffen und anschließend technomotorisch ökonomisch und effizient zu handeln (siehe auch Bisanz & Gerisch (2010, S. 380) zu den Hauptphasen taktischen Handelns).
Fraglich ist nur, auf welche Informationen zur Vervollständigung des inneren Wahrnehmungsbildes erfahrene Fußballer beim Verteidigen in einer aktuellen 1 gegen 1- Situation konkret zurückgreifen? Auf welche möglichen Informationsquellen lenken das Vorwissen und die Trainings- und / oder Spielerfahrungen die Wahrnehmung? Mögliche Informationsquellen für Verteidiger in einer 1 gegen 1-Situation könnten unter anderem sein (vgl. auch „umfangreiche Leistungskriterien“ für den Leistungsfaktor unter 2.7.4):
- Informationen zu den Gegenspielern:
- der Dribbelfuß (wird mit links oder rechts gedribbelt)
- die Körperhaltung der Gegenspieler
- die Laufbewegung, das Lauftempo und die Täuschungsbewegung der Gegenspieler
- die seitliche Stellung der Gegenspieler zum eigenen Körper
- die Position bzw. der Abstand der Gegenspieler zur eigenen Position
- Informationen zur eigenen Person:
- Körperhaltung
- Laufbewegung, Lauftempo
- Position zu Gegenspielern
- seitliche Stellung zu Gegenspielern
- Informationen zu weiteren Spielern und / oder Gegenständen:
- die Positionen weiterer Gegen- und / oder Mitspieler
- die Position des Tores
2.10.4 Wahrnehmungsebenen im Sport
In der Gesamtbetrachtung der Informationsquellen in einer 1 gegen 1-Situation wird erkennbar, dass Fußballer neben Informationen zur Eigenbewegung auch Fremdbewegungen anderer Spielteilnehmer aufnehmen müssen. Sie müssen im Rahmen der Wahrnehmung also ihre eigene Bewegung mit der Bewegung von Objekten (Ball), Gegen- und / oder Mitspielern koordinieren. Diese vielfältigen Wahrnehmungsanforderungen machen deutlich, dass für komplexe Sportspielsituationen aufgabenspezifisch auf basale Wahmehmungsmechanismen zurückgegriffen werden muss, weil sie mit dem Modell der klassischen Objektwahrnehmung (siehe auch Gerrig & Zimbardo, 2015, S. 108-111) nicht mehr erfasst werden können:
„Je einfacher sich das Wahmehmungsproblem gestaltet, umso eher können einzelne Mechanismen wegfallen. Der Grundgedanke besteht also nicht darin, im Modell für den komplexen Fall komplexe Wahmehmungsmechanismen zu modellieren, sondern einfache, basale Prozesse zu suchen, die das realisieren können (Munzert & Raab, 2009, S. 115).“
In der Literatur (Munzert & Raab, 2009, S. 115f; Conzelmann et al., 2013, S. 290f) werden dahingehend drei Ebenen beschrieben, auf denen Wahrnehmungsmechanismen in den komplexen Sportspielsituationen angeordnet sein können:
- direkte Parametermeterwahrnehmung: Parameter, die im Bewegungsvollzug direkt wahrgenommen werden und die Bewegung in der Situation kontrollieren.
- Feature-Wahrnehmung: Wahrnehmungs-Features, die stärker kognitiv durchdrungen sind, und vor allem der Antizipation bewegungsrelevanter Merkmale dienen.
- wissensbasierte Wahrnehmung: Wahmehmungssachverhalte, die vermittelt über Wissensstrukturen Grundlage für Handlungsentscheidungen sind.
2.10.4.1 Direkte Parameterwahrnehmung
Auf der ersten Ebene der direkten Parameterwahmehmung werden über die Sinnesorgane sensomotorische Informationen für die Ausführung und den Vollzug von Bewegungen für das motorische System zur Verfügung gestellt. Auf Grund der komplexen Anforderungen erfolgt hier aber keine permanente Berechnung von sensomotorischen Einflussgrößen zueinander, sondern die Relation dieser Einflussgrößen wird direkt wahrgenommen (Munzert & Raab, 2009, S.116; Conzelmann et al., 2013, S. 290).
2.10.4.2 Feature-Wahrnehmung
Auf der Ebene der Feature-Wahrnehmung steht vor allem die selektive Aufmerksamkeit im Vordergrund (Munzert & Raab, 2009, S.116). Dies ist besonders in Spielsituationen der Fall, wenn Bewegungen unter hohem Zeitdruck bei gleichzeitiger hoher Präzisionsanforderung ausgeführt werden müssen. Das Zeitintervall ist in diesen Situationen so kurz, dass Bewegungs-„Features“ (Merkmale) nicht mehr rechtzeitig aufgenommen und verarbeitet werden könnten, wenn sie nur auf der Ebene der direkten Parameterwahmehmung erfasst werden würden. Die Merkmale sind also Hinweisreize für zukünftig eintretende Ereignisse. Damit die „Features“ Grundlage einer Entscheidung für die Antizipation zukünftiger Handlungsalternativen werden können, müssen sie bereits vor einer Bewegung / einer Spielsituation als innere Repräsentation kognitiv vorhanden sein. Auch an dieser Stelle wird wieder deutlich, dass die Antizipation bewegungsrelevanter Merkmale stärker kognitiv durchdrungen ist, weil Wissensbestände für die Bewertung der Handlungsalternativen notwendig sind (Munzert & Raab, 2009, S.117, 119; Conzelmannetal.,2013, S. 291):
„Die Antizipation [...] kann bereits als ein höherer kognitiver Prozess eingestuft werden, da sie auf anderen kognitiven Prozessen wie der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit und dem Gedächtnis basiert (Conzelmann et al., S. 291).“
Conzelmann et al. (2013, S. 291) haben auch auf die Situation des Handballtorwarts hingewiesen, der frühzeitige Merkmale des Bewegungsablaufs des gegnerischen Werfers nutzt, um eine Prognose zur Wurfrichtung treffen zu können. Der Handballtorhüter greift dabei auf Wissensrepräsentationen im Gedächtnis zurück, die ihm helfen, relevante Hinweisreize, wie die Anlaufrichtung oder die Ausholbewegung des gegnerischen Werfers, möglichst frühzeitig zu erkennen. Darüber hinaus wird den erkannten Merkmalen im Abgleich mit den Wissensrepräsentationen eine Bedeutung für den weiteren Handlungsverlauf zugeschrieben, so dass Torhüter eine Prognose hinsichtlich der Richtung und Härte des Wurfes treffen können.
Auch in den Fällen, in denen der Wahmehmungsprozess noch über die direkte Para- meterwahmehmung ablaufen sollte, weil noch ausreichend Zeit für eine Informationsaufnahme bleibt, entsteht für Wahmehmende ein entscheidender Vorteil, wenn sie die Entscheidung für eine Verhaltensantwort möglichst frühzeitig treffen können (Munzert & Raab, 2009, S. 117, 119).
2.10.4.3 Wissensbasierte Wahrnehmung
Auf der Ebene der wissensbasierten Wahrnehmung erhalten Top-down-Prozesse eine immer stärkere Gewichtung: Es werden Wahmehmungssachverhalte zugeordnet, die, vermittelt über bereits vorhandene Wissensstrukturen, Grundlage für Handlungsentscheidungen sind. Sie umfasst kognitive Prozesse höherer Ordnung, die sich im Gedächtnis abspielen und Basis für das Denken und Entscheiden sind (Munzert & Raab, 2009, S. 120; Conzelmann et al., 2013, S. 291). Munzert und Raab (2009, S. 120) verweisen in diesem Zusammenhang aber auch darauf, dass auf dieser Wahmeh- mungsebene nicht nur Wahrnehmungs-Features verarbeitet werden, sondern auf Basis von Beobachtungen auch subjektive Wahrscheinlichkeiten für den Eintritt bestimmter, zukünftiger Ereignisse entwickelt werden. Nach dem Hickschen Gesetz erhöht sich mit der Anzahl möglicher Handlungsaltemativen die Reaktionszeit, während sie sich mit der Anzahl relevanter Vorinformationen reduziert. So konnte im Tischtennis nachgewiesen werden, dass Informationen zur Wahrscheinlichkeit bestimmter Rückschlagmuster von Gegenspielern (Vorhand oder Rückhand, Unter- oder Überschnitt) die Reaktionszeiten verringerten. Je wahrscheinlicher ein bestimmtes Ereignis erwartet wird, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Handlungsalternative auszuwählen (Munzert & Raab, 2009, S. 121; Williams, Davids & Williams, 2005, S. 118 f)·
Im Baseball wurde die Strategie von Spielern entdeckt, Informationen zum Ballflug und zur Geschwindigkeit des Balles bewusst zu ignorieren, weil die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass der ankommende Ball in etwa die Geschwindigkeit der vorherigen Bälle hat. Sie passen ihre Schläge nur bedingt den unterschiedlichen Wurfgeschwindigkeiten an. Allerdings wurde auch festgestellt, dass die Anpassung guten Spielern besser gelingt als schlechteren Spielern. Inwieweit Sportler für bestimmte Wahrscheinlichkeiten empfänglich sind und welche Mechanismen dabei verwendet werden, ist empirisch aber kaum erforscht (Munzert & Raab, 2009, S. 121).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich der kognitive Prozess der Wahrnehmung auf die Fähigkeit bezieht, Informationen aus der Umwelt zu identifizieren und zu erfassen, um sie mit dem bereits im Gedächtnis vorhandenen Wissen zu integrieren, so dass im Anschluss geeignete Reaktionen ausgewählt und ausgeführt werden können (Janelle et al., 2007, S. 457).
2.10.5 Aufmerksamkeit
Für die erfolgreiche Umsetzung einer sportlichen Leistung durch Sportler ist vor allem das Wissen, wo und wann hingeschaut werden muss, von entscheidender Bedeutung. Die visuelle Anzeige seines Blickfeldes ist riesig und oftmals mit Informationen überflutet, die für die Aufgabe relevant oder irrelevant sind. Erfolgreiche Sportler müssen die informationsreichsten Bereiche ihres Sichtfeldes identifizieren und ihre Aufmerksamkeit angemessen lenken können, um diesen Bereichen effizient und effektiv Bedeutungen entnehmen zu können (Janelle et al., 2007, S. 457).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 12: Die Dimensionen der Aufmerksamkeit (Nideffer, 1976; Williams, J.M., Nideffer, R.M., Wilson, V. E. & Sagal, M.-S., 2015, S. 307.
Informationen, die für die Umsetzung des Handlungsziels notwendig sind, werden über den Aufmerksamkeitsprozess gezielt ausgewählt, während irrelevante Informationen, die für das Handlungsziel nicht benötigt werden, aus dem Fokus fallen. Die Aufmerksamkeit als Subprozess der Wahrnehmung selektiert aus dem riesigen, verfügbaren Informationspool die für das Handlungsziel relevanten Aspekte. Einerseits hat die Aufmerksamkeit über ihre Selektionsfunktion einen großen Einfluss sowohl auf die Wahrnehmung (Selektion für die Wahrnehmung) als auch die Handlungsplanung und anschließende Handlungsausführung über das motorische System (Selektion für die Handlungskontrolle). Andererseits beeinflussen im gegenläufigen Prozessablauf auch Wahrnehmung und Handlungskontrolle die Selektion ganz bestimmter Informationen (Hagendorf, Krummenacher, Müller& Schubert, 2011, S. 8).
2.10.5.1 Internale versus extérnale Aufmerksamkeitsfokussierung
Aber nicht nur die Selektion von Informationen spielt im Aufmerksamkeitsprozess eine Rolle, sondern auch wie der Fokus der Aufmerksamkeit ausgerichtet ist: In welche Richtung bewegt sich der Aufmerksamkeitsfokus und wie weit ist der Durchmesser des Fokus ausgeprägt. Die Aufmerksamkeitsfokussierung wird auch in der Literatur gerne mit der „Scheinwerfer-Metapher“ beschrieben: Danach ist die
„Aufmerksamkeit [...] eine Art Scheinwerfer, dessen Kegel Licht auf einen bestimmten Bereich wirft [...]. Die Größe des Lichtkegels ist dabei variabel [...]. Dinge im Zentrum dieses Kegels können besser verarbeitet werden als Informationen in der Peripherie [.]“ (Memmert, 2018, S. 39 mit weiteren Literaturhinweisen).
Nach Nideffer (1976) werden vier Arten der Aufmerksamkeit klassifiziert, die systematisch in den beiden Dimensionen Aufmerksamkeitsbreite und Aufmerksamkeitsrichtung erfasst werden (Conzelmann et al., 2013, S. 291):
- Aufmerksamkeitsbreite: „weit vs eng“
- Aufmerksamkeitsrichtung: „internal vs external“
Allgemein für den Sport stellen Williams, Nideffer, Wilson und Sagal (2015, S. 306) unterschiedliche Anforderungen an die Aufmerksamkeit in verschiedenen Sportsituationen fest. Allerdings müssen Sportler in der Lage sein, sich auf alle Arten zu konzentrieren. Denn um den wechselnden Aufmerksamkeitsanforderungen in den sich schnell verändernden Sportsituationen gerecht werden zu können, müssen Sportler ihre Aufmerksamkeit effektiv auf die für die jeweilige Sportsituation geeignete Art umstellen können.
In Mannschaftssportarten wie Basketball, Hockey und Fußball ist grundsätzlich ein breiter Aufmerksamkeitsfokus notwendig, um - je nach Spielsituation - Ball, Mitspieler, Gegenspieler und die Tore gleichzeitig erfassen zu können. In der Sportart Schießen ist dagegen ein enger Fokus erforderlich, damit sich die Sportler ausschließlich auf die Zielscheibe konzentrieren (Williams et al., 2015, S. 306).
Bestimmte Situationen setzen die Lenkung der Aufmerksamkeit nach innen (internale Aufmerksamkeitsfokussierung) voraus, weil vielleicht Anpassungen an der spezifischen Technik und / oder motorischen Ausführung vorgenommen werden müssen. Hier wird der Aufmerksamkeitsfokus also auf die Bewegung selber gerichtet (im Fußball überprüfen Torschützen beim Schuss auf das Tor ihre Schussbewegung). Aber auch für die Lösung von Problemen und die Entwicklung von Strategien ist ein internaler Aufmerksamkeitsfokus erforderlich. Eine Lenkung der Aufmerksamkeit nach außen (externaler Aufmerksamkeitsfokussierung) kann notwendig sein, wenn aus den Anforderungen der konkreten Situation heraus der Fokus beispielsweise auf den Ball, die Gegner bzw. die Bewegung der Gegner oder das Tor gelegt werden muss. Wenn sich im Fußball Torschützen beim Schuss auf die freien Flächen des Tores fokussieren, richten sie ihre Aufmerksamkeit eher auf das Bewegungsziel und nicht auf die eigene Bewegung (Williams et al., 2015, S. 306; Memmert, 2014, S. 125f).
2.10.5.2 Subprozesse der Aufmerksamkeit
Für die Filterung der Informationen hat die Aufmerksamkeitsforschung nach neurowissenschaftlichen und kognitionspsychologischen Erkenntnissen die Aufmerksamkeitsorientierung, selektive Aufmerksamkeit, geteilte Aufmerksamkeit und Konzentration als Subprozesse der Aufmerksamkeit erfasst (Memmert, 2019, S. 40; Coull, 1998, S. 348-351; Furley & Memmert, 2009, S. 33-35; Conzelmann et al., 2013, S. 291). Memmert (2019, S.40) hebt für die Sportspiele vor allem die Bedeutung der selektiven und geteilten Aufmerksamkeit hervor. Die Aufmerksamkeitsorientierung wird von ihm als die Fähigkeit bezeichnet, die Aufmerksamkeit schnell auf einen besonderen Stimulus „einzuloggen“, zu bewegen und „auszuloggen“. Sie dient der Erleichterung der Informationsverarbeitung derjenigen Informationen, die sich im Fokus der Aufmerksamkeit befinden. Informationen, die außerhalb des Aufmerksamkeitsfokus liegen, werden ausgeblendet. Über eine längere Zeitspanne den Aufmerksamkeitsfokus auf einen bestimmten Stimulus aufrecht zu erhalten, wird als Konzentration definiert.
Die Subprozesse selektive Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsorientierung sind über die Aufmerksamkeitsausrichtung bzw. -lenkung eng miteinander verbunden. Während aber die Aufmerksamkeitsorientierung nur auf einen Stimulus ausgerichtet ist, wählt die selektive Aufmerksamkeit zwischen zwei konkurrierenden Stimuli zu einem bestimmten Zeitpunkt den für das Handlungsziel am besten geeigneten Stimulus aus. Einerseits können auf diesem Weg mögliche Ablenkungen und Störfaktoren ausgeblendet werden, weil Informationen außerhalb des Fokus gezielt ausgeklammert werden und der Fokus ausschließlich auf die Realisierung des Handlungsziels gerichtet ist. Andererseits klammert die selektive Aufmerksamkeit in komplexen Mannschaftssportspielen, in denen ein weiter Aufmerksamkeitsfokus erforderlich ist und viele Informationen gleichzeitig aufgenommen und verarbeitet werden müssen, auch relevante Informationen aus, die für einen Handlungserfolg notwendig wären. Die selektive Aufmerksamkeit verhindert eine Teilung der Aufmerksamkeit und eine Erweiterung des Aufmerksamkeitsfokus (Furley & Memmert, 2009, S. 34; Memmert, 2019, S.40).
Nach Memmert (2014, S. 122) setzen eineVielzahl von sportpraktischen Anforderungen ... die Fähigkeit der synchron-optischen Aufmerksamkeit und somit eine hinreichend große Aufmerksamkeitsbreite voraus.“ Die geteilte Aufmerksamkeit ermöglicht, ein größeres „Aufmerksamkeitsfenster“ (Memmert, 2014, S. 122) zu generieren und die Ressourcen der Aufmerksamkeit simultan im Sinne einer Multitasking-Fähigkeit auf mehrere Stimuli gleichzeitig (peripher) zu verteilen:
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- Citation du texte
- Jens Kamm (Auteur), 2023, Antizipationsleistung von Nachwuchsfußballern. Sportliche Leistung in der Talentsichtung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1352225
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