Ausgangspunkt dieser konzeptionellen Arbeit ist die Schwierigkeit von Verhaltensänderungen, die im physiotherapeutischen Kontext erhebliche Folgen mit sich bringt. Da in der Therapie oft die Zeit fehlt, um sich diesem komplexen Prozess anzunehmen, wurde das Potenzial gesehen, über eine App auf das Gesundheitsverhalten der Patient*innen einzuwirken.
Ziel der Arbeit ist die Impulsgebung für ein App-gestütztes Behandlungskonzept zur Verbesserung des Gesundheitsverhaltens der Patient*innen und damit auch der Versorgungssituation. Welche Unterstützungsbedarfe im physiotherapeutischen Kontext bestehen und wie diese im Rahmen einer Digitalen Gesundheitsanwendung angegangen werden können, wird herausgearbeitet.
Für die Erreichung der Zielsetzung erfolgt eine systematische Literaturanalyse, eine Analyse bestehender Bedarfe und die Durchführung von drei Leitfadeninterviews mit Nackenschmerz-Patient*innen.
Als Ergebnis wird ein App-gestütztes Behandlungskonzept auf der Grundlage der Bedarfsanalyse entwickelt. Dieses bietet viele Möglichkeiten, um positiven Einfluss auf das Patient*innenverhalten und die allgemeine Versorgungssituation zu nehmen, bedarf aber weiterführender Forschung.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Grundlagen
2.1. Physiotherapie
2.1.1. Veränderungsprozesse
2.1.2. Physiotherapeutischer Prozess
2.1.3. Unspezifische Nackenschmerzen
2.2. Digitale Gesundheitsanwendungen
2.2.1. Grundlagen
2.2.2. Fast-Track-Verfahren
3. Analyse
3.1. MethodischesVorgehen
3.2. Fachrelevanz
3.3. Patientinnenrelevanz
3.3.1. Literaturrecherche
3.3.2. Verhaltensmodelle
3.3.3. Interviews
3.4. Gesellschaftsrelevanz
3.5. Ergebnisse
4. Konzept
4.1. Eingliederung in den physiotherapeutischen Prozess
4.2. Eingliederung in die DiGA-Vorgaben
5. FazitundAusblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Der physiotherapeutische Prozess als Zyklus
Abb. 2: Ablaufdes Fast-Track-Verfahrens
Abb. 3: Bisherige DiGA-Anträge
Abb. 4: Kategoriensystem
Abb. 5: Altersaufbau der Bevölkerung 2019 im Vergleich zu
Abb. 6: Anteil der Smartphone-Nutzer in Deutschland nach Altersgruppe im Jahr
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Zusammenfassung der Bedarfe
Tab. 2: Potenzielle positive Versorgungseffekte durch das Konzept
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Kurzzusammenfassung (Abstract)
Ausgangspunkt dieser konzeptionellen Arbeit ist die Schwierigkeit von Verhaltensänderungen, die im physiotherapeutischen Kontext erhebliche Folgen mit sich bringt. Da in der Therapie oft die Zeit fehlt, um sich diesem komplexen Prozess anzunehmen, wurde das Potenzial gesehen, über eine App auf das Gesundheitsverhalten der Patientinnen einzuwirken.
Ziel der Arbeit ist die Impulsgebung für ein App-gestütztes Behandlungskonzept zur Verbesserung des Gesundheitsverhaltens der Patientinnen und damit auch der Versorgungssituation. Welche Unterstüt- zungsbedarfe im physiotherapeutischen Kontext bestehen und wie diese im Rahmen einer Digitalen Gesundheitsanwendung angegangen werden können, soll herausgefunden werden.
Für die Erreichung der Zielsetzung erfolgt eine systematische Literaturanalyse, eine Analyse bestehender Bedarfe und die Durchführung von drei Leitfadeninterviews mit Nackenschmerz-Patientinnen.
Als Ergebnis konnte ein App-gestütztes Behandlungskonzept auf der Grundlage der Bedarfsanalyse entwickelt werden. Dieses bietet viele Möglichkeiten, um positiven Einfluss auf das Patientinnenverhalten und die allgemeine Versorgungssituation zu nehmen, bedarf aberweiterführender Forschung.
The starting point of this conceptual work is the difficulty of behavior change, which can have significant consequences in the physiotherapeutic context. Since therapy often lacks the time to address this complex process, the potential to influence patients' health behavior via app was seen.
The aim of the work is to give impulses for an app-based treatment concept to improve the health behavior of the patients and thus the care situation as well. The intention is to find out what support is needed in the physiotherapeutic context and how this can be addressed in the context of a Digital Health Application.
To achieve the objective, a systematic literature review and an analysis of existing needs will be conducted, as well as the implementation of three guided interviews of patients with neck pain.
As a result, an app-based treatment concept has been developed by using the results of the needs assessment. The concept offers many possibilities to positively influence patient behavior and the care situation in general, though further research is required.
1. Einleitung
Wer kennt es nicht: Das Jahr neigt sich dem Ende zu und man verspürt vermehrt das Bedürfnis, gewisse Dinge im neuen Jahr anders anzugehen, besser zu machen, oder überhaupt mal anzugehen. Sei es mehr Sport, gesündere Ernährung, oder das Sparen von Geld. Man nimmt sich einen oder mehrere Neujahrsvorsätze ganz bewusst und entschlossen vor, ist hochmotiviert und dann? Eine Umfrage der österreichischen Bevölkerung ab 16 Jahren (n = 1.017) zeigt, dass 2020 nur 21% der Befragten mit Neujahrsvorsätzen diese bis zum Ende des Jahres größtenteils erfüllen konnten (IMAS International, 2020, S. 17). Doch woran liegt das?
Auch in der Physiotherapie ist dies ein bekanntes Problem. Selbst motivierten Patientinnen1 fällt es schwer ihre Vorhaben zur Verhaltensänderung tatsächlich und dauerhaft umzusetzen (Eckert & Göhner, 2015, S. 107). So kommt es dazu, dass das Verhalten der Patientinnen meist nicht mit den Empfehlungen der Therapeutinnen übereinstimmt, sich die Patientinnen wenig kooperativ und eigenverantwortlich zeigen und Eigenübungen zu Hause unzureichend, bis gar nicht durchführen (Messner, 2011, S. 3; WHO, 2003, S. 3). Infolgedessen besteht die Gefahr, dass der Transfer des Gelernten und der Übungen in den Alltag der Patientinnen erschwert wird, oder sogar ausbleibt. Die Konsequenz sind negative Auswirkungen auf das Therapie-Outcome, eine fehlende Langzeitwirkung und eine Abhängigkeit der Patientinnen von derTherapie und den ohnehin schon raren Terminen (Jack et al., 2010, S. 221 f.). Hinzu kommen erhöhte Kosten im Gesundheitswesen, da mehr Ressourcen aufgewendet werden müssen (Jack et al., 2010, S. 221f.; Messner, 2011.S.2 f.).
Eckert und Göhner (2015) machen darauf aufmerksam, dass Fähigkeiten zur Verhaltensänderung und Übertragung in den Alltag essenziell für langfristige Erfolge sind, im üblicherweise funktionsorientierten Prozess jedoch keine Berücksichtigung finden (S. 169). Auch Langemak (2020) deutet auf eine Versorgungslücke in diesem Kontext hin (S. 56) und Messner (2011) untermauert die Wichtigkeit, in der Physiotherapie auf das Patientinnenverhalten Einfluss zu nehmen, indem er schreibt: „Durch ... die Implementierung von therapierelevanten Verhaltensweisen und die Durchführung regelmäßiger Akti- vitäts- und Übungsformen kann eine Therapie nicht nur positiv unterstützt werden, oftmals ist das auch der Schlüssel zu einer langfristigen Besserung und zur Vermeidung von Rezidiven“ (S. 1). Betrachtet man die derzeitige Versorgungssituation und die physiotherapeutischen Rahmenbedingungen stellt sich jedoch die Frage, wie Physiotherapeutinnen dies effektiv in die Behandlungen einbinden sollen. Aus diesem Grund bieten sich neue Versorgungsformen wie Smartphone-Apps an, um „das Angebot an zeit- und raumunabhängiger Therapie zu erhöhen und damit die Versorgungssituation zu verbessern“ (HAWK, 2019, S. 36).
Apps haben sich in der Gesellschaft mittlerweile etabliert und sind in vielen Bereichen nicht mehr wegzudenken. Auch im Gesundheitswesen bringt das rasante Voranschreiten der Digitalisierung eine Reihe von mobilen Gesundheitslösungen, auch bezeichnet als mHealth, mit sich, die für Erleichterung sorgen sollen (Albrecht & von Jan, 2019, S. 55). So haben sich u.a. die elektronische Gesundheitskarte (eGK) und die elektronische Patientenakte (ePA) etablieren können (Jorzig & Sarangi, 2020, S. 193, 197). Aber auch digitale Impfnachweise, Videosprechstunden und eRezepte sind nichts Unbekanntes mehr (ebd.). Angefangen mit dem E-Health-Gesetz 2015 wurde die politisch-rechtliche Basis geschaffen. Darauf folgte das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) 2019, das Pati- entendaten-Schutz-Gesetz (PDSG) 2020 und ganz neu, das Digitale-Versorgung-und- Pflege-Modernisierungs-Gesetz (DVPMG) 2021. Die Telematikinfrastruktur wird somit weiter ausgebaut und ermöglicht eine Vernetzung aller Akteure des Gesundheitswesens, während die Patientinnen von vielfältigen Funktionen profitieren (Jorzig & Sarangi, 2020, S. 100). Neben dem Aufzeichnen und Analysieren der Aktivität, finden sich u.a. Funktionen zur Analyse der Fitness, Dosierung von Medikamenten und Empfehlung von Gesundheitstipps (BfArM, 2021e). Damit bringen Apps großes Potenzial mit sich, um Patientinnen „auf dem Weg zu einer selbstbestimmten gesundheitsförderlichen Lebensführung zu unterstützen“ (BfArM, 2021b).
Allerdings haben sich die Gesundheits-Apps zunächst ausschließlich auf einem zweiten Markt entwickelt, der von großer Unübersichtlichkeit und Intransparenz geprägt war. Anwenderinnen war es kaum möglich, Datenschutzbestimmungen und Qualitätsnachweise einzusehen und auch Gesundheitsdienstleisterinnen waren von dem Überangebot und mangelhaften Qualitätsstandards überfordert. Aus diesem Grund ist das Ende 2019 vom BfArM (Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte) eingeführte Konzept digitaler Gesundheitsanwendungen von großer Bedeutung. Denn dieses soll den genannten Problematiken entgegenwirken und eine „alltagsnahe und aufdie individuellen Bedarfe ausgerichtete Unterstützung in allen Aspekten der Therapie“ ermöglichen (BfArM, 2020a, S. 83). Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Förderung des Gesundheitshandelns durch die Bereitstellung von Informationen für die Patientinnen, der Mitwirkung am Prozess und derTeilhabe an Entscheidungen (ebd.).
Zielsetzung
Ziel dieser konzeptionellen Arbeit ist demnach die Verbesserung der Patientinnenversorgung durch die Unterstützung des Gesundheitsverhaltens. Denn so könnte auch eine Verbesserung des physiotherapeutischen Prozesses, der Ergebnisqualität und Effizienz sowie der Langzeitwirkung und der Patientenzufriedenheit erreicht werden. Dafür soll sich digitalen Möglichkeiten, wie Smartphone-Apps bedient werden, da diese eine hohe Handhabbarkeit und Verfügbarkeit in der heutigen Zeit aufweisen und vielversprechende Unterstützungsfunktionen für den physiotherapeutischen Prozess und die Stärkung von Verhalten beinhalten können (Dicianno et al., 2015, S. 400). Welche Unterstützungsbe- darfe im physiotherapeutischen Kontext bestehen und wie diese im Rahmen einer Digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) angegangen werden können, soll herausgefunden werden. Das Ergebnis dieser Arbeit soll ein theoriegestütztes Konzept sein, welches Möglichkeiten einer App-gestützten Physiotherapie-Behandlung aufzeigt. Da bisher keine DiGA gelistet sind, die auf das Verhalten von Physiotherapie-Patientinnen Einfluss nehmen, wird sich durch die Erstellung eines solchen Behandlungskonzeptes eine Impulsgebung für die tatsächliche App-Entwicklung erhofft.
Methodik
Für die Erreichung der Zielsetzung erfolgt zunächst eine systematische Literaturrecherche, um die theoretischen Grundlagen der Thematik aufzuarbeiten. Dafür werden die Datenbanken EBSCOhost und PubMed genutzt, aber auch gesondert in den Onlinebibliotheken der Verlage Springer, Thieme und Hogrefe gesucht. Darüber hinaus wird die Website Research Gate verwendet, um Zugriff auf Forschungsprojekte und Studien zu erhalten. Als Suchbegriffe eignen sich zunächst „DiGA“, „Gesundheits-App“, „eHealth“ oder „mHealth“ um den Bereich der digitalen Möglichkeiten zu erforschen, ebenso wie „Physiotherapie“, „unspezifischer Nackenschmerz“, „HWS-Syndrom“, „neck pain“, oder „cervical pain“, um den Kontext zu beleuchten. Berücksichtigt wurden alle Ergebnisse, die online im Volltext verfügbar sind und ab dem Jahr 2010 veröffentlicht wurden. Zusätzlich wurden sich Gesetzestexte zu Hilfe genommen, um einen Überblick über die rechtlichen Grundlagen zu erhalten.
Im weiteren Verlauf wird die Suche nach relevanter Literatur in eine retrospektive Recherche übergehen, da so weiterführende und auch primäre Literatur ausfindig gemacht werden kann. Nachdem die Suchergebnisse gesammelt und selektiert wurden, erfolgt die Bearbeitung und Zusammenfassung im Rahmen des theoretischen Teils.
Für den methodischen Teil der Arbeit werden die theoretischen Ergebnisse in einen Zusammenhang gesetzt, kritisch betrachtet und auf Handlungsbedarfe analysiert. Hierfür werden neben den bisherigen Rechercheergebnissen Verhaltensmodelle betrachtet, um dem Konzept eine wissenschaftliche Grundlage zu geben. Zudem erfolgt eine ergänzende, direkte Befragung der Zielgruppe, damit in der Konzeptentwicklung möglichst zielgruppenorientiert und partizipativ vorgegangen werden kann.
Aufbau
Im Anschluss an die Einleitung werden in Kapitel 2 grundlegende Begrifflichkeiten und theoretische Hintergründe beschrieben, die im Rahmen der Masterarbeit von Bedeutung sind. Dazu zählen der physiotherapeutische Kontext (siehe 2.1) und die Strukturen und Hintergründe der digitalen Gesundheitsanwendungen (siehe 2.2). Dabei wird sich zunächst mit der Entwicklung der Physiotherapie generell befasst (2.1.1), bevor der physiotherapeutische Prozess nach aktuellem Forschungsstand beschrieben wird (2.1.2). Dies soll die Einsicht in bestehende Prozesse und Strukturen ermöglichen, um anschließend für eine optimale Eingliederung des digitalen Konzeptes zu sorgen.
Aufgrund der Vielfalt an Krankheitsbildern und entsprechenden Behandlungsvorgehen in der Physiotherapie, erfolgt eine thematische Eingrenzung. Da die Wirbelsäule fast jährlich den größten Indikationsbereich in der GKV bildet, wird sich für die darunter fallende Zervikalneuralgie (Nackenschmerzen) entschieden (GKV Spitzenverband, 2019, S. 10). Denn der Nackenschmerz ist ein Beschwerdebild, welches oft und in allen Altersklassen auftritt und im Zuge der Digitalisierung sowie Pandemie und Homeoffice immer häufiger wird. Demzufolge wird sich in dieser Arbeit auf den unspezifischen Nackenschmerz fokussiert, sobald der Praxisbezug eine konkretere Betrachtung erfordert. Diese Eingrenzung ist außerdem notwendig, um eine digitale Gesundheitsanwendung entwickeln zu können, da diagnosespezifische Wirkungsnachweise erforderlich sind. Kapitel 2.1.3 fasst daher den aktuellen Forschungsstand in der Behandlung von Nackenschmerzen zusammen.
Im Bereich der digitalen Gesundheitsanwendungen werden wesentliche Strukturen vermittelt (2.2.1) und das Verfahren zur Entwicklung und Etablierung in der Regelversorgung beschrieben (2.2.2). Diese Informationen bilden die Wissensgrundlage für die Entwicklung eines App-basierten Behandlungsansatzes, welche sich als Ziel gesetzt wird.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Analyse der Bedingungen und Bedarfe im physiotherapeutischen Behandlungsprozess, um herauszufinden, was für ein App-gestütz- tes Behandlungskonzept notwendig und auch sinnvoll ist. Hier werden die methodischen Überlegungen und Vorgehensweisen dargelegt, um den Prozess nachvollziehbar zu machen. Anschließend erfolgt die Analyse auf drei gewählten Betrachtungsebenen, darunter die Fachrelevanz (siehe 3.2), die Patientinnenrelevanz (siehe 3.3) und die Gesellschaftsrelevanz (siehe 3.4). Punkt 3.5 fasst die Ergebnisse der Analyse nochmals zusammen und stellt diese tabellarisch dar.
Auf der Grundlage der Ergebnisse erfolgt in Kapitel 4 die Konzeptentwicklung. Dabei wird sowohl auf die Eingliederung in den physiotherapeutischen Prozess eingegangen als auch auf die DiGA-Vorgaben Bezug genommen. Die Möglichkeiten, die sich aus dieser Arbeit für ein App-gestütztes Behandlungskonzept ergeben, werden abschließend im Fazit zusammengefasst und diskutiert.
2. Theoretische Grundlagen
Dieser Teil der Arbeit beleuchtet die theoretischen Grundlagen auf der Basis der systematischen Literaturrecherche. Hierzu werden die Begriffe und Hintergründe zu den Themen Physiotherapie (2.1) und Digitale Gesundheitsanwendungen (2.2) nach derzeitigem Forschungsstand betrachtet. Dieser Einblick ist notwendig, um das App-Konzept in den physiotherapeutischen Prozess einzugliedern. Zudem bilden die Vorgaben im DiGA- Leitfaden des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte die Grundlage für eine erfolgreiche Implementierung im Gesundheitssystem, mit Berücksichtigung von einheitlichen Bewertungs- und Qualitätseigenschaften (BfArM, 2020a, S. 10).
2.1. Physiotherapie
In Deutschland umfasst Physiotherapie „die physiotherapeutischen Verfahren der Bewegungstherapie sowie die physikalische Therapie“ (§ 17 Abs. 1 Satz 1 HeilM-RL). Dabei werden sowohl aktive als auch assistive, durch die Therapeutinnen gestützte oder sogar geführte, passive Bewegungsausführungen genutzt, um die größtmögliche Funktionsfähigkeit zu erreichen (§ 17 Abs. 1 Satz 2-3 HeilM-RL). Zusätzlich können Maßnahmen der physikalischen Therapie zum Einsatz kommen, die sich in die Bereiche der Massage-, Elektro-, Hydro- und Thermotherapie gliedern lassen (ebd.).
Im Laufe der Zeit haben eine Reihe von Einflüssen für sich verändernde Vorgehensweisen gesorgt und tun es weiterhin. Nachfolgend soll daher ein Überblick über bisherige Veränderungen (siehe 2.1.1) und aktuelle Standards im physiotherapeutischen Prozess (siehe 2.1.2) und der Behandlung von Nackenschmerzen (siehe 2.1.3) gegeben werden.
2.1.1. Veränderungsprozesse
Die Physiotherapie und damit auch das Vorgehen in der Behandlung, befinden sich seit Jahren in der ständigen Weiterentwicklung. Schon 2012 thematisierten dies Ebelt- Paprotny und Preis (2012) im Leitfaden Physiotherapie und wiesen dabei auf gesellschaftliche Herausforderungen hin, die unteranderem Grund für sich verändernde Prozesse und Aufgaben sind (S. 3). Den wohl größten Einfluss hat dabei die demografische Entwicklung und die damit einhergehende Überalterung der Bevölkerung (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 3; ZVK, 2010, S. 6). Denn dies führt vermehrt zu chronischen Erkrankungen und Multimorbidität, welche sich wiederum auf die Ressourcenknappheit und den steigenden Kostendruck im Gesundheitssystem auswirken (Ebelt- Paprotny & Preis, 2012, S. 3; ZVK, 2010, S. 6). Aber auch die Digitalisierung macht vor dem Gesundheitssektor nicht Halt und sorgt vermehrt für neue Prozessstrukturen, wie bspw. durch eRezepte und Videosprechstunden (Jorzig & Sarangi, 2020, S. 193, 197). So wurde auf der diesjährigen Jahrestagung der Fachberufe im Gesundheitswesen zurecht die Frage zu möglichen Auswirkungen der Digitalisierung aufdie Patientenversorgung und Personalanforderungen diskutiert (Ärzte Zeitung, 2021). Im Abschnitt 3.4 wird auf diese und weitere gesellschaftliche Einflüsse näher eingegangen.
Die ständigen Veränderungen und neuen Herausforderungen führen dazu, dass sich das Gesundheitssystem und somit auch die Physiotherapeutinnen anpassen müssen. Dazu gehört bspw. der Umgang mit neuen Aufgabenbereichen. Denn neben der Prävention, Rehabilitation und der ständigen Anpassung an neuste wissenschaftliche Erkenntnisse, kommt nun noch die Entwicklung und Erarbeitung neuer Versorgungsmodelle und Konzepte (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 3; ZVK, 2010, S. 6).
Mit der Erweiterung des physiotherapeutischen Aufgabenspektrums einhergehend, wird ein entsprechender Kompetenzzuwachs der Therapeutinnen notwendig. Die fachliche Kompetenz allein, als berufsspezifisches Wissen, reicht in der Physiotherapie nicht mehr aus (Klemme & Siegmann, 2014, S. 18). Stattdessen wird die Sozialkompetenz und das kommunikative Miteinander im therapeutischen Setting immer wichtiger (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 5). Denn eine patientenorientierte Physiotherapie, wie sie in neuen Versorgungsansätzen gefordert wird, benötigt einen intensiven Austausch mit den Patientinnen (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 4). Nur so kann sichergestellt werden, dass deren Bedürfnisse berücksichtigt und in den Prozess miteingebunden werden. Zudem erfordert die Arbeit im eigenen Praxisteam, aber auch die vermehrte Zusammenarbeit in interdisziplinären Teams und mit angrenzenden Berufsgruppen eine ausgeprägte soziale Kompetenz (Klemme & Siegmann, 2014, S. 18). Hinzu kommt u.a. die Medienkompetenz, ebenfalls für fachübergreifendes Arbeiten von Bedeutung sowie die Personalkompetenz und reflektierende Fähigkeiten (Klemme & Siegmann, 2014, S. 18). Alle Kompetenzbereiche prägen im Zusammenspiel die Handlungskompetenz und Tätigkeit von Physiotherapeutinnen und sind somit im physiotherapeutischen Prozess von großer Bedeutung (ZVK, Deutscher verband für Physiotherapie, 2010, S. 6).
2.1.2. Physiotherapeutischer Prozess
Der physiotherapeutische Prozess lässt sich als zyklischer Prozess beschreiben, da sich die einzelnen Schritte regelmäßig wiederholen (Hüter-Becker & Dölken, 2005, S. 4). In Deutschland führt der/die Therapeutin den Prozess eigenständig aus und übernimmt dabei die volle Verantwortung (ZVK, 2010, S. 6). Die Rolle der Therapeutinnen variiert dabei je nach Prozessphase und kann je nachdem als begleitend, führend, unterrichtend oder beratend beschrieben werden (Hüter-Becker & Dölken, 2005, S. 3). Das Ziel des Prozesses ist „das Erreichen der größtmöglichen Funktionsfähigkeit (im Sinne der ICF)“ (§ 17 Absatz 1 Satz 3 HeilM-RL). Dabei gilt, dass vor jeder Behandlung eine Untersuchung stattfinden muss und jede Behandlung regelmäßig auf dessen Effekt überprüft werden sollte (Hüter-Becker & Dölken, 2005, S. 3).
ICF
Der Prozess beginnt mit derAnalyse des Gesundheitsproblems und der Erstbefundaufnahme, die einhergeht mit der Anamnese und physiotherapeutischen Untersuchung (ZVK, 2010, S. 8). Dabei wird sich an der „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) orientiert, die interdisziplinär und international als „einheitliche und standardisierte Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren eines Menschen“ dient (BfArM, 2021d). Die zuvor gängige defizitorientierte Betrachtung hat sich mit der Einführung der ICF zu einer ressourcenorientierten geändert und basiert auf einem bio-psycho-sozialen Modell (BfArM, 2021d; Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 13; Hüter-Becker & Dölken, 2005, S. 4 f.). Dieses sorgt dafür, dass die Folgen einer Erkrankung im Sinne von Gesundheitskomponenten auf den drei nachstehenden Ebenen erfasst werden können: (BfArM, 2021d; Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 5)
-Körperfunktionen und -strukturen
z. B. Muskeln, Gelenke, Haut, Organe und physiologische sowie psychologische Funktionen
-Aktivitäten
z. B. Transfers, Fortbewegung, Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL)
-Partizipation (Teilhabe)
z. B. am Gemeinschafts- und Sozialleben
Zusätzlich sollen mithilfe der ICF individuelle Kontextfaktoren in den therapeutischen Prozess eingebunden werden (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 6; Klemme & Siegmann, 2014, S. 27). Dazu zählen umwelt- und personenbezogene Faktoren, wobei die personenbezogenen in der ICF nicht aufgeschlüsselt werden (BfArM, 2021d). Physiotherapeutinnen sollten stets darauf achten, alle Komponenten gleichermaßen und unter Beachtung der Wechselwirkungen im Blick zu behalten und sie in die Befundung, Ziele und Maßnahmen einzubinden (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 6). Denn nur so kann das laut ICF oberste Ziel einer jeden Behandlung, nämlich „das Wiedererlangen derTeilhabe am gesellschaftlichen Leben“, erreicht werden (ebd.).
Die Erstbefundaufnahme schafft eine Sammlung von Patientendaten, darunter u.a. ärztliche Diagnosen und Verordnungen, Medikationen, individuelle Ressourcen, physiotherapeutische Auffälligkeiten und eventuelle Kontraindikationen, auf dessen Basis das weitere Vorgehen geplant wird (ZVK, 2010, S. 8). Es erfolgt die Festlegung von Therapiezielen in Abstimmung mit dem/der Patientin und unter Berücksichtigung der ICF und dem aktuellen Forschungsstand (ebd.). „Der Therapeut kennt die Wirkungsweise und die Wirksamkeit, die Indikation und die Kriterien der Auswahl sowie die Kontraindikationen und Gefahren von einzelnen Techniken und Behandlungskonzepten“ und wählt dementsprechend geeignete Maßnahmen aus (ZVK, 2010, S. 8).
Mit der Ausführung der ersten Maßnahmen beginnt der zyklisch wiederkehrende Prozess. Dieser besteht daraus, das Umgesetzte und dessen Effekt zu überprüfen und zu reflektieren, um das therapeutische Vorgehen ständig zu modifizieren (Hüter-Becker & Dölken, 2005, S. 3 f.; ZVK, 2010, S. 6). Es erfolgt eine sich wiederholende Untersuchung, Behandlung und Reflexion, geprägt von Assessments2, Dokumentation und Interaktion mit Patientinnen, als auch multiprofessionellen Kolleginnen (Hüter-Becker & Dölken, 2005, S. 3 f.; ZVK, 2010, S. 8). Die nachstehende Abbildung (Abb. 1) stellt diesen dynamischen und sich wiederholenden Prozess dar.
Abb. 1: Der physiotherapeutische Prozess als Zyklus
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Hüter-Becker & Dölken, 2005, S. 4
Clinical Reasoning
Um in diesem Prozess die Maßnahmen ständig am aktuellen Bedarf ausrichten zu können und somit für eine optimierte Therapie zu sorgen, ist der Einsatz von Clinical- Reasoning-Strategien hilfreich und auch notwendig (Klemme & Siegmann, 2014, S. 23). Der englische Begriff des Clinical Reasonings (CR) hat sich in der Physiotherapie, auch im deutschsprachigen Raum, bereits etabliert und wird daher nur in den seltensten Fällen übersetzt (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 6 f.; Klemme & Siegmann, 2014, S. 20). Hüter-Becker und Dölken (2005) übertragen ihn sinngemäß und sprechen vom klinischen Schlussfolgern (S. 1). Denn im Grunde wird unter CR der Denk- und Entscheidungsprozess von Personal im Medizin- und Gesundheitsbereich gefasst (Klemme & Siegmann, 2014, S. 20). Ziel dabei ist ein bestmögliches Vorgehen, unter Berücksichtigung der sechs üblichen CR-Formen zu schaffen (Klemme & Siegmann, 2014, S. 50).
Im therapeutischen Kontext bedeutet das die Einbeziehung von sämtlichen für die Therapie relevanten Aspekten in den Entscheidungsprozess (Klemme & Siegmann, 2014, S. 21). Darunter fallen bspw. das Diagnostische Reasoning zur Ermittlung der therapeutischen Diagnose und der Hypothesenbildung über die Krankheitsentstehung, das Interaktive Reasoning, um die Kommunikation und Beziehung zwischen Patientin und Therapeutin zu betrachten und das Pragmatische Reasoning, welches die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, wie Zeit, Kenntnisstand und Motivation der Patientinnen analysiert (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 7; Klemme & Siegmann, 2014, S. 72). Des Weiteren sollte das Ethische Reasoning nicht außer Acht gelassen werden, welches durch Einstellungen und Werte geprägtes Denken mitberücksichtigt (Klemme & Siegmann, 2014, S. 50). Das Konditionale (zukunftsgerichtetes Denken) und Narrative Reasoning (Denken in und durch Geschichten) sind zwei weitere Formen, die nur gelegentlich Anwendung in der Physiotherapie finden (Klemme & Siegmann, 2014, S. 72). All diese CR-Formen beeinflussen sich gegenseitig und sollten daher stets kombiniert berücksichtigt werden (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 7; Klemme & Siegmann, 2014, S. 49).
Im physiotherapeutischen Setting ist die komplexe Betrachtung der verschiedenen Ebenen deswegen so wichtig, weil Patientinnen und deren Kontextfaktoren nie völlig identisch sind und somit „individuell und situativ angepasste, durchdachte und begründete Entscheidungsfindung[en]“ für ein zielgerichtetes Handeln benötigen (Klemme & Siegmann, 2014, S. 22; 27). Klemme und Siegmann (2014) halten folgendes dazu fest: „Es geht somit in therapeutischen Berufen nicht um die reine Anwendung von Regeln, also um ein standardisiertes Vorgehen - vielmehr müssen Wissen und situatives Verstehen von Situationen, die durch Interaktion mit den Patienten gekennzeichnet sind, miteinander verknüpft werden“ (S.22). Auch Ebelt-Paprotny und Preis (2012) betonen die gemeinsame Lösungs- und Entscheidungsfindung mit den Patientinnen als oberstes CR-Ziel (S. 6). Um dies zu ermöglichen, müssen die Patientinnen bestmöglich über die Situation und Möglichkeiten aufgeklärt werden, die sogenannte Edukation ist hier ein wichtiger Baustein. Zudem sind ausgeprägte Reasoning-Fähigkeiten auf Seiten der Therapeutinnen erforderlich, da die hierfür notwendigen Denkprozesse oft implizit, also unbewusst stattfinden (Klemme & Siegmann, 2014, S. 20). Daher sollten Therapeutinnen geschult sein ihr unbewusstes, automatisch ablaufendes Denken mit einer bewussten Reflexion zu kombinieren (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 6; Hüter-Becker & Dölken, 2005, S. 8). Erst die Reflexion des eigenen Handelns ermöglicht ein auf die Patientinnen abgestimmtes, verantwortungsvolles und vor allem auch begründetes therapeutisches Vorgehen (Klemme & Siegmann, 2014, S. 17 ff.). Letzteres ist deswegen von großer Bedeutung, weil eine Entscheidungsgrundlage nicht nur für die Kommunikation mit den Patientinnen essenziell ist, sondern auch mit Ärztinnen und Dritten (Ebelt- Paprotny & Preis, 2012, S. 6). Zusätzlich soll der CR-Prozess den Fokus auf das bestmögliche Vorgehen legen und somit ein effizienteres und effektiveres Arbeiten möglich machen (Klemme & Siegmann, 2014, S. 18). Dieses ist wegen steigender Qualitätsanforderungen, dem Kostendruck und dem Wirtschaftlichkeitsgebot gemäß § 12 SGB V notwendig (Klemme & Siegmann, 2014, S. 18).
Evidenzbasierte Praxis
„International und zunehmend auch in Deutschland wird gefordert, dass das Handeln der Experten in den Gesundheitsberufen evidenzbasiert (evidence based) zu sein hat“ (Klemme & Siegmann, 2014, S. 23). Das SGB V hält die Pflicht zur Qualitätssicherung für Leistungserbringer ebenfalls fest (§ 135a SGB V). Das bedeutet, dass für die Entscheidung über die individuelle Patientenversorgung bewusst wissenschaftliche bzw. empirische Nachweise herangezogen werden, um die Therapie zu optimieren und legitimieren (Hüter-Becker & Dölken, 2005, S. 25; Klemme & Siegmann, 2014, S. 24). Die sogenannte Evidenzbasierte Praxis, engl. Evidence Based Practice (EBP) soll dabei mit dem CR ineinander übergehen und sich auf drei Säulen stützen, die gleichermaßen in die therapeutischen Entscheidungen einfließen (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 7). Eine Säule bildet die interne Evidenz, die als Erfahrungswissen der Therapeutinnen verstanden werden kann und auf dessen individuell aufgebauten, klinischen Expertise beruht (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 7; Klemme & Siegmann, 2014, S. 24). Eine weitere Säule besteht aus der externen Evidenz, also Forschungsergebnissen, die über Datenbanken aus wissenschaftlicher Literatur, Analysen oder Leitlinien gewonnen werden können (ebd.). Als dritte Säule fließen die individuelle Situation, Ziele und Wünsche der Patientinnen in den Entscheidungsprozess mit ein, ähnlich wie es in der ICF und dem CR üblich ist (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 7).
Die Befundaufnahme mittels ICF, die Behandlung und das CR bilden somit eine Einheit und gehen im physiotherapeutischen Prozess zusammen mit der EBP ineinander über (Hüter-Becker & Dölken, 2005, S. 3, 26).
2.1.3. Unspezifische Nackenschmerzen
Muskelverspannungen, besonders im Schulter-Nacken-Bereich sind ein allgegenwärtiges Thema in der heutigen Gesellschaft und ein häufiger Beratungsanlass (HAWK, 2019, S. 31). Unter den Erwerbstätigen scheinen Nackenschmerzen hartnäckig und wiederkehrend aufzutreten (Bier et al., 2018, S. 163). In Skandinavien konnte eine Lebenszeitprävalenz von rund 50 % in Verbindung mit Nackenschmerzen aufgezeigt werden (Martin Scherer & Chenot, 2016, S. 501). Und trotz der Häufigkeit von Nackenbeschwerden, ist die Evidenzlage gering, teilweise sogar widersprüchlich, sodass weitere Forschung für eine wissenschaftlich fundierte Therapie notwendig ist (HAWK, 2019, S. 31). Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) hat 2009 eine Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Nackenschmerzen verfasst, die sich nach dem Stufenkonzept der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) orientiert und somit evidenzbasierte Empfehlungen beinhaltet (M. Scherer et al., 2009, S. 498). Leitlinien dienen generell der Steigerung und Sicherung von Qualität und sollen als evidenzbasierte Orientierungshilfen in der gesundheitlichen Versorgung dienen (Klemme & Siegmann, 2014, S. 18). Die Leitlinie Nr. 13 der DEGAM ist im deutschsprachigen Raum aktuell die einzige und wird dieses Jahr (2021) neu aufgelegt, da derGültigkeitszeitraum ausläuft. Im englischsprachigen Raum konnte darüber hinaus die „Clinical Practice Guideline for Physical Therapy Assessment and Treatment in Patients With Nonspecific Neck Pain“ von Bier et al. (2018) ausfindig gemacht werden, ebenso wie die Leitlinie der „American physical therapy association“ zu Nackenschmerzen (Blanpied et al., 2017).
Krankheitsbild
Auch die Definition und Epidemiologie von Nackenschmerzen zeigt eine unbefriedigende Datenlage in Deutschland (M. Scherer et al., 2009, S. 501). Die DEGAM fasst in der Leitlinie zusammen, dass es sich dabei um schmerzhafte Muskelverspannungen handelt, die teils mit Ausstrahlungen in den Hinterkopf, oder die Arme sowie schmerzhaften Bewegungseinschränkungen verbunden sind (M. Scherer et al., 2009, S. 501). Lokalisieren lassen sich die Beschwerden im Bereich zwischen der linea nuchalis superior, dem ersten Brustwirbel und gelenknahen Ansätzen des Musculus trapezius an den Schultern (ebd.). Einigkeit herrscht über das Nichtvorliegen von „raumfordernden, entzündlichen, traumatischen oder systemischen Prozesse[n]“ (S. 501), eine genaue Bestimmung einer erkennbaren Ursache ist allerdings oft nicht möglich, wodurch die Bezeichnung „unspezifisch“ zustande kommt (M. Scherer et al., 2009, S. 498 ff.). Als Synonyma werden häufig die Begriffe „Zervikalneuralgie, HWS-Syndrom, Zervikozephales Syndrom, Zervikobrachialsyndrom, Zervikalsyndrom“ verwendet (M. Scherer et al., 2009, S. 501). Eine pathophysiologisch fundierte Diagnosestellung ist weder in einer manuellen Untersuchung noch in bildgebenden Verfahren verlässlich, weswegen nur selten die Ätiologie eindeutig zugeordnet werden kann (ebd.).
Als Einflussfaktoren fassen Scherer et al. (2009) „Übergewicht, Schwangerschaft, körperliche Arbeit (besonders Bauarbeiter und Krankenschwestern), Lebensalter, subjektive Gesundheitseinstellung, chronischer Stress und Komorbidität“ zusammen und weisen zudem darauf hin, dass sich Ängstlichkeit und Depressivität auf die Symptomentstehung und -verarbeitung auswirken können (S. 501). Auch Bier er al. (2018) zählen „a history of other musculoskeletal disorders, passive coping style, and psychosocial distress“ als häufigste Einflussfaktoren (S. 163). Die DEGAM teilt Nackenschmerzen nach der Dauer der Beschwerden in akute (bis zu 3 Wochen), subakute (4-12 Wochen) und rezidivierende (maximal 4 Wochen beschwerdefrei) ein (M. Scherer et al., 2009, S. 501). Blanpied et al. (2017) teilen zusätzlich in Nackenschmerzen mit (1) Bewegungseinschränkungen, (2) Beschränkungen der Bewegungskoordination, (3) Kopfschmerzen und (4) ausstrahlenden Schmerzen (S. A2).
Physiotherapeutische Behandlung
Viele Maßnahmen zur Behandlung von Nackenschmerzen sind unzureichend belegt, weswegen zunächst die Beachtung zweier Prinzipien empfohlen wird: das Prinzip des Nicht-Schadens und das Prinzip der partizipative Entscheidungsfindung (M. Scherer et al., 2009, S. 503). Die individualisierte Kommunikation bei diesem Beschwerdebild von besonderer Bedeutung, da „im Spannungsfeld zwischen Patientenwunsch, eigenen Vorstellungen, Budgetierung und Evidenz vielfach Kompromisse erforderlich“ sind (M. Scherer et al., 2009, S. 503). Häufig wird wiederholt nach physikalischen Anwendungen gefragt, die zwar gut umzusetzen aber wenig belegbar sind (ebd.). Umso wichtiger erscheint es offen über die Grenzen der Diagnostik, aber auch der Therapie zu sprechen und auf mögliche Risikofaktoren und psychische Auslöser hinzuweisen (M. Scherer et al., 2009, S. 503). Auch Bier et al. (2018) empfehlen die Edukation, trotz fehlender Wirkungsnachweise (S. 166). Des Weiteren sollten Patientinnen zur prognostischen Wirksamkeit von sportlicher Aktivität beraten und dahingehend ermutigt werden, zumal Nackenschmerzen meist einen harmlosen Charakter und eine hohe Spontanheilungstendenz haben (Bier et al., 2018, S. 166; Blanpied et al., 2017, S. A2 f.).
Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass sich Krankengymnastik positiv auf Nackenschmerzen auswirkt und besonders bei subakuten und chronischen Verläufen Schmerzen und Funktionseinschränkungen reduzieren kann (M. Scherer et al., 2009, S. 504). Ausdauer-, Kräftigungs- und Koordinationstraining sollen zudem zu einer Verbesserung der Muskelfunktion beitragen (ebd.). Blanpied et al. (2017) empfehlen ebenfalls eine Kombination dieser Übungsformen, ergänzt um Dehnungen und die Ausführung in sowohl Hals- und Brustwirbelbereich als auch im Schultergürtel (S. A2 f.). Des Weiteren kann sich Wärme positiv auf die Mikrozirkulation der Haut auswirken, allerdings wird geraten sich nach dem Empfinden der Patientinnen zu richten (M. Scherer et al., 2009, S. 503). Auch bei der Kopfkissenwahl kann die Leitlinie nur auf das persönliche Empfinden verweisen, allgemeine Empfehlungen gibt es nicht (ebd.).
Manipulation und Mobilisation an den zervikalen Gelenksegmenten scheint in Kombination mit Krankengymnastik das Schmerzerleben von Patientinnen zu verbessern (M. Scherer et al., 2009, S. 504). Allerdings fehlen Nachweise, ob Physiotherapie allein ebenso wirksam ist. Blanpied et al. (2017) sprechen sich, außer bei Beschränkungen der Bewegungskoordination, immer für die Manipulation aus, ab dem subakuten Stadium sogar in der Hals- und Brustwirbelregion (S. A2 f.). Da zervikale Manipulationen öfter Komplikationen aufweisen, wird grundsätzlich die Mobilisation bevorzugt und ausnahmslos in allen Stadien und Klassen empfohlen (Blanpied et al., 2017, S. A2 f.; M. Scherer et al., 2009, S. 504). Eine weitere Maßnahme ist die klassische Massagetherapie, die häufig von Patientinnen mit Nackenschmerzen gewünscht ist. Jedoch finden sich auch hier kaum Nachweise für die Wirksamkeit, sodass lediglich von einer Wirkung innerhalb eines multimodalen Behandlungsprogrammes ausgegangen werden kann (ebd.). Und auch der Effekt von Elektrotherapie, Traktion und „dry needling“ bei Nackenschmerzen ist unzureichend nachgewiesen, weswegen auch hier keine Empfehlungen getroffen werden können (Bieret al., 2018, S. 166; M. Scherer et al., 2009, S. 504).
Die Zusammenfassung der Ergebnisse der Leitlinie Nr. 13 zeigen insgesamt wenig Evidenz für die einzelnen Maßnahmen und eine grundsätzliche Empfehlung zur Kombinierung von Maßnahmen mit geringem Risiko, bei zusätzlich sportlicher und alltäglicher Betätigung. Bei chronischen Nackenschmerzen wird zusätzliche Muskelkräftigung empfohlen (M. Scherer et al., 2009, S. 504). Und auch Bier et al. (2018) empfehlen bei Nackenschmerzen ohne Pathologie, aber mit leichten bis starken Einschränkungen im Alltag die Wiederaufnahme von Aktivitäten und die Kombination aus Mobilisation, Manipulation und Übungen (Bier et al., 2018, S. 166). Konkrete Übungsvorschläge finden sich abgesehen von dem self-SNAG (self-sustained natural apophyseal glide) bei Nackenschmerzen mit Kopfschmerzen, keine (Blanpied et al., 2017, S. A3).
2.2. Digitale Gesundheitsanwendungen
Dieses Kapitel thematisiert die digitalen Gesundheitsanwendungen. Dabei wird in 2.2.1 zunächst auf allgemeine Aspekte eingegangen, wie dem rechtlichen Rahmen, der Begriffsbestimmung und möglichen Anwendungsbereichen. Zudem werden die Voraussetzungen genauer betrachtet, die die Anwendung der digitalen Helfer bestimmen. In Punkt 2.2.2 erfolgt dann die Beschreibung des sogenannten Fast-Track-Verfahrens, welches fürdie Legitimierung und Listung derAnwendungen zu durchlaufen ist.
2.2.1. Grundlagen
Am 9. Dezember 2019 wurde erstmalig ein Gesetz zur besseren Gesundheitsversorgung erlassen, welches sich auf Digitalisierung und Innovation stützt. Das sogenannte Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) nimmt vor allem Änderungen im Sozialgesetzbuch Fünf (SGB V) - Gesetzliche Krankenversicherung vor (BMG, 2020a; Bundesgesetzblatt [BGBl] 2019 I[3]). Die wichtigsten Aspekte lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Regelung des Versorgungsanspruchs auf digitale Gesundheitsanwendungen (§ 33a SGB V)
- Innovationsförderung (Entwicklung digitaler Innovationen durch Krankenkassen) (§ 68a, b SGB V)
- Sicherung der IT-Standards in Arztpraxen (§ 75b SGB V)
- Anreize für und Vereinfachung von Verwaltungsprozessen durch Digitalisierung (z.
B. Rezepte, Arztbriefe) (§§ 86, 291fSGB V)
- Verlängerung des Innovationsfonds bis 2024 (§ 92a Absatz 3 SGB V)
- Regelung derVergütung von digitalen Gesundheitsanwendungen (§ 134 SGB V)
- Schneller und sicherer Zugang zu Gesundheits-Apps über Verzeichnis erstattungsfähiger DiGA (§ 139e SGB V)
- Ausbau und teilweise Verpflichtung zu einheitlichem digitalem Netzwerk (Telematik-Infrastruktur) (§ 291a SGB V)
- Einrichtung einer nationalen E-Health-Kontaktstelle durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen (§ 219d Absätze 6, 7 SGB V)
- Standardisierung von Schnittstellen für die Vernetzung im Gesundheitswesen (§ 291d SGB V), Interoperabilitätsverzeichnis nach § 291e SGB V
- Etablierung von Videosprechstunden in den Versorgungsalltag (§ 291g SGB V) (vgl. § 9 des Heilmittelwerbegesetzes)
- Nutzung digitaler Gesundheitsdaten für Forschungszwecke (§ 303 SGB V).
Mitdem Inkrafttreten des DVG am 19. Dezember2019 und derergänzenden Rechtverordnung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) vom 08. April 2020 über das Verfahren und die Anforderungen zur Prüfung der Erstattungsfähigkeit digitaler Gesundheitsanwendungen in dergesetzlichen Krankenversicherung, genannt Digitale Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV), wurde die rechtliche Grundlage für digitale Gesundheitsanwendungen geschaffen (BfArM, 2020, S. 7; 2021;BGBl 2020 I[4]).
Unter digitalen Gesundheitsanwendungen (kurz DiGA) werden Medizinprodukte verstanden, die auf digitalen Technologien beruhen und Patientinnen und Leistungserbringer im Versorgungsprozess unterstützen (§ 33a Abs. 1 Satz 1 SGB V). Darunter fällt gemäß SGB V „die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten oder die Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von
[3] Bundesgesetzblatt Jahrgang 2019 Teil I Nr. 49, ausgegeben zu Bonn am 18. Dezember 2019 [4] Bundesgesetzblatt Jahrgang 2020 Teil I Nr. 18, ausgegeben zu Bonn am 20. April 2020
Verletzungen oder Behinderungen“ (§ 33a Abs. 1 Satz 1 SGB V). DiGA sind als Teil des digitalen Versorgungsnetzes zu betrachten und sollen interoperabel mit Strukturen wie „der elektronischen Gesundheitskarte (eGK), der elektronischen Patientenakte (ePA), den Plattformen der Krankenkassen und telemedizinischen Angeboten“ agieren (BfArM, 2020a, S. 9).
Die bekannteste Erscheinungsform einer DiGA ist die App3, so spricht das BfArM oft von der „App auf Rezept“ und verwendet diese Formulierung synonym für DiGA (BfArM, 2020, S. 7; 2021a). Die Definition von Apps als Anwendungssoftware steht in Verbindung mit „kleinen mobilen Hardwareprodukten“, wie z. B. Smartphones und Tablets (Jorzig & Sarangi, 2020, S. 214). DiGA können aber auch in Form von Desktop-Anwendungen auf dem jeweiligen Rechner, oder als Webanwendungen in entsprechenden Browsern zur zugänglich gemacht werden (BfArM, 2020a, S. 13; BMG, 2021, Abschn. 2). Außerdem ist es möglich, DiGA mit Hardware, wie beispielsweise Sensoren, Wearables oder anderen Geräten zu kombinieren, sofern diese für die Erreichung des medizinischen Zwecks notwendig sind (BfArM, 2020a, S. 13). Ob dies der Fall ist, können die DiGA-Hersteller vom Anwendungsfeld und Nutzen abhängig machen. „Anwendungsfelder wie Diabetologie, Kardiologie, Logopädie, Psychotherapie oder Physiotherapie vermitteln nur einen kleinen Überblick auf die Vielzahl der Einsatzgebiete“ von DiGA (BMG, 2021).
Voraussetzungen
Um als DiGA Bestandteil der Gesundheitsversorgung zu werden und ca. 73 Millionen Versicherten (Stand Juli 2020) in dergesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zurVer- fügung stehen zu können, müssen entsprechende Voraussetzungen erfüllt sein (BMG, 2020b, S. 2). Dazu gehört zum einen, die Aufnahme der DiGA in dem am 06. Oktober 2020 vom BfArM eingerichteten Verzeichnis. Dort werden nach Antragstellung und Prüfung durch das BfArM diejenigen gelistet, die gemäß SGB V (§§ 33a, 139e) DiGAV und Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) allen Anforderungen entsprechen (BfArM, 2021b; BMG, 2021). Näheres zum Antragsverfahren und dem DiGA-Verzeichnis finden sich im anschließenden Kapitel (2.2.2). Zum anderen darf die Anwendung einer DiGA nur „entweder nach Verordnung des behandelnden Arztes oder des behandelnden Psychotherapeuten oder mit Genehmigung der Krankenkasse“ erfolgen (§ 33a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB V). Um als Patient*in auch ohne ärztliche Verordnung Anspruch auf die Versorgung mit einer DiGA zu erhalten, muss das Vorliegen einer medizinischen Indikation bei der entsprechenden Krankenkasse (KK) nachgewiesen werden (§ 33a Abs. 1 Satz 3 SGB V). Manche KK übermitteln Verordnungen bereits über kasseneigene Ser- vice-Apps (BMG, 2021). In diesem Fall wird auch die Verordnung einer DiGA, zusammen mit einem Zugangscode für die Nutzung, auf diesem Weg zugestellt (ebd.).
Des Weiteren beschreibt § 33a Abs. 1 Satz 1 SGB V, dass es sich bei DiGA um Medizinprodukte zu handeln hat. Hierzu ist eine Klassifizierung und CE-Kennzeichnung notwendig (BfArM, 2021b). Da die EU-Medizinprodukteverordnung (engl. Medical Device Regulation, kurz: MDR) ab dem 26. Mai 2021 neue Vorschriften im Rahmen von Anpas- sungs- und Änderungsgesetzen mit sich brachte, die die bisherige MedizinprodukteRichtlinie (MDD) ablösen, erfolgt die Klassifizierung seither nach MDR (BfArM, 2020a, S. 12; Jorzig & Sarangi, 2020, S. 221). Dabei werden die Produkte, je nach Risiko, in vier Klassen unterteilt (BfArM, 2021e). DiGA werden meist der Klasse I (geringes Risiko) zugeordnet, es sei denn, es handelt sich um „Medizinprodukte zur Diagnose oder Kontrolle von Vitalfunktionen (z. B. Herzfunktion)“, dann fallen sie eher unter die Klassen IIa oder IIb (ebd.). Von der Risiko-Klasse hängen im weiteren Verlauf die Vorgaben für die Konformitätsbewertung und die damit in Verbindung stehende CE-Kennzeichnung ab (BfArM, 2021e).
Im Grunde geht es um die Abgrenzung von Produkten, die lediglich Wissen bereitstellen (keine Medizinprodukte) und Produkten, die auf gesammelte Daten Einfluss nehmen und somit einen medizinischen Zweck in ihrer Hauptfunktion erreichen (BfArM, 2020a, S. 12, 2021e). Eine klare Definition von Zweck und Funktion sind demnach entscheidend. Beispielhafte Anhaltsfunktionen für die Einstufung als Medizinprodukt sind die Entscheidung überz. B. therapeutische Maßnahmen, das Berechnen von Medikamentendosierungen und das Überwachen und Analysieren von Patientendaten (BfArM, 2021e). Das reine Speichern, Auslesen und Darstellen von Daten zählt nicht dazu (BfArM, 2020a, S. 12).
Eine weitere Voraussetzung ist die interaktive Nutzung der DiGA (BfArM, 2020a, S. 13). Das bedeutet, dass Patientinnen und Leistungserbringer beide am Anwendungsprozess beteiligt sein müssen und Anwendungen, die bspw. nur vom Arzt genutzt werden, davon ausgeschlossen sind (BfArM, 2020a, S. 12). Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass nur die Sekundär- und Tertiärprävention zur DiGA-Leistung gehören, nicht die Primärprävention (BfArM, 2020a, S. 12, 21). Dies ist in der bereits genannten Definition für DiGA entsprechend § 33a Abs. 1 Satz 1 SGB V verankert, denn dort wird das Vorhandensein einer Krankheit, Verletzung oder Behinderung vorausgesetzt, wie es in der Sekundär- und Tertiärprävention der Fall ist. Währenddessen bezieht sich die Primärprävention auf das Verhindern von Erkrankungen und dem Erhalt der Gesundheit, eine Erkrankung liegt zu diesem Zeitpunkt nicht vor (BfArM, 2020a, S. 21).
2.2.2. Fast-Track-Verfahren
Als Fast-Track-Verfahren wird im Bereich der DiGA der Prozess bezeichnet, welcher DiGA auf Antrag prüft und über die Aufnahme in das elektronische DiGA-Verzeichnis entscheidet (gemäß § 139e SGB V). Die gewählte Bezeichnung „Fast-Track“ unterstreicht das zügige Vorgehen, welches sich vom BfArM als Ziel gesetzt wurde (BfArM, 2020a, S. 7). Denn in nur höchstens drei Monaten soll die erste Bewertung einer DiGA nach Antragstellung abgeschlossen sein (BfArM, 2021b).
Grundlegende Informationen dazu finden sich bereits im DVG und sind ebenfalls im SGB V verankert (§ 139e SGB V). Zusätzlich beschreibt die DiGAV die Regelungen zum Verfahren und den Anforderungen nochmals konkreter. Darüber hinaus wurde vom BfArM ein Leitfaden für Hersteller, Leistungserbringer und Anwender erstellt, der unter dem Titel: „Das Fast Track Verfahren für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) nach § 139e SGB V“ geführt wird (BfArM, 2020a). Am 04. Mai 2020 wurde die erste Version veröffentlicht und damit „erstmals ein umfassendes Anforderungsprofil für DiGA in der Gesundheitsversorgung definiert“ (BfArM, 2020a, S. 9). Der Leitfaden wird ständig weiterentwickelt und befindet sich zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Arbeit bereits in der Version 2.2 (BfArM, 2020a, S. 10, 137). Basierend auf den rechtlichen Regelungen des DVG, der DiGAV und dem SGB V werden im Leitfaden alle Informationen aufbereitet und um Details zum Verfahrensablauf und der Nachweisführung ergänzt (BfArM, 2020a, S. 8,10,2021b). Dies ermöglicht sowohl den Herstellern, Nutzern als auch Interessenten einen Überblick über u.a. die Verfahrensabläufe, Anforderungen und Bewertungsgrundlagen und sorgt zusätzlich für Transparenz, einheitliche Maßstäbe und eine „verlässliche Handlungsgrundlage“ (BfArM, 2020a, S. 10).
Nachfolgend wird das zu durchlaufende Verfahren einer DiGA, von der Antragstellung bis hin zur Listung genauer betrachtet, um einen Überblick über das Anforderungsprofil und die Bewertung zu schaffen. Dabei wird chronologisch, entsprechend dem Ablauf des Verfahrens, vorgegangen.
Antragstellung
Eingeleitet wird das Fast-Track-Verfahren durch die elektronische Antragstellung beim BfArM (§ 1 Abs. 1 DiGAV). Antragsberechtigt ist der Hersteller des Medizinproduktes selbst, oder eine bevollmächtigte Person (§ 1 Abs. 2-3 DiGAV). Gemäß § 139e Abs. 2 Satz 2 SGB V muss derAntrag bereits Nachweise darüber enthalten, dass die DiGA:
„1. den Anforderungen an Sicherheit, Funktionstauglichkeit und Qualität des Medizinproduktes entspricht,
2. den Anforderungen an den Datenschutz entspricht und die Datensicherheit nach dem Stand derTechnik gewährleistet und
3. positive Versorgungseffekte aufweist“.
In den §§ 3 bis 7 DiGAV sind die „Anforderungen an Sicherheit, Funktionstauglichkeit, Datenschutz und -sicherheit sowie Qualität“ formuliert und können zusätzlich in Form von Checklisten eingesehen werden (Anlagen 1-2 DiGAV).
Zudem sind Angaben entsprechend der in § 2 Abs. 1 Satz 2 DiGAV gelisteten Antragsinhalte zu machen, darunter z. B. die medizinische Zweckbestimmung, Wirkungsweise, Nutzung und Nutzungsdauer, Informationen über beteiligte Organisationen, Institutionen und involvierte Bewertungsstellen sowie Quellenangaben zu den verwendeten Studien und Leitlinien. Besonders wichtig ist auch hier der Nachweis positiver Versorgungseffekte durch die DiGA-Nutzung (§ 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 - 12 DiGAV). Das bedeutet, dass entweder „ein medizinischer Nutzen oder eine patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserung in der Versorgung“ erzielt wird (§ 139e Absatz 2 Satz 3 SGB V; § 8 Abs. 1 DiGAV). Unter den medizinischen Nutzen fallen Effekte, die die „Verbesserung des Gesundheitszustands, der Verkürzung der Krankheitsdauer, der Verlängerung des Überlebens oder einer Verbesserung der Lebensqualität“ betreffen (§ 8 Abs. 2 DiGAV). Um eine patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserung zu erreichen, kann sich die positive Einflussnahme auf die „Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten“, „Verletzungen oder Behinderungen“ sowie „auf eine Unterstützung des Gesundheitshandelns“ von Patientinnen oder auch auf „eine Integration derAbläufezwischen Patientinnen und Patienten und Leistungserbringern“ beziehen (§ 8 Abs. 3 DiGAV). Dabei kann auf die folgenden Bereiche Bezug genommen werden:
1. „Koordination derBehandlungsabläufe,
2. Ausrichtung der Behandlung an Leitlinien und anerkannten Standards,
3. Adhärenz,
4. Erleichterung des Zugangs zur Versorgung,
5. Patientensicherheit,
6. Gesundheitskompetenz,
7. Patientensouveränität,
8. Bewältigung krankheitsbedingter Schwierigkeiten im Alltag oder
9. Reduzierung der therapiebedingten Aufwände und Belastungen der Patienten und ihrerAngehörigen“ (§ 8 Abs. 3 DiGAV).
[...]
1 In dieser Arbeit wird auf eine gendergerechte Schreibweise geachtet. Mit der Verwendung des Gender-Sterns werden alle sozialen Geschlechter gleichermaßen angesprochen.
2 Assessments dienen der Messung, Beurteilung und Überprüfung des therapeutischen Fortschrittes (Ebelt-Paprotny & Preis, 2012, S. 10). Die wiederholte Durchführung zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Behandlungszeitraum ermöglicht eine optimierte Dokumentation und Darstellung der Effektivität und Effizienz (ebd.).
3 Kurzform für application (eng.), bedeutetAnwendung (Dicianno et al., 2015, S. 398)
- Quote paper
- Charleen Wirt (Author), 2021, Digitale Gesundheitsanwendungen in der Physiotherapie. Entwicklung der Behandlung von unspezifischem Nackenschmerz, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1350346
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