Stationäre Hilfen zur Erziehung durchziehen als in hohem Maß intervenierende Maßnahme einen Großteil des Alltags der Adressat*innen Sozialer Arbeit. Mit dem Lebensbewältigungskonzept kann dabei der Aufbau von Ressourcen bei der Bewältigung kritischer Lebenskonstellationen als Ziel Sozialer Arbeit formuliert werden. Daneben steht die Stärkung der Adressat*innen mit der Neuerung des SGB VIII explizit im Vordergrund in der Durchführung von Maßnahmen. Darauf aufbauend geht diese Ausarbeitung literaturbasiert der Frage nach, inwiefern VHT und Traumapädagogik in der Praxis stationärer Hilfen zur Erziehung zusammengedacht werden und im Sinne des genannten Ziels zusammenwirken können. Die Chance einer Kombination von VHT und traumasensibler Arbeit mit Kindern in stationären HzE wurde in ihrem Beitrag zu gelingender Interaktion als Vorstufe zu korrigierenden Beziehungs- und Bindungserfahrungen herausgearbeitet, die als wirksamster Faktor stationärer HzE in der Wirkungsforschung beschrieben werden und durch die Mentalisierungstheorie theoretisch fundiert werden konnte. Als Grenze der Kombination aus VHT und traumasensiblen Arbeiten wurde dargestellt, dass beide Ansätze methodischen Handels nicht alle Aspekte kritischer Lebenskonstellationen zu unterstützen vermögen.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Kontext: Stationäre Hilfen zur Erziehung als Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit
2.1 Rechtliche Grundlagen, Systematisierung, Leistungsangebote
2.2 Adressatinnen und ihre Herausforderungen Exkurs: Kindheit
2.3 Charakteristika, Methoden und Konzepte Exkurs: Methodendiskurs in der Sozialen Arbeit
2.4 Zusammenfassung: Selbstverständnis stationärer Hilfen zur Erziehung
Teil A: Reflexion der zwei Ansätze methodischen Handelns auf deskriptiver Ebene
3. Traumapädagogik und traumasensibles Arbeiten in der stationären Hilfe zur Erziehung
3.1 Entstehung der Traumapädagogik und ihre interdisziplinären Bezüge
3.2 Ausgewählte Grundlagen der Psychotraumatologie
3.3 Traumasensibles Arbeiten in stationären Hilfen zur Erziehung
3.3.1 Traumapädagogische Standards für die stationäre Erziehungshilfe der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik
3.3.2 Chancen und Grenzen der Traumapädagogik
3.4 Zusammenfassung und Einordnung in den Methodendiskurs Sozialer Arbeit
4. Video-Home-Training (VHT) in der stationären Hilfe zur Erziehung
4.1 Entstehung und Zielsetzung des VHT
4.2 Grundlagen
4.2.1 Die vier Säulen des VHT als Grundelemente
4.2.2 Das theoretische Fundament
4.3 VHT in der Praxis stationärer Hilfen zur Erziehung
4.3.1 Praktische Umsetzung
4.3.2 Adressat*innen und Anwendung von VHT in stationären Hilfen zur Erziehung
4.3.3 Chancen und Grenzen von VHT
4.4 Zusammenfassung und Einordnung in den Methodendiskurs Sozialer Arbeit
5. Traumapädagogik und VHT auf der Ebene methodischen Handelns zusammengedacht
5.1 Traumapädagogische Ansätze als theoretische Grundlage für VHT
5.2 VHT als Beitrag zur traumasensiblen Arbeit mit Kindern in stationären Hilfen zur Erziehung
5.3 Die Brücke zwischen VHT und Traumapädagogik
Teil B: Reflexion der zwei Ansätze methodischen Handelns für die Praxis Sozialer Arbeit mit Hilfe zweier Theorien
6. Das Lebensbewältigungskonzept von Böhnisch als Theorie der Sozialen Arbeit
6.1 Lebensbewältigung als dreidimensionales Modell
6.1.1 Gesellschaftliche Dimension
6.1.2 Soziodynamische/ interaktive Dimension
6.1.3 Psychodynamische Dimension
6.2 Besonderheiten der Lebensbewältigung in der Lebensphase Kindheit
6.3 Der Auftrag Sozialer Arbeit und seine Ausgestaltung
6.4 Zusammenfassung und Verortung der Fragestellung in der Sozialen Arbeit
7. Das Mentalisierungskonzept - eine psychologische Entwicklungstheorie
7.1 Mentalisieren - Definition, Funktion und Einordnung der Theorie
7.2 Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit
7.2.1 Theorie des Sozialen Biofeedbacks
7.2.2 Entwicklung des Selbst als Akteurin in den ersten fünf Lebensjahren
7.3 Erweiterungen der Mentalisierungstheorie
7.4 Die Mentalisierungstheorie in der Sozialen Arbeit
7.5 Zusammenfassung des Kapitels
8. Chancen und Grenzen eines videogestützten Verfahrens in der traumasensiblen Arbeit mit Kindern in stationären Hilfen zur Erziehung - theoretisch fundiert zusammengedacht
8.1 Traumapädagogik und VHT im Rahmen der Lebensbewältigungstheorie
8.2 Traumapädagogik und VHT im Rahmen der Mentalisierungstheorie
8.3 Mögliche Chancen und Grenzen des Zusammenspiels von Traumapädagogik und VHT in der Praxis stationärer Hilfen zur Erziehung
9. Diskussion der Hypothesen und Schlussfolgerungen
9.1 Einordnung in Ergebnisse der Wirkungsforschung stationären Hilfen zur Erziehung
9.2 Einordnung in Herausforderungen des Tätigkeitsfeldes
9.3 Kritische Würdigung der Ausarbeitung
10. Fazit und Ausblick
11. Literaturverzeichnis
Anhang 1 - Zusammenschau der Fragestellungen
Anhang 2 - Zusammenschau der Fragestellungen mit den Hypothesen und Schlussfolgerungen
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Argumentationsaufbau der Ausarbeitung
Abbildung 2: VHT-Säulenmodell angelehnt an Pala 2019 (eigene Darstellung)
1. Einleitung
„‘Reflektierte Praxis' ist ein Schlüsselbegriff bei einer Methode, die aus der Praxis entstanden ist und keinen grundständigen Theoriebezug hat. Reflektiertes Handeln heißt dann, sich immer wieder Fragen zu stellen wie ,Warum arbeite ich so, wie ich arbeite?', ,Wie erkläre ich gesichert die Wirkung meines Handelns?', ,Wie wird mein Handeln reproduzierbar, wie lehrbar?'“ (Gens 2020a: 15).
Diese für das Video-Home-Training (VHT) formulierten Sätze könnten ähnlich für die Traumapädagogik gelten, zumindest sind beide Ansätze methodischen Handelns, so seien sie an dieser Stelle vorerst benannt, als Lösungsideen für Herausforderungen der Praxis entstanden. Wie Gens im einleitenden Zitat dies für VHT beschreibt, so steht die Praxis Sozialer Arbeit immer wieder vor der Herausforderung zu erklären, warum etwas wie und mit welcher Wirkung getan wird, nicht zuletzt, da Soziale Arbeit und ihre konkrete Umsetzung im Zuge der Modelle ,Neuer Steuerung' immer wieder unter Legitimationsdruck gerät (vgl. Albus/ Mi- cheel/ Polutta 2018: 1826). Neben der empirischen Wirksamkeitsforschung rücken Theorien in den Fokus, um die Frage nach potenziellen Wirksamkeiten methodischen Handelns zu reflektieren und einzuordnen. So möchte diese Arbeit die von Gens angesprochene reflexive Funktion von Theorien mit der hermeneutisch, verstehenden Dimension verbinden (vgl. Mennemann/ Dummann 2020: 103 f.). Die Vision dabei ist, VHT und Traumapädagogik über theoretische Zugänge als Beitrag zur Professionalisierung Sozialer Arbeit zu verbinden. Theoriebezüge zur Reflexion und zum Verstehen wurden in den aktuellen Diskursen um VHT erst nachträglich hergestellt (vgl. Gens 2020a: 15). SPIN-DGVB1, der deutsche Dachverband für VHT, benennt traumapädagogische Ansätze als eine solche ..wissenschaftliche Grundlagentheorie' (vgl. SPIN-DGVB o. J. a: o.S). In der bisherigen VHT-Literatur wurde dieser Zusammenhang bzw. die mögliche theoretische Fundierung durch traumapädagogische Ansätze noch nicht ausführlich betrachtet. Ein Angebot für das Schließen dieser Lücke zu unterbreiten, war der Grundgedanke dieser Ausarbeitung. Darüber hinaus stellte sich die Frage, inwiefern eine Argumentation auch andersherum funktioniert: Wie könnte VHT die traumapädagogische Praxis unterstützen und ergänzen? Und was ist es letztlich, das Beides, Traumapädagogik und VHT, miteinander verbindet? Diese Überlegungen führen zur Hauptfragestellung und später zu weiteren Unterfragen, die diese Ausarbeitung diskutieren wird:
Hauptfragestellung: Wie können VHT und Traumapädagogik in der Praxis stationärer Hilfen zur Erziehung zusammengedacht werden und Zusammenwirken?
Die Fragestellung wird literaturbasiert anhand von zwei aufeinander aufbauenden Argumentationsschritten erarbeitet, welche diese Arbeit in einen Teil A und einen Teil B gliedern. Teil A befasst sich zunächst auf deskriptiver Ebene mit einem inhaltlichen Methodenvergleich. Dabei werden drei Unterfragen leitend sein, die sich aus obenstehenden Überlegungen ergeben:
A1) Wie können traumapädagogische Ansätze eine theoretische Grundlage für VHT sein?
A2) Wie kann VHT die traumasensible Arbeit mit Kindern in stationären Hilfen zur Erziehung unterstützen?
A3) Wie kann die Brücke zwischen VHT und Traumapädagogik beschrieben werden? Was verbindet beide?
Bevor eine Beantwortung der Fragestellungen erfolgen kann, ist es notwendig, sowohl den eingrenzenden Kontext dieser Ausarbeitung zu beschreiben, die stationäre Hilfe zur Erziehung, als auch die Traumapädagogik und das Video-HomeTraining (VHT). Die stationären Hilfen zur Erziehung sind als Kontext der Fragestellung passend, da sowohl die Traumapädagogik als auch VHT in diesem Rahmen entstanden. Kapitel 2 wird sich demzufolge genauer mit den stationären Hilfen zur Erziehung auseinandersetzen und grenzt dabei den Fokus dieser Ausarbeitung weiter auf die Lebensphase Kindheit ein. Da erste Methoden und Konzepte benannt werden sollen, erfolgt bereits in Kapitel 2 eine Einführung in den Methodendiskurs der Sozialen Arbeit. Kapitel 3 wird dann die Traumapädagogik sowie das traumasensible Arbeiten in stationären Hilfen zur Erziehung darstellen. Kapitel 4 beschreibt darauffolgend VHT in seiner Anwendung im Kontext der Fragestellungen und Perspektiven dieser Ausarbeitung.
Nachdem Kapitel 5 die ersten Fragestellungen dieser Ausarbeitung in Hypothesen und Schlussfolgerungen zusammenfassend erarbeitet, schließt Teil B an, welcher den Transfer der Fragestellung in die Praxis stationärer Hilfen zur Erziehung durch zwei ,Theoriebrillen' vollzieht: Jene der Lebensbewältigung sowie jene der Mentalisierungstheorie. Die Lebensbewältigungstheorie wurde als Theorie Sozialer Arbeit gewählt, da sie sich insbesondere mit dem Einbezug der Kenntnisse zu psychodynamischem Bewältigungshandeln (vgl. Stauber 2016: 34) als anschlussfähig für den Traumakontext erweist. Der Einbezug der Menta- lisierungstheorie bietet sich als eine noch relativ neue psychologische Theorie als Einbezug einer Bezugswissenschaft der Profession Sozialer Arbeit (vgl. Men- nemann/ Dummann 2020: 119 f.) an, da der Diskurs um die Anschlussfähigkeit an Soziale Arbeit aktuell immer stärker fokussiert wird. Analog zum Aufbau von Teil A werden beide Theorien in Teil B zunächst separat beschrieben: Kapitel 6 skizziert dabei die Lebensbewältigungstheorie, Kapitel 7 die Mentalisierungsthe- orie. Kapitel 8 wird die Hauptfragestellung dieser Ausarbeitung schließlich weiter erarbeiten, ausdifferenziert mit Hilfe von drei weiteren Unterfragen:
B1) Wie können VHT und Traumapädagogik zusammengedacht die Praxis stationärer Hilfen zur Erziehung aus der Perspektive der Lebensbewältigung sowie aus der Perspektive der Mentalisierung unterstützen?
B2) Worin besteht der Zusammenhang zwischen VHT und Traumapädagogik aus der Perspektive der Lebensbewältigung und aus der Perspektive der Mentalisierung?
B3) Wo gibt es Grenzen?
Auch hier werden Hypothesen und Schlussfolgerungen formuliert, die gemeinsam mit jenen aus Kapitel 5 sodann in Kapitel 9 mit Hilfe der Wirkungsforschung und weiteren Herausforderungen der Praxis stationärer Hilfen zur Erziehung diskutiert werden. Ebenso wird das Vorgehen dieser Ausarbeitung in Kapitel 9 einer kritischen Würdigung unterzogen. Kapitel 10 soll in einem Fazit schließlich sämtliche Hypothesen und Schlussfolgerungen zusammenführen und sowohl einen handlungsorientierten Ausblick für die Praxis als auch für die empirische Forschung geben. Begriffe werden immer an jenen Stellen eingeführt, an denen sie benötigt werden. Diese Ausarbeitung verzichtet somit auf ein einführendes Definitionskapitel. Folgende Abbildung soll den Argumentationsaufbau der folgenden Ausführungen veranschaulichen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Argumentationsaufbau der Ausarbeitung
Zusammenfassend ist es die Vision dieser Arbeit, einen Beitrag zur Professionalisierung Sozialer Arbeit zu leisten, nicht nur, indem die Diskurslücke zwischen VHT und Traumapädagogik gefüllt wird, sondern auch, indem beide Ansätze methodischen Handelns über zwei Theorien an die Disziplin Soziale Arbeit rückgebunden werden und dabei Chancen und Grenzen für die traumasensible Arbeit mit Kindern in stationären Hilfen zur Erziehung ausloten.
2. Kontext: Stationäre Hilfen zur Erziehung als Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit
Soziale Arbeit wird im Rahmen dieser Ausarbeitung im Horizont der Lebensbewältigungstheorie von Lothar Böhnisch gesehen. Ausführlicher wird diese Theorie in Kapitel 6 dargestellt. Um die stationären Hilfen zur Erziehung (HzE) als Kontext der Fragestellung beschreiben zu können, der sich klar im Rahmen der Sozialen Arbeit bewegt, ist eine kurze Definition Sozialer Arbeit an dieser Stelle notwendig. Die Lebensbewältigungstheorie definiert kritische Lebenskonstellationen und deren Bewältigung als Gegenstand Sozialer Arbeit (vgl. Böhnisch 2019: 37, 112, 144). Lebenskonstellationen werden dann als kritisch angesehen, „wenn die bisherigen eigenen Ressourcen der Problemlösung versagen oder nicht mehr ausreichen“ (ebd.: 20). Stationäre HzE sollten in diesem Verständnis somit durch einen gezielten Aufbau von Ressourcen bei der Bewältigung kritischer Lebenskonstellationen unterstützen sowie ihre Notwendigkeit aus dem Vorhandensein als kritisch bewerteter Lebenskonstellationen begründen. Diese fachlich eingrenzende Rahmung trifft auf ein weites Feld gesellschaftlicher Bedingungen in Form von rechtlichen Grundlagen, Organisationsformen und individuellen Bewältigungslagen von Adressat*innen sowie auf ein weites (professionelles) Selbstverständnis stationärer Erziehungshilfen. Diese Rahmungen werden im Folgenden überblicksartig dargestellt. Darüber hinaus wird der Methodenbegriff eingeführt und methodisches Arbeiten in stationären HzE grob skizziert.
2.1 Rechtliche Grundlagen, Systematisierung, Leistungsangebote
Dieses Unterkapitel ordnet die stationären Hilfen zur Erziehung in das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe ein, gibt einen Überblick über Leistungsangebote und soll den rechtlich vorgegebenen Rahmen klären.
Die Systematisierung der Praxis Sozialer Arbeit erfolgt nach Farrenberg/ Schulz (2020: 63), die nach Handlungs-, Arbeits- und Tätigkeitsfeld unterscheiden. Die stationären Hilfen zur Erziehung sind demnach als Tätigkeitsfeld innerhalb des Arbeitsfeldes Hilfen zur Erziehung im Handlungsfeld Kinder- und Jugendhilfe einzuordnen. Es ergibt sich, wie weitere Arbeits- und Tätigkeitsfelder, aus der praktischen Gesetzesanwendung dessen, was im SGB VIII als Leistungen vorgegeben ist (vgl. Aner/ Hammerschmidt 2018: 39). Im Rahmen dieser Ausarbeitung wird das Tätigkeitsfeld betrachtet, welches sich aus § 34 i. V. m. § 27 SGB VIII ergibt.
Als Tätigkeitsfeld übernimmt die stationäre HzE einen Teilaspekt der Aufgaben- bzw. Problemstellungen des Arbeitsfeldes Hilfen zur Erziehung - nämlich jene, „die nach einer sehr intensiven, in hohem Maße intervenierenden Erzieherischen Hilfe verlangen ... [und, d. V.] nahezu den gesamten Alltag der Adressat_innen strukturieren bzw. überformen“ (Farrenberg/ Schulz 2020: 88), indem die Hilfe über Tag und Nacht gewährt wird. Leistungsberechtigt im Sinne des § 34 SGB VIII i. V. m. § 27 Abs. 1 SGB VIII sind die Personensorgeberechtigen, wenn „eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§ 27 Abs. 1 AGB VIII). Das Ziel der Ausgestaltung der Hilfe bezieht sich dann stärker auf das Kind bzw. den*die Jugendliche*n - sie sollen durch „eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung [gefördert werden, d. V.]“ (§ 34 SGB VIII). Der junge Mensch hat zudem nach § 1 Abs. 1 SGB VIII „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“. Stationäre HzE sollen entweder eine Rückkehr in die Familie erreichen, die Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbstständiges Leben vorbereiten (§ 34 SGB VIII Nr. 1 - 3). Die Sonderformen der Unterbringung in einer stationären HzE nach § 42 SGB VIII (Inobhutnahme), § 35a SGB VIII (seelische Behinderung) sowie § 41 SGB VIII (Hilfe für junge Volljährige) soll im Rahmen dieser Ausarbeitung nicht betrachtet werden. Richtungsweisend für die Entwicklung der stationären Erziehungshilfen in den kommenden Jahren sind die Novellierungen, die mit dem Inkrafttreten des reformierten SGB VIII seit dem 10.06.2021 einhergehen. Auch wenn § 34 SGB VIII im Wortlaut keine Veränderung erfahren hat, so ist doch eine Neuakzentuierung der Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe festzustellen - was nicht zuletzt an der Neubezeichnung als ,Kinder- und Jugend stärkungs gesetz' abzulesen ist. Eine der größten Neuerungen stellt die umfassende Inklusionsforderung dar - Kinder mit und ohne Behinderung sollen Zugang zu sämtlichen Hilfeformen erhalten (vgl. Meysen et al. 2022: 5). Auf die zu erwartenden Herausforderungen der Inklusionsumsetzung kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden, auch wenn dieser Blick für weiterführende Arbeiten sicher notwendig und wichtig werden wird. Ein für diese Ausarbeitung gewichtiger Gedanke bleibt die Idee der Stärkung von Kindern und Jugendlichen, die als grundlegendes Prinzip die Neuerung des SGB VIII durchzieht.
Die institutionellen Rahmenbedingungen der Ausgestaltung von Leistungsangeboten der stationären HzE hat sich seit den Reformen der Heimerziehung in den 1970er und 1980er Jahren stark ausdifferenziert, insbesondere im Zuge der Dezentralisierung und der damit verbundenen Auflösung größerer Heime. Das heutige Angebotsspektrum reicht von Außenwohngruppen in Einfamilienhäusern oder größeren Etagenwohnungen, selbstständigen Wohngemeinschaften, betreutem Wohnen bis hin zu Erziehungsstellen, die innerhalb einer professionellen Pflegefamilie stattfinden (vgl. Günder 2015: 75). Die Gruppengröße in Wohngruppen jeglicher Art beträgt dabei im Durchschnitt fünf bis acht Kinder/ Jugendliche (vgl. ebd.: 76).
2.2 Adressat*innen und ihre Herausforderungen
Mit Farrenberg/ Schulz (2020) wurde bereits beschrieben, dass stationäre HzE diejenigen Aufgaben- und Problemstellungen innerhalb des Arbeitsfeldes der Hilfen zur Erziehung übernehmen, „die nach einer sehr intensiven, in hohem Maße intervenierenden Erzieherischen Hilfe verlangen“ (ebd.: 88). Welche kritischen Lebenskonstellationen können dazu führen, dass eine stationäre HzE notwendig wird? Bevor zur Beantwortung dieser Frage ein Blick in Literatur und Forschung dargestellt wird, sei zu erwähnen, dass solche Lebenskonstellationen sehr individuell sind und ähnliche Lebenskonstellationen nicht automatisch Anlässe für eine stationäre HzE begründen. Es kommt gemäß der Logik der Lebensbewältigungstheorie darauf an, ob vorhandene Ressourcen zur Bewältigung ausreichen, oder nicht (s. Kapitel 6). Jedoch gibt es einige Besonderheiten und Themen, welche in der Praxis häufig zu beobachten sind.
Auf der Grundlage von Daten, die Jugendämter jährlich an das Statistische Bundesamt übermitteln (und somit auf Angaben von Fachkräften beruhen), werden in absteigender Reihenfolge der Benennungshäufigkeit folgende für diese Ausarbeitung bedeutungsvollen Gründe für die Aufnahme einer stationären HzE im Jahr 2020 angegeben: eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern/ Personensorgeberechtigten, Entwicklungsauffälligkeiten/ seelische Probleme des jungen Menschen, Gefährdung des Kindeswohls, Auffälligkeiten im Sozialverhalten des jungen Menschen sowie eine unzureichende Förderung/ Betreuung/ Versorgung des jungen Menschen in der Familie (vgl. Statistisches Bundesamt 2021: 46). Mehrfachnennungen waren möglich, sodass davon ausgegangen werden kann, dass Problemlagen mehrdimensional sein können. Diese Faktoren erscheinen im Hinblick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen wenig überraschend. Nicht mit der rechtlich formulierten Zielsetzung im Einklang stehen dagegen Daten, die deutlich zeigen, dass Kinder und Jugendliche aus Alleinerziehendenhaushalten, insbesondere mit Transferleistungen, in stationären HzE im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich überrepräsentiert sind (vgl. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJstat) 2021: 21 ff.).
Während die geschilderten allgemeinen Lebensumstände und Herausforderungen regelmäßig erfasst werden, ist die Datengrundlage für die Frage nach psychosozialen Belastungen geringer. Schröder et al. (2017) stellten fest, dass psychische Belastungen und ein auffälliges Bindungsverhalten bei Kindern in Pflegefamilien und in der Heimerziehung eher die Regel als die Ausnahme darstellen. Psychische Belastungen wurden dabei mit der child behavior checklist 4-18
(CBCL) erfasst, welche die Problembereiche sozialer Rückzug, körperliche Beschwerden, Angst/ Depressivität, soziale Probleme, schizoid/zwanghaft, Aufmerksamkeitsstörung, dissoziales Verhalten, aggressives Verhalten abbildet. Im Relation-ship Problems Questionnaire (RPQ) zeigten 37,9% der Kinder in stationären HzE auffälliges Bindungsverhalten im Vergleich zu 2,4% in der Gesamtbevölkerung (vgl. Schröder et al. 2017: 123). Auch wenn Kinder und Jugendliche ohne medizinische Diagnose in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe kommen, ist das Ausmaß möglicherweise erlebter traumatischer Lebensereignisse groß, wie Jaritz im Rahmen ihrer Diplomarbeit erfasste. 61% der Kinder und Jugendlichen haben unmittelbar vor der Aufnahme traumatische Lebensereignisse durchlebt. Auffällig war darüber hinaus eine vielfach zu beobachtende unzulängliche Beziehungskontinuität. Die insgesamt häufigsten psychosozialen Belastungen konnten in einer Kombination aus Vernachlässigung in Grundbedürfnissen sowie dem Hinzutreten weiterer Risikofaktoren wie einer psychischen oder Ab- hängigkeits- Erkrankung eines Elternteils und ständig wechselnden oder nicht vorhandener emotionaler Bezugspersonen beobachtet werden. Insgesamt erlebten „75% der Kinder und Jugendlichen ... nach Angaben ihres Fachdienstes zumindest ein traumatisches Lebensereignis. 51% erlebten mehrere unterschiedliche Arten von Traumatisierungen“ (Jaritz et al. 2008: 266).
Nachdem allgemeine Herausforderungen benannt sind, denen Familien in einer stationären HzE häufig begegnen, sowie häufige psychosoziale Belastungen der Kinder aufgezeigt wurden, soll dieses Unterkapitel abschließend einen kurzen Blick auf die Lebensphase Kindheit richten.
Exkurs: Kindheit
Diese Ausarbeitung orientiert sich an einem sozialisationstheoretisch inspirierten Lebensphasenmodell, wie Schulz (2018) dies beschreibt. Die Lebensphase Kindheit wird hier von null bis elf Jahren definiert. ,Kindheit‘ und Kindheitsforschung kann unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden, deren Reflexion für eine kritische Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit notwendig ist. Auf die einzelnen kann an dieser Stelle nicht differenziert eingegangen werden, doch sei auf die Ausarbeitung von Deckert-Peaceman et al. (2010) verwiesen. In einer Einführung in die Soziale Arbeit erschließt Schulz (2018) den diversen Begriff ,Kindheit‘ für die Soziale Arbeit: „Nach aktuellem Konsens sind Kinder keine passiven (Betreuungs-)Objekte (mehr), sondern aktive (Bildungs-)Subjekte. Entsprechend sollen kindheits-, sozial- und schulpädagogische Settings diesem Kindbild folgen und Kinder entsprechend altersgemäß in ihrer Entwicklung unterstützen und fördern“ (ebd.: 5). Für die Lebensphase Kindheit benennt Schulz (2018: 7 f.) zwei aktuell prägende Konzepte, welche sich als Dichotomien gegenüberstehen: die der Risikokindheit, die nach Gefährdungen im Aufwachsen sucht und Erwachsene als notwendige Schutzgeber stilisiert sowie das der Bildungskindheit, die auf der Vorstellung des Kindes als sich bildendes, aktiv handelndes Subjekt fußt und Erwachsene in die Pflicht für bildsame Aktivitäten stellen. Parallel wird von einer Entwicklungskindheit ausgegangen, die Entwicklungsaufgaben formuliert, die aufgrund der Risikoperspektive scheitern oder im Sinne der Bildungsperspektive gelingen können. Als Entwicklungsaufgaben der frühen Kindheit (null bis sechs Jahre) lassen sich unter anderem der Aufbau von emotionalem Urvertrauen, die Identifikation mit dem eigenen Geschlecht, sprachliche Ausdrucksfähigkeit sowie der Aufbau grundlegender sensorischer und motorischer Fähigkeiten in der Literatur finden (vgl. Schulz 2018: 5). Für die mittlere Kindheit (sechs bis elf Jahre) werden unter anderem formuliert: mit dem sozialen System Schule umgehen lernen, Beziehungen mit Altersgleichen und Freundschaften, Gewissen, Moral und Wertpriorität aufbauen (vgl. ebd.). Laut Schulz greifen Angebote Sozialer Arbeit solche Differenzierungen auf und gestalten bzw. legitimieren dieser Logik folgend ihre Angebote (vgl. ebd.: 4). Für diese Arbeit wird zusammenfassend folgendes Verständnis von Kindheit angenommen: Kindheit wird als (sozialisationstheoretische) Lebensphase verstanden, in denen der junge Mensch mit bestimmten Entwicklungsaufgaben konfrontiert ist, die durch Erwachsene adäquat zu begleiten sind. Dabei wird das Kind als sich selbst bildendes, aktives Subjekt bestimmt, das, erweitert um die später zu erläuternde Perspektive des Mentalisierungskonzepts (Kapitel 7), durch aktive Anpassungsleistungen optimal in seiner vorgefundenen Umgebung überleben möchte.
Die Adressat*innen treffen innerhalb des rechtlichen Rahmens auf ein komplexes Tätigkeitsfeld, dessen spezifische Charakteristika und Elemente methodischen Handelns im folgenden Unterkapitel skizziert werden.
2.3 Charakteristika, Methoden und Konzepte
Ein zentrales Charakteristikum stationärer HzE ist in dem bereits benannten hohen Interventionscharakter zu sehen, der mit einer Verschiebung des Lebensmittelpunkts des jungen Menschen aus der Familie hinaus einhergeht, hin zu einem Ort, „an welchem die jungen Menschen nahezu ihren kompletten Alltag verbringen“ (Farrenberg/ Schulz 2020: 87). Begleitet werden die Kinder und Jugendlichen von pädagogischen Mitarbeiter*innen im Schichtdienst, oder aber je nach Leistungsangebot von mitlebenden Erziehungspersonen, die von externen Personen unterstützt werden (vgl. Günder 2015: 76). Auch wenn sich diese Ausarbeitung im Rahmen der Sozialen Arbeit bewegt und somit auf Sozialarbeiterinnen in stationären HzE fokussiert, ist an dieser Stelle anzumerken, dass die Professionen und Berufe von Mitarbeitenden vielfältig sind. Für das Jahr 2013 stellte der Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS2 ) für Baden-Württemberg folgende Berufsgruppen fest: Neben Sozialarbeiterinnen finden sich Erzieherinnen, Jugend- und Heimerzieherinnen, Arbeitserzieherinnen, Heilpädagoginnen, Psychologinnen, Praktikantinnen aus diversen Ausbildungsverhältnissen und andere Personen mit Zulassung (vgl. KVJS 2015: 54). Stationäre HzE werden somit von einem multiprofessionellen Team geformt. Methodische Ansätze sowie dahinterliegende Konzepte können Orientierungspunkte im komplexen Alltagshandeln geben und kleine gemeinsame Nenner im Leistungsspektrum Heimerziehung' schaffen. Bevor ausgewählte Ansätze benannt werden, müssen zentrale Begrifflichkeiten eingeführt werden. Sie werden später noch notwendig sein, um VHT, Traumapädagogik, Lebensbewältigung und Mentalisierung in den disziplinären sozialarbeiterischen Diskurs einzuordnen.
Exkurs: Methodendiskurs in der Sozialen Arbeit
Zunächst ist festzustellen, dass im Methodendiskurs der Disziplin Soziale Arbeit noch immer um eine einheitliche Definitionen gerungen wird. Während Galuske (2013: 147) das „Ende der ,Dreifaltigkeit'“ der klassischen Methoden Sozialer Arbeit (Einzelfallhilfe - Gruppenarbeit - Gemeinwesenarbeit) konstatiert, kommen Kreft/ Müller (20193) genau hierauf zurück, um „gegen eine ,Methodeninflation' anzugehen, um zu verhindern, dass irgendwann alles, was ,geordnetes' Handeln ist, als M. [Methode Sozialer Arbeit, d. V.] bezeichnet wird“ (Krauß 2017: 656). Sicherlich ist das Spektrum dessen, was als ,Methode' gehandelt wird, heute größer als lediglich die klassischen Methoden, was die Konstatierung eines Endes der drei Klassiker rechtfertigt und was in Galuskes bereits reduzierter Methodenauflistung in 19 Steckbriefen eindrucksvoll dargestellt ist. Dennoch erscheint insbesondere für die Klarheit wissenschaftlicher Analysen (deren Relevanz auch Galuske (2013: 33 f., 382) betont) eine die Vielfalt einfangende, abbildende und ordnende Begriffsdefinition hilfreich. Aus diesem Grund wird diese Ausarbeitung die Definitionsvorschläge und Differenzierungen in Konzept - Methode - Verfahren - Technik von Kreft/ Müller (2019) übernehmen, sowie zusätzlich den Ordnungsversuch von Galuske einbeziehen, der prinzipiell auf all diesen Ebenen Anwendung finden könnte: Ein Konzept verstehen Kreft/ Müller (2019) als „zweckgebundene Absichtserklärungen über die geplanten Funktionsmerkmale und Vorgehensweisen einer Sache, eines Verfahrens, eines Projektes, einer Einrichtung“ (Kreft/ Müller 2019: 20). Es definiert die Ausrichtung fachlichen Handelns (vgl. ebd.: 20). Hilfreich ist darüber hinaus die Unterscheidung zwischen Theorie und Konzept, die Mennemann/ Dummann (2020: 20) beschreiben: Während Kreft und Müller plädieren bereits in der ersten Auflage ihres Werkes im Jahr 2010 für die auch hier genutzte Begriffsdifferenzierung. In dieser Arbeit wird die aktuelle Auflage von 2019 verwendet.
Konzepte immer handlungsbezogen sind, beziehen sich Theorien auf „Anschauungsmöglichkeiten von Wirklichkeit [allgemein, d. V.]. Sie beschreiben und begründen in sich logisch und stringent einen inhaltlichen Zusammenhang, der es erlaubt, Wirklichkeit zu erkennen“ (ebd.). Mennemann und Dummann argumentieren, dass disziplinbezogene Theorien der Sozialen Arbeit immer auch handlungsbezogen sind und somit in der Literatur sowohl als Theorien als auch als Konzepte bezeichnet werden (vgl. ebd.). Den Begriff der Methode verwenden Kreft/ Müller (2019) nur noch für die drei klassischen Methoden und definieren Methode als wohl durchdachten, genauen Plan (vgl. ebd.: 22). Mennemann/ Dummann (2020: 184) unterscheiden zusätzlich in Forschungs- und Handlungsmethoden, wobei in dieser Arbeit lediglich Handlungsmethoden gemeint sind, wenn von Methoden gesprochen wird. Verfahren sind dann die nächst kleinere Einheit und sollen alle „anderen Versuche, die Regeln der Kunst für einen bestimmten Teilbereich der Sozialen Arbeit zu beschreiben (bezeichnen)“ (Kreft/ Müller 2019: 22). Schließlich dienen Techniken auf der untersten Ebene „der Operationalisierung methodischen Handelns. Sie bezeichnen .erprobte, standardisierte Verhaltensmuster, deren Wirkung mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagbar ist'“ (Kreft/ Müller 2019: 23 mit Krauß 2017: 651). Quer über Konzepte, Methoden, Verfahren und Techniken lässt sich das Ordnungsraster von Galuske (2013) legen. Er differenziert klient*innenbezogene, indirekt interventionsbezogene sowie struktur- und organisationsbezogene .Konzepte und Methoden' (vgl. ebd.: 167). Methodisches Handeln im Alltag stationärer Erziehungshilfen benötigt das Wissen um verschiedene Konzepte, Methoden, Verfahren und Techniken sowie die Fähigkeit, diese in der „eigenen Person als Werkzeug“ anzuwenden, um professionell Handeln zu können (vgl. Spiegel 2017: 657). Methodisches Handeln wird von Spiegel dabei größer gefasst als die Anwendung einer Methode oder eines Verfahrens, sondern der Begriff umfasst den „gesamten Prozess beruflichen Arbeitens“ (ebd.: 657) - die Analyse, Planung und Auswertung.
Im folgenden Abschnitt wird ein Überblick über die Methoden- bzw. genauer auf die Verfahrensvielfalt gegeben, die das methodische Handeln in stationären HzE prägen, wobei die hier getroffene Auswahl lediglich Orientierungspunkte bieten kann, ohne das gesamte Spektrum methodischen Handelns abzubilden.
Günder (2015) gibt eine Studie wieder, in der untersucht wurde, welche .Methoden' von Mitarbeitenden und Leitungskräften stationärer HzE benannt werden. Er differenziert die Ergebnisse nach pädagogischen Prinzipien und Methoden. Als pädagogische Prinzipien arbeitet er folgende heraus: Strukturierung des Alltags, Beziehungsarbeit, Bezugserzieher*innensystem, Zusammenarbeit mit Eltern, Ich-Stärkung. Als Methoden werden die Einzelfallhilfe sowie die Gruppenarbeit benannt. Darüber hinaus hebt Günder (2015: 196 f.) .Methoden' hervor, die er als eindeutig pädagogische oder therapeutische identifiziert: Verhaltenstraining, Verhaltenstherapie, systemische Familienarbeit, heilpädagogisches und therapeutisches Reiten, Milieutherapie, Ressourcenorientierung. Die für diese Arbeit angelegten Definitionen würden letztere eher als Verfahren oder Techniken einordnen. Spiegel (2017: 661) benennt zudem die klientenzentrierte Gesprächsführung sowie die multiperspektivische Fallarbeit als Methoden Sozialer Arbeit. Mit Galuske (2013) könnte diese Liste fortgeführt werden, doch soll der bisher gegebene Einblick genügen, insbesondere da sich dieser speziell auf die stationären HzE bezieht. Günder (2015: 354) betont, dass für therapeutische Angebote interne oder externe Kooperationspartner*innen mit entsprechenden Ausbildungen genutzt werden. Dass solche Methoden bzw. Verfahren selbstverständlich als Methoden innerhalb stationärer HzE als Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit benannt werden, weist auf die Kritik Winklers (2020) hin, dass pädagogische und therapeutische Angebote teilweise nicht klar voneinander abgegrenzt werden. Diese Kritik wird in Kapitel 3.3.2 aufgegriffen und im Rahmen des Traumapädagogikdiskurses für diese Ausarbeitung ausgeführt.
Quer zu Methoden, Verfahren und Techniken liegen umfassende pädagogische Konzepte oder als solche benannte ,Fachdisziplinen', die verschiedene Theoriepositionen in sich vereinen, Konzepte hervorbringen und Methoden/ Verfahren/ Techniken einordnend begründen. Als eine solche Fachdisziplin wird die Traumapädagogik in der Literatur häufig bezeichnet (vgl. z. B. Denner 2013: 5, Kühn 2017), mit welcher sich diese Ausarbeitung nach einer Zusammenfassung des zweiten Kapitels im folgenden Kapitel 3 näher beschäftigt. Weitere Konzepte und Theorien, die die stationären Hilfen zur Erziehung für sich nutzbar machen, sind beispielsweise: die Bindungstheorie (vgl. Schleiffer 2014), die Lebensweltorientierung (vgl. Grundwald/ Thiersch 2018) und nicht zuletzt das Mentalisie- rungskonzept, welches in neueren Ausarbeitungen für stationäre HzE übersetzt (vgl. Behringer 2022) wird und worauf Kapitel 7 ausführlicher eingeht.
2.4 Zusammenfassung: Selbstverständnis stationärer Hilfen zur Erziehung
Aus den Ausführungen des gesamten zweiten Kapitels lässt sich zusammenfassend folgendes Selbstverständnis stationärer Erziehungshilfen ableiten: Als intensive pädagogische Maßnahme mit hohem Eingriffscharakter setzt sie sich zum Ziel, durch alltagsstrukturierendes, in Fachkonzepte eingebundenes methodisches Handeln in Einzel- und Gruppensettings, Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, deren Herkunftsfamilien ein entwicklungsförderliches Umfeld aus diversen Gründen nicht in ausreichendem Maß sicherstellen können, über einen längeren Zeitraum hinweg zu fördern. Gemäß dem Grundprinzip des neuen SGB VIII wird hierbei großer Wert auf die Stärkung der Kinder und Jugendlichen gelegt. Rechtlich verankert ist das Ziel der Entwicklungsförderung sowie Erziehung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten. Als Leistungsberechtigte werden Personensorgeberechtigte, so gut es der Prozess zulässt, einbezogen, um Möglichkeiten der Rückführung in die Familien auszuloten und bestenfalls zu stabilisieren. Begleitet werden Adressatinnen in einer stationären Hilfe zur Erziehung meist durch multiprofessionelle Teams.
In dem nun folgenden Teil A der Ausarbeitung werden Traumapädagogik und das Video-Home-Training (VHT) dargestellt, wie sie im Tätigkeitsfeld der stationären Erziehungshilfen Anwendung finden. Sie werden zunächst vage als Ansätze methodischen Handelns bezeichnet, später erfolgt jeweils eine Einordnung in den Methodendiskurs der Sozialen Arbeit, wie er soeben skizziert wurde. Teil A wird von der Frage geleitet, was beide Ansätze inhaltlich miteinander verbindet.
Teil A: Reflexion der zwei Ansätze methodischen Handelns auf deskriptiver Ebene
Wie könnten Traumapädagogik und VHT inhaltlich zusammengedacht werden? Um einer Antwort auf diese Frage näherzukommen, wird in Kapitel 3 zunächst die Traumapädagogik in stationären Hilfen zur Erziehung erläutert. Sodann wird Kapitel 4 VHT in seinen Grundzügen beschreiben. Kapitel 5 wird schließlich die Grunddimensionen beider in der Diskussion der in der Einleitung formulierten Unterfragen A1 bis A3 zusammenführen.
3. Traumapädagogik und traumasensibles Arbeiten in der stationären Hilfe zur Erziehung
„Psychosoziale Fachkräfte aus dem Bereich der Sozialen Arbeit und (Heilpädagogik gestalten ... seit jeher und nach wie vor den größten Anteil der Traumaversorgung“ (Weiß/ Kessler/ Gahleitner 2016: 10).
Auch wenn über den Anteil verschiedener Disziplinen in der Traumaversorgung rege debattiert wird (s. Kapitel 3.3.4), so wurde in Kapitel 2.2 festgestellt, dass psychosoziale Auffälligkeiten in stationären Hilfen zur Erziehung eher die Regel als die Ausnahme darstellen. In der Begleitung der Kinder in einem Großteil ihres Alltags wird ebenso solchen psychosozialen Auffälligkeiten begegnet. Die in diesem Kapitel einleitenden Zitat formulierte Haltung, psychosoziale Fachkräfte der Sozialen Arbeit übernähmen einen großen Anteil an der Traumaversorgung und Traumabewältigung, lässt sich mit einem bestimmten Trauma- und Traumabewältigungsverständnis begründen, welches die Grundlage für traumapädagogische Ansätze bildet und aus der Adaption psychotraumatologischer Erkenntnisse für die Pädagogik gespeist wird. Ausgewählte Grundlagen eines Traumaverständnisses werden in Kapitel 3.2 dargestellt. Zuvor erfolgt ein Blick in die Entstehung der Traumapädagogik, um die zentralen Anliegen und interdisziplinären Verquickungen der Traumapädagogik einzuordnen (Kapitel 3.1). In Kapitel 3.3 werden darauf aufbauend Grundlagen der Traumapädagogik skizziert sowie traumasensibles Arbeitens für diese Ausarbeitung definiert, ohne den Diskurs um mögliche Grenzen dabei außer Acht zu lassen (Kapitel 3.3.2).3 Da sich diese Ausarbeitung im Rahmen des Diskurses der Sozialen Arbeit bewegt, wird sich Kapitel 3.4 abschließend um eine begriffliche Einordnung der Traumapädagogik und des traumasensiblen Arbeitens entsprechend des in Kapitel 2.3 beschriebenen Methodendiskurs der Sozialen Arbeit bemühen.
3.1 Entstehung der Traumapädagogik und ihre interdisziplinären Bezüge
„Die ,traumapädagogische Bewegung' ist aus einem Austausch von Persönlichkeiten entstanden, die in unterschiedlichen Funktionen im Kontext der stationären Jugendhilfe arbeiten“ (Schmid 2013: 71). Martin Kühn, einer dieser Persönlichkeiten und Mitbegründer der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik (BAG-TP)4, beschreibt diese ,traumapädagogische Bewegung' als Entwicklung von einer „Graswurzelbewegung“ aus der Not der Praxis heraus hin zu einer neuen Fachdisziplin (vgl. Kühn 2017: 20). Diese Not sahen Vertreterinnen der ,traumapädagogischen Bewegung' in der „Erfolglosigkeit oder Nichtwirksamkeit bestimmter Konzepte“ (Kühn 2013: 25), die sich in Hilfeabbrüchen und/ oder sogar psychischen und physischen Übergriffen ausdrückten, welche der Überforderung, Irritation und Handlungsunsicherheit des Hilfesystems zugeschrieben wurden (vgl. Kühn 2017: 21). Gleichzeitig verfügten die ,Persönlichkeiten der traumapädagogischen Bewegung' über ein breites Wissen im Bereich der Psychotraumatologie (vgl. Schmid 2013: 71) und Neurophysiologie, welches in die Pädagogik übertragen wurde, um den Herausforderungen in der Interaktion zwischen Fachkräften und psychosozial belasteten Kindern und Jugendlichen adäquater begegnen zu können (vgl. Kühn 2013: 25). Mitte bis Ende der 1990er Jahre sind diese Überlegungen zu ersten traumapädagogischen Konzepten gereift und folglich an verschiedenen Stellen im Bundesgebiet etabliert worden (vgl. Kühn 2017: 20). 2009 forderte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im 13. Kinder- und Jugendbericht mehr Traumasensibilität, um „'Erkenntnisse über Trauma' expliziter als bisher für die Förderung von Kindern und Jugendlichen [nutzen zu können, d. V.]“ (BMFSFJ 2009: 239). Um die Qualität der traumapädagogischen Expansion in der darauffolgenden Zeit zu sichern, mündete die neue Fachdisziplin schließlich in der Formulierung traumapädagogischer Standards für die stationäre Kinder- und Jugendhilfe durch die BAG-TP im Jahr 2011 (vgl. BAG-TP 2011), welche in Kapitel 3.3.1 genauer betrachtet werden. Seitdem entstanden zahlreiche Veröffentlichungen, die das in der Praxis etablierte Wissen zu bündeln suchen. So systematisiert Weiß (2013) beispielsweise Bezugskonzepte, Bezugswissenschaften und weitere fachliche Anknüpfungspunkte, die zeigen, „wie sehr die Inhalte [der Traumapädagogik, d. V.] schon immer in der Logik und Praxis der Pädagogik und Sozialen Arbeit verwurzelt sind“ (Weiß/ Kessler/ Gahleitner 2016: 11). Benannt werden die psychoanalytische Pädagogik, milieutherapeutische und -pädagogische Konzepte, die Behindertenpädagogik, die Bindungstheorie, die Reformpädagogik, die Heilpädagogik, Erziehungswissenschaften und therapeutische Disziplinen (vgl. Weiß 2013: 36). Den Verdienst der Traumapädagogik trotz all der verquickenden Überschneidungen, die sich im Einzelnen aufzeigen ließen, was jedoch den Rahmen dieser Arbeit deutlich übersteigen würde, sieht Schmid wie folgt: „Traumapädagogik ... findet eine gute Sprache und wissenschaftliche neurobiologische Begründung für viele klassische Konzepte der Milieutherapie/ Heimerziehung“ (Schmid 2013: 63). In dieser .Übersetzungsleistung' kann einer der Gründe vermutet werden, der die Traumapädagogik aus der stationären HzE in andere psychosoziale Handlungsfelder expandieren ließ. So findet Traumapädagogik mittlerweile auch in ambulanten Settings fachlichen Diskurs und Anwendung, ebenso in Schule, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Pflege und vielen anderen Bereichen (vgl. Gahleitner/ Hensel et al. 2017). Alle Konzepte eint der Wille, aus einem Traumaverständnis heraus pädagogisch wirksam bzw. sensibel zu sein. Im Folgenden werden daher ausgewählte Grundlagen aus der Psychotraumatologie skizziert, ohne die gesamte Bandbreite und Tiefe abbilden zu können.
3.2 Ausgewählte Grundlagen der Psychotraumatologie
Aus dem weiten Feld der Psychotraumatologie wurden für diese Ausarbeitung exemplarische Aspekte ausgewählt, die auf folgende Fragen eingehen sollen: Wie wird Trauma definiert? Wie entsteht ein Trauma? Was könnten stationäre HzE beitragen, um Folgen eines Traums aufzufangen?
Der Einteilung von Schröder/ Schmid (2020: 8) folgend, kann der Begriff Trauma unter etymologischer, phänomenologischer und klassifikationsbasierter Perspektive definiert werden.
Etymologisch: Aus dem Altgriechischen stammend bedeutet Trauma .Verletzung' oder .Wunde'. Zunächst in der somatischen Chirurgie verwendet, etablierte sich in Abgrenzung hierzu die interdisziplinäre Disziplin der Psychotraumatologie seit den 1980er Jahren, die „sich mit der Entstehung, der Phänomenologie, dem Verlauf, den Folgen und der Behandlung von seelischen Verletzungen [Hervorhebung d. V.] befasst“ (Landolt 2021: 17). In der Traumapädagogik werden Traumatisierungen „nicht als psychische Erkrankung des Individuums (gesehen), sondern als Folge von Gewalt von Menschen an Menschen, deren Ursachen ebenfalls vor allem im sozialen Raum bekämpft werden müssen“ (Gahleitner/ Hensel et al. 2017: 11 f.). Insofern soll Trauma hier nicht mit Hilfe an medizinisch-psychiatrischen Modellen angelehnter klassifikatorischer Aspekte definiert werden, sondern der (phänomenologischen) Definition von Fischer/ Riedesser (2020) folgen, die in der traumapädagogischen Literatur häufig verwendet wird: Sie definieren das psychische Trauma als „vitales Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (ebd.: 88). Das Spektrum potenziell traumatischer Ereignisse lässt sich phänomenologisch ordnen. Mit Terr werden zunächst Typ-I-Trauma, als „akute, unvorhersehbare und einmalige Ereignisse“ (Landolt 2021: 21), sowie Typ-II-Trauma, welche wiederholt auftreten und teilweise vorhersehbar sind, unterschieden (vgl. ebd.). Landolt (2021: 21 f.) erweiterte diese Typologisierung durch die zwei Kategorien interpersoneller Verursachung auf der einen Seite sowie Naturkatastrophen/ akzidentiel- len Ereignissen auf der anderen Seite, wodurch eine Vier-Felder-Matrix gebildet werden kann. Diese Unterscheidung sei für Praktiker*innen relevant, da „(e)in- malige, akzidentielle Ereignisse ... im Durchschnitt zu weniger schweren und weniger komplexen Störungen (führen) als chronisch, interpersonelle Traumatisierungen“ (ebd.: 21). Wie in Kapitel 2.2 dargestellt, ist letzteres jedoch häufig bei Kindern in einer stationären HzE anzutreffen bzw. zu vermuten.
Mit Hilfe verschiedener Theorien und Modelle möchte die Psychotraumatologie zur Erklärung von Traumafolgesymptomen und typischen psychischen Reaktionen beitragen. Ein hierfür entwickeltes ausgewähltes Modell wird im Folgenden vorgestellt - das Modell des dreigliedrigen Gehirns als neurobiologisches Modell5, welches als (stark vereinfachte) Visualisierung für die Psychoedukation von Kindern und Jugendlichen entwickelt wurde (vgl. Weiß 2016a: 256, Schröder/ Schmid 2020: 9). Das Modell des dreigliedrigen Gehirns begründet das Zustandekommen von Traumafolgesymptomen neuro- und evolutionsbiologisch mit der Überaktivierung niederer Hirnstrukturen, während höhere vorübergehend ausgeschaltet werden bzw. in den Hintergrund treten, ein Effekt, der für die Überlebenssicherung notwendig ist bzw. evolutionär war und nun überangepasst abgerufen wird. Ursprünglich entworfen wurde diese vereinfachte Darstellung von Le- vine/ Kline (2005). Hier wird sie in einer Adaption von Krüger (2019) beschrieben, wie er sie in seinem ,Powerbook‘ skizziert. An posttraumatischen Reaktionen und Symptomen sind dem Modell zufolge drei Gehirnregionen beteiligt: das Stammhirn - kinderfreundlich bezeichnet als ,Eidechsenhirn‘ -, das Mittelgehirn bzw. ,Katzengehirn' sowie das Großhirn bzw. ,Professor*innengehirn‘6. Das ,Eidechsengehirn' ist zuständig für automatisierte Reaktionen auf Gefahrensituationen (Kampf und Flucht), die vom ,Katzengehirn' gemeldet werden. Das ,Katzengehirn' steuert wiederum Gefühle, Erinnerungen und Gedächtnis sowie die ,Alarmanlage' für gefährliche Situationen. Im ,Professor*innengehirn' entstehen Gedanken. Es ist zuständig für das Verstehen der Umwelt (vgl. Krüger 2019: 4750). In einer traumatischen Situation wurde das .Eidechsengehirn' aktiv, übernahm die Überhand und versuchte, die Gefahr so gut es geht durch Kampf oder Flucht zu lösen. Funktionierte dies nicht, kommt es zur Erstarrung. Krüger nutzt hierfür das Bild einer ,durchgeknallten Sicherung' (vgl. ebd.: 61). Durch situative Hinweisreize kann im ,Katzengehirn' die ,Alarmanalage' später erneut ausgelöst werden, auch wenn die aktuelle Situation keine Gefahr mehr bedeutet. Das .Notfallprogramm im Kopf' läuft dennoch los, das .Eidechsengehirn' wird aktiv, ursprünglich, um Schutz aufrechtzuerhalten bzw. wieder herzustellen (vgl. ebd.: 53 ff.). Das Verlaufsmodell des traumatischen Prozesses von Fischer und Riedesser verdeutlicht, dass solche und ähnliche Reaktionen als posttraumatische Symptome zunächst normale Reaktionen auf eine extreme Stresssituation darstellen, die sich unter günstigen Umständen (s. u.) wieder auflösen. Traumatische Prozesse verlaufen dem Modell zufolge in drei zeitlich aufeinander folgenden Phasen: die Schockphase, die Einwirkphase sowie die Erholungsphase (vgl. Fischer/ Riedesser 2020: 173 f.). Eine Chronifizierung (und damit das Nichterrei- chen der Erholungsphase) ist insbesondere bei Typ-II-Traumata zu erwarten, da die traumatische Situation kein Ende findet. Symptomatische Folgen können sämtliche Auffälligkeiten sein, die für Kinder in stationären HzE empirisch festgestellt und in Kapitel 2.2 beschrieben wurden. Weitere Auffälligkeiten werden im DSM-V (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen; American Psychiatric Association 2018) sowie im ICD 11 (World Health Organization 2018) sogar kindbezogen als Folgestörungen klassifiziert. Wie jedoch erwähnt, fokussiert die Traumapädagogik weniger auf Störungsbilder, sondern richtet den Blick auf den .guten Grund' eines jeden Verhaltens (s. Kapitel 3.3.1). Auf eine ausführliche psychiatrisch-medizinische Symptomdarstellung soll daher an dieser Stelle verzichtet werden.
Für die pädagogische/ sozialarbeiterische Arbeit relevant ist jedoch das Phänomen der Übertragung und Gegenübertragung. Fischer/ Riedesser (2020) beschreiben diesbezüglich in ihrem psychoanalytischen Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung das Traumaschema, welches sich im Moment des Diskre- panzerlebens ausbildet. Das Traumaschema „folgt einer Tendenz zur Wiederaufnahme und Vollendung der [durch Dissoziation, d. V.] unterbrochenen Handlung“ (ebd.: 145). Diese Wiederaufnahme kann passiv oder aktiv geschehen. Die aktive Form strebt nach Vollendung, die passive hingegen folgt einer Art Wiederholungszwang und einer unbewussten Reproduktion der traumatischen Situation (vgl. Fischer/ Riedesser 2020: 145). Fachkräfte stationärer Erziehungshilfen sind in solchen Situationen mit dem Phänomen der Übertragung und Gegenübertragung konfrontiert, in welchen sie Gefahr laufen, in Reinszenierungen verwickelt zu werden (vgl. ebd.: 220 ff.). Ein vertiefter Einblick in diese Mechanismen, die Fischer und Riedesser für die Traumatherapie beschreiben, ist auch für eine fundierte Traumapädagogik in der Praxis im Sinne eines professionellen Handelns notwendig (vgl. Weiß 2013; Weiß/ Kessler/ Gahleitner 2016: 12), kann jedoch an dieser Stelle nicht ausführlicher beschrieben werden, um den Rahmen der Arbeit zu wahren. Zum Verständnis der Argumentation dieser Arbeit genügt jedoch das Wissen um solche Prozesse.
Zusammenfassende, für die Traumapädagogik relevante Worte potenzieller Traumafolgen werden häufig von van der Kolk zitiert: „Die Hilflosigkeit und Wut, die [traumatische, d. V.] Erlebnisse in der Regel begleiten, können den Umgang eines Menschen mit Stress nachhaltig beeinflussen, sein Selbstgefühl beeinträchtigen und die Wahrnehmung von der Welt als einem im Wesentlichen sicheren und verlässlichen Ort empfindlich stören“ (van der Kolk 1995; zitiert nach Kühn 2013: 33). Um das Bild des dreigliedrigen Gehirns noch einmal aufzugreifen: Das ,Katzengehirn‘ bleibt wachsamer als bei Menschen ohne traumatische Erlebnisse, die ,Eidechse‘ wird schneller geweckt. Kühn schreibt darüber hinaus, dass Traumatisierungen den „funktionalen (Dialog) mit sich selbst, der Umwelt und nicht zuletzt mit dem Leben an sich (zerstören)“ (Kühn 2017: 22 f.). Wie in der oben beschriebenen Definition eines Traumas deutlich wurde, bewirkt nicht jede bedrohliche Situation oder traumatische Erlebnis eine (dauerhafte) seelische Verletzung. Gleiche Situationen werden von Individuen unterschiedlich bewältigt. Ob eine Traumatisierung folgt, ist abhängig von einer Wechselseitigkeit von Risiko- und Schutzfaktoren in einer Person sowie von Ressourcen im persönlichen Nahraum vor, während und nach dem Ereignis, die wiederum Bewältigungsfähigkeiten moderieren (vgl. Schröder/ Schmid 2020: 8). Landolt (2021) integriert all dies in ein transaktionales Traumabewältigungsmodell für die Kinderpsychotraumatologie. „Die Bewältigung eines potenziell traumatischen Ereignisses wird dabei als aktiv gestaltetes, transaktionales Geschehen im Rahmen einer Wechselwirkung von Trauma, Kind und Umwelt verstanden“ (ebd.: 97). Eine der wichtigsten Erkenntnisse Landolts ist, dass „Kinder, welche von ihren Eltern sozial gut unterstützt werden, weniger Störungen (entwickeln)“ (Landolt 2021: 103 f.). Eine hieraus ableitbare Hypothese könnte lauten, dass enge Bezugspersonen von Kindern in stationären HzE eine solche gute soziale Unterstützung übernehmen könnten, wenn Eltern nicht greifbar sind. Ausgehend von der Annahme stabiler Beziehungsverhältnisse als wichtigster umgebender Schutzfaktor „hat sich in Traumatherapie, Traumaberatung und Traumapädagogik ein hilfreiches ,Drei-Phasen-Modell‘ [der Traumabewältigung, d. V., Hervorhebung d. V.] ... herauskristallisiert, welches ebenfalls grundlegend auf den Bindungsund Einbettungsaspekt verweist“ (Gahleitner/ Rothdeutsch-Granzer 2016: 144). Diese ordnende Struktur wird für die Traumapädagogik erläutert, um sie im nachfolgenden Kapitel 3.3 mit Details zu füllen. Kapitel 3.3.2 wird auf dieses Modell noch einmal Bezug nehmen, wenn die Grenzen der T raumapädagogik ausgelotet werden, insbesondere gegenüber der Traumatherapie. In Phase 1 der Traumabewältigung geht es um Stabilisierung und Ressourcenerschließung, um über die äußere Sicherheit, Innere wiederherzustellen. Mit dem traumapädagogischen Konzept des sicheren Ortes wurde dies von Kühn ausführlich beschrieben. In dieser Phase wird die Notwendigkeit pädagogischer bindungssensibler und entwicklungsfördernder Beziehungsarbeit im Lebensalltag betont sowie - über Be- ziehungsdyaden hinausgedacht - der Aufbau von Beziehungsnetzwerken und die Vernetzung von Institutionen (ebd.: 144 f.). Um bindungssensibel Beziehung anbieten zu können, ist ein Wissen über die Bindungstheorie, Bindungsverhalten und Bindungsstilen notwendig7. Erst wenn ausreichend Stabilität hergestellt wurde, kann eine Auseinandersetzung mit dem Trauma in der zweiten Phase erfolgen. Der Traumapädagogik fällt dabei die Aufgabe unterstützender und traumareflektierender Interventionen im Alltag zu, jedoch keine aufdeckenden. Problemlagen, die durch das Trauma entstanden sind, werden adressiert. Gah- leitner/ Rothdeutsch-Granzer (2016) beschreiben die zweite Phase für die Traumapädagogik so: „behutsam und zugleich strukturierend selbstexplorative Prozesse zu ermöglichen und alltagsnah ein Mehr an (kognitivem) Selbstverstehen, Selbstakzeptanz und schlussendlich an Handlungskompetenz und Selbstregulation zu erreichen“ (ebd.: 145). In der dritten Phase sollen traumatische Ereignisse in das eigene (autobiographische) Selbst reintegriert werden. Der Beitrag der Traumapädagogik wird in dieser Phase in der Unterstützung der Normalisierung des Alltags sowie der persönlichen Entfaltung gesehen. Das traumapädagogische Konzept der Selbstbemächtigung, welches Wilma Weiß (2016a) formulierte, kann hierbei als Rahmen dienen (vgl. Gahleitner/ Rothdeutsch-Granzer 2016: 145). Das folgende Unterkapitel wirft auf dieser Grundlage einen Blick auf traumsensibles Arbeiten in stationären Hilfen zur Erziehung.
3.3 Traumasensibles Arbeiten i n stationären Hilfen zur Erziehung
Wie bereits erwähnt, wurden in der traumapädagogischen Praxis einige Konzepte und Methoden/ Verfahren entwickelt. Weiß (2016b: 23) benennt als wesentliche Konzepte: die Pädagogik des sicheren Ortes von Kühn, die Pädagogik der Selbstbemächtigung von Weiß, die traumapädagogische Gruppenarbeit von Bausum, die Stabilisierung und (Selbst-) Fürsorge für Pädagog*innen als institutioneller Auftrag von Lang sowie milieutherapeutische Konzepte von Gahleitner. Auf methodischer bzw. im Rahmen des Methodendiskurses Sozialer Arbeit auf Verfahrens- und Technikebene (s. Kapitel 2.3) tritt das traumapädagogische diagnostische (Fall-) Verstehen hinzu. Die Ausführung all dieser Konzepte und Verfahren würde den Rahmen dieser Ausarbeitung übersteigen. Es sei auf die jeweiligen Autor*innen mit ihren zahlreichen Veröffentlichungen verwiesen. Für die Traumapädagogik bzw. das traumasensible Arbeiten in stationären Erziehungshilfen fließen die jeweiligen Grundgedanken der Konzepte in die bereits erwähnten traumapädagogischen Standards der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik ein. Diese sollen die Grundlage für die weitere Argumentation bilden und werden daher im Folgenden näher ausgeführt.
3.3.1 Traumapädagogische Standards für die stationäre Erziehungshilfe der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik (BAG-TP) entwickelte traumapädagogische Standards explizit für die gesamte Organisation (vgl. Kühn 2017: 24). Erst die Einheit aller Standards „(ergibt) ... die Möglichkeit den betroffenen Mädchen und Jungen einen sicheren Ort [Hervorhebung, d. V.] zu bieten“ (BAG-TP 2011: 4). Diese Ausarbeitung fokussiert auf die Ebene der Interaktion. Die anderen Ebenen sollen an dieser Stelle jedoch benannt werden, um deren Relevanz im Blick zu behalten. Institutionelle Standards werden festgelegt für die Qualitätsentwicklung, die Personalentwicklung und -förderung sowie für die Ausstattung (Mobiliar etc.) (vgl. ebd.: 12 f.). Standards für die interdisziplinäre Vernetzung und Kooperation wurden für Jugendamt, Schule, Therapie, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für das Gemeinwesen expliziert. Es geht dabei stets um die Etablierung eines hilfreichen Netzwerkes für das jeweilige Kind/ Jugendliche^ (vgl. ebd.: 14 f.).
Die „wesentliche Basis“ (ebd.: 4) der traumapädagogischen Standards stellt die traumapädagogische Grundhaltung dar. Diese „(sollen) durchgängig auf allen Ebenen der Institution erkennbar sein“ (Schirmer 2016: 439). Die BAG-TP beschreibt Hintergrundüberlegungen der Grundhaltung wie folgt:
Die Grundhaltung „(berücksichtigt) das Wissen um Folgen von Traumatisierung und biografischen Belastungen und (legt) ihren Schwerpunkt auf die Ressourcen und Resilienz der Mädchen und Jungen. Hierbei bildet eine wertschätzende und verstehende Haltung das Fundament. Traumatisierte Kinder haben Überlebensstrategien entwickelt, um erlebtes Grauen zu überstehen, und diese gilt es in der Funktion und Auswirkung zu verstehen, um ihnen fachlich angemessen begegnen zu können [Hervorhebungen d. V.]“ (BAG-TP 2011: 4).
Aus dieser Grundannahme wurden fünf Haltungsansätze formuliert:
1) Die Annahme des guten Grunds: Jede Handlung wird als notwendig gewordene Verhaltensweisen interpretiert (vgl. BAG-TP 2011: 5). Handlungen von Kindern (und auch von Mitarbeitenden) wird grundsätzlich eine positive Absicht unterstellt. Die Entdeckung des guten Grunds für (eigene) Handlungen kann Handlungssicherheit erhöhen und Negativdeutungen reduzieren (vgl. Schirmer 2016: 445).
2) Wertschätzung: Aufgrund der mit einer Traumatisierung einhergehenden wiederholten Erleben von Hilflosigkeit und Ohnmacht (s. o.) sehen Kinder und Jugendliche häufig keinen Sinn und keinen Wert in ihren Handlungen. Durch das Fokussieren auf Stärken, der Unterstützung beim Aufbau eines positiven Selbstbildes, der Steigerung des Selbstwertgefühls und des Selbstbewusstseins, der Korrektur dysfunktionaler Einstellungen sowie die Einordnung des Geschehens in die eigene Lebensgeschichte möchte die Traumapädagogik dieser Einstellung etwas Neues entgegensetzen (vgl. BAG-TP 2011: 5).
3) Partizipation: Diese ist notwendig, um dem im Trauma erlebten Kontrollverlust neue Erfahrungen gegenüberzustellen und sollte auf drei Ebenen erfolgen: dem Erleben von Autonomie, Kompetenz und Zugehörigkeit (vgl. ebd.: 5).
4) Transparenz: Wichtig ist die Herstellung eines berechenbaren Ortes (vgl. ebd.: 6).
5) Spaß und Freude: Hier ist das Motto: „‘Viel Freude trägt viel Belastung! (ebd.: 6).
Für die Interaktion zwischen Fachkräften und Kindern in stationären HzE ist neben der Grundhaltung die zweite Säule traumapädagogischer Standards entscheidend: die Selbstwirksamkeit/ -bemächtigung. Neben der bereits in der Grundhaltung benannten Partizipation enthält diese Säule acht weitere interaktionsrelevante Punkte:
- Förderung des Selbstverstehens, indem durch Psychoedukation Traumawissen vermittelt wird,
- Förderung der Körper- und Sinneswahrnehmung (z. B. durch Bewe- gungs- und Entspannungsübungen)
- Förderung der Emotionsregulation, wozu auch die Reflexion der Fachkraft zu Übertragungsphänomenen in der Interaktion (s. o. S. 16 f.) zählen, sowie die Förderung der Fertigkeit, Emotionen bei sich und anderen zu erkennen und zu benennen,
- Förderung physischer und psychischer Resilienz,
[...]
1 Stichting Promotie Intensieve Thuisbehandeling Nederland - auf Deutsch etwa: Stiftung zur Förderung der intensiven Heimbehandlung' - DGVB heißt Deutsche Gesellschaft für Videobasierte Beratung e.V.
2 Der KVJS entspricht dem Landesjugendamt.
3 Kapitel 2.3 beschriebenen Methodendiskurs der Sozialen Arbeit bemühen.
4 Gegründet wurde die BAG-TP im Jahr 2008. Inzwischen wurde diese umbenannt in ,Fachverband Traumapädagogik' (vgl. Weiß/ Gahleitner 2020: 17).
5 Weitere Modelle, die im Rahmen dieser Ausarbeitung nicht betrachtet werden können, wurden aus lerntheoretischer, psychodynamischer und entwicklungspsychopathologischer Perspektive formuliert. Einen Überblick hierüber gibt beispielsweise Landolt (2021: 91-96).
6 Krüger verwendet ausschließlich die männliche Form. Im Rahmen dieser Arbeit soll jedoch die gendergerechte Form verwendet werden.
7 Dieser Exkurs würde den Rahmen dieser Ausarbeitung übersteigen, sodass an dieser Stelle lediglich auf einige Standardwerke der Bindungstheorie hingewiesen werden soll - Bowlby (1975) als erstes Grundlagenwerk, Ainsworth (1985) als Überblick über Bindungsstile sowie Grossmann und Grossmann (2021), die zentrale Aufsätze der Bindungsforschung übersetzten und so für den deutschen Sprachraum in der mittlerweile 7. Auflage bündelten.
- Arbeit zitieren
- Theresia Panzer (Autor:in), 2022, Traumapädagogik und Video-Home-Training (VHT) zusammengedacht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1348779
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